Blutzeichen - Mark Billingham - E-Book + Hörbuch

Blutzeichen E-Book und Hörbuch

Mark Billingham

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Beschreibung

Eine Reihe von Morden, die alle dieselbe Handschrift tragen, hält die Londoner Spezialeinheit Serious Crime Group um Detective Inspector Tom Thorne in Atem. Alles deutet darauf hin, dass das blutige X auf dem Rücken des Opfers das Markenzeichen eines Auftragskillers ist, der von einem mächtigen Gangstersyndikat angeheuert wurde. Denn im Londoner Norden wütet ein erbitterter Bandenkrieg, seit Billy Ryan, einer der wichtigsten Drahtzieher des organisierten Verbrechens, ohne Rücksicht auf Verluste in das Revier eines anderen Clans eindringt. Auf den ersten Blick zwar ein ausgesprochen unerfreulicher Fall für den ruppigen Ermittler, aber doch einer, dessen Auflösung Thorne keine allzu großen Rätsel aufgeben sollte. Doch mit einem Mal verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart zu einem beklemmenden Netz der Gewalt: Denn schon vor zwanzig Jahren wurde einem jungen Mädchen seine Ähnlichkeit mit Alison Kelly, der späteren Ehefrau von keinem Geringeren als Billy Ryan, zum Verhängnis ...

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Zeit:11 Std. 33 min

Sprecher:Wolfgang Berger

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Blutzeichen

Blutzeichen

© Mark Billingham 2004

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Tom Thorne

Titel: Blutzeichen

Teil: 4

Originaltitel: The Burning Girl

Übersetzer: Isabella Bruckmaier

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2024-7

–––

Für

Hilary Haie

–––

And now I know how Joan of Arc felt,

Now I know how Joan of Arc felt,

As the flames rose to her Roman nose,

And her Walkman started to melt ...

»Bigmouth Strikes Again« — The Smiths

Prolog

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Nahezu die Hälfte aller neuen Unternehmen

scheitert innerhalb der ersten drei Jahre!

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Februar

Der Preis der Menschlichkeit

–––

Später glaubte Carol Chamberlain tatsächlich, sie habe von Jessica Clarke geträumt, als sie diesen ersten Anruf erhielt. Dass es das Klingeln des Telefons war, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte — fort von diesen Geräuschen und Gerüchen. Fort von diesen verschwommenen Bildern eines flüchtenden Mädchens, den Farben, die sich seinen Rücken hinaufschlängelten, explodierten und um seinen Nacken flogen gleich goldenen und kirschroten Tüchern.

Ob der Traum eingebildet war oder nicht, alles stand ihr wieder lebhaft vor Augen, als sie wieder aufgelegt hatte. Zitternd auf dem Bett saß; neben Jack, der sich nur kurz bewegt hatte, unempfänglich für die Welt, die hinter ihr lag.

Sie sah alles wieder vor sich.

Die Farben waren so hell und die Geräusche so klar und deutlich wie an jenem Morgen vor zwanzig Jahren. Daran bestand kein Zweifel. Obwohl Carol nichts davon mit eigenen Augen gesehen hatte, hatte sie mit jedem gesprochen, jedem Einzelnen, der dabei gewesen war. Nun glaubte sie, wenn sie die Ereignisse im Kopf durchging, es genau so vor sich zu sehen, wie es abgelaufen war ...

Die Geräusche — die Schritte des Mannes auf der Wiese, als er den Hang hinauflief, sein unmelodisches Summen — wurden übertönt vom Schulhoflärm. Unter dem schrillen Kreischen pulsierte dumpfes Geplapper, eine Woge von Stimmen, die über den Schulhof rollte und weiter den Hügel hinunter zur Straße.

Der Mann versuchte vergeblich, etwas davon zu verstehen, als er näher kam. Wahrscheinlich ging es dabei um Jungs und um Musik. Wer in war und wer out. Da war noch ein anderes Geräusch zu hören: Rasenmäherlärm von der anderen Seite der Schule, wo Gärtner arbeiteten. Sie trugen grüne Latzhosen, so wie er. Bei seinem fehlte nur das eingestickte Gemeindewappen.

Die Hände in den Taschen und die Kappe tief in die Stirn gezogen, lief er außen um den Schulhof bis zu der Stelle, wo das Mädchen und ihre Freundinnen zusammenstanden. Einige von ihnen lehnten sich entspannt wippend an den Metallzaun.

Der Mann zog die Heckenschere aus dem Gürtel und ging, nur eine Handbreit von den Mädchen entfernt, auf der anderen Seite des Zauns in die Hocke. Mit einer Hand begann er das Unkraut um einen der Betonzaunpfosten wegzuschnippeln, mit der anderen zog er den Brennspiritus aus der Tasche.

Der Geruch bereitete ihm am meisten Kopfzerbrechen. Er hatte sich vergewissert, dass die Dose randvoll war. Nicht das geringste Zischen oder Gurgeln war zu hören, als er auf den Knopf drückte und die Flüssigkeit aus der Plastikdüse durch die Lücke im Zaun spritzte. Er befürchtete, ein Hauch davon könne, während die Flüssigkeit in den blauen Stoff des knielangen Rocks eindrang, nach oben entschweben und die Kleine oder eine ihrer Freundinnen warnen.

Seine Sorge war unnötig. Als er schließlich die Dose neben sich ins Gras legte und nach dem Feuerzeug griff, hatte er mindestens die Hälfte aufgebraucht, und die Mädchen waren noch immer am Schnattern, ohne etwas zu bemerken. Es überraschte ihn, dass der Rock des Mädchens fünfzehn Sekunden lang unbemerkt vor sich hin schwelte, bevor er endlich Feuer fing. Es überraschte ihn auch, dass nicht das Mädchen selbst als Erste schrie ...

Jessica hörte nur mit einem Ohr zu, als Ali von der Party erzählte und Manda sich über den letzten Knatsch mit ihrem Freund ausließ. Sie dachte noch immer an den blöden Streit mit ihrer Mum, der sich über das ganze Wochenende gezogen hatte, und an Daddys Standpauke, die er ihr heute früh hielt, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Als Ali eine Grimasse schnitt und die anderen lachten, stimmte Jessica mit ein, ohne den Witz genau verstanden zu haben.

Anfangs fühlte es sich an, als zerre etwas leicht an ihr, dann kitzelte es. Sie beugte sich vor, um ihren Rock hinten gerade zu ziehen. Da sah sie diesen Ausdruck auf Mandas Gesicht, sah, wie ihr Mund sich öffnete. Doch den Ton, der aus diesem Mund kam, hörte Jessica nicht mehr. Die Schmerzen an ihren Schenkeln waren bereits höllisch, und sie taumelte weg vom Zaun und begann zu laufen ...

Das lag lange zurück, doch Carol Chamberlain vergegenwärtigte sich die Panik und den Schmerz — schockiert wie stets, wenn sich das Unerträgliche vor ihrem geistigen Auge entfaltete.

Schrecklich schnell. Entsetzlich langsam ...

Eine Stunde vor Tagesanbruch, im Schlafzimmer war es dunkel, aber hinter ihren Augen blitzte etwas Unnatürliches auf. Im Nachhinein, mit dem Wissen, war sie überall, konnte sie alles sehen und hören.

Sie sah, wie den Mädchen die Kinnlade nach unten fiel, als wären sie alte Frauen, wie ihre Augen groß und glasig wurden, als ihre Füße sie weit wegtrugen von den Flammen. Von ihrer Freundin.

