Blutrote Nächte - Steffan Witsch - E-Book

Blutrote Nächte E-Book

Steffan Witsch

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Beschreibung

Privatdetektiv Steven B. Welden kehrt nach dreijähriger Abwesenheit zurück nach New York City. Bereits kurz nach seiner Ankunft wird er das Opfer einer mörderischen Intrige. Und plötzlich steht er im Fadenkreuz der New Yorker Polizei, die fieberhaft wegen Mordverdachts nach ihm fahndet. Um seine Unschuld zu beweisen jagt er im Hexenkessel der Stadt den tatsächlichen Killer und gerät dabei selbst in tödliche Gefahr.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Wutentbrannt stürmte die blonde, siebzehnjährige Patrizia Hush aus dem Tanzlokal Atlantis in der Pineaple Street im Osten Brooklyns ins nächtliche Freie. Es war ein Uhr morgens und eiskalt in dieser Februarnacht 1968.

Das blutjunge Mädchen trug lediglich ein rotes Minikleid und weiße, hoch-hakige Lackstiefel, deren Schäfte bis zum Knie reichten.

Die Straße war nur spärlich beleuchtet und es parkten nicht mehr viele Autos vor der Discothek. Durch die offenen Fenster hämmerte der Gitarrensound von Jimmy Hendrix auf den einsamen Bürgersteig.

Patrizias Ärger verrauchte umgehend. Sie musste an den langen Nachhauseweg denken. Die nächste U-Bahnstation war weit entfernt und wahrscheinlich fuhr gar kein Zug mehr um diese Zeit. Und ein Taxi konnte sie sich nicht leisten. So stand sie vor Kälte zitternd auf dem Gehsteig und hopste von einem Bein auf das Andere. Vielleicht sollte sie den banalen Streit mit Mike vergessen und wieder ins Lokal zurückgehen. Doch ihr Stolz weigerte sich. Warum flirtete Mike auch so offensichtlich mit der rothaarigen Hexe. Das war richtig fies von ihm. Geschah ihm nur recht, dass sie ihm das Bier über den Kopf goss. Dieser eingebildete Affe. Nein, sie würde nicht zu ihm zurückgehen. Diese Genugtuung würde sie ihm niemals gönnen. Irgendwie kam sie schon nach Hause.

Langsam fuhr ein Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern am rechten Fahrbahnrand auf sie zu.

Was für ein Glück, dachte Patrizia. Sie war süße siebzehn Jahre, ein bisschen naiv, ein wenig jugendlich leichtsinnig. Sie war schon öfters per Anhalter in der Nacht heimgefahren. Was sollte schon passieren? Schnell fasste sie einen Entschluss. Sie trippelte auf ihren hohen Absätzen auf das mit Schritttempo dahin rollende Fahrzeug zu und klopfte an das Seitenfenster.

Sofort hielt der Sportwagen an und die Glasscheibe senkte sich elektrisch nach unten. Unbekümmert steckte Patrizia den Kopf durch den Türrahmen. Die tiefsitzende Baseballmütze verdeckte das Gesicht des Fahrers. Patrizia achtete nicht darauf.

„He, Mister, nehmen Sie mich mit? Ich muss nach Queens, Greenpoint Avenue. “

Statt einer Antwort wurde ihr die Beifahrertür geöffnet.

Erfreut nahm Patrizia die Einladung an, stieg ein und schlug die Tür wieder zu. Geräuschlos glitt die Fensterscheibe aufwärts. Angenehme Wärme hüllte Patrizia ein.

Am Lokalausgang tauchte Mike auf und hielt Ausschau nach ihr.

„Blödes Arschloch!“ sagte Patrizia laut.

„Dein Freund?“, fragte der Mann am Steuer und fuhr gemäßigt an.

Der suchende Mike entdeckte den feuerroten Ford Mustang und die darin sitzende Patrizia und rannte mit wedelnden Händen auf sie zu. Er rief etwas, aber Patrizia verstand kein Wort. Doch sie winkte ihm aus dem Auto nur verabschiedend zurück.

