0,99 €
Helen Renquist, die Ehefrau des Milliardärs Karl Renquist, ist tot. Erhängt in der Bibliothek ihres Hauses. Doch war es wirklich Selbstmord? Warum verstricken sich Zeugen immer wieder in Widersprüche und Lügen? Wo war ihr Mann, als es geschah? Und welches dunkle Geheimnis lastet auf der Familie? Seien Sie vor Ort dabei, seien Sie mittendrin. Ermitteln Sie als leitender Kriminalbeamter in diesem spannenden und abwechslungsreichen Mitmach-Krimi und entscheiden Sie am Ende: Vorsatz oder Zufall, Verbrechen oder Schicksal? Doch Vorsicht: Wenn Sie sich irren, landet ein Unschuldiger im Gefängnis. Oder ein Täter bleibt auf freiem Fuß. Und falls Sie mal einen Tipp oder einen Denkanstoß brauchen, können Sie die im Buch verstreuten QR-Codes mit Ihrem Handy oder Tablet abfotografieren, und schon flüstert Ihnen ein V-Mann eine nützliche Information ins Ohr.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Marco Born-Miljak
Die tote Milliardärin
Gaunerspiele-Band 1
© Copyright Marco Born-Miljak
ISBN 978-3-7394-5799-4
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht, vervielfältigt oder weitergegeben werden. Änderungen am Inhalt sind untersagt. Bitte respektieren Sie die lange und harte Arbeit, die in einem solchen Werk steckt, und nehmen Sie auf die Urheberrechte Rücksicht.
Wenngleich die Geschichten dieser Buchreihe von realen Kriminalfällen inspiriert sein können und auf eine akkurate Wiedergabe wissenschaftlicher bzw. forensischer und kriminalistischer Fakten Wert legen, so sind doch alle Handlungen und Dialoge frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zu lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Satz:
Marco Born-Miljak
Covergestaltung:
Buchcoverdesign.de | Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de
Bildrechte:
Adobe Stock #47027482, Adobe Stock #249291856, Adobe Stock #184590732 und freepik.com
Impressum:
Marco Born-Miljak
Ortelsburger Straße 21
45770 Marl
Deutschland
Außerdem vom Autor erschienen:
GROSSE BRÜDER
HINDEL – Der tapfere, kleine Verführungskünstler
Blutsbande (Gaunerspiele-Band 2)
Prinzessin Möchtegern
»Trauen Sie niemals allgemeinen Eindrücken, mein Junge, sondern konzentrieren Sie sich auf Einzelheiten.«
Sherlock Holmes in ›Eine Frage der Identität‹
Willkommen bei den Gaunerspielen
Wie funktioniert das Buch?
Die Gaunerspiele sind eine Mitmach-Krimireihe. Sie bekommen einen Kriminalfall aus der Sicht der Ermittler erzählt und müssen die Spuren und Hinweise, Indizien und Erkenntnisse zusammentragen und ein abschließendes Fazit an die Staatsanwaltschaft abgeben. Liegt tatsächlich ein Verbrechen vor? Wer könnte daran beteiligt gewesen sein? Welche Zeugen sagen die Wahrheit, welche verstricken sich in Lügen und Widersprüche? Oder war alles nur ein Unfall und niemand trägt die Schuld daran?
Vorsatz oder Zufall, Verbrechen oder Schicksal, Sie müssen entscheiden. Doch Vorsicht: Treffen Sie Ihre Entscheidung weise und mit Bedacht, sonst landet ein Unschuldiger im Gefängnis. Oder ein Täter bleibt auf freiem Fuß.
Die Auflösung gibt es jeweils am Ende jeder Folge.
Nutzen Sie alle Quellen, die Sie haben.
Ob Forensikfachbuch oder Internet, der Freundeskreis oder Ihr eigenes kriminalistisches Bauchgefühl: Nutzen Sie alle Quellen, die Sie haben, um den Fall zu lösen. Die Beschreibungen in diesem Buch sind so lebensnah wie möglich und halten sich an wissenschaftliche Fakten. Hier zählt nicht, was Sie glauben oder meinen, hier zählt nur, was Sie beweisen können.