Sie sah Jessica, mit den Armen wild um sich schlagend, einen Zickzack-Kurs über den Schulhof beschreibend. Sie hörte die Schreie, hörte die Absätze auf dem Asphalt aufschlagen, das Zischen, als die Haare Feuer fingen. Sie sah, wie dieses Kind — und es war ihr bewusst, es war ein Kind — wie ein Feuerwerkskörper über den Teer schoss. Langsamer wurde, Funken sprühte ...

Und sie sah das Gesicht eines Mannes, Rookers Gesicht, wie er sich umwandte und den Hang hinunterlief. Wie seine Beine sich immer schneller bewegten. Wie er beinahe stürzte, als er den Hügel hinunter zu seinem Auto rannte.

Carol Chamberlain wandte sich um und starrte das Telefon an. Sie dachte an den anonymen Telefonanruf vor zwanzig Minuten. Die einfache Mitteilung eines Mannes, der unmöglich Gordon Rooker sein konnte.

»Ich habe sie angezündet ...«

Erstes Kapitel

Der Zug stand irgendwo zwischen Golders Green und Hampstead, als die Frau in den Wagen kam.

Kurz nach sieben, Montagabend. Die Fahrgäste die typische Mischung Londoner, die abends nach Hause fahren oder ins West End, um sich einen schönen Abend zu machen. Anzüge und Evening Standards oder eselsohrige Thriller. Die ganze Bandbreite menschlichen Lebens, von nachgemachten Fußballtrikots über Secondhandchic und Freizeitmode von Ciro Citterio. Köpfe, die gegen die Fenster schlugen und im Schlaf schwankten. Oder im Rhythmus zu Coldplay oder Craig David oder DJ Shadow nickten.

Grundlos, und wohl nur, weil er auf der Northern Line fuhr, ruckte der Zug unvermittelt vorwärts, um ein paar Sekunden später wieder zum Stehen zu kommen. Die Fahrgäste betrachteten die Füße ihres Gegenübers oder lasen die Anzeigen über deren Köpfen. Abgesehen von den dünnen, blechernen Bässen, die aus den Kopfhörern drangen, war nichts zu hören, was den Stillstand noch stärker betonte.

Am Ende des Waggons saßen zwei schwarze Jungen nebeneinander. Der eine sah aus wie fünfzehn oder sechzehn, war aber wahrscheinlich jünger. Er trug eine rote Bandana, einen übergroßen American-Football-Sweater, Baggy-Jeans und eine Unmenge Ringe und Halsbänder. Neben ihm saß ein um einiges jüngeres Kerlchen, vielleicht sein jüngerer Bruder, nicht viel anders gekleidet.

Der Mann ihnen gegenüber fand die Klamotten, den Schmuck, den ganzen Auftritt lächerlich. Ein Kind, das mit seinen sündteuren Turnschuhen noch nicht mal den Boden berührte. Der Mann war untersetzt, Anfang vierzig und trug eine abgewetzte braune Lederjacke. Er wich dem Blick des älteren Jungen aus, als dieser ihn dabei ertappte, wie er die beiden musterte. Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, die auf einer Seite grauer waren als auf der anderen. Für Tom Thorne hatte es ganz den Anschein, als hätten die beiden Jungen ihr gesamtes Geld in einem Laden namens »Der kleine Gangsta« auf den Kopf gehauen.

Binnen ein, zwei Sekunden, nachdem die Frau durch die Tür gekommen war, veränderte sich die Atmosphäre im Wagen. Von gelockerter Krawatte zu vollkommen hochgeschlossen. Englisch, extrem englisch ...

Thorne sah sie gerade lange genug an, um das Kopftuch und die dichten, dunklen Augenbrauen zu registrieren und das Baby, das sie im Arm trug. Dann sah er weg. Nicht dass er sich hinter einer Zeitung versteckte wie so viele im Wagen. Allerdings musste er sich beschämt eingestehen, dass das nur daran lag, dass er keine bei sich hatte.

Thorne starrte auf seine Schuhe, konnte aber nicht umhin, die Hand zu bemerken, die ihm entgegengestreckt wurde, als die Frau vor ihm stand. Er sah die Styroportasse, deren Rand angepickt war, vielleicht war er auch angeknabbert. Die Frau sprach leise auf ihn ein, in einer Sprache, die er nicht verstand und die er nicht zu verstehen brauchte.

Sie schüttelte die Tasse vor seinem Gesicht, und Thorne hörte nichts scheppern.

Es gehörte zur Routine: Tasse ausstrecken, Frage stellen, ignoriert werden und weiter zum Nächsten. Thorne sah ihr nach, wie sie durch den Wagen ging. Angesichts der geraden Linie ihres Rückens unter der dunklen Strickjacke, ihres ruhigen Arms, in dem sie ihr Baby hielt, spürte er ein Unwohlsein im Bauch. Er wandte sich ab, als das Unwohlsein sich in tiefes Mitgefühl für sie verwandelte, und für sich.

Er wandte sich wieder um und sah, wie sich der ältere Junge zu seinem Bruder beugte. An seinen Zähnen sog, bevor er sprach. Wie ein Kätzchen im Sack fauchte.

»Ich hasse diese Leute ...«

Zwanzig Minuten später, als er die U-Bahn-Station Richtung Kentish Town Road verließ, war Thorne noch immer deprimiert, und er fühlte sich nicht wesentlich besser, als er die Tür zu seiner Wohnung hinter sich zustieß. Doch seine Stimmung verharrte nicht auf diesem Tiefpunkt.

Aus dem Wohnzimmer war über den Lärm vom Fernseher hinweg eine übertrieben beleidigte Stimme zu hören. »Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie verdammt spät es ist?«

Thorne stellte seine Tasche ab, ging vier Schritte in der Diele und sah Phil Hendricks ausgestreckt auf dem Sofa liegen. Der Pathologe war größer, hagerer und mit seinen dreiunddreißig Jahren zehn Jahre jünger als Thorne. Er trug Schwarz, wie immer — Jeans und einen Pulli mit V-Ausschnitt —, sowie die übliche Sammlung von Ringen und Steckern an so gut wie allen verfügbaren Stellen im und ums Gesicht. Es gab noch weitere Piercings, über die Thorne aber so wenig wie möglich wissen wollte.

Hendricks drückte auf die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Das Abendessen ist jetzt sicher ungenießbar.« Er sprach normalerweise so geziert wie ein englischer Diplomat, weshalb Thorne über die im ManchesterGenuschel vorgetragene Tuntenparodie umso mehr lachen musste.

»Klar doch«, erwiderte er. »Koch du erst mal ein Ei.«

»Na ja, aber es wäre jetzt ungenießbar.«

»Was gibt‘s denn?«

Hendricks schwang die Beine auf den Boden und rieb sich den glatt rasierten Schädel. »Die Speisekarte liegt neben dem Telefon.« Er deutete auf ein Tischchen in der Ecke. »Für mich das Übliche. Und noch ein Pilz-Bhaji.«

Thorne streifte die Jacke ab und trug sie hinaus in die Diele. Er kam zurück, bückte sich, um die Heizung zurückzudrehen, und brachte eine schmutzige Tasse in die Küche. Anschließend hob er Hendricks Biker-Stiefel auf, die vor dem Sofa standen, und trug diese hinaus in die Diele.

Dann griff er nach dem Telefon und rief das Bengal Lancer an ...

Hendricks nahm seit Weihnachten Thornes Schlafcouch in Beschlag, weil der Schimmel in seiner Wohnung monströse Ausmaße angenommen hatte. Die Handwerker und Isoliermonteure waren von einer Woche ausgegangen, aber wie bei derlei Schätzungen üblich, scheiterte auch diese an der Wirklichkeit. Thorne verstand noch immer nicht genau, warum Hendricks nicht einfach bei seinem aktuellen Freund Brendan eingezogen war — aber wahrscheinlich wäre bei einer derartigen Achterbahnbeziehung selbst ein vorübergehendes Zusammenleben etwas riskant gewesen.

