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South Carolina, USA. Hinter der bonbonbunten Idylle des Städtchens Fort Mill schlummern Rassismus und religiöser Fanatismus. Als die Schwestern Stacy und Katlyn Maguire an Halloween überfallen und brutal misshandelt werden und Stacy dabei stirbt, schnell scheint klar zu sein, wer der Täter ist: Ein Obdachloser namens Allan Duhawney, der die Tat gesteht und zum Tode verurteilt wird. Doch ist hier alles mit rechten Dingen zugegangen? Detective Torres vom Morddezernat wirft einen zweiten Blick auf den Fall - und hegt Zweifel. Könnte es sein, dass der Falsche auf seine Hinrichtung wartet? Oder handelt es sich um ein raffiniertes Täuschungsmanöver des verurteilten Verbrechers? Schlüpfen Sie in dieser spannenden Mitmach-Krimireihe in die Rolle der Kriminalbeamten und beweisen Sie, dass Sie Lüge von Wahrheit unterscheiden können und treffsicher die richtigen Schlüsse ziehen. Doch Vorsicht: Wenn Sie sich irren, landet ein Unschuldiger im Gefängnis. Oder ein Täter bleibt auf freiem Fuß. Und falls Sie mal einen Tipp oder einen Denkanstoß brauchen, können Sie die im Buch verstreuten QR-Codes mit Ihrem Handy oder Tablet abfotografieren, und schon flüstert Ihnen ein V-Mann eine nützliche Information ins Ohr.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Marco Born-Miljak
Blutsbande
Gaunerspiele-Band 2
© Copyright Marco Born-Miljak
ISBN 978-3-7394-7976-7
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht, vervielfältigt oder weitergegeben werden. Änderungen am Inhalt sind untersagt. Bitte respektieren Sie die lange und harte Arbeit, die in einem solchen Werk steckt, und nehmen Sie auf die Urheberrechte Rücksicht.
Wenngleich die Geschichten dieser Buchreihe von realen Kriminalfällen inspiriert sein können und auf eine akkurate Wiedergabe wissenschaftlicher bzw. forensischer und kriminalistischer Fakten Wert legen, so sind doch alle Handlungen und Dialoge frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zu lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Satz:
Marco Born-Miljak
Covergestaltung:
Buchcoverdesign.de | Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de
Bildrechte:
Adobe Stock #362243260, Adobe Stock #223917190, Adobe Stock #249291856, Adobe Stock #195365048 und freepik.com
Impressum:
Marco Born-Miljak
Ortelsburger Straße 21
45770 Marl
Deutschland
marco.miljak@gmail.com
Außerdem vom Autor erschienen:
GROSSE BRÜDER
HINDEL – Der tapfere, kleine Verführungskünstler
Die tote Milliardärin (Gaunerspiele-Band 1)
Prinzessin Möchtegern
»Der wirkliche, echte Hass hat nur drei Quellen: Schmerz, Eifersucht oder Liebe.«
Hans Gustav Adolf Gross
(Begründer der Kriminalistik)
Willkommen bei den Gaunerspielen
Wie funktioniert das Buch?
Die Gaunerspiele sind eine Mitmach-Krimireihe. Sie bekommen einen Kriminalfall aus der Sicht der Ermittler erzählt und müssen die Spuren und Hinweise, Indizien und Erkenntnisse zusammentragen und ein abschließendes Fazit an die Staatsanwaltschaft abgeben. Liegt tatsächlich ein Verbrechen vor? Wer könnte daran beteiligt gewesen sein? Welche Zeugen sagen die Wahrheit, welche verstricken sich in Lügen und Widersprüche? Oder war alles nur ein Unfall und niemand trägt die Schuld daran?
Vorsatz oder Zufall, Verbrechen oder Schicksal, Sie müssen entscheiden. Doch Vorsicht: Treffen Sie Ihre Entscheidung weise und mit Bedacht, sonst landet ein Unschuldiger im Gefängnis. Oder ein Täter bleibt auf freiem Fuß.
Die Auflösung gibt es jeweils am Ende jeder Folge.
Nutzen Sie alle Quellen, die Sie haben.
Ob Forensikfachbuch oder Internet, der Freundeskreis oder Ihr eigenes kriminalistisches Bauchgefühl: Nutzen Sie alle Quellen, die Sie haben, um den Fall zu lösen. Die Beschreibungen in diesem Buch sind so lebensnah wie möglich und halten sich an wissenschaftliche Fakten. Hier zählt nicht, was Sie glauben oder meinen, hier zählt nur, was Sie beweisen können.
Kleine Tippgeber.
An manchen Stellen finden Sie sogenannte ›QR-Codes‹. Das sind diese lustigen Kästchen mit den wirren Mustern. Sie können sie mit Ihrem Handy oder Tablet einscannen und erhalten zusätzliche Hinweise und Tipps. Allerdings ist das kein Muss. Wenn Sie den Fall ohne diese Helferlein lösen möchten, dann steht Ihnen das frei. Jede Geschichte ist so erzählt, dass sie allein durch die Hinweise im Text aufgeklärt werden kann. Probieren Sie es einfach aus und schauen Sie, was passiert.