Kleine Tippgeber.
An manchen Stellen finden Sie sogenannte ›QR-Codes‹. Das sind diese lustigen Kästchen mit den wirren Mustern. Sie können sie mit Ihrem Handy oder Tablet einscannen und erhalten zusätzliche Hinweise und Tipps. Allerdings ist das kein Muss. Wenn Sie den Fall ohne diese Helferlein lösen möchten, dann steht Ihnen das frei. Jede Geschichte ist so erzählt, dass sie allein durch die Hinweise im Text aufgeklärt werden kann. Probieren Sie es einfach aus und schauen Sie, was passiert.
Übrigens: Sollte Ihr Handy oder Ihr Tablet die QR-Codes nicht einlesen können (oder eine Fehlermeldung anzeigen), dann müssen Sie sich ggf. eine zusätzliche QR-Scanner-App herunterladen und installieren. Und Sie brauchen nichts zu befürchten, die Codes enthalten lediglich einen kurzen Text.
In diesem Sinne: Viel Spaß beim Rätseln und Raten!
Für Dr. Mark Benecke.
Vielen Dank für all die spannenden Vorträge und Bücher, die meine Leidenschaft für Forensik geweckt haben.
Der Fall
13. Juli 1989
Aktenzeichen: B-306/02 (Renquist, Helen)
Als um 02:41 Uhr das Telefon in der Rettungsleitstelle von Marin County klingelte, ahnte noch niemand, welches Drama in den kommenden Stunden über die Bewohner des kleinen, beschaulichen Städtchens Tiburon im Bundesstaat Kalifornien einbrechen würde. Die knapp neuntausend Seelen der Gemeinde, die ihren Lebensunterhalt vor allem durch Touristen bestritten, welche aus den umliegenden Metropolen zum Wandern oder zur Erholung hierherkamen, führten ein ruhiges und größtenteils ereignisloses Leben. Die Straßen im Ortskern waren von kleinen, mit viel Liebe und Hingabe eingerichteten Restaurants, Cafés und Läden gesäumt, die zum Verweilen oder zum Shoppen einluden. Jeder kannte hier jeden und man vertraute und half sich. In den letzten Jahren hatte sich Tiburon zudem zu einem beliebten Ruhesitz älterer Paare entwickelt, die ein ausreichend gut gefülltes Konto besaßen und es sich daher leisten konnten, dort ein Haus zu kaufen und die Beschaulichkeit der Halbinsel ebenso zu genießen wie die geografische Nähe zu San Francisco.
»Neun-eins-eins Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Telefonistin betrachtete ihren Monitor, auf dem die Nummer des Anrufers sowie die dazugehörige Adresse angezeigt wurde.
»O mein Gott, o mein Gott, meine Frau ... ich ... meine Frau!«, rief eine aufgebrachte Männerstimme. Sie stockte mehrmals, wiederholte dann immer wieder: »Meine Frau, meine Frau!«
»Sir, was ist geschehen? Was ist mit Ihrer Frau?«
»Sie hat sich ... o Gott, sie hat versucht, sich umzubringen! Bitte, kommen Sie schnell, Sie müssen ihr helfen! Sie ist schon ganz kalt!«
Die Finger der Telefonistin flogen über die Tastatur. Sie vermerkte ›weibliche Person, Suizidversuch‹ in dem Feld, welches die Art des Notfalls beschrieb, dann löste sie einen Alarm im nahe gelegenen Krankenhaus aus, worauf sich eine Rettungsmannschaft auf den Weg zu ihrem Einsatzfahrzeug machte, noch während das Gespräch weiterlief.
»Ihre Frau hat versucht, sich umzubringen?«, wiederholte sie.
»Ja! Hier in unserem Haus.«
»Wie hat sie versucht, sich umzubringen?«
»Sie ... sie ... hat sich erhängt. In unserer Bibliothek! Mit einem Strick.«
»Sie hat sich erhängt?«
»Ja.«
»Waren Sie derjenige, der sie gefunden hat?«
»Ja, vorhin.«
»Haben Sie versucht, sie wiederzubeleben?«
»Ja, ich habe sie von da oben heruntergeholt und ... und ... sie reagiert auf nichts! Sie ist schon ganz kalt. Bitte, wann kommt der Rettungswagen?« Der Mann klang aufrichtig verzweifelt, ein leises Wimmern mischte sich unter seine Worte.