Mit Hendricks war es zwar etwas eng in Thornes kleiner Wohnung, aber er musste zugeben, dass er dessen Gesellschaft genoss. Sie diskutierten in aller Ausführlichkeit und offen die Vorzüge der Spurs und Arsenals, stritten sich über Thornes ausufernde Liebe zu Country oder kabbelten sich über Thornes unvermittelte und für ihn ganz uncharakteristische Leidenschaft für Ordnung.

Während sie auf das Curry warteten, legte Thorne ein Lucinda-Williams-Album auf. Nachdem er sich mit Hendricks eine Weile darüber gestritten hatte, redeten sie schließlich über andere Dinge ...

»Mickey Clayton starb an den Folgen eines Kopfschusses«, sagte Hendricks.

Thorne musterte ihn über den Rand seiner Bierdose hinweg und meinte: »Wohl kaum einer deiner kniffligeren Fälle. Der Großteil seines Kopfes war über die Wände verteilt, als wir ihn fanden.«

Hendricks schnitt eine Grimasse. »Morgen Nachmittag wirst du den ausführlichen Bericht auf deinem Schreibtisch liegen haben.«

»Danke, Phil.« Er zog ihn gern auf, aber abgesehen davon, dass er sein engster Freund war, war Hendricks der beste Pathologe, mit dem Thorne je zusammengearbeitet hatte. Entgegen seiner Erscheinung und trotz seines sarkastischen und häufig abseitigen Humors gab es niemanden, der die Toten besser verstand. Hendricks hörte zu, wenn sie ihre Geheimnisse preisgaben, übersetzte sie aus der geheimnisvollen Sprache des Leichenschauhauses.

»Hast du die Kugel gefunden?«, fragte Thorne. Der Mörder hatte eine Neun-Millimeter-Waffe benutzt. Was von der Munition übrig war, war neben den früheren Opfern gefunden worden oder in dem, was noch als ihr Schädel zu bezeichnen war ...

»Die Kugel wirst du nicht brauchen, um sagen zu können, ob‘s derselbe Mörder ist.«

»Der X-Man?« Es war offensichtlich gewesen, als am vorherigen Morgen die Leiche entdeckt wurde. Das Nylonhemd war bis zum Nacken hochgeschoben, die Blutspuren rannen von zwei tiefen Schnitten nach unten, die diagonal von der linken Schulter zur rechten Hüfte und vice versa geführt waren.

»Was die Klinge betrifft, bin ich mir immer noch nicht sicher. Vielleicht ein Teppichschneider, könnte aber auch eine Machete sein oder etwas in der Richtung.«

Thorne nickte. Eine Machete war bei einer Reihe von Bandenschlägern die bevorzugte Waffe. »Yardies oder Yakuza, vielleicht ...«

»Wer immer ihn bezahlt, dem Kerl macht die Arbeit Spaß. Er erschießt sie ziemlich schnell danach, aber solange sie noch leben, nimmt er sich ziemlich viel Zeit für seine kreativen Schnitzereien.«

Er war für den Tod Mickey Claytons und dreier weiterer Männer in den sechs Wochen zuvor verantwortlich. Ein außergewöhnlicher Auftragsmörder. Noch nie zuvor war Thorne ein derartiger Typ über den Weg gelaufen, noch hatte er von so einem gehört. Für diese zwielichtigen Gestalten — Männer, die bereit waren, für jeden Betrag jenseits der tausend Pfund zu töten — stand Anonymität an erster Stelle. Der hier war anders. »Ihm gefällt es, seine Opfer mit diesem X zu zeichnen«, sagte Thorne.

»Er macht also sein Kreuz.« Hendricks nahm den letzten Schluck Bier. »Und wie war‘s bei dir? Hattest du einen netten Tag im Büro, Schatz?«

Thorne stand knurrend auf. Er griff nach Hendricks leerer Dose und ging hinüber in die Küche, um zwei neue Dosen zu holen. Während er leeren Blickes in den Kühlschrank stierte, versuchte Thorne vergeblich, sich an seinen letzten netten Tag im Büro zu erinnern ...

Sein Team von der Serious Crime Group (West), in dem Hendricks als Pathologe arbeitete, war dem Projektteam von SO7 (Serious and Organised Crime) zugeordnet worden, um bei der Ermittlung in Sachen organisiertes Verbrechen auszuhelfen. Die Leute bei der SO7 arbeiteten bis an die Grenzen der Belastbarkeit — zumindest hatten sie diesen Ruf. Und es gab einen heftigen Bandenkrieg zwischen zwei alten Familienclans am südlichen Ufer und einen eskalierenden Streit zwischen den Triaden, der innerhalb einer Woche zu drei Schießereien und einer richtiggehenden Schlacht in der Gerrard Street geführt hatte. Nichtsdestotrotz argwöhnte Thorne, dass er und sein Team nur hinzugerufen worden waren, um den Kopf für die Fehler anderer hinzuhalten.

Für ihn war nichts drin. Von eventuellen Verhaftungen würden andere profitieren. Außerdem war es nicht allzu befriedigend, die zu verfolgen, die Kanaillen wie Mickey Clayton aus dem Verkehr gezogen hatten.

Die Serie der X-Morde — Clayton war das vierte Opfer — war ein Schlag gegen die Geschäfte einer der größten Familien Nordlondons, doch wie die Dinge standen, hatte das Team nicht die geringste Ahnung, wer dahinter steckte. Die üblichen Verdächtigen unter den rivalisierenden Banden waren allesamt überprüft und von der Liste gestrichen, die üblichen V-Männer und Quellen erfolglos ausgequetscht und bezahlt worden. Es schälte sich immer mehr heraus, dass eine große Organisation im Begriff war, sich neu zu etablieren, und Wert auf einen effektvollen Auftritt legte. Thorne und sein Team waren mit an Bord, um herauszufinden, wer die Hintermänner waren. Wer zahlte den Auftragsmörder, der schon bald den Spitznamen X-Man bekam, um der RyanFamilie zu schaden?

»Er macht sich das Leben schon schwer, nicht?«, begann Thorne in der Küche laut nachzudenken und redete weiter, als er mit den zwei Bier ins Wohnzimmer kam. »Diese X-Sache, dieses Markenzeichen oder was immer das sein soll, das schränkt ihn in seinem Tun ein. Einfach auf einem Motorrad vor ein Pub fahren und auf sie warten ist nicht drin. Er braucht etwas Zeit und einen Ort, wo er ungestört ist.«

Hendricks griff nach einer Dose. »Scheint sich richtig in seine Arbeit reinzuhängen. Wahrscheinlich verdammt teuer, der Mann.«

Vermutlich hatte Hendricks Recht. »Eigentlich ist es trotzdem noch billig, wenn man es bedenkt. Jemanden umzubringen, mein ich. Zwanzig-, fünfundzwanzigtausend, um jemanden umzulegen. Das ist verdammt viel weniger, als diese Typen für ihren Jeep und ihren Oberklasse-Mercedes hinblättern.«

»Was, glaubst du, bekomm ich für ein paar hundert Mücken?«, fragte Hendricks. »Da ist dieser Assistent im Leichenschauhaus in Westminster, der mir unheimlich auf die Nerven geht.«

Thorne überlegte kurz. »Arm verdrehen?«

Endlich wieder mal herzhaft lachen ...