Der Fahrer mit der Baseballmütze gab Gas.

Verzweifelt lief Mike auf der Straße dem Wagen hinterher. Nach fünfzig Meter erkannte er die Sinnlosigkeit seines Tuns und blieb nach Luft schnappend stehen. Und er sah noch wie die roten Schlusslichter des Fords in der Finsternis entschwanden.

Behaglich kuschelte sich Patrizia in den lammfellbezogenen Autositz. Der rote Rock rutschte dabei hoch. So weit, dass zwischen den weißen Schenkeln der Saum des schwarzen Unterhöschen hervor blitzte.

„Was ist nun? War das dein Freund?“

Patrizia lachte eine Spur zu schrill.

„Wer? Dieser unreife Arsch? Ich habe mit ihm getanzt. Mehr war nicht. Er ist nicht mein Freund.“

„Wie alt bist du?“

„Neunzehn“, log sie.

Gelegentlich erhellten Reklamelichter oder Straßenlaternen das Fahrzeuginnere, dann sichtete sie die untere Gesichtspartie eines jungen Mannes. Bartloses Kinn, schmale, farblose Lippen, Aknehaut.

„Hast du Lust auf Sex?“, fragte er plötzlich.

Eine leichenkalte Hand berührte ihr Knie. Patrizia erschrak beinahe zu Tode.

„Sag schon, willst du mit mir Liebe machen?“ Frostige Finger spazierten an ihren Innenschenkeln hoch.

Die Angst schnürte ihre Kehle zu.

Der Wagen bog vom Brooklyn-Queens-Expressway über die Williamsbridge.

Ihre Zunge löste sich. „Ich will hier raus!“, schrie sie plötzlich. „Sofort anhalten, lassen Sie mich sofort raus!“ Sie langte nach dem Türgriff. Doch der war nicht angeschraubt und sie hielt ihn voller Bestürzung in der Hand.

„Bleib ruhig, Baby. Du kommst hier nicht raus. Du gehörst heute Nacht mir allein.“

„Wo…wo bringen Sie mich hin? Was haben Sie vor?“

Wie verrückt hämmerte ihr Puls und Panik kroch in ihr Gehirn. Ihr wurde grausam bewusst, dass es ein verhängnisvoller Fehler gewesen war in diesen Ford Mustang einzusteigen.

Sie überquerten die Williams-Bridge. In der Tiefe glänzte die schmutzige Eisfläche des East Rivers.

Rau sagte der Pickelgesichtige: „Spiel hier nicht die Unschuldige vom Lande, du Schlampe. Du bist doch freiwillig bei mir eingestiegen. Du willst doch vernascht werden. Du bist ganz geil auf mich, gib es einfach nur zu.“

„Nein, nein, das ist nicht wahr. Ich wollte doch nur nach Hause.“, jammerte Patrizia und drückte sich ganz fest gegen die Beifahrertür.

Um sicherer lenken zu können, nahm er die Hand von ihrem Schenkel und zwang den Wagen in die Kurve zur Houston Street, welche in den East River Park führte.

Nach wenigen Minuten erreichten sie den menschenleeren, unbeleuchteten Park. Die Räder holperten über den Schotterweg hinweg und kamen zwischen kahlen Alleebäumen zum Stillstand. Die Scheinwerfer erloschen, der Motor tuckerte im Leerlauf weiter.

Von der Hauptstraße her war der Ford Mustang nicht mehr zu sehen.

Tintenschwarze Dunkelheit und Totenstille umringte die Insassen.

Angstgelähmt kauerte das Mädchen im Sitz.

„Komm schon, du Flittchen“, sagte er mit erwartungsvoller Erregung. „Lass mich nicht länger warten. Zeige mir deine Liebe. Ich will doch nur etwas Zärtlichkeit.“

Patrizia schrumpfte noch mehr in sich zusammen.