Übrigens: Sollte Ihr Handy oder Ihr Tablet die QR-Codes nicht einlesen können (oder eine Fehlermeldung anzeigen), dann müssen Sie sich ggf. eine zusätzliche QR-Scanner-App herunterladen und installieren. Und Sie brauchen nichts zu befürchten, die Codes enthalten lediglich einen kurzen Text.
In diesem Sinne: Viel Spaß beim Rätseln und Raten!
Allen Kriminologen gewidmet, die tagtäglich hart dafür arbeiten, dass Opfern Gerechtigkeit widerfährt.
Der Fall
Montag, 31. Oktober 2016
Aktenzeichen: 9201 (Maguire, Stacy)
Der Bezirk Baxter Village war eine klischeehaft schöne Siedlung in Fort Mill, South Carolina. Sie entsprach ziemlich genau dem, was man sich im Ausland unter einem typisch amerikanischen Städtchen vorstellte: Traditionelle Holzhäuser mit ausladenden Veranden und bonbonbunten Fassaden, an denen stolz eine Flagge baumelte. In den Vorgärten sprießte saftiggrüner Rasen, Blumenbeete mit pastellfarbenen Krokussen wiesen einem den Weg zu den jeweiligen Haustüren, und an manchen Stellen lag Spielzeug herum und zeugte von unbeschwerten Stunden ebenso unbeschwerter Kinder.
Baxter Village war ein Vorzeigeort. Ein wahrgewordenes Postkartenidyll. Wer auch immer hierher kam, fühlte sich in einen Traum versetzt. Jeder Straßenzug, jede Gabelung, jeder Winkel und jeder Platz strahlte so viel Harmonie und Friedlichkeit aus, dass es sich beinahe unwirklich anfühlte.
Und der Schein trügte nicht. Denn in Baxter Village hatte es seit Jahren kein nennenswertes Verbrechen mehr gegeben. Hier und da hatte die Polizei ausrücken müssen, um übermütige Teenager zu mäßigen oder bei einer allzu lauten Grillparty für Ruhe zu sorgen, doch ansonsten gab es für die Ordnungshüter nicht allzu viel zu tun. Die Menschen lebten ihr Leben, kümmerten sich um ihre Familien, pflegten ihre Gärten, besuchten die Gottesdienste und plauderten nach Feierabend mit ihren Nachbarn und Freunden.
Alles schien perfekt zu sein.
Zumindest bis zu jener Nacht an Halloween.
Wie in den Jahren zuvor hatten die Bewohner ausgehöhlte Kürbisse auf ihre Veranden gestellt, von Dachvorsprüngen baumelten Skelette aus Pappmaschee herab, und Kinder zogen in verspielt gruseligen Kostümen von Haustür zu Haustür, riefen »Trick or treat?« und sammelten Süßigkeiten ein. Der Abend ging irgendwann in die Nacht über, die Straßen leerten sich, die Lichter hinter den Fenstern erloschen und in der Siedlung kehrte Ruhe ein.
Bis um kurz vor ein Uhr morgens ein gellendes Sirenengeheul die Stille zerriss.
Zwei Streifenwagen der örtlichen Polizei rasten heran. Sie hielten vor einem der Häuser in der Torchwood Road, die Fahrer rissen ihre Türen auf, sprangen aus den Fahrzeugen und liefen mit der Hand an der Waffe zum Hauseingang.
»Geh hinten rum!«, befahl Ersterer seinem Begleiter.
Jener nickte und verschwand.
Der verbliebene Beamte baute sich seitlich neben der Tür auf, hämmerte mit seiner Faust mehrmals dagegen und rief: »Fort Mill Police Department, öffnen Sie!«
Wie zur Antwort drang aus dem Inneren des Hauses ein gequältes Wimmern.
Der Beamte klopfte erneut.
»Hier ist die Polizei, öffnen Sie!«
Doch nichts geschah. Das Wimmern wurde indes immer lauter, immer eindringlicher, es hörte sich beinahe wie ein Schluchzen an.
»Paul?«, knarrte es plötzlich aus dem Funkgerät des Beamten. »Ich bin auf der Rückseite des Hauses. Hier ist eine Terrassentür mit eingeschlagener Scheibe.«
»Okay«, erwiderte jener. »Bleib, wo du bist, ich komme zu dir.«
Der Beamte verließ seinen Platz und lief über einen schmalen Pfad aus quadratischen Steinplatten bis zur straßenabgewandten Seite des Hauses. Als er dort angekommen war, deutete sein Kollege auf eine Tür aus filigranem Glas und geschnitztem Holz. Eine der Scheiben war oberhalb des Türknaufs zertrümmert. Die Tür stand eine Handbreit offen, am Knauf selbst konnte man verschmierte Blutanhaftungen erkennen. Der Raum dahinter versank in Dunkelheit.
Die Beamten leuchteten mit ihren Taschenlampen hinein. Auf der linken Seite stand eine kissenverzierte Couch, auf der rechten ein Fernseher auf einer wuchtigen, relativ altmodischen Kommode. In dem schmalen Winkel zwischen Terrassentür und Wohnzimmerwand, auf einer Fläche von etwa dreißig mal dreißig Zentimetern, lagen Scherben auf dem Teppichboden, die von der Tür zu stammen schienen. Des Weiteren konnte man blutige Fußabdrücke erkennen, die von der Schwelle der Terrasse quer durch den Raum und aus diesem hinausführten.