»Die Yardies können es schlecht sein«, warf Hendricks ein, als er sich wieder beruhigt hatte. »Und die Yakuza auch nicht. Soweit wir wissen, ist unser Killer weder schwarz noch Japaner ...«

Ein Zeuge behauptete, den Mörder gesehen zu haben. Am Tatort des dritten Mordes. Er hatte etwas vage einen weißen, etwa dreißigjährigen Mann beschrieben. Der Zeuge, Marcus Moloney, war ein »Geschäftspartner« der Ryan-Familie und nicht gerade das, was man gemeinhin als aufrechten Bürger bezeichnet, aber er schien sich dessen, was er gesehen hatte, sicher zu sein.

»So einfach ist das nicht«, wandte Thorne ein. »Das ist vielleicht vor zehn Jahren so gelaufen, als die Leute mehr unter sich geblieben sind, aber heute ist ihnen das egal. Die Freiberufler gehen da hin, wo es Arbeit gibt. Die Triaden greifen auf Yardies zurück, und die Yardies arbeiten mit den Russen. Letztes Jahr haben sie eine Yakuza-Bande kassiert, weil sie Leute vor Schulen angeworben haben. Es fehlte noch, dass sie Bewerbungsformulare ausgeteilt haben: Die nehmen alles, Griechen, Asiaten, Türken.«

Hendricks grinste. »Schön, dass niemand benachteiligt wird ...«

Thorne stöhnte, und die beiden machten es sich bequem, ohne die nächsten Minuten etwas zu sagen. Thorne schloss die Augen und spielte mit seinem Kinnbärtchen, das er sich Ende letzten Jahres hatte wachsen lassen. Der Bart täuschte so etwas wie ein markantes Kinn vor und verbarg zugleich eine Narbe, die von einer Messerwunde stammte.

Die gezackte Linie, die quer über Thornes Kinn lief, war die einzige sichtbare Erinnerung an eine Nacht vor sechs Monaten, in der er um sein Leben gebetet hatte und gleichzeitig darum, möglichst schnell zu sterben. Da waren noch andere Narben, die leichter zu verbergen waren, ihm aber mehr Beschwerden bereiteten. Manchmal tastete Thorne im Dunkeln danach und betastete diese Narben, bis sie sich wieder öffneten. Er sah den Schorf vor sich, der sich bildete, schwarzes Blut auf zartem Fleisch. Die Kruste, die unter seinen Fingernägeln juckte und zerbröselte ...

Lucinda Williams sang sanft über eine verzehrende Lust. Ihre Stimme war sanft und rau zugleich, schwang sich wie Rauch über das einzige Begleitinstrument, eine akustische Gitarre.

Thorne und Hendricks zuckten beide leicht zusammen, als das Telefon klingelte.

»Tom?« Eine Frauenstimme.

Thorne sank zurück in seinen Sessel, das Telefon in der Hand. Absichtlich laut, damit die Anruferin es auch verstehen konnte, rief er Hendricks zu: »Herr im Himmel, diese verrückte Lady, die mich ständig mit ihren Anrufen nervt ...«

Grinsend brüllte Hendricks zurück: »Sag ihr, ich kann das Katzenfutter bis hierher riechen!«

»Schieß los, Carol«, sagte Thorne. »Erzähl mir, was so läuft im trendigen Worthing. Musste eine Katze vom Baum gerettet werden, oder sind ein paar alte Weiber mit ihren Krankenkassen-Shoppern zusammengestoßen?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung war nicht in der Stimmung für das übliche Gefrotzel. »Ich muss mit dir reden, Tom. Du musst dir das anhören ...«

Also hörte Thorne zu. Das Curry wurde geliefert und blieb unangetastet, aber daran verschwendete er nicht einmal einen Gedanken. Sobald sie zu sprechen begonnen hatte, war ihm klar geworden, dass es ein ernstes Problem gab.

Noch nie, seit er Carol Chamberlain kannte, hatte er sie weinen gehört.

Zweites Kapitel

»Du hast doch sicher versucht, die Nummer herauszubekommen ...?«

Sie hob die Augenbrauen. Fragte ihn, ob er sie für eine komplette Idiotin halte.

Thorne zuckte entschuldigend die Schultern.

Als er vor einem Jahr Carol Chamberlain zum ersten Mal sah, hielt er sie für eine abgetakelte Frau mittleren Alters, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen wusste; eine abgetakelte Frau mittleren Alters, von der er fälschlicherweise annahm, sie sei die Mutter eines seiner Constables.

Sie behauptete noch immer, ihm das nicht verziehen zu haben.

Ex-Detective-Inspector Carol Chamberlain war an einem schwülen Julivormittag vor etwa sieben Monaten in Thornes Büro aufgetaucht und hatte die Jagd nach einem sadistischen Vergewaltiger und Mörder auf den Kopf gestellt. Sie war ein Mitglied der so genannten »Grauen Zellen« — einer aus ehemaligen Polizeibeamten zusammengestellten Einheit, die so genannte kalte Fälle bearbeitete. Chamberlain musste nicht lange überredet werden, um zurückzukommen. Nach dreißig Jahren Dienst hatte man sie vorzeitig aus der Metropolitan Police gedrängt — so empfand sie es zumindest —, und sie war der Meinung, sie habe mit ihren fünfundfünfzig Jahren noch einiges zu bieten. Der erste Fall, an dem sie arbeitete, brachte Informationen ans Licht, die den Lauf von Thornes Ermittlung entscheidend beeinflussten und, wie sich später herausstellte, sein Leben veränderten. Der kalte Fall — der plötzlich alles andere als kalt war — war ihr ziemlich schnell weggenommen worden, doch Thorne war mit ihr in Kontakt geblieben und hatte sich rasch mit ihr angefreundet.

Thorne war sich nicht ganz sicher, welchen Vorteil Carol Chamberlain aus ihrer Beziehung zog. Aber was immer es war, er gab es ihr nur zu gerne im Austausch für ihre Direktheit, ihren gesunden Menschenverstand und einen Spürsinn, der mit den Jahren schärfer wurde.

Während er sie nun über den Tisch hinweg musterte und an den ersten Eindruck dachte, den er von ihr gehabt hatte, fragte sich Thorne, wie er nur so hatte danebenliegen können ...

Chamberlain hielt einen schmuddligen beigen Umschlag hoch, damit Thorne ihn besser sehen konnte, und klopfte mit dem Finger darauf. Die Asche rieselte auf den Tisch. »Das hier kam gestern früh.«

Thorne hob eine Gabel und stieß mit den Zinken durch die schwärzlichen Krümel. Er war darauf bedacht, nichts davon mit bloßen Händen zu berühren, obwohl er den Grund dafür nicht hätte nennen können. Er war sich noch nicht sicher, ob er etwas in der Sache unternehmen wollte. Die Krümel zerbröselten schon bei der geringsten Berührung der Gabel, aber ein oder zwei der größeren Stücke wiesen noch das ursprüngliche Blau auf.

»Ich nehm die mal mit.« Er griff nach der Speisekarte und kratzte die Asche damit zurück in den Umschlag.

Chamberlain nickte. »Vermutlich Serge. Oder schwere Baumwolle. Derselbe Stoff, aus dem Jessica Clarkes Rock gemacht war ...«

Thorne dachte darüber nach, was sie ihm am Abend zuvor am Telefon erzählt hatte. Er erinnerte sich noch an den Fall, an den öffentlichen Aufschrei, doch die Details waren ihm größtenteils neu. Er fragte sich, ob er je eine derart entsetzliche Geschichte gehört hatte.

Falls ja, war ihm entfallen, wann.

