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Stell' Dir vor, jemand kennt alle Deine Geheimnisse ...! Ein junger Student erhält einen verstörenden Anruf von einer unbekannten Nummer, bei dem eine Stimme panisch um Hilfe schreit, dann bricht die Verbindung ab und ist tot. Eine Frau wird nach einem Discobesuch entführt, eingesperrt, gefoltert und verhört - ohne zu wissen, warum. Ein IT-Spezialist der Regierung wird plötzlich auf Schritt und Tritt von Unbekannten verfolgt. Drei Schicksale, drei Menschen, die sich nie zuvor begegnet sind, und doch hängen ihre Geschichten auf eine Art und Weise zusammen, die sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hätten. Sie alle sind in eine Welt geschlittert, die sie ihr Leben kosten könnte - eine Welt der globalen Überwachung, Spionage und digitaler Terroranschläge. Schon bald sind ihnen nicht nur diverse Geheimdienste auf den Fersen, sondern auch eine geheimnisvolle Organisation, die alles über sie zu wissen scheint und mit gnadenloser Brutalität vorgeht. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Marco Born-Miljak
GROSSE BRÜDER
(Thriller)
© Copyright Marco Born-Miljak
ISBN 978-3-7393-1433-4
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht, vervielfältigt oder weitergegeben werden. Änderungen am Inhalt sind untersagt. Bitte respektieren Sie die lange und harte Arbeit, die in einem solchen Werk steckt, und nehmen Sie auf die Urheberrechte Rücksicht.
Wenngleich Teile dieses Buches auf wahren Begebenheiten und tatsächlichen historischen Ereignissen beruhen, ist dennoch die Geschichte rein fiktiv und frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen oder zu real existierenden Firmen oder Institutionen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Covergestaltung & Satz:
Marco Born-Miljak
Bildrechte:
Adobe Stock #133433020 (Cover-Hintergrund), Marco Born-Miljak (Cover-Mittelmotiv)
Impressum:
Marco Born-Miljak
Ortelsburger Straße 21
45770 Marl
Deutschland
Außerdem vom Autor erschienen:
HINDEL – Der tapfere, kleine Verführungskünstler
Die tote Milliardärin (Gaunerspiele-Band 1)
Blutsbande (Gaunerspiele-Band 2)
Prinzessin Möchtegern
»Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich mache, der Name jedes Gesprächspartners, jeder Ausdruck von Kreativität, Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird.«
(Edward Snowden)
Prolog
Langsam, ganz langsam schienen sich die Nebelschwaden zu lichten, die Renés Sinne eingehüllt hatten. Er versuchte, sich zu bewegen, seine Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Jede Faser seines Körpers war von einem derart großen Phlegma durchdrungen, dass das Einzige, was er in jenem Moment zu tun vermochte, war, seinen Mund mit den trockenen Lippen tonlos zu öffnen und wieder zu schließen. Dann glitt er zurück ins Nichts.
Die Zeit verging. Ob es Minuten oder Stunden waren, konnte er nicht sagen. Er wusste nicht, was mit ihm los war und warum er sich so grauenhaft schwer und kraftlos fühlte. Etwas in seinem Kopf schien sich verzweifelt in sein Bewusstsein zu kämpfen, ein Gedanke, von dem er ahnte, dass er nichts Gutes verhieß. Doch sein Kopf war zu träge, um ihn wahrzunehmen. Sein Verstand war wie gelähmt. Es schien ihm beinahe so, als hätten sich all seine Sinne zeitgleich verabschiedet, als wären sie in einen dämmrigen, undefinierbaren Zustand totaler Funktionslosigkeit übergetreten.
Plötzlich vernahm er ein leises, anhaltendes Geräusch, keine Aussetzer, keine Schwankungen oder Variationen, immer dasselbe Summen. Es kam ihm seltsam vertraut vor, doch er konnte es keiner Sache zuordnen. Und dann war da noch etwas: Ein Geruch! Ein würziger, sehr intensiver Duft, der in der Luft hing und sich in seine Nase bohrte. Er ließ ihn an ein Lagerfeuer denken.
Wieder vergingen Äonen. René begann seine Arme und Beine wahrzunehmen, behutsam zog er seine Finger nach oben und ließ sie wie ein Pianist nach unten fallen, er wackelte mit den Zehen, drehte den Kopf zur Seite. Seine Gedanken schienen ihm wieder zu gehorchen. Er roch mittlerweile nicht nur diesen Qualm, er nahm auch einen feuchten Moder wahr, einen unangenehmen, bitteren Geruch, der von der würzigen Note stark überdeckt aber nicht gänzlich ausgelöscht wurde.
Und er spürte, dass ihm kalt war. Sehr kalt sogar! Irgendetwas unter ihm presste sich gegen seine Haut, eine eisige Fläche, die ihm zunehmend unangenehm wurde.
Plötzlich ein Schmerz. Ein kurzes, scheußliches Stechen durchzog seine Wange. Er zuckte zusammen und stöhnte gequält auf.
Da waren Stimmen im Hintergrund. Dumpfe, brummende Stimmen, die irgendwas zueinander sagten. Er hörte sie, doch ihre Worte ergaben keinen Sinn für ihn.
Dann spürte er wieder diesen Schmerz.
»Ahh!«, keuchte er und öffnete einen Spaltbreit seine Augen.
Grelles Licht schlug ihm entgegen. Seine Netzhaut rebellierte. Mit einem noch qualvolleren Stöhnen presste er die Lider wieder zusammen und wandte seinen Kopf ab.
»He!«, hörte er jemanden rufen. Die Stimme klang scharf und hasserfüllt. »Wach auf, du Stück Scheiße!«
»Verpass ihm noch eine«, ergänzte jemand anderes.
Was war nur los, fragte er sich? Mit jeder Sekunde, die verstrich, hielt auch die Gewissheit bei ihm Einzug, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Er spürte, dass er in Gefahr war. Er spürte, dass er den Wunsch hatte zu flüchten. Doch weshalb? Verzweifelt suchte er nach einer Antwort darauf, was ihm zugestoßen war, nach irgendeinem Anzeichen, irgendeiner Spur.
Wieder fühlte er es: Da war etwas! Ein verschwommenes Bild nahm vor seinem geistigen Auge Gestalt an. Schwarze Gesichter, vier oder fünf an der Zahl. Alle unter Masken verborgen. Sie schienen aus dem Nichts aufzutauchen und rannten auf ihn zu.
Dann war da noch ein anderes Gefühl, nämlich Panik! Eine Welle unvorstellbarer Angst. Die schwarzen Gesichter verschwanden, sie wichen einer undurchdringlichen Dunkelheit. Er hörte sich selbst schreien, nach Hilfe rufen, doch seine Stimme klang dumpf und abgewürgt, beinahe so als würde der Schall kaum weiter dringen als bis vor sein Gesicht. Und dann war da ...
... nichts mehr! Einfach nur Leere und Stille. Ein riesiges, klaffendes Loch in seiner Erinnerung. Es begann bei jenem krächzenden Hilferuf und hörte genau jetzt, in diesem Moment, auf. Dazwischen war: nichts.
»Ein paar Minuten dauert es noch«, hörte er die Stimme sagen. Eine Hand fasste sein Gesicht an, sein linkes Augenlid wurde nach oben gedrückt.
Er stöhnte abermals auf. Immer noch dieses grelle Licht, immer noch diese Schmerzen, wenngleich sie nicht mehr ganz so stark waren, da sich jemand über ihn beugte und dadurch das Licht abgemildert wurde.
»Die Wirkung lässt nach«, sagte die Stimme. »Ich schätze, in drei bis vier Minuten ist er ansprechbar.«
Die Hand verschwand von seinem Gesicht, sein Augenlid fiel wieder zu.
»Gut«, erwiderte eine zweite Stimme.
Es herrschte abermals Stille.
Nach und nach fühlte René, wie sein Körper zu Kräften kam. Er hatte den Eindruck, als würden sich Fesseln lösen, die ihn die ganze Zeit über festgehalten hatten. Die Kälte in seinen Gliedern wurde intensiver, der würzige Duft stärker. Er konnte mittlerweile mit Sicherheit sagen, dass er auf einer harten, glatten und sehr kalten Fläche in einem ebenso kalten Raum lag. Und er erkannte den Geruch als Zigarettenqualm. Er konnte hören, wie sich ein Arm hob, wie tief inhaliert und anschließend zufrieden ausgeatmet wurde.
Und er spürte die Anwesenheit mehrerer Leute.