Er wurde ungeduldiger. „Komm her zu mir. Lass dich nicht so betteln!“

„Bitte, tun sie mir nichts!“, flüsterte sie kaum hörbar und voller Todesfurcht. „Ich habe es noch nie getan. Ich…ich bin doch noch Jungfrau.“

Ein gemeines Lachen antwortete ihr.

„Jungfrau bist du? Willst du mich verarschen? Ich lache mich tot! Ihr verdammten Huren treibt es jede Nacht mit einem anderen. Aber keine will mit es mit mir tun. Auf einmal wollt ihr unberührt und unbefleckt sein. Ich rieche doch deine Geilheit. In Wirklichkeit bist du ganz scharf auf mich!“

Gewaltsam drängte er seine Hand durch ihre zusammen gepressten Knie. Vergeblich kämpfte sie dagegen an. Aber die Hand war stärker, drückte die zitternden Schenkel auseinander, verkrallte sich in den Slip und zerfetzte den dünnen Stoff.

„Ich mache alles, was Sie wollen“, weinte sie erstickt. „Alles was Sie wollen, nur tun sie mir nicht weh und töten sie mich nicht.“

„Zu spät, du Flittchen, zu spät! Du bist es nicht wert länger zu leben!“

Und dann blinkte in der Finsternis des Wageninneren eine Messerklinge auf. Markerschütternd schrie Patrizia. Aber niemand, außer ihrem Mörder, konnte ihren Todesschrei hören. Sie schrie noch weiter, auch als die Stahlklinge in ihr Herz gerammt wurde und das Blut wie eine Fontäne aus der Wunde an die Windschutzscheibe spritzte. Irgendwann, beim achten oder neunten Messerstich, verstummte Patrizia Hush. Ausgeblutet, abgeschlachtet, badete sie in ihrem eigenen Blut. Wie von Sinnen stach der Mordlüsterne immer weiter auf sie ein, obwohl sie bereits eine Ewigkeit tot war.

Nach einer endlos scheinenden Zeit öffnete sich der Wagenschlag und ein Körper stürzte auf die beinhart gefrorene Erde. Abermals verstrich eine Ewigkeit, bis die Gestalt sich aufrichtete und um das Fahrzeug taumelte. Sie sperrte den Kofferraum auf, legte achtlos die blutgetränkten Kleider ab und holte eine Spitzhacke heraus. Damit schleppte sich der Mörder zum nahe gelegenen Ufer des gefrorenen East Rivers.

Die Nacht war schwarz und mondlos und frostig wie der Tod.

Mit der Axt zertrümmerte der nackte Mann das Eis des Flusses. Er schlug ein Loch in der Größe eines Kanaldeckels. Dann glitt die menschliche Bestie in das eisige Flusswasser und wusch sich von dem Blut rein.

***

Der obdachlose Bill Murdock war sechzig Jahre alt und lebte seit vielen Jahren in den Slums von New York City. Er war ein Stadtstreicher, ein Ausgestoßener der Gesellschaft, ein Subjekt, das lediglich in der seelenlosen Millionenmetropole zu überleben versuchte. Murdock war ein Niemand. Er gehörte keiner Gruppe an, trat keiner Sekte bei, besaß weder Familie noch Freunde, aber auch keine Feinde. Eigentlich existierte er gar nicht.

Murdock versuchte jeden Tag zu überleben. Ihn interessierten kein Datum und keine Zeit. Er wusste nur es war ein kalter langer Winter. Wie so oft streunte er durch die engen Gassen Brooklyns und wich den wenigen Menschen aus, denen er in dieser Nacht begegnete. Er versteckte sich vor den Polizeipatrouillen in den düsteren Hinterhöfen. Die Kälte durchdrang den dünnen, verschlissenen Stoffmantel und nagte an den Eingeweiden. In den überquellenden Mülltonnen stöberte er nach Essbaren, verscheuchte fette Ratten und fand manchmal schimmelige Brotreste und ranzige Fleischbrocken.