»Was muss das für ein kranker Typ sein, der einem Kind so was antut?«, sagte Thorne. Er blickte sich nervös um, ob er jemand an den Nachbartischen aufgeschreckt hatte.

Chamberlain wartete, bis er sich wieder ihr zuwandte, und sah ihm in die Augen. »Einer, der dafür bezahlt wird.«

»Was!«

»Wir dachten, das sei so ein Verrückter. Jeder dachte das. Wir und die Schulen und die Zeitungen, alle bekamen das große Zittern und warteten auf die nächste Tat. Dann fanden wir heraus, dass Jessica Clarke das falsche Mädchen war ...«

»Was meinst du mit falsch?«

»Das Mädchen, das an dem Tag auf dem Schulhof neben ihr stand, hieß Alison Kelly. Sie war eine von Jessicas besten Freundinnen. Genauso groß, dieselbe Haarfarbe. Außerdem war sie die jüngste Tochter von Kevin Kelly.« Sie sah Thorne an, als erwarte sie eine Reaktion. Es kam keine.

Thorne schüttelte den Kopf. »Soll ich ...?«

»Ich geb dir mal kurz einen Überblick, was 1984 ablief. Damals warst du wie alt?«

Thorne rechnete es schnell aus. »Das waren meine letzten Monate als Streifenpolizist. Kurz vor meiner Hochzeit. Wahrscheinlich hab ich es noch mal richtig krachen lassen, mich in den Clubs und auf Gigs herumgetrieben ...«

»Du hast doch damals im Norden gelebt?«

Thorne nickte.

»Dann standen die Chancen nicht schlecht, dass diese Clubs, in die du damals gegangen bist, den einflussreichen Familien gehörten. Die einflussreichste waren die Kellys. Es gab noch andere im Südosten und noch ein paar Unabhängige, die sich ihre Nischen suchten, aber die Kellys hatten fast überall nördlich der Themse die Hand im Spiel ...«

Thorne fiel auf, dass ihr gewöhnlich so ruhiger Sprachfluss plötzlich zögerlich wurde, dass unter dem neutralen Tonfall ihr heimatlicher Yorkshire-Akzent zum Vorschein kam. Den hatte er bereits früher gehört, wenn sie aufgebracht war oder wütend. Etwas musste sie zutiefst erschüttert haben.

»Die Kellys saßen in und um Camden Town. In Shepherd‘s Bush und Hackney gab es noch andere Firmen, andere Familien, die die Dinge weitgehend unter sich regelten. Es gab immer wieder mal einen Ausrutscher — jedes Jahr kam es zu ein paar Schießereien —, aber es war nicht schlimmer als früher. 1983 dann wurde auf Kevin Kelly geschossen ...«

»Ein Auftragsmörder?«

»Genau, aber aus irgendeinem Grund ging es schief. Und was immer ihre Botschaft war, sie kam nicht an. Also gingen sie auf seine Tochter los.«

»Und auch das ging schief. Himmel ...«

»Doch diesmal hatte Kelly es kapiert. In den Wochen nach der Sache mit Jessica Clarke starben ein Dutzend Leute. Drei Brüder wurden an einem Abend im selben Pub erschossen. Kevin Kelly löschte mehr oder weniger die gesamte Opposition aus.«

Thorne griff nach seiner Tasse. Der Kaffee war eiskalt. »Womit Mr. Kelly und seine Freunde fast den ganzen Norden Londons für sich hatten ...«

»Seine Freunde, ja, aber nicht Kelly. Irgendwie hatte dieser versuchte Anschlag auf seine Tochter ihm das Rückgrat gebrochen. Sobald die Konkurrenten aus dem Weg geräumt waren, zog er sich aus dem Geschäft zurück. Machte den Weg frei, einfach so. Er nahm seine Frau, seine Töchter und ein paar Millionen und ging.«

»Klingt vernünftig ...«

Chamberlain zuckte die Schultern. »Fünf Jahre später fiel er tot um. War gerade mal fünfzig.«

»Wer führte die Geschäfte, nachdem Kelly sich zurückgezogen hatte?«

»Kelly hatte keine Brüder oder Söhne. Er übergab sein Geschäft an einen dieser Freunde, über die wir sprachen. Einen besonders ekelhaften Typen namens William Ryan. Er war Kellys rechte Hand gewesen und ...« Chamberlain sah den Ausdruck auf Thornes Gesicht und brach mitten im Satz ab. »Was ist?«

»Wenn du mit deinem Geschichtsvortrag fertig bist, bring ich dich auf den aktuellen Stand.«

»Was nur fair ist.« Chamberlain legte den Kaffeelöffel weg, mit dem sie die letzten zehn Minuten gespielt hatte.

Thorne schob seinen Stuhl zurück. »Ich hol mir noch eine Tasse Kaffee, möchtest du auch einen?«

Sie hatten sich in einem kleinen griechischen Café in der Nähe der Victoria Station getroffen. Chamberlain hatte am Morgen den ersten Zug von Worthing genommen und wollte so bald wie möglich wieder zurückfahren.

Während er am Tresen wartete, um seine Bestellung aufzugeben, sah Thorne hinüber zu ihr. Sie schien etwas abgenommen zu haben. Normalerweise wäre sie darüber sicher froh gewesen, doch im Augenblick war nichts normal. Ihre Falten traten offen zutage, als sie aufsah und ihm zulächelte. Plötzlich wirkte sie wie eine alte Frau ... eine zutiefst verängstigte alte Frau.

Thorne kam mit einem Tablett zurück an den Tisch: zwei Kaffee und eine Baklava zum Teilen für beide. Er legte sofort los und erzählte Chamberlain zwischen den Bissen alles über die SO7-Operation. Über die aktuellen Kräfteverhältnisse in der Szene des organisierten Verbrechens im Norden. Über die bis dato noch nicht zuordenbare Kriegserklärung an einen mächtigen Bandenboss namens Billy Ryan ...

»Es freut mich, zu hören, dass Billy es so weit gebracht hat«, bemerkte Chamberlain.

Thorne nahm ihren Sarkasmus und ihr Grinsen erleichtert zur Kenntnis. Das war eher die Carol Chamberlain, die er kannte. »Oh, er hat es sehr weit gebracht. Und die Ryans sind wirklich eine Familie: Brüder und Cousins, wohin das Auge blickt, und es gibt auch einen Sohn und Erben ...«

»Stephen. Ich erinnere mich an ihn. Er muss fünf oder sechs gewesen sein, als das passierte ...«

»Jetzt ist er ein großer Junge. Ein gewinnender Zeitgenosse, wie man hört.«

Chamberlain hatte wieder ihren Löffel in der Hand. Sie klopfte damit auf ihre Handfläche. »Billy hat später Alison Kelly geheiratet.«

»Kevin Kellys Tochter? Die eine, die ...?«

Sie nickte. »Die eine, die Gordon Rooker anzünden wollte. Die er mit Jessica Clarke verwechselte. Wenn ich mich recht erinnere, heirateten sie und Billy Ryan, kurz bevor Kelly starb. Der alte Herr war glücklich, dass es so kam, aber die Ehe hatte keine Chance. Sie war um ein gutes Stück jünger als er. Ich glaube, sie war gerade achtzehn geworden. Er muss Mitte dreißig gewesen sein und hatte schon ein Kind ...«

»Nicht gerade eine von Gott gesegnete Ehe also?«

»Ich glaube, sie hat ein Jahr gehalten oder zwei. Als alles klar war, ist Billy zu der Frau zurückgekehrt, von der er seinen Sohn Stephen hatte. Er hat sie geheiratet, sobald die Scheidung von Alison durch war.«