Der erste Beamte drückte die beschädigte Tür vorsichtig nach innen, bis sie sich nahezu gänzlich geöffnet hatte. Kurz vor der Wand verfing sie sich in den herumliegenden Scherben und gab ein widerborstiges Schleifen und Kratzen von sich. Dann traten die beiden ein. Sie folgten den schmierigen, purpurroten, unförmigen Flecken bis zu einem angrenzenden Flur, in dem eine Treppe zum nächsthöheren Stockwerk führte. Man konnte ein feines Leuchten oder Glimmen am Kopfende ausmachen – offenbar die einzige Lichtquelle in dem Haus, denn alle anderen Räume waren ebenso düster wie jener, den sie gerade durchquert hatten. Auf den einzelnen Treppenstufen klebte ebenfalls Blut.
»Hallo?«, rief der vorangehende Polizist. »Fort Mill Police Department.«
Er bekam keine Antwort.
Die beiden Männer stiegen langsam nach oben, in alle Richtungen spähend und auf Geräusche oder Bewegungen achtend, bis sie schließlich in einem schmalen Gang vor einer geschlossenen Zimmertür standen. Dahinter brannte Licht. Es drang durch einen schmalen Schlitz am Fußende der Tür. Und das Jammern und Wehklagen wurde mit jeder Sekunde lauter.
»Hören Sie?«, rief der erste Beamte und klopfte. »Hier ist die Polizei! Wir kommen rein.«
Wieder keine Antwort.
Der Beamte legte seine Hand auf den Knauf und wollte öffnen. Dabei bemerkte er, dass auch dieser blutbeschmiert war. Das Messing war glitschig und schwer zu fassen, seine Finger in dem schützenden Handschuh rutschten immerzu ab, was dazu führte, dass sich der Knauf in seine ursprüngliche Position zurückdrehte. Nach zwei Versuchen hatte er es endlich geschafft. Die Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf.
Was die Männer dann sahen, würden sie für den Rest ihres Lebens nicht vergessen können.
Auf einem ausladenden, bunt geblümten Bett an der gegenüberliegenden Seite des Raumes lag eine Frau. Sie war splitternackt. Ihre Arme waren über den Kopf gestreckt und mit einem Kabel oder einer Schnur an einen der Bettpfosten gefesselt. Ihr Körper war mit unzähligen Striemen, Kratzern, Blutergüssen und Wunden überzogen, vom Scheitel bis zur Sohle. Ihr langes und blondes Haar war zerzaust und verklebt, und ihr Kopf war derart verstümmelt worden, dass sie nur noch eine groteske Fratze aus Knochensplittern, Fleischfetzen und Hirnmasse besaß. Das Bettlaken unter ihr war verhältnismäßig sauber geblieben, dafür jedoch klebte an den Möbeln und den Wänden, auf dem Fußboden, sogar an der Decke und der innen liegenden Zimmertür ein Meer aus Blutspritzern. Sie schienen überall zu sein. Ein stummes, grausames Zeugnis der unfassbaren Brutalität, die sich hier drin abgespielt hatte.
Den Polizisten verschlug es den Atem.
»Grundgütiger Himmel«, keuchte einer der beiden. Er und sein Kollege standen fassungslos an der Türschwelle und versuchten, das Gesehene zu begreifen.
Dann jedoch nahmen sie eine Bewegung wahr.
Links neben dem Bett kauerte eine weitere Frau. Auch sie war nackt, jedoch schien sie deutlich weniger Verletzungen zu haben. Sie hatte sich wie ein Fötus auf dem Boden zusammengerollt, die Knie eng an ihre Brust gezogen und die Arme schützend über den Kopf gelegt. Leise und gequält schluchzte sie vor sich hin.
Die Beamten lösten sich augenblicklich aus ihrer Schockstarre und liefen zu den beiden Opfern.
»Hallo? Ma'am?«, wandte sich Ersterer an die Frau auf dem Boden. »Hier ist die Polizei. Verstehen Sie mich?«
Sie reagierte nicht.
»Ma'am? Können Sie mich verstehen?«
Er bekam keine Antwort.
Der Beamte griff nach seinem Funkgerät.
»Hier ist Wagen 12, wir brauchen dringend einen Krankenwagen in die Torchwood Road, Hausnummer 1872«, sagte er. »Zwei schwer verletzte weibliche Personen.«
Er sah zu seinem Kollegen auf.
Dieser hatte bei der Frau auf dem Bett nach Lebenszeichen gesucht, war aber – wenig überraschend – nicht fündig geworden. Erschüttert starrte er an diejenige Stelle, an der einst ihr Gesicht gewesen war, dann erwiderte er den Blick seines Kollegen und schüttelte betroffen den Kopf.
»Ich korrigiere«, ergänzte jener matt. »Einen Krankenwagen und die Mordkommission. Wir haben hier eine Tote.«
In diesem Augenblick stieß die Frau auf dem Boden einen markerschütternden Schrei aus. Er war so laut und durchdringend, dass die Beamten instinktiv zusammenzuckten.