»Der ist bereits auf dem Weg zu Ihnen, Sir. Wissen Sie, ob Ihre Frau irgendwelche Medikamente oder Drogen zu sich genommen hat?«
»Keine Ahnung. Ich ... ich glaube nicht.«
»Wissen Sie, wie lange Ihre Frau dort gehangen hat, bevor Sie sie gefunden haben?«
»Nein, nicht genau. Sie muss es getan haben, während ich weggewesen bin. Ich bin um kurz nach Mitternacht in die Stadt gefahren und erst vor einer Viertelstunde wiedergekommen. Da habe ich sie gefunden.«
»Und sie hat keinerlei Lebenszeichen mehr?«
»Sie ist kalt!«, rief der Mann bitter. »O Gott, ich glaube, sie ist tot! Was soll ich nur tun? Bitte helfen Sie mir!«
»Behalten Sie Ruhe, Sir, die Rettungsmannschaft wird in wenigen Minuten bei Ihnen eintreffen.«
* * *
Um 02:57 Uhr bog der Krankenwagen mit flackerndem Blaulicht von der Golden Gate Avenue in die Crest Road ein und schlängelte sich an den geparkten Fahrzeugen am Wegesrand und den luxuriösen Häusern vorbei, die in bester Hanglage und mit Blick auf die Richardson Bay zur Rechten und dem San Francisco Jachtklub zur Linken erbaut worden waren. Wer hier wohnte, hatte Geld, viel Geld sogar, und scheute sich nicht, es zu zeigen. So auch der Besitzer des Anwesens am Ende der Straße, einem üppigen, aus mehreren Teilgebäuden bestehenden Areals, welches von einer riesigen Gartenlandschaft mit Pool und privatem Tennisplatz flankiert wurde.
Der Krankenwagen kam vor dem ersten der drei Gebäude zum Stehen. Als die Sanitäter ausgestiegen waren und nach ihrer Ausrüstung griffen, eilte ihnen ein vollkommen aufgelöster und stark zitternder Mann entgegen. Sein graues Haar wirkte zerzaust, sein Gesicht war aschfahl und seine Augen panisch geweitet. Er rang sichtlich nach Fassung.
»Kommen Sie!«, rief er hektisch. »Meine Frau ist oben in der Bibliothek. Bitte beeilen Sie sich!«
Die Rettungsmannschaft folgte ihm.
Im zweiten Stock des Hauses machten sie dann eine grausame Entdeckung: Auf dem Boden, direkt in der Mitte des Raumes, lag der leblose Körper einer Frau. Ihr Kopf war leicht in den Nacken gelegt, ihr Mund stand offen und ihre Arme und Beine waren seitlich abgespreizt wie die Glieder einer Spielzeugpuppe. Ein fingerdickes Seil war in mehreren Schichten fest um ihren Hals gewickelt, ein Ende davon ragte seitlich neben ihrem Kopf hervor und war offenkundig abgeschnitten worden. Das zweite Ende baumelte einsam von einem quer verlaufenden Stützbalken herab, der zu der hölzernen Deckenkonstruktion des Zimmers gehörte. Ein umgekippter Stuhl lag in nur wenigen Zentimetern Entfernung neben dem Opfer.