Thorne deutete mit seinem Löffel auf das letzte Stück Baklava. »Ich esse die ganze Zeit vor mich hin. Möchtest du nicht ...?« Sie schüttelte den Kopf, und er aß den Rest. »Erzähl mir von Rooker«, bat er sie.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er hat gestanden.«

»Das hilft immer.«

Inzwischen hatte sie längst aufgehört zu lächeln. »Ganz im Ernst, Tom, dieser Fall war so einfach wie selten. Ich war der Detective Inspector. Ich hab seine erste Aussage aufgenommen.«

»Und was hast du davon gehalten?«

»Es schien alles zu passen. Rooker war kein Unbekannter. Zugegeben, was er diesem Mädchen an dieser Schule angetan hat, stach heraus, aber er war ein Typ, der zu allem fähig war, ohne Rücksicht, wen es traf. Solange der Preis stimmte.«

Thorne hatte zu viele von dieser Sorte getroffen. Er traf sie ständig. »Hat er gesagt, wer ihn dafür bezahlt hat?«

»So weit ging er nie. Aber das brauchte er auch nicht. Wir wussten, dass er früher für ein paar der kleineren Firmen gearbeitet hat. Vielleicht hatte er sogar was mit dem missglückten Kelly-Mordauftrag zu tun. Wir wussten auch, dass Rooker darauf stand, Leute zu verbrennen. Es konnte nie bewiesen werden, aber er wurde 1982 mit einem Auftragsmord in Verbindung gebracht. Jemand, wahrscheinlich Gordon Rooker, fesselte den Chef einer Sicherheitsfirma an einen Stuhl und schüttete ihm Brennspiritus über die Haare ...«

»Was für ein charmantes Kerlchen.«

»Das war er übrigens tatsächlich. Zumindest hielt er sich dafür. Der Dreckskerl hat im Verhörraum mit mir geflirtet.« Sie zögerte, schluckte, als versuche sie einen unangenehmen Geschmack wegzubringen. »Wie gesagt, es war einfach. Rooker plädierte auf schuldig. Er bekam lebenslänglich. Und als ich gestern anrief, um sicherzugehen, saß er noch im Park Royal Prison ...«

Thorne legte ein paar Sekunden seine Hand auf die ihre. »Er saß noch vor drei Stunden ein, als ich anrief.«

Einen Augenblick lang kehrte das Lächeln zurück, aber es wirkte etwas gezwungen. »Danke, Tom.«

»Was ist mit Jessica?«

Chamberlain wich Thornes Blick aus, sie schaute an ihm vorbei, durch das Fenster hinaus auf die Straße. »Die Verbrennungen waren ersten Grades. Es dauerte ein Jahr, bis sie wieder in die Schule gehen konnte.«

»Und jetzt? Was macht sie ...?«

Sie schüttelte den Kopf, ihre Stimme war ganz leise, kaum mehr als ein Flüstern. »Du hast doch nicht wirklich ein Happy End erwartet, Tom?«

»Ab und zu wär ein Happy End nett.«

Sie suchte wieder seine Augen, und ihr Gesicht wurde weich, als habe sie ein Kind vor sich, dessen Wunsch sie unmöglich erfüllen konnte.

»Sie stürzte sich an ihrem sechzehnten Geburtstag von einem Parkhaus ...«

Muslum Izzigil hatte die letzten zehn Minuten kräftig geflucht, als die zwei Jungen in seinen Laden marschierten.

Er kämpfte sich gerade durch einen gigantischen Stapel Kassetten, die gestern Abend abgegeben worden waren und die er nun allesamt zurückspulen musste. Leute, die ihre Videos Zurückgaben, ohne sich die Mühe zu machen, sie zurückzuspulen, waren sein Ruin. Er nahm eine Kassette aus der Maschine, steckte sie in eine Hülle und griff nach der nächsten. »Faule Säcke ...«

Er sah hinüber zu den beiden Jungen, die neben der Tür standen und die Schachtel mit den gebrauchten, zum Verkauf bestimmten Videos durchblätterten. Er hielt eine Kassette hoch und schnitt eine Grimasse. »Wie schwer ist es, das zurückzuspulen, hm?« Der eine Junge blickte durch Izzigil hindurch, während sein Freund ihm etwas ins Ohr flüsterte, und begann zu lachen. Izzigil drückte zum x-ten Mal die Rewind-Taste und lehnte sich gegen den Tresen. Sah ein, zwei Minuten hoch zum Fernsehschirm, auf dem ein Austin-Power-Streifen lief, bevor er sich wieder den Jungen zuwandte.

»Neue Filme da drüben«, sagte er und deutete mit dem Finger. »Ist Film nicht da, nächstes Mal umsonst. Auch Blockbuster.«

Die zwei zogen leere Hüllen aus dem Pornoregal und gafften die Fotos auf der Rückseite an. Einer der beiden rieb die Hülle an seinem Hosenschlitz und leckte sich die Lippen.

»He ...« Izzigil begann zu gestikulieren. »Macht keinen Blödsinn.«

Rasch zogen die beiden noch mehr Hüllen aus dem Regal und trugen einen Arm voll hinüber zum Tresen. Einer der beiden war beinahe einen Kopf größer als sein Kumpel, aber sie waren beide untersetzt. Sie trugen Baseballmützen und wattierte Jacken, wie Izzigil sie von den schwarzen Kids kannte, die samstagnachmittags in Shopping City rumhingen ...

»Hast du was mit türkischen Tussen?«, fragte der Größere der beiden.

Der andere Junge lehnte sich gegen den Tresen. »Er steht auf richtig behaarte Weiber ...«

Izzigil spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Schweigend machte er sich daran, die Ausstellungskartons einzusammeln, die die beiden hingeschmissen hatten.

»Egal, was du hast, es ist hoffentlich besser als das.« Der Kleinere der beiden griff in seine Tasche, zog eine einfache schwarze Videohülle heraus und knallte sie auf den Tresen. »Das hier hab ich neulich bei dir ausgeliehen.«

Izzigil betrachtete den Karton und schüttelte den Kopf. »Nicht von hier. Meine Hüllen sind anders, guck ...«

»Willst du mich verarschen?«, fragte der Junge.

»Wir wollen unser Geld zurück, klar?«

Jetzt roch Izzigil es. Beinahe hätte er sich übergeben. Er nahm die Hand vom Tresen. »Geht, oder ich hole die Polizei ...«

Der Größere der beiden griff nach der Hülle, öffnete sie und schüttete den Haufen auf den Tresen.

Izzigil trat einen Schritt zurück. »Gott!«

Der Größere der beiden fing an zu lachen. Sein Freund setzte eine gespielt ernste Miene auf. »Der Film ist echt scheiße, klar ...«

»Raus aus meinem Laden!« Izzigil griff unter den Tresen, doch bevor er die Hand um den Billardstock legen konnte, hatte sich der kleinere Junge über den Tresen gebeugt und hielt ihm ein Messer vor die Brust.

»Du hast einen Brief bekommen ...«

»Welchen Brief? Ich weiß nichts von Brief.«

»Freunde von mir haben dir einen Scheißbrief gegeben. Du hast das Angebot bekommen, dich wie ein Geschäftsmann zu verhalten, und du hast es nicht angenommen. Und jetzt wird kein Geld mehr für Briefpapier verschwendet. Kapiert?«

Izzigil nickte.