»Ma'am?«, rief der Polizist neben ihr. »Können Sie mir sagen, was hier geschehen ist?«
»Stacy!«, schrie die Frau. »O Gott, Stacy!«
»Ma'am, was ist passiert?«
Diesmal bekam er eine Antwort.
»Ein Mann«, stammelte sie. »Da war ein Mann ...!«
»Ein Mann war hier?«
Sie deutete ein Nicken an.
»Wer war das? Kennen Sie ihn oder war es ein Fremder?«
Ohne auf seine Frage einzugehen, hob sie zitternd ihre Hand und deutete auf die blutbesudelte Zimmertür.
»Er ist gerade erst hier raus«, presste sie hervor.
Der Beamte stockte.
»Er ist gerade erst hier raus?«, wiederholte er ihre Worte, nur um sicherzugehen, dass er sie richtig verstanden hatte.
Die Frau nickte abermals.
Der Polizist griff sofort nach seinem Funkgerät und gab eine weitere Meldung durch.
»Wir brauchen hier Verstärkung«, sagte er hektisch. »Wir haben eine flüchtige Person.« Dann sah er erneut zu seinem Kollegen: »Sieh dich im Rest des Hauses um, ob sich der Typ noch irgendwo versteckt hält.«
»Alles klar.« Jener zog seine Waffe und verließ den Raum.
Der Blick des verbliebenen Polizisten wanderte von der Frau auf dem Boden, die immer noch schluchzend und wimmernd vor ihm lag, zu der Frau auf dem Bett.
Wer tut nur so was?, fragte er sich stumm, während ihm die Umstände dieser Tat immer bewusster wurden. Dieser Ort sah aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm.
* * *
Eine halbe Stunde später waren sechs weitere Streifenwagen sowie eine Ambulanz vor dem Haus in der Torchwood Road eingetroffen. Die überlebende Frau wurde notärztlich versorgt und anschließend in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Zeitgleich versammelten sich schwer bewaffnete und gepanzerte Polizisten auf dem Vorplatz vor der Veranda. Jedem von ihnen war die Anspannung deutlich anzusehen, unter der sie standen. Denn die Familie, die das Schicksal in jener Nacht so grausam ereilt hatte, war in Baxter Village hoch angesehen und sehr beliebt. Der Vater, Jeff Maguire, war Pastor der ortsansässigen Baptistengemeinde, ein stattlicher, kräftiger Mann in seinen Fünfzigern, mit beeindruckender Baritonstimme, die er gekonnt einzusetzen wusste, wann immer es galt, das Wort des Herrn zu verkünden. Seine Frau Rahel war das perfekte Pendant zu ihm: Eine zierliche, sympathische, immerzu lächelnde ältere Dame, die für jeden eine helfende Hand hatte, ganz gleich, worum es ging. Sie war Hausfrau und lebte für ihre Familie und ihre Gemeinde – wobei Ersteres manchmal zu kurz kam. Ihrer Überzeugung nach lag nämlich die erste und oberste Pflicht eines jeden Menschen vor allem darin, dem Allmächtigen zu dienen. Aus diesem Grund fand man sie immerzu an der Seite ihres Mannes, als stille, fleißige, nimmermüde Helferin, die die Gottesdienste vorbereitete, neuen Besuchern die Hand schüttelte, für wichtige Anliegen betete oder ihren Mann in Fragen der Bibelauslegung beriet. Auch an religiösen Seminaren und Workshops – seien sie im Inland oder Ausland – nahmen die Maguires stets gemeinsam teil. Dies war auch der Grund, weshalb sie in jener schicksalhaften Nacht nicht, wie sonst üblich, zu Hause gewesen waren, sondern in Schweden weilten, um mit einem dort ansässigen Pfarrer über die Wirkungen des Heiligen Geistes zu debattieren. Aus demselben Grund hatten sie zu dem Zeitpunkt, als die Suche nach dem Täter bereits in vollem Gange war, nicht die geringste Ahnung davon, was in Baxter Village vorgefallen war und dass von ihren beiden Töchtern Stacy und Katlyn nur noch eine lebte – nämlich die jüngere.
»Wir haben nicht viele Informationen über den Täter«, fasste einer der Polizisten die Faktenlage zusammen. »Nur so viel: Das überlebende Opfer hat ihn als Mann mittleren Alters beschrieben, etwa einen Meter achtzig bis einen Meter neunzig groß, schlank, mit kurzem, braunem Haar und braunen Augen. Er trägt eine Jeans und eine schwarze Jacke.«
»Ist er bewaffnet?«, fragte einer der Kollegen aus der Runde.
»Wissen wir nicht. Aber definitiv gewaltbereit. Seid also vorsichtig und wachsam.«
Die Anwesenden brummten bestätigend, dann schwärmten sie in alle Himmelsrichtungen aus und durchkämmten die Siedlung.