Die Sanitäter machten sich umgehend an die Arbeit. Sie prüften Puls und Augenreaktionen der Frau, lösten die Verschnürung um ihren Hals, versuchten Wiederbelebungsmaßnahmen und gaben ihr Spritzen mit künstlichem Adrenalin. Doch bereits nach wenigen Minuten sahen sich die Männer gegenseitig an und kamen zu dem Schluss, dass sie das Leben der Frau nicht mehr retten konnten. Sie war schon zu lange tot. Die Leichenstarre hatte eingesetzt, an verschiedenen Stellen ihrer Haut konnte man purpurrote Totenflecke erkennen, zudem war es den Sanitätern nicht gelungen, bei ihr irgendwelche Vitalzeichen zu entdecken. Ihre Pupillen blieben starr und unempfindlich auf Lichtimpulse, ein Herzschlag ließ sich nicht mehr messen. Somit konnten sie nichts weiter tun, als dem untröstlichen Ehemann die traurige Nachricht zu überbringen und anschließend den für den Bezirk San Francisco zuständigen Medical Examiner, also den Gerichtsmediziner, anzurufen, damit dieser die Tote seinerseits begutachtete. So war es Vorschrift bei Fällen unnatürlichen Todes – und dieser lag bei der Frau in der Bibliothek zweifelsfrei vor.
* * *
Die Nachricht vom Tod der älteren Frau verbreitete sich in Tiburon wie ein Lauffeuer. Bereits wenige Stunden nach dem Einsatz der Rettungskräfte sowie dem Eintreffen des Medical Examiners und der örtlichen Polizei in der Crest Road Nummer 20 war dieser Vorfall das Stadtgespräch schlechthin. Wohin man auch kam und mit wem man sich dort unterhielt, überall begegneten einem fassungslose Menschen. Denn in dem herrschaftlichen Haus am Hang war niemand Geringeres gestorben als Helen Renquist, die Ehefrau von Karl Renquist, einem Multimilliardär, der mehrere Dutzend Unternehmen in den gesamten Vereinigten Staaten besaß und zu den prominentesten Bewohnern des kleinen Städtchens gehörte. Daher war die Betroffenheit unter der Bevölkerung entsprechend groß, als sie von den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht erfuhr. Die Menschen plauderten in Cafés, Supermärkten und auf der Straße darüber, schüttelten den Kopf und konnten es nicht glauben, dass ausgerechnet Helen Renquist, diese nette und freundliche ältere Dame, die trotz ihres Wohlstandes und des Status ihres Ehemannes so bodenständig geblieben war, ein solch grausames Schicksal ereilt haben sollte. Die Renquists waren bei allen Mitgliedern der Gemeinde hoch angesehen und beliebt, niemand sprach ein böses Wort über sie. Denn, wenngleich sie auch in den vergangenen Jahren ein relativ abgeschiedenes und ruhiges Leben geführt hatten, ohne größere öffentliche Auftritte, so hatte sich Helen viel in der örtlichen Kirche eingesetzt und immer wieder großzügige Summen für die Belange der Stadt gespendet. Dazu gehörte beispielsweise ein Kindergarten. Karl Renquist wiederum war ein passionierter Segler und Ehrenmitglied des örtlichen Jachtklubs. Er liebte es, dort zu verweilen, sich mit Interessensgenossen über maritime Themen auszutauschen und, so oft es seine Zeit zuließ, auf seinem Einmaster über das glitzernde Wasser dahinzugleiten, an Angel Island und Alcatraz vorbei bis zur Golden Gate Bridge und darüber hinaus. Boote waren seine Leidenschaft. Boote und gutes Essen. Karl war ein mindestens ebenso begeisterter Gourmet und Mitorganisator der alljährlichen ›Friday Nights on Main‹, einer beliebten regionalen Veranstaltung, die an Freitagabenden im Frühjahr und Sommer stattfand und bei der die Main Street im Herzen der Stadt für den Autoverkehr gesperrt und in eine Restaurantmeile umgewandelt wurde. Man kannte ihn als charmanten und jovialen Mann, der zwar nicht viel sprach, doch wenn er es tat, sehr klug und belesen auftrat und niemanden von oben herab behandelte.