Vorsichtig öffnete er die Augen. Das Licht peinigte ihn nicht mehr ganz so sehr, und nach drei oder vier Sekunden erkannte er eine einsam vor sich hin summende Neonröhre an der Decke direkt über ihm.
»Wo ... wo bin ich?«, stammelte er und versuchte, den Kopf zu heben.
In diesem Augenblick sah er, dass er nackt war.
Erschrocken bäumte er sich auf und starrte an sich herab. Sein Körper war vollkommen entkleidet. Selbst Unterwäsche besaß er keine mehr. Auf Höhe seiner Fußknöchel wölbten sich eng anliegende Lederriemen um seine Füße, fixierten ihn an diese kalte, glatte Unterlage.
Er blickte zur Seite. Auch seine Hände waren gefesselt.
»Was ... was ... ist hier los?«, fragte er verwirrt.
Eine der Gestalten löste sich von ihrem Platz und kam auf ihn zu. Er erkannte ihre Umrisse, ihr Aussehen. Es war ein junger Mann mit kurzen, schwarzen, modisch gestylten Haaren und einem eiskalten Blick. Die Finger seiner rechten Hand, zwischen denen er eine Zigarette hielt, waren von teuren Ringen geschmückt.
»Hallo René«, sagte jener, und seine Stimme klang beängstigend intensiv.
Irgendwie kam er ihm vertraut vor, irgendwas verband er mit ihm. Doch was?
»Ganz ruhig«, sagte der Mann. »Die Wirkung des Mittels wird in Kürze verflogen sein.«
»Was ... wie ... ich ...?«, stammelte René hilflos.
»Ich sagte doch: Ganz ruhig bleiben.«
In diesem Moment fiel es René wieder ein! Dieses unscharfe Bild in seinem Kopf, diese verschwommene Erinnerung wurde schlagartig klar. Er wusste jetzt, was ihm zugestoßen war!
Der junge Mann grinste böse.
»Na? Überrascht?«, fragte er.
»Was ... was soll das, Henry? Was tust du hier? Was soll der Quatsch?«
»Nun«, erwiderte der junge Mann und zog an seiner Zigarette. »Da gibt es ein paar Gerüchte, René, ein paar sehr unangenehme. Sie behaupten, dass du uns verraten hast, dass du unser Feind bist und Informationen über unsere Sache weitergegeben hast.«
»Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein?«
»Nun, wir werden ja sehen.«
Er ging vor dem Kopf des Gefesselten in die Hocke und beugte sich so weit nach vorne, dass dieser seinen rauchigen Atem riechen konnte.
»Weißt du«, sagte er, »ich habe dir nie ganz vertraut. Ich will jetzt die Wahrheit wissen, René, ich brauche Antworten. Und du wirst sie mir geben!«
»Mein Gott, Henry, was ist nur los mit dir? Ich würde doch niemals –«
Der junge Mann schnitt ihm mit einer barschen Handbewegung das Wort ab.
»Wie gesagt«, ergänzte er, »das werden wir ja sehen. Ich hoffe sehr für dich, dass du mir die Wahrheit sagst, das hoffe ich wirklich. Denn ich schwöre dir: Wenn du uns verraten hast oder mich belügst, dann lasse ich dich deine Eingeweide fressen, bis du verreckst!«
In diesem Moment trat eine weitere Gestalt vor: ein muskulöser, hochgewachsener Mann mit erstaunlich schmalem Gesicht, breiten Schultern und leblosen Augen. Er zog ein weißes Tuch von einem Tisch neben dem Gefesselten und beäugte mehrere glänzende Messingschalen mit medizinischen Instrumenten. Dann streifte er sich Latexhandschuhe über, ließ die Enden gegen seine Handgelenke schnalzen und nahm eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit auf.
»Glaub mir«, sagte der junge Mann an René gewandt. »Alvaro ist ein Meister darin, Menschen die Wahrheit zu entlocken. Ein echter Profi.«
»Herrgott, das ist doch Wahnsinn!«, brüllte der Gefesselte panisch. »Wie kannst du nur glauben, dass ich uns verraten habe? Ausgerechnet ich?«
»Wir werden sehen«, wiederholte der Mann.
Dann begann Alvaro sein Werk.
Kapitel 1
Als sein Wecker um sechs Uhr morgens klingelte, wälzte sich Markus Schuster mit einem gleichermaßen entnervten wie trotzigen Brummen zur Seite, ließ seine Hand über die Nachtkonsole gleiten und drückte die Snooze-Taste. Anschließend kuschelte er sich wieder in die wärmenden Laken.
Draußen begann es hell zu werden. Erste Sonnenstrahlen glitzerten durch die Spalten der Rollläden und besprenkelten die Zimmerwand mit einem symmetrischen Muster aus dunkelroten Ovalen. Ein paar Spatzen hatten sich in dem Kirschbaum im Garten niedergelassen, und während Markus versuchte, die Müdigkeit aus seinem Kopf zu vertreiben und den Plan für den heutigen Tag durchzugehen, drang ein feines Zwitschern und Zirpen zu ihm herein. Ein Vorgeschmack auf den anstehenden Sommer.
Heute war Dienstag, der 18. Mai 2004. Noch drei Stunden bis zum Beginn seiner Vorlesungen. Noch zwei Stunden bis sein Zug in Richtung Stuttgart abfuhr. Und noch eine Stunde und elf Minuten, bis der Bus, der ihn von seiner Zweizimmerwohnung im gutbürgerlich schwäbischen Nürtingen zum Bahnhof brachte, in die Haltebucht abbog und die Türen öffnete. An und für sich genügend Zeit, um die Morgentoilette hinter sich zu bringen, eine Kleinigkeit zu frühstücken und die fünfhundert Meter zur Haltestelle zu laufen.
An und für sich!
Denn Markus besaß ein Talent, welches er bedauerlicherweise von seiner Mutter geerbt zu haben schien: Ganz gleich wie viel Zeit er für etwas übrig hatte, er verstand es meisterhaft, sie bis zum Anschlag auszureizen und meistens sogar zu überschreiten. Wenn er morgens nicht verschlief und ausnahmsweise pünktlich aufstand, dann ruinierte er sein Timing eben im Bad. Oder beim Frühstück. Oder vor dem Kleiderschrank. Jedenfalls hatte er es in den vergangenen zwei Jahren seines Informatikstudiums an kaum einem Tag geschafft, pünktlich um neun Uhr in der Berufsakademie Stuttgart zu sein und den Dozenten hereinkommen zu sehen. Das hatte ihm schon so manche bittere Rüge eingebracht.
»Herr Schuster, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es an der Berufsakademie eine Anwesenheitspflicht gibt«, hatte ihm sein Fachleiter letztens an den Kopf geworfen. Er war geschlagene fünfundvierzig Minuten zu spät gekommen. »Wenn Sie sich damit nicht abfinden können, steht es Ihnen frei, an einer Universität weiterzustudieren. Da können Sie kommen und gehen, wann immer Sie wollen.«
Toller Tipp!, dachte sich Markus. Als ob das mein Problem lösen würde. Er strich sich müde über das Gesicht.
Der Wecker klingelte erneut.
Nur noch fünf Minuten, redete er sich ein. Nur noch ein kleines Bisschen. Er presste abermals die Snooze-Taste.
Natürlich würden es am Ende mehr werden als fünf Minuten, das war ihm bewusst. Natürlich würde er seinen Zeitplan zum Teufel schicken und sich wie ein Irrer abhetzen müssen. Aber was sollte er tun? Er hasste es, früh aufzustehen, ganz egal, wann er zu Bett gegangen war oder wie viel Schlaf er in einer Nacht bekommen hatte. Er war ein unverbesserlicher Morgenmuffel.
Scheiße, schon zwei schlechte Eigenschaften, fiel ihm auf. Man sollte einen Morgen nicht damit beginnen, über seine Marotten nachzudenken.
Also tat er, was er noch vor einem Bruchteil einer Sekunde nicht für möglich gehalten hätte: Er riss die Bettdecke beiseite, ließ die Beine auf den Boden sinken und stand auf.
Geschafft!
Lustlos schlurfte er in die Küche, leerte Wasser in die Kaffeemaschine, gab einen Filter und Kaffeepulver dazu und schaltete sie ein. Dann ging er ins Bad.