Die Suche dauerte bis in die Morgenstunden hinein. Immer neue Streifenwagen eilten herbei, immer mehr Polizisten liefen durch die Straßen, klingelten an Türen, prüften Hinterhöfe, Gartenlauben, Keller und Garagen, errichteten Straßensperren, stoppten Fahrzeuge, die aus der Stadt heraus oder in sie hinein wollten, notierten Kennzeichen und Namen. Zwei Hubschrauber flogen das Gebiet weiträumig ab und meldeten jede verdächtige Person und jedes verdächtige Verhalten am Boden an ihre Kollegen.
Binnen weniger Stunden war Fort Mill in heller Aufregung. Als die Menschen in der Nachbarschaft von dem schrecklichen Verbrechen erfuhren, welches sich nur wenige Meter von ihnen entfernt ereignet hatte, ergriff sie die blanke Panik. Haustüren wurden abgesperrt und Fenster verriegelt, Kinder durften nicht mehr zum Spielen in die Gärten, und wer auch immer nach draußen musste, tat dies mit einem flauen Gefühl und in ständiger Angst.
Pünktlich zur Frühstückszeit wurde im Radio bekannt gegeben, dass die Polizei auf der Suche nach dem Täter auf sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung hoffe. Details zu seinem Aussehen wurden genannt. Als Folge dessen schaukelten sich Panik und Paranoia unter den Menschen in Fort Mill gegenseitig auf. Plötzlich sah man in jedem Unbekannten einen Verdächtigen, jede noch so unbedeutende Kleinigkeit ließ die Telefonleitungen der Polizei heißlaufen. Das Fort Mill Police Department musste Verstärkung aus den umliegenden Städten und Bezirken anfordern, um der Flut der Anrufe Herr zu werden, allen Hinweisen nachzugehen und jeden Tipp überprüfen zu können.
Als der Nachmittag schließlich angebrochen war, wurde eine Streife zu einem Supermarktparkplatz in der Nähe des Zentrums gerufen, auf dem Zeugen einen älteren Mann beobachtet hatten, zu dem die Täterbeschreibung passte. Er trug die richtigen Sachen, hatte die richtige Größe. Erschwerend kam hinzu, dass er im Gesicht und an den Händen auffällige Kratzer und Verletzungen aufwies, die von einem Kampf herrühren konnten. Die Streife machte ihn daher ausfindig, stellte ihn und nahm ihn in Gewahrsam.
Auf dem Revier fanden die hinzugezogenen Detectives der Mordkommission aus Columbia heraus, dass es sich bei dem Mann um einen Obdachlosen namens Allan Duhawney handelte, der immer mal wieder in Fort Mill auftauchte und den Rest seiner Zeit in Charlotte lebte. Polizeilich in Erscheinung getreten war er noch nie, wenn man von gelegentlichen Platzverweisen wegen Trunkenheit absah. Auch war er niemandem als aggressiv oder gewalttätig bekannt gewesen. Auf die Frage der Detectives hin, woher er die Verletzungen an seinem Körper hatte, konnte er ihnen allerdings keine zufriedenstellende Antwort geben, und im weiteren Verlauf des Verhörs verzettelte er sich zunehmend in Widersprüche und Ungereimtheiten und gestand schließlich die Tat in der Torchwood Road. Aus diesem Grund erließ der zuständige Richter einen Haftbefehl, worauf Duhawney in das Kirkland-Gefängnis in Columbia überführt wurde.
Der Druck, der auf den Detectives lastete, wurde dadurch allerdings nicht weniger. Ganz im Gegenteil. Erste Details der Verhaftung sickerten an die Presse durch, und ab da gab es kein Halten mehr. Das Fort Mill Police Department sowie das Büro der Mordkommission in Columbia wurden von Reportern regelrecht belagert. Übertragungswagen parkten beidseits entlang der Zufahrtswege, rund um die Uhr wurden Aufnahmen gemacht, Interviews geführt, Vermutungen angestellt, Liveschaltungen vorgenommen. Wann immer jemand die Gebäude betrat oder verließ, witterten die Reporter eine berichtenswerte Nachricht. Die am häufigsten gestellte Frage in jener Zeit war: »Wie sicher sind Sie sich, den Richtigen erwischt zu haben?«
Genau darin lag jedoch das Dilemma der Detectives: Sie waren sich nicht sicher! Duhawneys Geständnis hin oder her, einen Mann alleine aufgrund seiner Äußerlichkeiten, einiger widersprüchlicher Aussagen und eines Geständnisses zu verhaften, war eine sehr schmale und gefährliche Gratwanderung, die vor einem Geschworenengericht leicht ins Auge gehen konnte. Sein Alter, sein Aussehen, seine Kleidung, all das passte streng genommen zu Hunderten, wenn nicht sogar Tausenden von Menschen in den gesamten Vereinigten Staaten. Und auch ein Geständnis hatte noch nichts zu bedeuten, wenn es sich nicht durch Spuren und Fakten untermauern ließ. Die Detectives benötigten also einen handfesten Beweis dafür, dass Duhawney der Täter war und es niemand anderes gewesen sein konnte.
Aus diesem Grund befragten sie das überlebende Opfer im Krankenhaus und baten es, sich Fotos von Männern anzusehen, die der Täterbeschreibung möglichst nahekamen und unter denen auch Duhawney war. Sie wollten von der jungen Frau wissen, ob sie einen von ihnen als denjenigen wiedererkannte, der sie und ihre Schwester überfallen hatte.