Noch fassungsloser waren die Einwohner Tiburons über die Begleitumstände von Helens Tod. Die Polizei und die örtlichen Behörden hielten sich zwar mit Details zu dem Vorfall zurück, dennoch sickerte alsbald die Nachricht durch, dass Helen keinem normalen Schicksal erlegen war und auch keiner Krankheit oder einem Unfall, sondern dass sie sich selbst gerichtet hätte. Niemand in der Stadt konnte das glauben – und selbst diejenigen, die es als Tatsache akzeptierten, waren ratlos ob der Frage, weshalb sie das getan haben könnte. Die Renquists hatten nie den Eindruck vermittelt, unglücklich zu sein oder an psychischen Problemen zu leiden. Zwar war ihre Ehe kinderlos geblieben, doch hatte man weder Karl noch Helen verbittert oder enttäuscht darüber sprechen hören. Sie hatten es als Laune der Natur akzeptiert. Und auch sonst war nichts bekannt gewesen, was den beiden das Leben schwer gemacht hätte – von normalen Alltagsherausforderungen abgesehen, die nun wirklich jeder besaß und die beileibe kein Grund waren, sich das Leben zu nehmen.
Oder doch?
Die Menschen des Städtchens konnten sich diese Frage nicht beantworten. Sie harrten stattdessen der Dinge, die offiziell bekannt gegeben werden würden – denn das musste irgendwann geschehen, da es sich um so prominente Betroffene handelte – und hingen bis dahin ihren eigenen Vermutungen, Meinungen und Gedanken nach.
Tipp 1
Die Spurensuche
Detective Miquel Ortega traf um kurz nach sieben Uhr früh am Haus der Renquists ein. Er war ein erfahrener Mordermittler und arbeitete seit dreizehn Jahren bei der ›Homicide Division‹ der Polizei von San Francisco. Normalerweise rückten Beamte seiner Abteilung nicht aus, wenn sich ein Mensch das Leben genommen hatte – es lag ja kein Verbrechen vor –, doch im Fall der toten Helen Renquist gab es Begleitumstände und Besonderheiten, die den anwesenden Polizisten und Rettungskräften seltsam vorgekommen waren und sie deshalb veranlasst hatten, das Tiburon Police Department zu informieren, welches wiederum Kontakt zu den Kollegen in San Francisco aufgenommen hatte.
Ortega verließ sein Fahrzeug und ging zu dem gelbschwarzen Flatterband, welches die Zugangswege zum Grundstück der Renquists absperrte. Der Krankenwagen war mittlerweile davongefahren, an seiner Stelle befanden sich nun der markante, silbergraue Van des Medical Examiners sowie zwei Einsatzwagen der örtlichen Polizei. Ein uniformierter Beamter bewachte das Kommen und Gehen. Ortega hielt ihm seine Marke hin.
»Detective Ortega, Mordkommission«, bemerkte er knapp.
Der Polizist hob das Flatterband an, sodass Ortega darunter hindurchschlüpfen konnte.
»Kommen Sie«, erwiderte er, dann führte er den Detective zur Eingangstür und anschließend in den zweiten Stock, in dem sich die Leiche von Helen Renquist befunden hatte. Man hatte sie ins nächstgelegene gerichtsmedizinische Institut abtransportiert, um sie dort genauer untersuchen zu können.
»Guten Morgen«, brummte Ortega den Anwesenden zu, nachdem er den Raum betreten hatte. Seine Augen musterten die wandhohen Regale mit ihren endlos wirkenden Reihen von Buchrücken, den offenen Kamin und die zwei Ohrensessel, die sich gleich daneben befanden. Ein Panoramafenster auf der straßenzugewandten Seite ermöglichte einen einzigartigen Blick auf die Dächer von Tiburon, dessen Zentrum sich im Tal befand, und auf den Belvedere Cove, dessen Wasseroberfläche die ersten Sonnenstrahlen des Tages reflektierte. Anschließend wanderte sein Blick weiter zum Boden. Aufgerissene Päckchen von Einwegspritzen und hingeworfene Einmalhandschuhe zeugten von den Bemühungen der Sanitäter, der verstorbenen Helen Renquist doch noch zu helfen. Das Seil, welches um ihren Hals geschnürt gewesen war, lag in mehrere Teile zerschnitten daneben.
»Denway«, begrüßte ihn der Medical Examiner, ein hagerer, älterer Mann mit Halbglatze. Er trug einen weißen Overall mit der Aufschrift seiner Behörde und reichte Ortega die Hand zum Gruß. »Clive Denway. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
»Was haben wir hier?«, fragte der Detective.