Müde und frierend setzte sich Murdock in der Mitte einer Steintreppe nieder, welche die Straße mit dem darunterliegenden East River Park verband.

Beinahe hätte er das Auto übersehen, das im Schatten der blattlosen Bäume parkte und nur vom weißgrauen Auspuffqualm des laufenden Motors verraten wurde.

Ein Liebespaar, dachte Bill Murdock. Bedächtig kaute er an einer zähen Speckschwarte, zerrte dann eine angebrochene Weinflasche aus der ausgebeulten Manteltasche, entkorkte sie und trank einen mächtigen Schluck.

Er hockte allein auf den ausgekühlten, feuchten Betonstufen und wartete und wusste nicht auf was, während ihm der Frost die Gedärme zusammenzog. Sorgsam verstöpselte er die Flasche, verstaute sie wieder im Mantel und erhob sich. Eine innere Stimme sagte ihm, er solle weglaufen, aber der rote Ford Mustang sendete magnetische Kräfte aus und er konnte nichts dagegen tun.

Der alte Mann schlürfte die Treppe hinunter und näherte sich über den Kiesweg dem Fahrzeug. Vernehmlich knirschten die Steinchen unter seinen löchrigen Turnschuhen. Je geringer der Abstand wurde, desto langsamer wurden seine Schritte. Noch könnte er umdrehen und abhauen. Noch war nichts geschehen.

Die horrende Kälte nahm zu.

Nun sah er, dass der Kofferraumdeckel hochgeklappt war. Die Neugier siegte über seine Besorgnis und er trat an das Auto heran.

Dichte Nebelschwaden krochen vom Flussufer und verwandelten die Gebüsche in gespenstische Konturen.

Im Kofferraum türmten sich hingeworfene Kleidungsstücke. Daneben eine geschlossene Sporttasche. Murdocks erster Impuls war, die Tasche an sich zu reißen und damit schleunigst das Weite zu suchen. Doch er beherrschte sich, unterdrückte die aufsteigende Furcht.

Wo war der Wagenbesitzer? Der Stadtstreicher blickte sich um.

Die Dunstwaben am Ufergestade verdichteten sich immer mehr. Eine undurchsichtige weiße Wand. Nur das nervtönende Ventilklappern des nagelnden Motors war zu hören.

Ein starker Hustenanfall plagte Murdock und der feuchte Atem gefror in der eisigen Luft. War da nicht noch ein anderes Geräusch. Es klang vom Fluss her. Oder narrten ihn bereits die Sinne? Seine altersschwachen Augen versuchten die Nebelwand zu durchdringen. War da irgendwer draußen auf dem Fluss? Murdock glaubte leises Wasserplätschern zu wahrnehmen.

„Mensch Bill, alte Memme“, sprach er sich Mut zu. „Warum ängstigst du dich? Da schwimmt ein Verrückter mitten in der Nacht bei fünfzehn Grad Minus im See. Na und? Nütze die Gelegenheit, klaue die Tasche und mache dich aus dem Staub, bevor der Bekloppte zurückkommt.“

Aber wiederholt ignorierte er die innere Stimme. Ihn schien der Teufel zu reiten. Er musste einen Blick ins Fahrzeuginnere werfen. Vielleicht war da noch viel mehr zu holen. Wachsam schlich Murdock nach vorne. Auch die Fahrertür stand weit offen. Er spähte den Innenraum und traute den Augen nicht.

„Mein Gott“, entfuhr es ihm.

Auf dem Beifahrersitz lag ein Mädchen in grotesker Position. Murdock hatte in seinem langen Pennerdasein bereits viel erlebt. Auch hatte er schon manche Leichen gesehen. Doch noch nie einen so barbarisch entstellten Menschen. Der Mädchenkörper war halb entblößt, die Bluse zerfetzt, der Minirock hochgeschoben, unzählige Stiche im Unterleib, im Oberkörper, an Armen und Beinen. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet und überall nur Blut. Blutspritzer an der Windschutzscheibe, an der Fensterscheibe, auf dem Armaturenbrett, in den Sitzen.