»Jetzt ist Schluss. Das nächste Mal kommen wir vielleicht vorbei, wenn du oben bist, um es deiner behaarten Alten zu besorgen, während dein Sohn sich hier ums Geschäft kümmert ...«

Wieder nickte Izzigil und beobachtete über die Schulter des Jungen hinweg, wie sein Freund durch den Laden schlenderte und beiläufig ein Werbedisplay und einen Ständer mit leeren Videohüllen zu Boden schmiss. Er sah, wie ein Kunde die Hand auf den Türgriff legte und sich rasch aus dem Staub machte, als er merkte, was drinnen ablief.

Der Junge mit dem Messer trat langsam einen Schritt zurück. Er neigte den Kopf und steckte das Messer zurück in die hintere Tasche seiner Jeans. »Nächste oder übernächste Woche kommt jemand vorbei, um das zu klären«, sagte er.

Izzigils Hand krampfte sich um den Billardstock. Ihm war klar, dass es dafür nun viel zu spät war, dennoch umklammerte er ihn, während er zusah, wie die zwei Jungen verschwanden.

Auf dem Bildschirm über ihm tanzte Austin Powers zu einem Madonna-Song. Izzigil kam langsam hinter dem Tresen hervor und ging zur Ladentür. Die Nase an die Scheibe gedrückt, sah er in beide Richtungen die Straße hinunter.

»Muslum ...?«

Izzigil wandte sich um, als er die Stimme seiner Frau hörte, und trat zurück in den Laden. Er sah sie plötzlich die Augen aufreißen und den Mund und drehte sich genau in dem Augenblick um, als die schwarze Gestalt auf das Schaufenster zurannte. Als die Welt in einem krachenden Schmerz niederprasselnder Glasscherben zu explodieren schien.

Sie liefen durch die Buckingham Palace Road langsam zurück zum Bahnhof. Es war Mittagszeit, und in den Feinkostläden und Coffeeshops bildeten sich Schlangen bis vor die Tür. Ein beißend kalter Februartag, Thorne hatte den Reißverschluss seiner Jacke bis oben zugezogen und die Hände tief in die Taschen gegraben.

»Wie geht‘s Jack?«

Chamberlain blieb kurz stehen, um ein Mädchen vorbeizulassen. »Immer dasselbe.« Sie gingen weiter. »Er versucht mich zu unterstützen, aber er war nicht wirklich dafür, dass ich wieder anfange. Klar, er befürchtet, ich mute mir zu viel zu. Aber das Leben zu Hause hätte ich im Kopf nicht mehr ausgehalten.« Sie betrachtete sich in einem Schaufenster, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Der Garten ist mir so was von egal ...«

»Ich dachte an die Telefonanrufe. Den Brief.«

»Von dem Brief weiß er nichts, und die Telefonanrufe hat er bis auf einen verschlafen. Und da hab ich ihm gesagt, jemand hätte sich verwählt.« Sie zog sich ihren Schal fester um den Hals. »Momentan sitze ich mehr oder weniger die ganze Nacht neben dem Telefon. In den Nächten, in denen er nicht anruft, ist es beinahe noch schlimmer.«

»Du schläfst überhaupt nicht mehr? Das läuft schon zwei Wochen so, Carol ...«

»Ich hol‘s tagsüber nach. Außerdem hab ich noch nie viel geschlafen.«

»Wie hört er sich an?«

Die Antwort kam schnell und klar. Thorne vermutete, sie hatte gewusst, welche Fragen er stellen würde, weil sie dieselben Fragen gestellt hätte.

»Er ist sehr ruhig. Als erzähle er mir Dinge, die klar wie Kloßbrühe sind. Als erinnere er mich an Dinge, die ich vergessen habe ...«

»Ein Akzent?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Eine Vorstellung, wie alt er sein könnte?«

Wieder ein Kopfschütteln.

»Hör mal, ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber mir ist nicht klar, warum du nicht die Polizei angerufen hast.«

Sie wollte etwas sagen, aber Thorne fiel ihr ins Wort.

»Damit meine ich die Leute vor Ort. Das ist irgendein Irrer, Carol. Ein Verrückter, der dich verarschen möchte. Der so ein mieses Heftchen über wahre Kriminalfälle gelesen hat und nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen weiß.«

»Er weiß eine Menge, Tom. Eine Menge Dinge, die niemals an die Öffentlichkeit gelangt sind. Er weiß von dem Feuerzeug, das am Tatort gefunden wurde, er weiß, welcher Brennspiritus verwendet wurde ...«

»Dann ist es jemand, den Rooker im Knast kennen gelernt hat. Den Rooker auf dich angesetzt hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Rooker hat keinen Grund, mir jemanden auf den Hals zu hetzen. Vergiss nicht, Rooker hat alles gestanden. Außerdem mochte er mich, verdammt noch mal.«

»Das war so eine Art Beziehung zwischen euch. Du warst es, die ihn verhört hat. Deshalb bist du jetzt die Zielscheibe und nicht der SIO von damals.«

»Ich glaube, es trifft mich, weil ich in der Hierarchie die Nächste bin. Der zuständige Detective Inspector hat die Polizei lange vor mir verlassen. Er ist vor zehn Jahren nach Neuseeland ausgewandert. Der ist wesentlich schwieriger aufzuspüren als ich.«

Das klang logisch, aber Thorne hatte noch eine andere Idee. »Es könnte aber auch sein, dass, wer immer dahinter steckt, genau weiß, wie sehr dir diese Sache mit Jessica ... unter die Haut ging.«

Betroffen sah sie ihn an. »Woher sollte das jemand wissen? Woher weißt du das ...?«

Sie liefen die nächsten hundert Meter schweigend nebeneinander her, bis Thorne wieder das Wort ergriff. »Machst du dir Gedanken, du könntest den Falschen hinter Gitter geschickt haben, Carol? Geht es darum?«

»Nein, das ist es nicht. Gordon Rooker hat Jessica Clarke angezündet. Ich weiß, dass er es war.«

Sie sprachen nicht mehr bis zum Bahnhof.

Auf halbem Weg zu den Gleisen blieb sie stehen und wandte sich zu ihm. »Du brauchst mich nicht bis zum Zug zu begleiten. Der nächste geht in einer Viertelstunde.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Geh zurück ins Büro. Ich hab sowieso Lust, ein bisschen rumzubummeln. Ich kauf mir eine Zeitung und versuch einen klaren Kopf zu bekommen. Ich bin eine richtige nervige alte Schlampe geworden.«

»Also nervig bist du wirklich nicht.«

Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Frecher Kerl.«

Seufzend entzog sich Thorne ihrer Umarmung. »Ich weiß nicht genau, was du von mir in dieser Sache erwartest, Carol. Offiziell kann ich nichts tun, was nicht jeder andere auch tun kann.«

»Ich erwarte nicht, dass du offiziell etwas unternimmst.«

Da begriff er, wie durcheinander sie trotz des Geplänkels vorhin wirklich war. Das Letzte, was sie wollte, war, dass die oberen Chargen das mitbekamen. Er glaubte zwar nicht, dass man ihr deshalb die Mitarbeit an den kalt gewordenen Fällen aufkündigen würde, aber es gab genug Stimmen, die fanden, die Met brauche keine Leute, die besser in einer Schlange vor dem Postschalter aufgehoben wären.

»Klar«, sagte Thorne schließlich. »Aber es spricht nichts dagegen, wenn ich meine Zeit verschwende.«

Chamberlain hängte sich ihre riesige Handtasche über die schmale Schulter und wandte sich um zum Gehen. »Etwas in der Richtung ...«

Thorne sah ihr nach, wie sie im WH-Smith-Kiosk verschwand.

Auf dem Weg zurück zur U-Bahn dachte er nach über Narben, die man versteckte, und solche, die man offen zeigte. Über Narben, die so schlimm waren, dass man von einem Parkhaus sprang.