Anfangs war sie sich nicht sicher. Zögerlich betrachtete sie die Bilder und tippte mal auf den einen, mal auf den anderen Verdächtigen, stets mit dem Hinweis, sie würde sich nicht mehr an alle Details jener Nacht erinnern können. Dann jedoch, nach einer längeren Befragung, zeigte sie plötzlich auf Duhawney und war sich absolut sicher, in ihm den Täter wiedererkannt zu haben. Selbst als die Detectives nachfragten, ob sie sich sicher sei, blieb sie bei dieser Aussage. Duhawney sei definitiv der Mann, der in jener Nacht in das elterliche Haus eingebrochen war und sie und ihre Schwester so fürchterlich zugerichtet hatte.
Damit hatten die Detectives den Beweis, den sie benötigten. Das Opfer hatte den Täter eindeutig identifiziert. Duhawney wurde vom Bezirksstaatsanwalt von Columbia wegen Mordes, Vergewaltigung, schwerer Körperverletzung und Einbruchs angeklagt, und nach einem hochemotionalen, mehrwöchigen Prozess, in dem auch die Eltern der Getöteten eine flammende und sehr tränenreiche Rede hielten, zum Tode verurteilt. Sein Anwalt, ein relativ junger Mann namens Bill Clivesdean, der ihn als Pflichtverteidiger vertrat, gab nach dem Prozess an, sein Mandant würde auf das Recht zur Berufung verzichten, um der Familie des getöteten Mädchens und auch der Bevölkerung von Baxter Village diese Belastung zu ersparen.
Damit war Allan Duhawneys Schicksal besiegelt. Er wurde in den Todestrakt des Broad River-Gefängnisses verlegt – ein bedrückend enger Zellenblock mit schweren Türen, massiven Mauern und feinmaschigen Gittern, in dem die Insassen getrennt von den restlichen Häftlingen auf die Vollstreckung ihres Urteils warten.
Dort sitzt er bis heute ein.
Tipp 1
3 Jahre später.
Die Wiederaufnahme
Donnerstag, 07. März 2019, 14:21 Uhr
Criminal Investigations Division, Columbia
»Robert, haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Sein Chef sah müde aus, bemerkte Detective Torres, als er von seinem Schreibtisch und den darauf befindlichen Unterlagen zu ihm aufsah. Müde und gestresst. Überraschend war das nicht, denn Paul Bishop sah immer gestresst aus, wenn man ihm begegnete, das war seinem Job geschuldet. Diesmal jedoch war es extremer als sonst. Die Falten unter seinen Augen, die im Lauf der Zeit zu seinem Markenzeichen geworden waren, stachen überdeutlich hervor und er wirkte blass und ausgezehrt. Fahrig nestelte er an seinem Krawattenknoten herum, lockerte ihn ein wenig, dann deutete er auf sein Büro am anderen Ende des weitläufigen Raumes.
»Kommen Sie«, sagte er. »Ich muss mit Ihnen sprechen.« Er wandte sich ab und ging, ohne auf eine Antwort zu warten.
Detective Torres erhob sich und folgte seinem Chef.
Vier Jahre arbeitete er mittlerweile für die Criminal Investigations Division. Davor war er sieben Jahre lang Mordermittler in Pittsburgh, Pennsylvania gewesen und war dann mit seiner Frau nach Springdale gezogen, einem kleinen und sehr beschaulichen Ort knapp fünf Kilometer südwestlich von Columbia. Sie hatten diese Entscheidung ganz bewusst getroffen. Einerseits war es ihnen darum gegangen, ein besseres Auge auf die Eltern seiner Frau werfen zu können, die dort lebten und mit einer angeschlagenen Gesundheit zu kämpfen hatten. Von Zeit zu Zeit benötigten sie Hilfe und Unterstützung, die ihnen Torres und seine Frau auf diese Weise deutlich besser zukommen lassen konnten. Zum anderen war es ihnen auch darum gegangen, früher oder später ein Kind in die Welt zu setzen, und dieses wollten sie nicht in der Hektik einer Stadt wie Pittsburgh großziehen. Ein kleines Haus auf dem Lande, inmitten blühender Wiesen und freier Felder war aus ihrer Sicht ein deutlich besserer Platz dafür.
Zu dem Kind war es bisher noch nicht gekommen, trotz der vier Jahre in Springdale. Weder Torres' lange Arbeitszeiten noch die sehr intensive Pflege seiner Schwiegereltern ließen dies zu. Doch er und seine Frau planten munter weiter und hatten sich das feste Ziel gesetzt, diesen Wunsch in spätestens zwei Jahren umzusetzen. Dann wäre er sechsunddreißig und seine Frau dreiunddreißig. In der heutigen Zeit ein absolut normales und akzeptables Alter, um Nachwuchs zu zeugen.
Als er das Büro seines Chefs betreten und hinter sich die Tür geschlossen hatte, saß jener bereits an seinem dunklen, schweren, sehr alten und mit unzähligen Papierstapeln übersäten Schreibtisch, deutete auf einen der Stühle auf der gegenüberliegenden Seite und sagte: »Setzen Sie sich, Robert.«
Torres tat es.