Übelkeit überkam Murdock und er musste sich übergeben.

Aus den Nebelschleiern bewegte sich ein undefinierbares Wesen auf ihn zu.

Der alte Murdock hätte immer noch Zeit gehabt die Flucht zu ergreifen. Er sah die mörderische Gefahr auf sich zukommen. Jedoch die Polarkälte bohrte sich in seine morschen Glieder und lähmte ihn. Er war nicht mehr fähig dazu, auch nur ein Bein zu bewegen.

Die unheimliche Gestalt aus dem Nebel kristallisierte sich. Ein pudelnackter Mann entstieg dem Fluss und das Seewasser triefte über den hageren Leib. Schritt für Schritt näherte er sich dem erstarrten Murdock. Und der spürte die unheilvollen Blicke.

Ängstlich stammelte er: „Ich habe nichts…gar nichts gesehen, Mister! Ich bin blind wie ein Maulwurf. Ich habe nichts gesehen, auch nicht das tote Mädchen.“

Wie hypnotisiert stierte er auf die rechte Hand des Unbekannten. Die umfasste eine langstielige Spitzharke.

„Geh! Verschwinde, Opa! Mach das du wegkommst!“, sagte der nackte Mann mit einer verscheuchenden Geste.

Grenzenlos erleichtert drehte sich Murdock ab. Er wollte weg, nur weg vom Ort des Grauens. Und er sah nicht, wie der Hüllenlose den Eispickel hinter ihm hochschwang.

Das letzte Geräusch im armseligen Leben des Bill Murdock war der säuselnde Ton über seinem Haupt, den die niedersausende Axt verursachte, bevor sie ihm den Hinterkopf spaltete. Die Wucht des Hiebes schmetterte Murdock auf den Kiesweg und sein Mörder musste den Stiel loslassen. Die Finne war so tief eingedrungen, dass sie kaum mehr zum herausziehen war.

Regungslos blieb der Erschlagene auf dem Gesicht liegen. Aus dem aufgeklappten Hinterschädel quoll die blutige Gehirnmasse. In der Manteltasche zerbrach die Weinflasche und die Restflüssigkeit tränkte das Hosenbein. Unaufhaltsam hauchte Bill Murdock sein Leben aus.

Der Unhold ging zum Kofferraum, öffnete die Sporttasche, entnahm ein Handtuch, rubbelte den bleichen Leib trocken und schlüpfte in den dunkelblauen Sportanzug. Dann verließ er ohne Eile den düsteren Tatort. Die Schritte verhallten und die Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht.

***

New York City begrüßte den neuen Besucher nicht gerade enthusiastisch. Das Wetter zeigte sich unfreundlich, kühl und regnerisch.

Es war der 21. März 1968, zehn Uhr vormittags. Die Maschine aus Winnipeg, Kanada, landete pünktlich.

Ungehindert passierte der Ankömmling den Zoll und marschierte durch die belebte Flughafenhalle dem Ausgang zu. Sein einziges Gepäckstück war eine blaue Reisetasche. Gleich darauf stand er inmitten des weitläufigen Vorplatzes und der Verkehrslärm, das Gedränge und die Hektik trafen ihn wie ein Schlag. Darauf war er nicht vorbereitet. Er hatte vergessen wie der Hexenkessel New York brodelte. Drei lange Jahre war er weg gewesen. Drei Jahre um die Vergangenheit zu begraben.

Der ehemalige Idlewild-Flughafen nannte sich jetzt John F. Kennedy International Airport. Zum Gedenken an den US-Präsidenten, der 1963 einem Attentat zum Opfer fiel.

Der Fremde bahnte sich einen Weg durch die Menschentraube und suchte den Taxistand an der Haynes Avenue.