Am Sonntag müsste er seine Eltern mal wieder anrufen, dachte er sich, als er unter der heißen Dusche stand und sich das Wasser über den Rücken laufen ließ. Er hatte sich seit Wochen nicht mehr bei ihnen gemeldet. Seine Mutter hatte es ihm nie ganz verziehen, dass er das heimische Dörfchen verlassen und so weit weggezogen war. Doch ihm selbst war es, wenn er ehrlich war, sehr recht. Hier war er sein eigener Herr, hier konnte er tun und lassen, was er wollte. Niemand redete ihm hinein, niemand bestimmte seinen Alltag. Er hatte alle Freiheiten. Ein Gefühl, welches er genoss.
Markus erledigte seine Morgentoilette und kehrte schließlich in die Küche zurück. Die Kaffeemaschine verströmte einen herrlich würzigen, in sich schon belebenden Duft, der von Blubbern und Zischen begleitet wurde. Er schenkte sich eine Tasse ein, machte sich ein Brot und stapfte dann mit beidem durch die Wohnung, um die Rollläden hochzuziehen. Ein weiteres morgendliches Ritual.
Als er gerade vor dem Schlafzimmerfenster stand, klingelte plötzlich sein Handy.
Er sah sich um. Das kleine Ding lag auf seinem Schreibtisch links neben dem Bett, auf einem Stapel von Schmierzetteln. Er hatte es gestern Abend dort abgelegt. Wie eine aufgescheuchte Hornisse vibrierte es vor sich hin und ließ dabei das Lied Eye of the Tiger aus Markus' Lieblingsfilm Rocky 3 erklingen.
Er lief hinüber, legte das halb aufgegessene Brot daneben und sah auf das Display. Die angezeigte Nummer war ihm vollkommen unbekannt.
Er nahm ab.
»Hallo?«
Kaum, dass er dieses Wort ausgesprochen hatte, schrie eine heisere, aufgebrachte Männerstimme ein panisches »HILFE!!!«. Im nächsten Moment knackte es in der Leitung und die Verbindung war tot.
Verstört nahm Markus das Handy vom Ohr.
»Was, zum Teufel, sollte das denn?«, rief er laut.
Einen Moment lang blickte er auf das erloschene Display und versuchte, das Geschehene einzuordnen.
War das ein Scherz?, fragte er sich.
Er holte die Nummer des Anrufers aus dem Handyspeicher und drückte auf Rückruf.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Verbindung zustande kam. Dann erklang eine Frauenstimme vom Band, die ihm mitteilte, dass es unter der Nummer leider keinen Anschluss gab.
Kapitel 2
Hamburg zur selben Zeit.
Wie er es jeden Morgen zu tun pflegte, betrat Carsten Schmitz mit einer Zeitung unter dem Arm das Café Paris im Zentrum der Stadt und schlurfte an dem Tresen vorbei, bis er seinen Stammplatz im hinteren Teil des Raumes erreicht hatte.
Das besondere am Paris war sein Flair. Die ehemalige Handelshalle war nicht allzu groß, sie bot allerdings derart viel fürs Auge, dass man sich nicht an ihr sattsehen konnte. An den Wänden waren wunderschöne Jugendstilfliesen verlegt, die kuppelförmige, grünlich schimmernde Decke vermittelte dem Betrachter ein ganz besonderes Raumgefühl, das Interieur war alt, aber schön. Neben der Eingangstür stand ein leise vor sich hindudelnder Fernseher, gleich darunter erstreckte sich eine grünliche Sitzbank mit Tischen und Stühlen.
Carsten hatte diesen Ort vor nicht einmal vier Monaten entdeckt. Das war insofern erstaunlich, da er seit zwei Jahren in Hamburg lebte und ein paar Hundert Mal am Paris vorbeigelaufen war. Doch erst als sein bisheriges Café wegen Urlaubs geschlossen gewesen war, hatte er sich dazu entschieden, dem Paris einen Besuch abzustatten. Seitdem war er Stammgast.
Jeden Morgen kam er hierher, bestellte sich einen Latte macchiato mit einem Glas Leitungswasser, dazu ein Schinken-Käse-Baguette, blätterte in einer Zeitung und genoss die kurze Zeit der Ruhe, bevor seine Arbeit begann. Dies war sein ganz persönliches Refugium. Seine ganz persönliche Oase der Entspannung.
Die kleine, stämmige Kellnerin mit dem fröhlichen Gesicht, die ihn auch sonst immer bediente, kam an seinen Tisch.
»Guten Morgen«, sagte sie. »Wie immer?«
»Ja, bitte.«
Sie nickte und verschwand.
Zwei Jahre, dachte sich Carsten. Er blickte melancholisch in Richtung der Eingangstür. Zwei Jahre bin ich schon hier. Gott, wie die Zeit vergeht. Es kam ihm wie gestern vor, dass er den Job als leitender Softwareentwickler in Hamburg angenommen hatte. Davor hatte er für eine Firma im Medizinsektor gearbeitet, dann für einen Hersteller von Überwachungssystemen, und anschließend – als Folge eines Tipps, den er von einem Kollegen bekommen hatte – für einen Zulieferer der europäischen Weltraumbehörde ESA. Dort hatte er Steuer- und Leitsysteme für Satelliten entwickelt. Als Folge war er viel herumgekommen in der Welt: USA, Japan, Frankreich. Und jetzt wieder Deutschland, seine Heimat. Hier fühlte er sich am wohlsten.
Manchmal fragte er sich, ob er mit seinem Leben zufrieden war. Dann stellte er fest, dass er darauf keine Antwort wusste. Natürlich freute es ihn, beruflich so erfolgreich zu sein, und auch, dass er ein Jahresgehalt einstrich, welches geradezu obszön war. Natürlich war es toll, in der Welt herumzureisen. Doch er musste sich eingestehen, dass das Persönliche und Private auf der Strecke blieb. Enge Freundschaften oder gar eine Familie besaß er nicht, seine Arbeitszeiten ließen das nicht zu. Es hatte eine Menge Freundinnen in seinem Leben gegeben, doch die Beziehungen zu ihnen hatten kaum länger als ein paar Monate gehalten.
Manchmal, in einsamen Stunden, dachte er darüber nach, wie es wohl wäre, irgendwann alles hinzuwerfen, in ein kleines Dorf zu ziehen und dort in einem Krämerladen zu arbeiten.
Aber eben nur manchmal!
Tief in seinem Inneren wusste er, dass es niemals dazu kommen würde. Er war der Jetset-Mensch, der heute hier und morgen dort war, der für seinen Beruf lebte und dessen höchstes Ziel es war, die bestmögliche Leistung aus sich und seinem Team herauszuholen. So würde es auf ewig bleiben.
Während er diesen Gedanken nachging, trat die Kellnerin an seinen Tisch und stellte einen Teller mit einem dampfenden Baguettebrot vor ihm ab. An den Rändern wölbte sich rosafarbener Schinken heraus, von einer zerschmolzenen Käsedecke gekrönt. Dann folgten der Macchiato und das Wasserglas und sie fragte: »Darf’s sonst noch was sein?«
»Nein, vielen Dank.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«
Sie huschte davon.
Mit einer langsamen, fast feierlichen Bewegung hob Carsten das Baguettebrot an, biss ein Stück davon ab und kaute. Der Käse zog feine Fäden. Dann nahm er seine Zeitung zur Hand und begann darin zu blättern.
Was er dort las, war nicht wirklich überraschend. Die Artikel erzählten in gewohnter Weise von Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern in Nahost, von Fahndungserfolgen der Polizei gegen die Drogenmafia, von irgendwelchen Entschlüssen des EU-Parlaments, von Lastwagenunfällen auf deutschen Autobahnen, die sich gehäuft hätten. Immer wieder der gleiche Tenor, immer wieder dieselbe Monotonie. Lustigerweise war es genau das, was er daran so schätzte. Die Eintönigkeit weltpolitischer Ereignisse half ihm dabei, abzuschalten.
Er spülte mit einem Schluck Kaffee nach und las weiter.
Seite vier: Politik! Schröder, Fischer, Trittin, Putin, Rice und Afghanistan. Es wurden markige Sprüche geklopft, Gesetze verabschiedet und ausländische Hände geschüttelt. Die USA rasselten mit den Säbeln ob der Verantwortlichen der Terroranschläge der letzten Zeit, und in Russland nahmen die diktatorischen Züge des Staatsoberhauptes bedenkliche Ausmaße an.
Er blätterte um. Seite fünf: Sport! Handball, Fußball, Schwimmen und Tennis, eine kleine Ecke Golf und Leichtathletik, Interviews mit Turnern und Meinungen der Fans. Carsten übersprang diesen Teil. Sein Interesse für derartige Themen hielt sich stark in Grenzen, oder, wie er es zu formulieren pflegte: Er fand sie stinklangweilig.
Auf Seite sechs verharrte er.