Sein Chef holte eine Akte aus einer der seitlichen Schubladen heraus. Er schob ein paar Notizzettel und Stifte beiseite, um sich Platz zu machen, dann legte er die Akte vor sich hin und schlug sie auf.
»Erinnern Sie sich an den Fall Duhawney?«, fragte er. »Die Mordsache in Fort Mill vor drei Jahren?«
Der Angesprochene überlegte.
»Nur dunkel, wenn ich ehrlich bin. Da war irgendwas mit einer Familie ...«
»Ja, genau«, fiel ihm sein Chef ins Wort. »Die Maguires. Ihre beiden Töchter wurden in der Nacht von Halloween auf den ersten November in ihrem Elternhaus überfallen, brutal misshandelt und vergewaltigt. Die ältere Tochter, Stacy, hat das nicht überlebt. Der Schweinehund hat sie so übel zugerichtet, dass man sie kaum noch wiedererkennen konnte. Ihre jüngere Schwester Katlyn hat mehr Glück gehabt.«
»In Ordnung«, nickte Torres. »Und was weiter?«
»Stunden nach der Tat wurde ein Mann namens Allan Duhawney verhaftet, ein Obdachloser. Er hatte auffällige Verletzungen im Gesicht und an den Händen, die er nicht erklären konnte, und im Lauf des Verhörs hat er die Tat eingestanden. Außerdem wurde er von dem überlebenden Opfer als derjenige identifiziert, der bei ihnen eingebrochen war und sie angegriffen hat. Eine eindeutige Sache. Die Geschworenen haben nicht einmal zwei Stunden gebraucht, um Duhawney in die Todeszelle zu schicken.«
Sein Chef reichte Torres ein Blatt, auf dem ein Foto von Duhawney abgebildet war. Es handelte sich um eines dieser klassischen Polizeibilder, auf denen die Fotografierten mit leerem, desillusioniertem Blick in die Kamera starrten und ein Schild mit dem Namen der Polizeibehörde und dem Datum der Aufnahme in ihren Händen hielten. Duhawney wirkte – wenn man die erwähnten Verletzungen unbeachtet ließ – wie ein ganz normaler Typ von der Straße: Krauseliges, ungepflegtes, schwarzgraues Haar mit feinem Glatzenansatz, schmale Wangen, wettergegerbte Haut, aufgequollene, rötlich verfärbte Trinkernase. Seine Augen blickten einen aus dunklen, eingefallenen Höhlen an und seine rechte Schulter hing irgendwie schief und unnatürlich herunter, so als könne er sie nicht richtig anheben.
»Sieht nicht gerade wie ein kaltblütiger Mörder aus«, resümierte Torres.
»Das tun sie nie«, brummte sein Chef kühl. »Wie auch immer: Der Fall könnte neu aufgerollt werden.«
Torres gab den Zettel an seinen Chef zurück.
»Wieso das?«, wollte er wissen.
»Nun, da gibt es einen Anwalt in Columbia, Gregory Harper ist sein Name. Er hat sich auf Wiederaufnahmeverfahren spezialisiert, auf Berufungen bei Fällen, die seiner Meinung nach nicht vorschriftsmäßig gelaufen sind. Er hat sich der Sache mit Duhawney angenommen und versucht jetzt, einen neuen Prozess für ihn durchzusetzen.«
»Hat er damit irgendwelche Chancen?«
»Genau das ist der springende Punkt, Robert: Ich weiß es nicht! Und deswegen will ich, dass Sie seine Argumente und Beweise prüfen. Unsere Abteilung hat damals die Ermittlungen durchgeführt, unsere Leute haben dafür gesorgt, dass Duhawney zum Tode verurteilt wurde. Der Fall hat ein riesiges Medienecho nach sich gezogen und war tagelang das Topthema in den Nachrichten.«
»Ja, ich erinnere mich wieder«, bestätigte Torres.
»Ich will nicht, dass es hinterher heißt, wir hätten einen Unschuldigen in die Todeszelle geschickt. Verstehen Sie mich? Das würde ein katastrophales Licht auf unsere Abteilung werfen und eine Lawine von Wiederaufnahmeverfahren auslösen. Jeder verurteilte Kriminelle der letzten Jahre würde versuchen, einen Gewinn für sich herauszuschlagen. Prüfen Sie daher die Sache mit Duhawney und stellen Sie sicher, dass alles wasserdicht und streng nach Vorschrift abgelaufen ist.«
Torres überdachte das Gehörte.