Rücksichtlos rempelten ihn zwei Männer beiseite und schnappten ihm den gelben Taxiwagen vor der Nase weg.

„He, Mister! Steigen Sie schon ein!“, rief der nachrückende Wagenlenker gutmütig und stieß ihm die Beifahrertür auf. „wenn Sie hier Wurzeln schlagen, kommen Sie nie an ihr Ziel.“

Der Neuling warf die Reisetasche auf die Rückbank und setzte sich neben den Chauffeur.

„Wohin soll es gehen, Stranger?“, erkundigte der sich und legte den ersten Gang des Automatikgetriebes ein.

„Ich weiß nicht“, entgegnete sein neuer Passagier nachdenklich. „vielleicht nach Manhattan. Ein gutes preiswertes Hotel.“

„Sind sie fremd in New York? Das erste Mal in unserer Stadt?“

Sein Fahrgast blickte teilnahmslos durch die Seitenscheibe. „Ja“, sagte gedehnt. „Ich bin fremd in New York, -trotzdem empfehle ich Ihnen den Van Wyck-Expressway nach Manhattan zu nehmen und nicht den Southern Parkway, der führt nämlich nach Nassau Country. Und von Nassau Country hinüber nach Manhattan ist ein bisschen ein weiter Umweg, okay?“

Beeindruckt schwieg der Taxidriver und versuchte unauffällig seinen Kunden zu mustern. Groß, hager, dunkelgrauen Trenchcoat, schwarzer Hut, dunkle Krawatte. Scharfes, markantes Profil. Winzige Brandnarben an Wange und Kinn. Dunkles, fast schwarzes Haar, das im Nacken auf den Mantelkragen fiel. Ein hartaussehender, aber kein hässlicher Mann. Ein Typ, mit dem nicht gut Kirschen zu essen war. „Vielleicht ein Cop“, rätselte der Lenker. „ein Geheimagent, möglicherweise ein Waffenhändler…“

Unerwartet drehte der Fahrgast den Kopf und die hellblauen Augen, die wie Gletschereis blitzten, sahen ihn direkt an. Verlegen wich er den durchdringenden Blick aus und konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. Nach einer Weile sagte er: „Das Ambassador in der West 215the ist ein gutes Hotel, Mister.“

Sein Mitfahrer antwortete nicht. Er schien gar nicht anwesend.

„Oder das Little Home Hotel am Broadway, Ecke 47the? Das ist kostengünstiger und auch näher.“

„Meinetwegen das Little Home“, lautete die mürrische Erwiderung. „und nun verschonen Sie mich mit Ihrem Gefasel!“

Beleidigt verstummte der Fahrer.

Der Fremde stülpte sich den Hut weit ins Gesicht und lehnte sich im Sitz zurück. Die Gedanken schweiften ab. Er war zurückgekehrt. Er, Privatdetektiv Steven Boy Welden, war wieder in New York City. Die Zeit der Trauer, der Wut und der Selbstzerstörung war vorüber. In dieser Stadt hatte alles begonnen und alles geendet. Hier startete seine Detektivlaufbahn, hier lernte er Grazia kennen und lieben. Vor drei Jahren die grausame Schicksalswende. Ein Killer tötete Grazia. Ein Höllentrip folgte. Der Hass trieb Welden durch New Yorks Straßen auf der Suche nach dem Täter. Er spürte ihn auf und lynchte ihn beinahe vor blindem Zorn. Aber ein glücklicher Umstand verhinderte dies. Der Verbrecher Nick Collins starb vor zwei Jahren auf dem elektrischen Stuhl. Der Hass war erloschen. Was blieb, waren Verzweiflung und andauernde Einsamkeit. Steven B. Welden konnte nicht vergessen. Er flüchtete aus New York und vergrub sich drei Jahre in einer Blockhütte irgendwo in Kanada. Allein mit der Bitterkeit, dem nie enden wollenden Schmerz des Verlustes, der Whiskyflasche und dem verheerenden Selbstmitleid. Er kam einfach nicht mit dem gewaltsamen Tod seiner Grazia hinweg. Aber der

Alkohol konnte auf die Dauer nicht helfen. Obwohl er bis zum Exzess den Whisky in sich hinein schüttete.