Ein halbseitiger Artikel, der von dem Foto eines geschäftig dreinblickenden Mannes flankiert wurde, erregte seine Aufmerksamkeit. Unter der Überschrift ›Kommt die digitale Anarchie?‹ berichtete der Text von den Gefahren, die von Computerviren ausgingen, und betonte, dass deren Anzahl in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sei.
Diese Entwicklung ist nach Auskunft des Präsidenten der Bundesanstalt für Sicherheit in der Informationstechnologie (BSI), Karl Ebbenschaft, auf zwei maßgebliche Ursachen zurückzuführen. Erstens: Immer mehr Menschen können über das Internet Kenntnisse darüber sammeln, wie man Viren entwickelt. Zweitens: Moderne Computersysteme wie das Windows-Betriebssystem weisen durch die verschärften Bedingungen auf den EDV-Märkten, der steigenden Konkurrenz und der immer knapperen Entwicklungszeit (›Time to Market‹) eklatante Sicherheitslücken auf, die die Verbreitung von Viren und anderen Schadprogrammen begünstigen.
»Diese Viren«, so Ebbenschaft, »stellen die vielleicht größte Bedrohung der weltweiten IT-Infrastrukturen dar. Wir müssen die Urheber mit der vollen Härte des Gesetzes bestrafen, andernfalls droht uns die digitale Anarchie.«
Das mag wie eine Endzeitprophetie klingen, doch Ebbenschafts düstere Zukunftsprognose könnte Realität werden. Die Anzahl der im Umlauf befindlichen Viren steigt täglich an. Und der Schaden, den sie verursachen, geht in die Milliarden. Man mag sich nicht ausmalen, welche Ausmaße dies in einem ›Worst Case‹, also im schlimmstmöglichen Fall annehmen könnte. Wir sprechen von globaler Bedrohung.
An dieser Stelle ließ Carsten die Zeitung sinken und dachte nach.
Der Virenproblematik war er sich bewusst, schließlich war er IT-Experte. In den vergangenen Jahren hatte ein wahrer Boom dieser Schädlinge eingesetzt. Tausende von Menschen in aller Herren Länder beschäftigten sich mit der Entwicklung und Verbreitung solcher Programme, und ihr Repertoire ging von harmlosen Botschaften wie ›Bush sucks‹ bis hin zu handfester Spionage, der Fernsteuerung von Computern zu kriminellen Zwecken und der Vernichtung sensibler Daten. Hinzu kam, dass sich dank der Segnungen des Internets solche Programme binnen weniger Stunden über den gesamten Erdball verbreiten konnten. Bis in die entlegensten Winkel hinein.
Globalisierung mal anders, dachte er sich.
Aber es waren nicht die Dimensionen dieses Problems, die ihn nachdenklich stimmten. Was ihm in jenem Moment durch den Kopf ging, war eine Idee, die er schon seit Längerem hatte. Eine verrückte Idee, eine irrsinnige Idee! Aber er wusste, dass sie machbar war.
Wer weiß: Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, um sie in Angriff zu nehmen.
Er wollte es versuchen.
Kapitel 3
Markus hatte sich auf den Weg zur Haltestelle gemacht und den Bus zum Bahnhof in allerletzter Sekunde erreicht. Als er im hinteren Teil des Fahrzeugs Platz genommen hatte, zog er ein Vorlesungsskript aus seinem Rucksack, um darin zu blättern, doch der seltsame Anruf ließ ihm keine Ruhe. Er versuchte, sich einzureden, dass er nur einem üblen Scherz aufgesessen war, einem Teenager mit einem seltsamen Sinn für Humor, doch das beruhigte ihn nicht. Der Hilfeschrei hatte echt geklungen. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung gewesen war, hatte tiefe Panik erkennen lassen. Es war nur ein kurzes Aufheulen gewesen, ein hastiges Krakeelen, doch hatte es ausgereicht, um Markus auch jetzt noch einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen.
Was, um alles in der Welt, sollte das?, fragte er sich.
Sollte er zur Polizei gehen und den Vorfall melden? Was genau sollte er den Beamten sagen? Ein Hilfeschrei, der von einer Nummer gekommen war, die nicht existierte?
Gerade Letzteres gab ihm Rätsel auf. Als Computer- und Technikfreak konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, wie es möglich war, dass jemand von einer Nummer angerufen hatte, unter der nur Sekunden später niemand mehr zu erreichen war. Das erschien ihm unmöglich. Wäre eine Mailbox rangegangen, hätte er sich mit dem Umstand trösten können, dass der Besitzer des Telefons vermutlich in einem Funkloch steckte. Wäre ein Besetztzeichen ertönt, hätte er auch das akzeptieren können. Aber: Kein Anschluss unter dieser Nummer? Das war bizarr!
Hinzu kam, dass es keine Mobilfunknummer war, die er auf dem Display gesehen hatte, sondern ein Festnetzanschluss. Das war an der Ziffernfolge zu erkennen gewesen. Das Funkloch schied demnach als Möglichkeit aus. Und das Rätsel im Hinblick auf den nicht mehr existierenden Anschluss wurde umso größer.
So oder so, er konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er hielt es für durchaus denkbar, dass jemand in Gefahr war und dringend Hilfe benötigte. Es wäre somit fahrlässig von ihm, den Anruf zu ignorieren.
Er legte das Vorlesungsskript beiseite und zückte sein Handy. Nach ein paar Fingerbewegungen erschien die geheimnisvolle Nummer auf dem Display und er drückte abermals die Rückruftaste – so wie schon dreimal zuvor an diesem Tag. Das Ergebnis war immer dasselbe: kein Anschluss unter dieser Nummer!
Verdammt, wie kann das nur sein?, fragte er sich.
War die Nummer falsch übertragen worden? Sollte er ein paar Variationen ausprobieren, vielleicht ein paar Ziffern vertauschen, statt der 8 eine 0 wählen oder dergleichen? Was würde das nützen? Es gab Tausende von möglichen Kombinationen, und sie alle auszuprobieren würde Stunden dauern. Nein, das war keine Lösung.
Er kam nicht umhin, dass der Gang zur Polizei der beste Weg war, den er gehen konnte. Der Pflicht zu helfen wäre Genüge getan. Alles Weitere läge dann nicht mehr bei ihm.
Seine Entscheidung war damit gefallen.
Als er einige Stunden später die Vormittagsvorlesungen hinter sich gebracht hatte, lief er zum nächsten Polizeirevier. Eine erfrischende Kühle empfing ihn, als er in den Eingangsbereich trat und an der Panzerglastür klingelte, die den Wartebereich von den Büroräumen abtrennte. Ein Beamter erschien kurz darauf und erkundigte sich über eine Gegensprechanlage, wie er ihm helfen könnte.
»Ich möchte einen Vorfall melden«, sagte Markus.
Er schilderte dem Mann mit knappen Worten, was ihm heute Morgen geschehen war.
Der Beamte sah ihn skeptisch an.
»Unter der Nummer ist niemand zu erreichen?«, fragte er ihn.
»Ja, genau. Ich habe es mehrmals versucht.«
»Haben Sie diese Nummer noch?«
»Natürlich.«
Markus zückte sein Handy und zeigte dem Beamten, was er sehen wollte. Jener betrachtete das Display und schien über das Gesagte nachzudenken. Dann betätigte er einen Knopf, der die Panzerglastür entriegelte und Markus den Zutritt gewährte.
»Kommen Sie«, bemerkte jener, und Markus folgte ihm bis zu einem Büro mit mehreren Schreibtischen und einem großen Schrank, in dem sich Aktenordner aneinanderreihten. Der Polizist bat Markus, Platz zu nehmen. Dann nahm er dessen Handy, setzte sich ebenfalls hin, hob den Telefonhörer ab und wählte die geheimnisvolle Nummer.
Einige Sekunden verstrichen. Markus konnte nicht hören, was am anderen Ende der Leitung geschah, doch der Blick des Beamten, als die Verbindung zustande gekommen war, sprach für sich.
»Okay«, sagte jener und legte wieder auf. »Von dieser Nummer soll der Hilferuf gekommen sein?«
»Ja.«
»Da sind Sie sich ganz sicher?«
»Absolut.«
»Könnte es sein, dass sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt hat?«
»Das glaube ich nicht. Und selbst wenn: Man sollte der Sache trotzdem nachgehen, finden Sie nicht?«
Diese Frage schien zu sitzen. Der Beamte sah ihn mit einem wütenden ›Erzähl mir nicht, wie ich meinen Job machen soll‹-Blick an und nahm einen Stift zu Hand, um sich die Telefonnummer zu notieren.