»Helen Renquist, 68 Jahre alt. Wurde von ihrem Mann Karl erhängt aufgefunden.« Er deutete auf das immer noch von dem Querbalken herabbaumelnde Teil des Seils. »Da oben. Laut seiner Aussage hat er sie heruntergeholt und wiederzubeleben versucht, was allerdings nicht gelungen ist. Dann hat er die 911 gewählt.«
Ortega packte in die Brusttasche seines Hemdes und holte einen handtellergroßen Block und einen Stift heraus und machte sich auf einer freien Seite Notizen.
»Wann war das?«, wollte er wissen.
»Der Notruf ging um Viertel vor drei in der Frühe ein, laut Karl Renquist hat er seine Frau zehn bis fünfzehn Minuten davor entdeckt.«
Ortega überschlug die Zahlen im Kopf. »Das könnte hinkommen.«
»Prinzipiell ja, aber bei der Sache gibt es ein paar Besonderheiten, die für mich Fragen aufwerfen.« Der Examiner trat direkt unter das herabhängende Seil und deutete nach oben. »Mir ist rätselhaft, wie er seine Frau von dort herunterholen konnte. Nirgendwo ist ein Schnittwerkzeug zu finden, mit dem er das Seil durchtrennt hat.«
»Hat er sich dazu geäußert?«, fragte Ortega.
»Nein, bisher nicht. Er wurde wenige Minuten, nachdem er vom Tod seiner Frau erfahren hat, ins nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert. Nervenzusammenbruch.«
»Okay, dann fahre ich da hin und frage ihn selbst. Sonst noch was?«
»Ja.« Der Examiner hob ein Stück des zerschnittenen Seils vom Boden auf und zeigte es Ortega. »Das hier war um ihren Hals gewickelt, in mehreren Reihen. Die Sanitäter haben mir berichtet, dass es immer noch dort war, als sie eingetroffen sind.«
»Das Opfer hatte das Seil immer noch um ihren Hals gewickelt?«, fragte der Detective und sah Denway überrascht an.
»So ist es.«
»Das ist in der Tat seltsam.« Noch mehr Notizen in seinem Block. »Wenn Renquist versucht hat, seine Frau wiederzubeleben, warum hat er dann nicht zuerst das Seil um ihren Hals entfernt?«
»Genau darauf will ich hinaus.«
»Okay, ich werde das nachprüfen. Sonst noch was?«
»Ja, die Strangulationsmale an Helen Renquists Hals sind für Erhängen eher untypisch.« Der Examiner strich sich mit dem Zeigefinger quer am Hals entlang, vom Kieferansatz hinunter bis knapp oberhalb des Schlüsselbeins. »Vier markante Stellen auf jeder Seite, jeweils mehrere Zentimeter im Durchmesser. Wenn sie von einem Seil stranguliert worden wäre, dann hätte man durchgezogene, quer verlaufende Male ober- und unterhalb der Verschnürung erwarten können, entlang der Laufrichtung des Seils.«
»Mhm«, brummte Ortega und schrieb sich auch dieses Detail auf. »Spricht das gegen Erhängen?«
»Nein, nicht unbedingt, es ist nur sehr ungewöhnlich. Genaueres wissen wir aber erst nach der Autopsie.«
Der Detective nickte. »Gibt es irgendwelche Zeugen des Vorfalls?«
»Nur die Rettungssanitäter, die als Erste eingetroffen sind, und die Polizisten, die danach kamen. Ansonsten hat niemand etwas bemerkt.«
Ortega machte eine ausladende Bewegung mit seiner Hand. »Keine Bediensteten in diesem großen Haus? Kein Butler, kein persönlicher Assistent, kein Wachdienst?«
»Ich glaube nicht. Das müssen Sie aber den Ehemann fragen. Als der Krankenwagen eingetroffen ist, war jedenfalls niemand außer ihm hier.«
»Hm.«
Ortega kritzelte ein paar ergänzende Stichwörter in seinen Block, dann steckte er ihn wieder ein und lief nachdenklich durch den Raum. Das Panoramafenster bot einen exzellenten Blick sowohl nach draußen als auch nach innen, denn die Scheiben waren nicht verspiegelt. Wäre jemand daran vorbeigelaufen, als sich die dramatischen Szenen rund um das Opfer und ihren Ehemann hier drin abgespielt haben, dann hätte er dies theoretisch mitansehen können. Andererseits hatte sich der Vorfall mitten in der Nacht ereignet, und das Haus der Renquists lag in einer ruhigen Gegend am Ende einer Sackgasse. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zu so früher Stunde hier vorbeigegangen war, lag also nahezu bei null. Auf hilfreiche Augenzeugen konnte der Detective nicht hoffen. Dennoch nahm er sich vor, den nächstgelegenen Nachbarhäusern einen Besuch abzustatten und die Besitzer zu befragen – sowohl, um einen möglicherweise doch vorhandenen Zeugen zu finden, als auch, um sich bei den Leuten nach den Renquists zu erkundigen und herauszufinden, ob es in der Vergangenheit weitere seltsame Vorfälle gegeben hatte.