»Wäre es nicht sinnvoller«, fragte er, »die Ermittlungen an dieselben Beamten zu übergeben, die den Fall damals bearbeitet haben? Sie kennen sich mit den Details deutlich besser aus als ich und werden am ehesten beurteilen können, ob dieser Harper mit seinen Behauptungen recht hat oder nicht.«
»Prinzipiell stimme ich Ihnen zu. Aber zum einen will ich jemanden, der einen frischen und unvoreingenommenen Blick auf die Sache wirft, und zum anderen ist Hank Whitmore mittlerweile im Ruhestand. Er hat damals die Ermittlungen geleitet. Und sein Partner Thomas Briant ist zur Abteilung für Sexualverbrechen gewechselt.«
Torres kannte beide. Vor allem Whitmore war ihm in Erinnerung geblieben, denn er hatte ihn als einen kantigen, etwas ruppigen alten Mann erlebt, der kein Blatt vor den Mund nahm, einen brillanten Verstand besaß, ein Profi bei Verhören war und vorbehaltlos zu seinen Kollegen hielt. Als Torres neu zur Division dazugestoßen war, hatte ihn Whitmore unter seine Fittiche genommen und ihm geholfen, sich an seiner neuen Arbeitsstelle zurechtzufinden. Torres sah daher keinen Grund, an der einwandfreien Durchführung der Ermittlungen im Duhawney-Fall zu zweifeln. Andererseits wusste er, dass auch dem Besten einmal Fehler unterliefen. Er würde daher die Sympathie, die er Whitmore gegenüber empfand, bewusst außen vor lassen und die Sache unbefangen angehen müssen.
»Da gibt es noch einen anderen Grund, weshalb ich Sie bei dem Fall gerne dabeihaben möchte«, sagte sein Chef und rieb sich die Stirn. »Wissen Sie, also ... na ja ...« Er räusperte sich. »Sie haben afrikanisch-hispanische Wurzeln, nicht wahr?«
Torres zog verwundert die Augenbrauen hoch. Noch nie hatte ihn sein Chef auf seine Abstammung angesprochen. Obwohl Paul Bishop so weiß war, wie man als Mann in Amerika nur sein konnte, um zur privilegierten Mittelschicht zu gehören, und obwohl South Carolina zu den konservativsten und religiösesten Regionen des Landes gehörte, war sein Chef ein unvoreingenommener und weltoffener Mann. Wann immer man ihn über Politik reden hörte, wetterte er gegen Donald Trump und die Republikaner und machte aus seiner Verachtung ihnen gegenüber keinen Hehl.
»Eine Bande von Verbrechern!«, tönte er stets. »Die müsste man alle einsperren, jeden Einzelnen!«
Aus diesem Grund hatte es für Torres noch nie einen Anlass gegeben, sich für seine dunklere Hautfarbe oder für sein markantes, eindeutig hispanisch verwurzeltes Äußeres rechtfertigen zu müssen.
»Ja«, antwortete er zögerlich. »Das ist korrekt. Mein Vater ist Afroamerikaner, meine Mutter Mexikanerin. Aber warum spielt das eine Rolle?«
»Nun ja«, erwiderte sein Chef. Es war ihm sichtlich unangenehm, dieses Gespräch zu führen. »Duhawney ist ebenfalls Mexikaner. Zwar nur zur Hälfte, aber ich will trotzdem nicht, dass irgendjemand die Rassistenkarte spielt und uns vorwirft, wir hätten den Mann aufgrund seiner Abstammung in die Todeszelle geschickt. Seit dieser Verrückte im Weißen Haus sitzt, haben wir schon genug Ärger mit diesem Thema.«
Torres verstand und nickte.
»Können Sie den Fall übernehmen und sicherstellen, dass hier alles sauber gelaufen ist?«, fragte ihn sein Chef.
»Natürlich. Ich brauche aber Zugriff auf alle Unterlagen, Notizen und Beweismittel von damals, und eine Liste aller beteiligten Personen.«
Sein Chef griff abermals in die Schublade und zog eine dunkelbraune, kartonierte Mappe heraus. Sie war etwa fünf Zentimeter dick und mit einer rötlichen Kordel verschnürt.
»Hier«, sagte er und reichte sie über den Schreibtisch. »Das ist die Ermittlungsakte im Duhawney-Fall. Den Rest erhalten Sie in unserer Asservatenkammer und im Archiv. Die dafür nötige Erlaubnis liegt in der Akte obenauf. Den Autopsiebericht habe ich angefordert, der wird Ihnen in den nächsten Tagen zugestellt werden. Den Bericht der Spurensicherung finden Sie ebenfalls in der Akte.«
Torres nahm die Mappe an sich und musterte die Vermerke auf dem Deckblatt. In den hingekritzelten Zahlen und Buchstaben erkannte er Whitmores charakteristische Handschrift wieder.
»Was wird aus meinem aktuellen Fall?«, fragte er, während er die Kordel behutsam löste und einen ersten Blick auf den Inhalt der Mappe warf.
»Der Tote in Woodfield?«
»Ja.«
»Wie weit sind Sie denn mit der Sache?«
»Wir haben einen Verdächtigen verhaftet und verhört. Meiner Meinung nach reichen die Beweise aus, um ihn anzuklagen, aber ich hätte gerne noch sein Umfeld beleuchtet, um auszuschließen, dass er einen Mittäter hatte.«
»Kann das Valentine übernehmen?«
Pete Valentine war Torres' Partner und hatte mit ihm zusammen den erwähnten Verdächtigen ermittelt.
»Sicher«, erwiderte er daher. »Das sollte kein Problem darstellen.«
»Gut, dann machen wir es so. Sie übernehmen den Duhawney-Fall und Valentine die Sache in Woodfield.
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