»In Ordnung«, sagte er. »Ich brauche noch Ihre Personalien für eventuelle Rückfragen.«
Die bekam er.
Gleich darauf machte sich Markus auf den Rückweg zur Berufsakademie. Es blieb ihm noch genügend Zeit für ein Mittagessen, stellte er fest, und für einen kurzen Abstecher zum Starbucks.
Kapitel 4
Ein dumpfes Pochen gegen massives Eichenholz.
Der ältere Mann mit dem säuberlich geschnittenen weißen Haar und der buchhalterischen Nickelbrille auf der Nase sah von seinen Unterlagen auf. Er saß in einem Sessel hinter einem ausladenden Schreibtisch, während sich hinter ihm ein Panoramafenster erstreckte, von dem aus man die Skyline einer Großstadt sehen konnte.
»Herein!«, rief er.
Die Tür schwang auf. Der junge Mann mit den modisch gestylten Haaren und den beringten Fingern trat ein. In der rechten Hand hielt er eine Ledermappe.
»Guten Morgen«, begrüßte er den Älteren.
»Guten Morgen«, erwiderte jener und legte seinen Stift beiseite. Er wartete, bis sein Gast Platz genommen hatte.
»Ich habe mit unserem Mann in den Staaten telefoniert«, resümierte der junge Mann, während er die Blätter seiner Mappe überflog. »Die Sache entwickelt sich nicht wie geplant. Drei von vier Zielfirmen haben unsere Angriffe entdeckt und erfolgreich abgewehrt. Es sieht danach aus, als ob wir uns mit den nächsten beiden ebenfalls in eine Sackgasse manövrieren werden. Wir müssen unsere Strategie ändern.«
»Hm«, brummte der Ältere. »Ich habe geahnt, dass Collinworth der Falsche für den Job ist. Ihm fehlen das Feingefühl und die nötige Erfahrung. Wie sollen wir Ihrer Meinung nach weiter verfahren?«
»Zunächst einmal werde ich Collinworth durch Messey ersetzen. Er hat sich in Frankreich und Belgien bewährt und das Projekt in Swanwick erfolgreich zum Laufen gebracht. Er ist wirklich gut.«
»Tun Sie das. Was noch?«
»Ich schlage vor, dass wir vermehrt auf Firmeninsider setzen, die die Sicherheitssysteme infiltrieren können. Die Branche ist gewarnt und sensibilisiert, sie schirmt sich immer erfolgreicher ab.«
»Haben wir entsprechende Leute auf unserer Gehaltsliste?«
»Ja. Wir müssen das aber noch weiter ausbauen.«
»Welches Budget benötigen Sie?«
»Wir reden von zwanzig bis dreißig Insidern in zwölf Firmen, die wir anwerben müssen. Die meisten von ihnen sind Angestellte im mittleren Gehaltsbereich mit stagnierenden Karrieren und privaten Geldsorgen. Wir kommen auf einen Finanzpool von ungefähr zweieinhalb Millionen Euro, plus/minus ein- bis zweihunderttausend.«
»Kriegen Sie. Wie viel Zeit brauchen Sie?«
»Drei Wochen, maximal vier.«
»Sie haben freie Hand.«
Der Junge zog einen Füller aus seinem Jackett und begann sich Notizen zu machen. Einen Moment lang war nur das Kratzen der Füllerspitze auf dem Papier zu hören.
»Was macht die andere Sache?«, fragte ihn der Alte.
»Sie meinen den Maulwurf?«
»Ja.«
»Wir verhören ihn noch. Die Sache gestaltet sich schwieriger als gedacht. Was wir bisher in Erfahrung bringen konnten, ist, dass uns eine größere Organisation auszuspionieren versucht. Der Maulwurf konnte allerdings keine genauen Angaben zu ihren Mitgliedern machen, noch nicht einmal, was deren Anzahl betrifft. Die gesamte Kommunikation verlief anonym per Telefon oder Internet. Keine persönlichen Treffen. Diese Leute verstehen ihr Handwerk. Nur einen einzigen Namen wusste er: Martinez.«
»Martinez?«, wiederholte der Ältere nachdenklich. »Klingt spanisch. Mann oder Frau?«
»Laut dem Maulwurf, eine Frau.«
»Sind uns aktuell irgendwelche Organisationen aus dem Südwesten Europas bekannt, die uns bedrohen oder angreifen wollen?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Aber wir verfolgen natürlich jede Spur.«
»Wie hoch schätzen Sie die Bedrohung für uns ein? Welche Informationen hat der Maulwurf weitergegeben? Wie ernst kann die Sache für uns werden?«
»Das ist im Augenblick nicht abzuschätzen. Ich persönlich halte das Risiko für gering und überschaubar. Die Ausbeute an Informationen für die Gegenseite kann nur minimal gewesen sein, der Maulwurf hatte nie Zugang zu den wirklich wichtigen Daten.«
»Okay. Ich gebe Ihnen Zeit bis zum Ende der Woche, danach möchte ich, dass der Maulwurf beseitigt wird. Haben Sie mich verstanden?«
Der junge Mann schwieg einen Moment und hielt in seinem Schreiben inne. Dann sah er auf und erwiderte: »Entschuldigen Sie, aber ich denke, dass das ein Fehler wäre. Er ist die beste Quelle, die wir zurzeit haben, die beste Verbindung zu unseren Feinden. Wenn wir ihn ausschalten, dann haben wir gar nichts mehr.«
»Unsinn!«, brummte der Alte. »Sie haben mir doch gerade gesagt, dass er nicht tief genug in unsere Geschäfte eingeweiht war, um uns gefährlich zu werden. Das waren Ihre Worte, nicht wahr? Oder sind Sie sich Ihrer Sache doch nicht so sicher? Wenn dem so ist, dann will ich es jetzt hören!« Er deutete fordernd mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber.
»Nein«, erwiderte der Jüngere. »Ich stehe zu meiner Aussage.«
»Dann tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe: Noch vier Tage, dann weg mit ihm!«
»In Ordnung, wie Sie wollen.« Weitere Notizen.
Der Alte räusperte sich und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sonst noch was?«, fragte er.
»Nein. Für den Moment ist das alles.« Der junge Mann erhob sich und klappte die Mappe zu. »Ich informiere Sie, sobald ich Neuigkeiten habe.«
Er verließ den Raum.
Kapitel 5
»Dominik, kann ich dich mal kurz stören?«
Der Angesprochene war gerade in eine anregende und sehr wortreiche Konversation über seinen letzten Tauchurlaub vertieft. Zwei Wochen hatte er mit einer Gruppe Gleichgesinnter auf einer Segeljacht verbracht. Mit glänzenden Augen schwärmte er von der Schönheit ägyptischer Korallenriffe, dem kristallklaren Wasser des Mittelmeers, der glühend heißen Sonne des Äquators, von den kurzen Zwischenstopps an Land, um sich Alexandria, Kairo und Gizeh anzusehen. Es war traumhaft schön gewesen. Die Bräune seiner Haut zeugte von dem herrlichen Wetter und die Freude in seinem Gesicht von der Begeisterung, die er mit nach Hause gebracht hatte.
Als er die Stimme vernahm, wandte er sich um. Sein alter Freund Carsten Schmitz stand hinter ihm.
»Hallo Carsten«, begrüßte er ihn und prostete ihm mit seiner Kaffeetasse zu. »Was hat dich in die Pausenzone verschlagen? Ist dein Computer kaputt?«
»Ich habe mich verlaufen«, grinste jener.
Dominik lachte. Dies war ein kleiner, freundschaftlicher Scherz zwischen den beiden, der auf der Tatsache beruhte, dass sich Carsten fast nie in einer Pausenzone blicken ließ. Für derlei Zeitvertreib fehlte ihm schlicht das Interesse.
Dominik und Carsten kannten sich schon lange. Sehr lange sogar. Sie waren in demselben kleinen Dörfchen im Rheinland aufgewachsen, hatten dieselbe Schule besucht, eine Zeit lang sogar an derselben Universität studiert. Dann jedoch hatten sich ihre Wege für einige Jahre getrennt. Carsten hatte sich auf Netzwerktechnologien spezialisiert und Dominik auf kryptografische Systeme – also auf Anwendungen, die Daten ver- und entschlüsselten. Sie hatten sich aus den Augen verloren.