Aber irgendwann ging diese schlimme Zeit vorbei. Eines Tages erwachte er und ihm wurde glasklar, dass er sich zugrunde richtete, wenn er nicht radikal sein Leben änderte. Er wollte nicht mehr so weitermachen.

Er ging nach Ottawa und unterzog sich freiwillig einer Alkoholentzugskur und einer Therapie. Nach gut zwölf Monaten wurde er aus der Klinik entlassen. In Fort William bewarb er sich bei einem großen Kaufhaus als Ladendetektiv und er bekam den Job.

Es war ein Neubeginn. Allmählich verflogen die Depressionen. Jemand sagte einmal, mit der Zeit verheilten alle Wunden und es blieben nur noch kleine Narben.

Und nun war Steven B. Welden zurück in New York City.

Das einzige vor dem er sich lediglich fürchtete, war der Gang an Grazias Grab. Aber auch das wird er schaffen.

***

Privatdetektiv Jeck Born, fahlblond, schlaksig, buschiger Seehundschnauzer, ansonsten glatt rasiert, flackte im Ledersessel in seinem Büro und die langen Beine überkreuzten sich auf dem Schreibtisch. Er hatte nichts zu tun. Aus dem Kofferradio spielte Don McLain sein American Pie.

Bewundernd versank Born in das große Farbposter an der Wand gegenüber. Er konnte sich nicht daran sattsehen. Das Bild zeigte Marylin Monroe in der berühmten Szene aus dem Film ‚Das verflixte siebte Jahr‘. Sie steht mit leicht gespreizten Beinen über den U-Bahnschacht und der heiße Luftzug wirbelt ihr weißes Kleid hoch, das sie lachend niederzuhalten versucht.

Genüsslich nippte er am daumenbreit gefüllten Whiskyglas, schaukelte mit Sessel auf und nieder und träumte von der weizenblonden Marylin.

Ein energisches Pochen schreckte ihn aus dem süßen Traum.

„Komm herein, wer immer du auch bist!“, sagte er laut, ohne die Füße von der Tischplatte zu nehmen. Ein hochgewachsener Mann mit Hut und Mantel schneite in das Zimmer.

Als Jeck Born den Besucher erkannte, kippte er mit dem wippenden Sessel beinahe nach hinten weg. Im letzten Moment zog er die Beine vom Tisch und konnte dadurch den Sturz verhinderten.

Perplex schnarrte seine Stimme: „Boy?! Steven Boy Welden? “

„Hallo Jeck! Wie geht’s dir?“, fragte der unerwartete Gast ganz ruhig.

„Ich werde verrück! Boy Welden in New York!”, schüttelte Born fassungslos den Kopf. „Ich glaube es nicht. Welcher Gaul reitet dich hierher?“

Bedächtig legte Welden den Hut auf das Schreibpult.

„Willst du mich nicht begrüßen, alter Streitgenosse?“, fragte er.

„Und ob, Old Boy!“

Agil sprang Born auf die Beine, kurvte um den Tisch und umarmte den langjährigen Freund und Partner. „Willkommen zu Hause, willkommen in der alten Welt!“

Prüfend begutachtete er Weldens unrasiertes Angesicht. „Du siehst gut aus, Boy, wirklich gut. Allerdings schaust du etwas blass aus der Wäsche und bist stark abgemagert. Du könntest ein paar Pfunde mehr auf den Hüften vertragen. Die Haare und die Koteletts ein wenig zu lang. Aber seit den Beatles ist das ja modern. Wie geht’s dir? Seit wann bist du wieder in der Stadt?“

Leicht lächelte Welden und hockte sich in den Besuchersessel.