Der Detective lief den Raum weiter ab und musterte alle Gegenstände und Möbel, die sich dort befanden. Dabei stellte er fest, dass der Examiner recht hatte, es gab tatsächlich nirgendwo ein Hilfsmittel, das es dem Ehemann ermöglicht hätte, seine Frau von dort oben herunterzuholen. Keine Schere, kein Messer, kein Brieföffner, nichts Scharfes. Und als Tritthilfe und Erhöhung kam nur der umgekippte Stuhl infrage.
Ortega deutete auf ihn.
»Kann ich den anfassen?«, fragte er den Examiner, der dies mit einem Nicken quittierte.
»Ist bereits untersucht und fotografiert.«
Ortega packte die Rückenlehne des Stuhls und hievte ihn zurück in seine ursprüngliche Position. Es handelte sich um ein sehr schönes und filigran gearbeitetes Stück aus dunklem Holz, mit einer Sitzfläche aus cremefarbenem, marmoriertem Stoff. Hat bestimmt ein Vermögen gekostet, vermutete er. Er kniete sich hin und sah sich die Sitzfläche aus der Nähe an. Sie war sauber und glatt, praktisch makellos. Es waren keinerlei Gebrauchsspuren an ihr erkennbar, weder Abrieb noch Verschmutzungen oder Beschädigungen. Der Stoff war wie neu.
Ortega betrachtete den Boden neben dem Stuhl. Die Schuhe der Rettungssanitäter und Polizisten hatten feine sandige Spuren auf dem dunklen Parkett hinterlassen. Eine bunt gewürfelte Collage von Flächen und Streifen zahlloser Sohlen. Tiburon besaß mehrere Sandstrände, und das Haus der Renquists lag zur Seeseite gewandt, daher war es nicht verwunderlich, dass Winde, die vom Belvedere Cove herüberzogen, die kleinen, gelben Körner abtrugen und über Häuser und Straßen verteilten. So auch hier in der Crest Road.
Ortega erhob sich und ging zu dem Querbalken, an dem Helen Renquist gehangen hatte. Er musterte die Verknotung, mit der das Seil befestigt worden war. Man hatte, so schien es, das Seil von unten über den Balken geworfen und dann mit ein paar flüchtigen und sehr einfachen Drehungen dahingehend zusammengeschnürt, dass es nicht mehr abrutschen oder sich lösen konnte.
Er wandte sich dem Examiner zu.
»Das sieht aus wie Segelschnur, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja. Wahrscheinlich Polypropylen. Wir untersuchen das noch.«
»Gibt es hier noch mehr davon?«
»Ich schätze schon. Soweit ich weiß, ist Karl Renquist ein Segler. Von daher wäre es nicht überraschend, wenn er solche Seile besäße.«
»Ich sehe mich mal im Rest des Hauses um.«
Der Detective verließ den Raum und begab sich in den ersten Stock, in dem sich die Schlafräume sowie die Bäder und Ankleidezimmer des Ehepaares befanden. Tatsächlich besaßen die Renquists von allen Räumen jeweils zwei. Diese waren ähnlich groß und ähnlich aufgebaut, genutzt wurden sie jedoch von unterschiedlichen Personen, das war offensichtlich. Das erste Schlafzimmer hatte einen sehr femininen Touch. Das Kingsize-Bett war mit einer buntgeblümten Tagesdecke versehen, die Vorhänge und Gardinen waren sommerlich farbenfroh, und es roch nach Parfum. Das zweite Zimmer war spartanischer, eintöniger, pragmatischer. Keine Tagesdecke, keine bunten Vorhänge, dafür ein Stuhl, über dessen Rückenlehne ein Männersakko hing, sowie ein Nachttisch mit dem Ulysses von James Joyce als Nachtlektüre und einer Ausgabe des Wall Street Journals. Es roch nach moschushaltigem Aftershave.