Vor zwei Jahren waren sie sich in London wieder über den Weg gelaufen. Ganz zufällig und überraschend. Dominik hatte mit seiner Frau einen Kurzurlaub in der britischen Hauptstadt verbracht, Carsten war geschäftlich dort gewesen. Sogleich waren sie sich in die Arme gefallen, hatten gelacht und Hände geschüttelt, über alte Zeiten geplaudert und die neuesten Neuigkeiten ausgetauscht. Dominik, der mittlerweile eine höchst lukrative Stelle in einem Hamburger Unternehmen angenommen hatte, war klug genug gewesen, Carsten seinen Arbeitgeber schmackhaft zu machen. Und Carsten hatte keine Zeit verloren, sich dort zu bewerben. Und die Firma wiederum hatte sich die Chance nicht entgehen lassen, einen so hochtalentierten jungen Netzwerkspezialisten anzuwerben.
So waren sie wieder vereint worden.
Ein Umstand, den Dominik bei seinem Freund sofort bemerkte, war dieser halb verklärte, halb geistesabwesende Blick, mit dem er gelegentlich bei ihm auftauchte, um ihm von einer neuen Idee zu erzählen. Wann immer das geschah – so wie in diesem Augenblick –, ging Carsten zu Dominik, berichtete ihm von seiner Vision und hörte sich dessen Meinung an. Außerdem benötigte er jemanden, der ihm half, die Idee für ihren Chef Holger Remberger aufzubereiten und in eine Präsentation zu gießen. So etwas beherrschte Carsten überhaupt nicht.
»Ich bin kein Verkaufsmensch«, hatte er ihn des Öfteren sagen hören. »Ich bin ein Think tank, ein Ideenlieferant. Etwas an den Mann zu bringen ist nicht mein Ding.«
Also lächelte Dominik auch dieses Mal und fragte ihn: »Hier oder woanders?« Er kannte die Antwort. Sie lautete: »Nicht hier. Lass uns unter vier Augen sprechen.«
Dominik entschuldigte sich bei seinen Zuhörern und versprach ihnen, die Geschichte bei nächster Gelegenheit zu beenden. Dann verließ er mit Carsten die Pausenzone und begab sich in einen freien Konferenzraum im Westflügel des Gebäudes.
»Also, mein Lieber«, sagte er und nahm auf einem der Stühle Platz. »Schieß los. Was liegt dir auf dem Herzen?«
»Mir ist eine Idee gekommen.«
»Das dachte ich mir schon. Worum geht es?«
»Um genau zu sein, um Gobindas.«
Dominik zog die Stirn in Falten.
»Nie gehört«, erwiderte er. »Was soll das sein?«
»Der Name sagt dir nichts?«
»Nicht wirklich.«
»Okay, dann hör zu: Vor etwas mehr als einem Jahr hat die Firma eine Spionagesoftware entwickelt, die sich Gobindas nennt. Das ist eine Abkürzung für ›Globale Observation von Internetdatenströmen‹. Der Auftrag kam vom Bundesnachrichtendienst. Sinn und Zweck war es, die über das Internet versandten Datenpakete auf verdächtige, kriminelle oder terroristische Inhalte hin zu durchsuchen, also Pläne für Anschläge, Geldschiebereien, Drogengeschäfte, aber auch kinderpornografisches Material und Betrugsdelikte. Sobald etwas davon registriert würde, sollte das Bundeskriminalamt oder der BND eine Benachrichtigung erhalten.«
»Ach ja, doch, jetzt erinnere ich mich. Ich habe Gerüchte darüber gehört, dass so etwas entwickelt werden sollte. Wurde es tatsächlich realisiert?«
»Vor zwölf Monaten war der Startschuss.«
»Und das bisherige Ergebnis?«
»Statistiken habe ich keine, aber mir wurde zugetragen, dass mittlerweile alle großen Internetanbieter in Deutschland mit der Software ausgerüstet sind und auch einige der kleineren. Hinzu kommt, dass beinahe alle Länder der EU – mit Ausnahme von Luxemburg und Zypern – bei Gobindas mitmachen. Der Wirkungsbereich der Software erstreckt sich auf über neunzig Prozent der europäischen Internet-Infrastruktur.«
»Schau mal einer an!« Dominik pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Da bin ich platt.«
Das war er wirklich. Wobei dies nicht etwa dem Umstand geschuldet war, dass er von den Spionageaktivitäten seiner Firma nichts gewusst hätte. Ganz im Gegenteil, es war für jeden Angestellten ein offenes Geheimnis, dass der wesentliche Teil der Unternehmensgeschäfte in der Belieferung deutscher Nachrichtendienste bestand. Nach außen hin gab man sich als ehrbarer Produzent kostengünstiger Netzwerkkomponenten, doch das war nur Tarnung. Ein Scheingeschäft, um von der Wahrheit abzulenken.
Nein, was Dominik tatsächlich daran verblüffte, war die Tatsache, dass man ein Vorhaben dieser Größe umgesetzt hatte. Eine Spionagesoftware, die beinahe den kompletten europäischen Internetverkehr überwachte, war eine Titanenleistung, sie übertraf seine Vorstellungen. Keiner der Internetanbieter wollte riskieren, eines Tages einen Bericht darüber in der BILD-Zeitung zu lesen. Ganz zu schweigen, dass das Ausspionieren personenbezogener Daten ohne konkretes Verdachtsmoment und ohne richterliche Anweisung zutiefst illegal war.
»Wie haben sie das durchgesetzt?«, fragte er daher. »Die Internetanbieter müssen sich gewehrt haben wie Nutten vor einer Beichte.«
»Natürlich haben sie das. Aber die Firma hat ihnen mit einer endlosen Folge von Bilanz- und Finanzprüfungen, Kartellrechtsverfahren und sonstigen Schikanen gedroht, für den Fall, dass sie sich weigern sollten.«
»Die Behörden hätten da mitgezogen?«
»Ja.«
»Und das hat funktioniert?«
Carsten nickte. »Keine dieser Firmen kann sich eine Armada von Bilanzprüfern leisten, das kostet nur Zeit und Geld. Und die meisten von ihnen haben auch tatsächlich etwas zu verbergen. Ich meine, wer führt heutzutage schon ehrlich und korrekt seine Bücher?«
Dominik musste lächeln. »Demokratische Erpressung«, stellte er amüsiert fest.
»So kann man es sagen. Soll ein sehr effektives Druckmittel sein.«
»Das glaube ich dir gerne.«
»Na, wie dem auch sei, zurück zu meiner Idee! Im Augenblick achtet Gobindas nur auf kriminelle Inhalte. Ich habe mich gefragt, ob man es auch auf Computerviren anwenden könnte?«
»Auf Viren?«, wiederholte Dominik überrascht.