„Ich bin gestern vormittags gelandet. Scheiß Wetter habt ihr hier!“

„Ja, ich weiß! Wo wohnst du? Brauchst du eine Unterkunft?“

„Ich habe ein kleines Zimmer im Little Home Hotel.“

„Das kommt gar nicht in Frage. Du kündigst und ziehst bei mir ein. Meine Wohnung hat Platz für uns beide.“

„Nicht so schnell, Jeck“, bremste ihn Welden. „Ich war drei Jahre untergetaucht. Lass mir Zeit zum eingewöhnen.“

„Okay, und wie geht’s dir wirklich?“

Zögerlich erwiderte Welden: „Gut, ich glaube mir geht’s gut.“

„Warst du schon…?“

„Ja“, nickte Welden ernst. „Ich war auf dem Friedhof und besuchte Grazia. Sind die frischen Blumen auf dem Grab von dir?“

„Indirekt, ich beauftragte eine Gärtnerei das Grab zu pflegen.“

„Danke!“, sagte Welden.

„Was fühltest du an ihrer letzten Ruhestätte?“

Verloren blickte Welden durch den Freund hindurch, als wäre er aus Glas. „Da sind gemischte Gefühle in mir. Da sind die Trauer, der Schmerz, und immer noch Wut. Aber kein Hass und keine Rachegelüste mehr. Grazia ist für immer gegangen. Ich vergesse sie nicht. Ein Teil von ihr wird ewig in mir weiterleben. Doch ich glaube ich habe Frieden mit mir geschlossen.“

„Das wünsche ich dir.“ Jeck Born setzte sich auf die Tischkante. „Und jetzt? Was hast du vor? Wie soll es weitergehen?“

„Ich will wieder als Detektiv arbeiten, und wenn du einverstanden bist, mit dir zusammen.“

Jeck Borns Miene strahlte ehrliche Freude aus.

„He, Alter, wir beide wieder ein Team? Ich hoffe das ist dein Ernst. Du hast bestimmt das Türschild gesehen. Ich habe nichts geändert. Es heißt immer noch Privatdetektei Welden & Born.“

„Meine Lizenz ist abgelaufen…“

„Na, und? Da gibt es kein Problem. Ich gehe zu Hoogan. Eine Unterschrift, einen Stempel und du hast das Papier.“

„Mein Waffenschein ist auch ungültig…“

„Auch das ist kein Problem. Ich werde das für dich regeln.“

„Hast du meine 38er Browning noch aufbewahrt?“

Jeck Born nickte: „Ja, natürlich. Die liegt gereinigt und geölt im Tresor.- Entschuldige, willst einen Drink?“

„Nein danke, hast du einen besonderen Draht zu Lieutenant Hoogan?“, erkundigte sich Welden.

Erheitert lachte Born.

„Lieutenant? Boy, Hoogan machte Karriere! Er wurde zum Captain befördert, nach dem er Collins Drogenkartell zerschlagen hatte. Heute leitet er den 14. Polizeidistrikt. Unser Verhältnis kann man fast als kollegial bezeichnen.“

„Arbeitest du gerade an einem akuten Fall?“, wechselte Welden das Thema.

„Nein, seit drei Wochen treibe ich Müßiggang. Kein Telefon läutet, keine Türglocke schellt, keine Aufträge. Du kennst das ja von früher. Einmal zu viele Jobs, dann wieder gar keine.“

Born genehmigte sich einen Schluck Whisky, da fiel ihm etwas ein. „Moment, vielleicht habe ich etwas für dich. Da war vor einiger Zeit ein Anruf. Eine Frau wollte nur mit dir sprechen. Das ist schon länger her. Vier Wochen, sechs Wochen. Keine Ahnung.“

Suchend prüfte Born den unaufgeräumten Schreibtisch, durchwühlte die ungeordneten Aktenberge, die flüchtigen Vermerke auf den losen Spickzetteln.

„Du weißt, Ordnung war noch nie meine Stärke“, entschuldigte er sich.

„Um was ging es?“