Die Renquists schliefen also in getrennten Betten, schlussfolgerte Ortega. Und sie benutzten unterschiedliche Bäder, denn auch hier war alles fein säuberlich voneinander getrennt und mal rein weiblich, mal rein männlich eingerichtet. Das musste nicht zwangsläufig eine Bedeutung haben, wusste der Detective, denn reiche Menschen hatten mitunter die seltsamsten Angewohnheiten und Marotten. Dennoch würde er Karl Renquist darauf ansprechen.
Er lief die Treppe hinunter bis zum Erdgeschoss und betrat den Wohn- und Essbereich, der linker Hand aus einer Ledercouch, einem seitlich daneben stehenden Glastischchen sowie einem wandfüllenden Flachbildfernseher bestand, und rechter Hand aus einem Esstisch mit mehreren Stühlen und einer beleuchteten Vitrine, in der sich Whiskeys und dergleichen Alkoholika befanden. Der Fernseher war ausgeschaltet. Dem Detective fiel auf, dass die Zierkissen der Couch zerdrückt und teilweise aufeinandergestapelt waren, so als habe es sich dort jemand gemütlich machen wollen, zudem standen auf dem kleinen Tischchen ein halb leer getrunkenes Glas Rotwein nebst der dazugehörigen Flasche, sowie ein Schälchen mit getrockneten Fruchtchips. Beides inspizierte er genauer. Er hob das Glas an und hielt es gegen das Licht. Die Ränder wiesen feine Rückstände eines roten Lippenstiftes auf, es war also von einer Frau benutzt worden. Der Inhalt des Schälchens schien nahezu unangetastet und vollständig zu sein. Dennoch deuteten vereinzelte Fruchtkrümelchen auf der Glasplatte des Tischchens darauf hin, dass jemand davon gegessen haben musste, wenngleich nicht viel.
Ortega stellte das Glas zurück und inspizierte den Fußboden. Vor und unter der Couch lag ein großer, weißer und sehr flauschiger Teppich – ein Berber oder etwas in der Art –, mit zentimeterlangen, sehr dicken Lamellen, die seine Oberfläche vollständig bedeckten. Er kniete sich hin, senkte den Kopf und sah unter die Couch. Dort stachen ihm sofort zwei Dinge ins Auge: Einmal ein paar der Fruchtchips, die relativ verstreut unter der Sitzfläche im Dunkeln lagen, sowie eine längliche, schwarze Fernbedienung. Er tastete danach, holte sie hervor und drückte den Einschaltknopf. Augenblicklich erwachte der Fernseher an der Wand zum Leben und zeigte einen Homeshopping-Kanal, auf dem gerade irgendein Kochgeschirr angepriesen wurde.
Der Detective schaltete wieder ab und begab sich zum Essbereich. Von den sechs möglichen Plätzen an dem lang gezogenen Tisch waren nur fünf mit Stühlen versehen, und bei näherer Betrachtung fiel Ortega auf, dass es sich dabei um exakt dieselben Stühle handelte wie jener, der oben im zweiten Stock lag. Jemand musste also den fehlenden sechsten Stuhl aus dem Essbereich entfernt und mit in die Bibliothek genommen haben. Die Frage war nur: Zu welchem Zweck? War es Helen Renquist gewesen, um sich auf diesen stellen und die Schlinge um ihren Hals legen zu können? Oder war es der Ehemann gewesen, der versucht hatte, seine Frau herunterzuholen und damit zu retten?