»Ja.«
»Warum das denn?«
»Ganz einfach: Ist dir klar, wie hoch der wirtschaftliche Schaden ist, den Viren, Würmer und Trojaner jedes Jahr anrichten? Gigantisch! Hast du dir entsprechende Berichte durchgelesen? Jede Woche erscheint eine neue Handvoll dieser Schädlinge, von denen einer schlimmer ist als der andere. Und woran liegt das? Im Wesentlichen daran, dass jedes Kleinkind heutzutage in der Lage ist, so etwas zu programmieren. Die nötigen Informationen findet man kostenlos im Internet. Meine Idee wäre, die Filter von Gobindas dahingehend anzupassen, dass sie auch auf Virenaktivitäten achten. Wir könnten ein Frühwarn- und Kontrollsystem einrichten und Schädlinge bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Stell dir das mal vor, Dominik: Ein System, welches die Entwickler neuer Viren binnen kürzester Zeit ermitteln könnte. Das wäre ein Knüller!«
»Gut, gut, mag sein. Aber warum sollten sich die Nachrichtendienste darauf einlassen? Sie haben keinen Nutzen davon, irgendwelche computerbegeisterten Teenager zu jagen, oder?«
»Ach du liebe Zeit, Dominik!«, tönte Carsten. Er breitete seine Arme aus wie ein mahnender Priester. »Denk doch mal nach! Natürlich haben sie einen Nutzen davon. Viren greifen nicht nur private Computer und Netzwerke an, sondern auch behördliche und militärische. Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit.«
»Denkst du, ihnen ist das bewusst?«
»Das hoffe ich doch. Um den wirtschaftlichen Schaden, den die Dinger verursachen, werden sie jedenfalls nicht herumkommen. Die Milliarden an Euro, die durch Virenattacken zerstört werden, sind ein gewichtiges Argument. Und es könnte in Zukunft noch schlimmer werden, denn es könnte nicht nur Firmen oder Privatpersonen treffen, sondern vielleicht auch Banken und Börsen.«
»Wirtschaftlicher Kollaps durch Virenattacken. Darauf willst du hinaus, nicht wahr?«
»Ganz genau.«
»Nichts für ungut, Carsten, aber ich halte das für eine bekloppte Idee. Wir haben alle schon mal darüber gefachsimpelt, wie die globale Wirtschaft durch gezielte Virenattacken in den Ruin getrieben werden könnte, aber du weißt genauso gut wie ich, dass das nur Stammtischgeschwätz ist. Niemand könnte eine Attacke so weitreichend und wirkungsvoll einsetzen, dass er die Stabilität eines Landes gefährdet. Und was diese Milliardenverluste angeht: Die entstehen vor allem durch Angriffe auf Firmen, die zu blöde oder zu nachlässig sind, um sich mit der nötigen Sicherheitstechnik auszustatten. Das ist beinahe so, als würde ich einen Ferrari unverschlossen in Berlin-Kreuzberg stehen lassen und mich dann wundern, wenn er geklaut wird. Das Argument zählt einfach nicht.«
»Okay, mag sein. Aber was, wenn es mal eine große blöde Firma trifft? Wenn nicht nur ein oder zwei Milliarden Euro Schaden entstehen, sondern zwanzig oder vierzig? Was, wenn eine Firma in den Konkurs getrieben wird und dadurch ein paar Tausend Arbeitsplätze kaputtgehen? Das sind Gefahren, die sehr wohl eine Rolle spielen.«
»Mathematisch betrachtet kann vieles geschehen, Carsten. Mathematisch betrachtet kann mir auch ein zweiter Kopf wachsen und La Paloma singen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es wirklich geschieht.«
»Okay, na gut, wie wäre es mit folgendem Vorschlag: Du hilfst mir, eine Präsentation für Remberger auszuarbeiten, und im Gegenzug verspreche ich dir, dich aus der Sache herauszuhalten. Wenn das Ganze floppen sollte, hast du nichts zu befürchten und ich nehme es allein auf meine Kappe.«
»Ach, Carsten, darum geht es mir doch nicht –«
»Ja, ich weiß«, unterbrach er seinen Freund. »Trotzdem schlage ich es dir vor. Ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache, weißt du, und ich will es auf einen Versuch ankommen lassen. Remberger könnte auch Nein sagen, dann hat sich das Thema sowieso erledigt.«
Dominik lehnte sich zurück und starrte zur Decke.
»Na schön, von mir aus«, sagte er. »Wenn du es unbedingt versuchen willst, dann helfe ich dir. Wobei: Wie willst du das Problem vollkommen neuer Viren lösen? Wie willst du die entdecken?«
»Auf dieselbe Weise, wie es Antivirenprogramme heutzutage schon tun: Heuristische Verfahren! Wir suchen nach Befehlsmustern, die auf einen Virus hindeuten könnten. Das ist keine hundertprozentig sichere Methode, aber mit ein bisschen menschlicher Nacharbeit könnten die Erfolge dennoch beachtlich sein.«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dominik versuchte abzuwägen, ob er seinem Freund den Gefallen tun oder ihm die Idee lieber ausreden sollte. Für Letzteres fand er relativ wenige Argumente, weshalb er sich am Ende dazu entschied, mitzumachen.
»Na schön«, sagte er. »Versuchen wir es. Du wirst einiges an Arbeit reinstecken müssen. Du brauchst ein Team von Gobindas-Experten, eine detaillierte Beschreibung der Funktionsweise von Virenscannern und die Genehmigung von Remberger.«
»Dann«, sagte Carsten voller Vorfreude, »lass uns an die Arbeit gehen!«
Kapitel 6
Am nächsten Morgen saß Markus an einem Computer der Berufsakademie und vertrieb sich die Pausenzeit damit, im Internet zu surfen und Nachrichten zu lesen. Er war kein Raucher, es zog ihn also nicht in den Außenbereich der Akademie, und die Kantine im Erdgeschoss war, gelinde gesagt, eine Zumutung. Somit blieb ihm als einzige Alternative nur noch der Computerraum mit seinem kostenfreien Internetzugang.
Die ersten Minuten überflog er die Artikel und Meldungen auf den Nachrichtenseiten nur flüchtig. Er las – wenn überhaupt – die ersten Sätze und einleitenden Worte, dann blätterte er weiter. Es war nicht viel passiert, musste er feststellen.
Bei einer Meldung aus dem Großraum Frankfurt blieb er allerdings hängen.
Die altehrwürdige Kujau & Wendenberg Investment AG, so wurde dort berichtet, hatte völlig unerwartet Insolvenz angemeldet. Die Arbeitsplätze von mehr als vierhundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren dadurch bedroht, und auf die Anleger und Kunden kamen Verluste in Höhe von mindestens 1,5 Milliarden Euro zu. Massive Protestkundgebungen waren die Folge, in denen die lückenlose Aufklärung und rechtliche Prüfung des Vorfalls gefordert wurde.
»Wie kann es sein«, wurde ein Mitarbeiter von Kujau & Wendenberg zitiert, »dass wir von finanziellen Problemen nie etwas gehört haben? Uns hat man immer versichert, dass mit dem Unternehmen alles in bester Ordnung ist!«
Tatsächlich war es so, dass Kujau & Wendenberg durchgehend schwarze Zahlen geschrieben hatte. Der für den Fall zuständige Staatsanwalt Herrmann Köhler kündigte an, den Tatbestand der Bilanzfälschung, der Insolvenzverschleppung und der Veruntreuung von Geldern prüfen zu wollen.
Obwohl Markus noch nie von dieser Firma gehört oder mit ihr zu tun gehabt hatte, ließ ihn der Text nicht mehr los. Seine Augen klebten förmlich auf dem letzten Paragrafen. Dort wurde die Nummer einer Telefonhotline genannt, bei der sich Kunden von Kujau & Wendenberg melden und über den aktuellen Stand der Ermittlungen erkundigen konnten.
Die Nummer war Markus nicht bekannt.
Ihre Vorwahl hingegen schon!
Er starrte sie mit einer Mischung aus Unglauben und Begeisterung an. Denn die ersten Ziffern der Beratungshotline waren exakt dieselben wie in der geheimnisvollen Nummer von heute Morgen! Der Anruf musste also aus Frankfurt gekommen sein.
Er zückte sein Handy und sah noch mal nach.
Ja, stellte er fest. Das passt! Es war tatsächlich eine Frankfurter Vorwahl.
Gleich darauf kam ihm ein weiterer Gedanke.
Das Internet! Suchmaschinen!
Er könnte die Nummer in eine Suchmaschine eingeben und darauf hoffen, dass sie irgendwo, auf irgendeiner Internetseite dieser Welt vorkam. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Seine Finger flogen über die Tastatur, und nur Sekunden später stand die Nummer in dem entsprechenden Feld. Er klickte auf ›Suche starten‹.
Nun wurde es spannend!
Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Eine Sekunde verstrich. Eine zweite. Eine dritte.
Nichts geschah.
Nun mach schon!, keifte er stumm. Die Datenleitungen waren ziemlich ausgelastet, was wohl daran lag, dass zahlreiche Studenten die Gunst der Pause nutzten, um im Internet zu surfen.
Vier Sekunden vergingen, fünf, sechs. Immer noch war der Bildschirm leer.
Markus wurde zunehmend nervöser. Seine Hände fühlten sich kalt und feucht an und er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
Sieben Sekunden, acht, neun.
In diesem Moment geschah es!
Mit einem kurzen Flackern präsentierte die Suchmaschine ihr Ergebnis. Es bestand nur aus einem einzigen Eintrag, doch der reichte völlig aus.
Die Nummer gehörte zu einer Firma namens Innovative Software Solutions AG!
Kapitel 7
Die Innovative Software Solutions AG hatte ihren Hauptsitz in Frankfurt am Main, dem Finanzmekka im hessischen Bundesland. Gegründet worden war sie 1978 in den Vereinigten Staaten, von den Gebrüdern Harold und Walther Siefen. Zu dieser Zeit hatte das erste zarte Pflänzchen des späteren Heimcomputerbereiches zu blühen begonnen und mit dem legendären ALTAIR-Computer, dem Apple 1 und 2 sowie dem PET phänomenale Erfolge gefeiert. Für Unternehmen hatte sich zum ersten Mal die Möglichkeit geboten, mit privaten Computeranwendern Geld zu verdienen, nicht mehr nur mit Großkonzernen. Konkret bezog sich das auf Software. Und noch konkreter auf Anwendersoftware, die die Bedürfnisse der Heimcomputerbesitzer befriedigte. Die zwei Brüder erkannten das und schickten sich an, auf die Nachfrage ein Angebot zu schaffen.
Doch – so berichtete die Innovative-Seite weiter – mit dieser Idee waren sie ihrer Zeit zu weit voraus, um auf dem jungen Markt ausreichend große finanzielle Erfolge feiern zu können. Anwendersoftware in großen und damit profitablen Stückzahlen abzusetzen war schwierig, denn es war noch nicht klar gewesen, welches der völlig unterschiedlichen Computersysteme sich am Ende durchsetzen würde. Die Firma geriet in finanzielle Schwierigkeiten, wurde irgendwann aufgelöst und einige Monate später – warum auch immer – im damaligen Westdeutschland neu eröffnet. Der Name war derselbe geblieben, nur die Geschäftsidee hatte sich geändert: Anstelle des Heimcomputerbereiches waren nun wieder die Großrechnerlandschaften von Unternehmen im Zentrum des Interesses. Man begann kaufmännische Software zu entwickeln, Planungs- und Prognoseanwendungen für die Automobilindustrie und Verarbeitungsroutinen für Finanzinstitute. Und hatte Erfolg! Beträchtlichen Erfolg sogar. Binnen eines Jahres konnte die Innovative Software Solutions AG ihren Gewinn auf 22,9 Millionen D-Mark steigern.
Etwas später, als der IBM-Computer, der Apple Macintosh und der Commodore Amiga den Sieg des Heimcomputerbereiches endgültig einläuteten, führte Innovative einen radikalen Umschwung durch. Back to the roots schien das Motto gelautet zu haben, zurück zu den Wurzeln also, denn die Firma verließ den nährenden Busen des Großrechnermarktes und kehrte dorthin zurück, von wo sie ursprünglich gekommen war: zum Heimcomputerbereich.
Diesmal wurden die Mühen der Brüder belohnt. Das Geschäft blühte auf, die Softwareprodukte verkauften sich zu Millionen und die Kasse klingelte.
Anfang der Neunzigerjahre folgte der dritte und letzte Schritt in der bewegten Firmengeschichte. Die Brüder erkannten die Bedeutung des Internets und weiteten ihre Geschäftstätigkeiten darauf aus. Damit waren sie um einiges schneller und cleverer gewesen als der Softwareriese Microsoft, der bis 1995 die Zeichen der Internetzeit völlig verschlafen hatte.
Auch dieses Konzept zahlte sich aus. Die Umsätze des Unternehmens stiegen weiter an, die Anzahl der Mitarbeiter ebenso, und binnen fünf kurzer Jahre hatte sich Innovative zu einem geachteten, finanzstarken Boliden entwickelt, der Tochterfirmen in den USA, in Großbritannien, Frankreich, Österreich und Japan unterhielt. Selbst die folgenden Jahre, die von wirtschaftlichen Krisen und dem Abflauen des Internethypes gekennzeichnet waren, taten dem Erfolg keinen Abbruch. Innovative stand fest auf dem Boden der Computerwelt, unverrückbar und stark, so als seien die Entwicklungen und Veränderungen auf dem Markt keine ernsthafte Bedrohung für sie. Manche Wirtschaftsexperten ließen sich dazu hinreißen, der Innovative Software Solutions AG den Spitznamen ›Koloss von Frankfurt‹ zu geben, in Anlehnung an das berühmte griechische Vorbild auf Rhodos.
An dieser Stelle war der Text zu Ende.
Soweit, so gut, dachte sich Markus. Nun wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Oder noch eher: Von wo aus der Anruf gekommen war. Doch ergab das einen Sinn? Ein Hilferuf aus einer Softwarefirma? Und dann auch noch – wenn man der Internetseite Glauben schenkte – von einem Nebenanschluss, unter dem man eine Frau Martinez aus dem Servicecenter erreichen konnte, die einem bei Problemen mit Firmenprodukten half? Das war sehr seltsam! Besonders im Hinblick darauf, dass der Anschluss nicht mehr existierte.
Könnte ich vielleicht auf eine andere Weise mit Innovative in Kontakt treten?
Ein kleines Feld am linken, oberen Rand der Seite trug die Aufschrift ›Kontakt‹. Markus klickte es an. Er wurde auf eine Art Impressum weitergeleitet.
Zu seinem großen Erstaunen war dort keinerlei alternative Telefonnummer oder E-Mail-Adresse vermerkt. Lediglich ein Eingabeformular lud Besucher dazu ein, eine Nachricht für Innovative einzugeben und diese an das Unternehmen zu schicken.
Na toll, grummelte Markus. Das war nicht ganz das, was er sich erhofft hatte, aber einen Versuch war es definitiv wert. Er tippte ein paar Sätze ein, in denen er den Anruf und den Hilfeschrei beschrieb, dann gab er seine private E-Mail-Adresse an und betonte, dass es sich hierbei nicht um einen Scherz handelte und er dringend darum bitten würde, sich bei ihm zu melden.
Als er fertig war, klickte er auf ›Senden‹.
Nur Sekundenbruchteile später informierte ihn eine Nachricht in dicken, roten Lettern darüber, dass das Senden aufgrund eines Systemfehlers nicht erfolgreich war.
Er versuchte es noch einmal. Wieder vergeblich.
Okay, also keine Online-Nachricht.
Gab es irgendwo eine weitere Telefonnummer, die er anrufen könnte? Und sei es auch nur der Hausmeister oder Pförtner?
Fünf Minuten später wusste er die Antwort. Sie lautete: Nein! Die gesamte Innovative-Seite enthielt keine einzige Kontaktinformation mehr. Es gab nur das Eingabeformular und die Nummer von Frau Martinez. Sonst nichts.
»Herrgott, das darf doch nicht wahr sein«, rief Markus frustriert.
Er schmetterte die Maus auf den Tisch und warf sich in dem Stuhl zurück. Ein paar Studenten drehten sich zu ihm um und sahen ihn irritiert an, doch er beachtete sie nicht.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben, mit dieser Scheißfirma in Kontakt zu treten.«
Trotz aller Flüche blieb seine Suche vergebens. Markus musste sich am Ende eingestehen, dass es außer der einen Nummer – seiner Nummer – keine andere gab. Und auch keine E-Mail-Adresse, Faxverbindung oder einen Verweis zu einer anderen Internetseite.
Nur eine Postadresse stand noch dort: Kohlbergstraße 121-129, Frankfurt am Main.
Offenbar gab es nur eine einzige Möglichkeit, um der Lösung dieses Rätsels einen Schritt näher zu kommen.
Er musste nach Frankfurt fahren!
Kapitel 8
Jetzt kam es darauf an! Jetzt ging es um Gewinnen oder Verlieren. In den nächsten Minuten würde sich entscheiden, ob er mit seiner Idee Erfolg haben würde oder nicht. Es war ein prickelnder, ein elektrisierender Moment.
Carsten ließ seinen Blick über die wartenden Gesichter schweifen. Acht waren es an der Zahl. Jeder von ihnen war mit einem Laptop, einem Block und ein paar Stiften bewaffnet und harrte der Dinge, die da kommen würden. Vier davon kannte er nicht, er war ihnen noch nie begegnet. Aufgrund ihrer Anzüge vermutete er, dass sie vom BND waren oder von irgendeiner anderen Behörde, die sich mit geheimen Projekten beschäftigte. Hier wurden keine Namen genannt und keine Visitenkarten ausgetauscht. Solche Leute geisterten immer mal wieder durch die Gänge der Firma. Sie trugen unter der Belegschaft den scherzhaften Spitznamen Men in Black. Die nächsten drei waren Andreij Milic und Thomas Stockach, zwei Netzwerkspezialisten aus dem Bereich Internetüberwachung, sowie Karl-Heinz Briest, der Entwicklungsleiter und geistige Vater von Gobindas. Als Letzter folgte noch Holger Remberger, Carstens Chef, die wohl schillerndste Figur des Oktetts. Remberger war ein Mann Ende vierzig, mit buschigem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar und einem sonnengegerbten Gesicht. Er trug sein Lieblingsoutfit, bestehend aus einer kohlrabenschwarzen Lederhose mit farblich darauf abgestimmtem Gürtel, dazu ein tiefblaues Jeans-T-Shirt, ein orange-weiß gestreiftes Halstuch und einen kleinen, fast unsichtbaren Ohrstecker. Wer ihn sah, konnte ihn leicht mit einem alternden Bordellbesitzer oder einem verkappten Easy-Rider-Typen verwechseln, der in einer Midlife-Crisis steckte und sich deshalb eine Harley gekauft hatte.