Drittes Kapitel

Eines war diesen Räumen gemein. Die Größe mochte variieren, die Einrichtung hing vom Stil der Zeit ab und die Ausstattung von dem jeweiligen Budget oder dem Interesse des dafür zuständigen hohen Tiers. Doch der Geruch war stets derselbe. Chrom und Rauchglas oder abblätternde orangefarbene Fasergipsplatten. Eiskalt oder überheizt. Gemütlich oder alles andere. Wie immer das Zimmer ausgestattet war, an diesem Geruch erkannte man sofort, wo man sich befand, selbst mit einem Sack über dem Kopf. Schnüffelnd wie ein Connaisseur konnte Thorne die Ingredienzien benennen: schaler Zigarettenrauch, Schweiß und Verzweiflung.

Er blickte sich um. Das hier hatte von allem etwas — einen frischen cremefarbenen Anstrich, die Luft zum Schneiden dick dank der Hitze, die von den beinahe einen halben Meter breiten Radiatoren abgestrahlt wurde. Und ein ansprechendes neues Farbsystem für die Stühle. Blau für Besucher, rot für Insassen ...

Die meisten Stühle waren besetzt, aber ein paar rote waren noch frei. Eine Schwarze in der übernächsten Reihe sah zu ihm herüber. Der Sitz ihr gegenüber war leer. Sie lächelte nervös, wobei ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern beinahe zwischen den Lachfalten verschwanden, und sah wieder weg, bevor Thorne Gelegenheit hatte, ihr Lächeln zu erwidern. Er sah, wie die Frau strahlte, als ein junger Mann — ihr Sohn, vermutete Thorne — breitbeinig auf sie zukam. Er lächelte, hatte sich jedoch sofort wieder im Griff und sah sich um, ob jemand diese Schwäche bemerkt hatte.

Thorne sah auf die Uhr, kurz vor zehn. Er musste das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen und anschließend ins Büro. Er hatte DC Dave Holland zuvor angerufen, auf dem Weg in den Londoner Westen, zum Gefängnis Ihrer Majestät Park Royal ... »Sie müssen mich decken«, hatte er gesagt. »Sagen Sie Tughan, ich treffe mich mit einem Spitzel oder ich sei an einer Spur dran, irgendwas. Sie wissen schon, Bullenkram eben ...«

»Und darf ich erfahren, was Sie wirklich vorhaben?«

»Ich tu jemand einen Gefallen. Mittags müsste ich im Büro sein, wenn der Verkehr es zulässt ...«

»Sie fahren mit dem Auto? Seit wann haben Sie es denn wieder?«

Das Auto, um das es ging, ein gelber BMW, war dreißig Jahre alt, und Thorne hatte vor einem Jahr dafür einen Batzen Geld hingelegt. In Thornes Augen war der Wagen ein Klassiker, andere hielten ihn für eine »alte Karre«. Ganz besonders Holland ließ keine Gelegenheit aus, eine blöde Bemerkung fallen zu lassen. Schließlich war er, seit er den BMW zum ersten Mal gesehen hatte, felsenfest davon überzeugt, dies sei ein Riesenfehlkauf. Er hatte vor zwei Wochen regelrecht gejubelt, als der Wagen mit Bomben und Granaten durch den TÜV gefallen und in einer Werkstatt verschwunden war.

»Wie viel mussten Sie blechen?«, fragte Holland schadenfroh.

Thorne fluchte, als die Ampel auf Rot schaltete, und riss die Handbremse hoch. »Es ist schließlich ein altes Auto, die Ersatzteile sind teuer.« Sie waren nicht nur teuer gewesen, es waren anscheinend auch sehr viele gewesen. Thorne konnte sich nicht an alles erinnern, was ausgetauscht werden musste, aber er konnte sich noch sehr gut an das wachsende Gefühl der Verzweiflung erinnern, als ihm freudig ein Ersatzteil nach dem anderen präsentiert wurde. Was die Vorgänge unter der Motorhaube betraf, hätte der Mechaniker auch Serbokroatisch reden können.

»Fünfhundert?«, riet Holland. »Mehr?«

»Der Wagen ist alt, ja doch, aber er ist fantastisch. Wie eine Schauspielerin, die schon die eine oder andere Schramme abgekriegt hat, aber noch immer was hermacht, verstehen Sie?« Da es sich bei dem Wagen um einen BMW handelte, suchte Thorne nach einer deutschen Schauspielerin, auf die dieses Beispiel passte. Aber ihm fiel keine ein. Felicity Kendal, dachte er, als die Ampel umschaltete und er wieder losfuhr. Ja, das passt.

»Sie vergleichen Ihr Auto mit einer Frau?« Holland schien sich königlich zu amüsieren. »Der nächste Schritt sind dann Autofahrerhandschuhe aus Wildleder und eine Pfeife ...«

Auf das scharrende Geräusch hin, als der Stuhl ihm gegenüber zurückgezogen wurde, blickte Thorne auf und sah sich Gordon Rooker gegenüber, der sich auf den roten Sitz fallen ließ. Thorne hatte nie ein Foto von ihm gesehen oder eine Beschreibung erhalten, aber ein Irrtum war unmöglich.

»Ist der Stuhl besetzt?«, fragte Rooker. Als er lächelte, blitzte ein Goldzahn auf.

Er war um die sechzig und groß. Sein Gesicht war hager und frisch rasiert. Die Haut am Hals war schlaff und faltig. Der volle weiße Haarschopf über der Stirn hatte durch ein Leben voller Zigaretten einen Gelbstich bekommen.

Thorne nickte in Richtung des grünen Schürzenlatzes, den Rooker trug, den alle Häftlinge über den blauen Gefängnissweatshirts tragen mussten. »Sieht richtig gut aus.«

»Die müssen wir jetzt alle anziehn«, sagte Rooker. »In ein paar Knästen gibt es die schon ewig, aber eine Menge Direktoren fanden die Dinger entwürdigend, was eine ehrenvolle und superprogressive Einstellung ist. Und dann tauscht dieser Lebenslängliche in Gartree den Platz mit seinem Zwillingsbruder, als gerade niemand guckt, und marschiert in die Freiheit. Also muss jetzt klar gemacht werden, wer der Häftling ist, und wir müssen uns alle aufbrezeln wie die Idioten, wenn wir Besuch bekommen. Sie glauben, ich denk mir das alles aus?«

Seine Stimme war ausdrucksvoll und lebendig. Die Stimme eines Pub-Philosophen oder Komödianten, die durch einen jahrzehntelangen Konsum von vierzig Selbstgedrehten pro Tag eine angenehme Patina bekommen hatte. Während Rooker sprach, hatte Thorne seinen Polizeiausweis herausgezogen. Er schob ihn über den Tisch. Rooker kümmerte sich nicht darum.

»Was wollen Sie, Mr. Thorne?« Er hob die Hand hoch. »Nein, bloß keine Umstände. Quatschen wir einfach. Ich bin mir sicher, Sie werden schon darauf zu sprechen kommen.«

»Carol Chamberlain ist eine Freundin von mir.«

Rooker kniff die Augen zusammen.

»Sie müssten sie unter dem Namen Carol Manley kennen gelernt haben ...«

Der Goldzahn schob sich langsam wieder ins Bild. »Hat es die Frau zum Commissioner gebracht? Ich hatte immer das Gefühl, die hat das Zeug dazu.«

Thorne schüttelte den Kopf. »Sie war Detective Inspector, als sie in den Ruhestand ging. Das war vor sieben oder acht Jahren.«

»Die war gut drauf, sag ich Ihnen.« Rooker sah in die Ferne, hing seinen Erinnerungen nach. Dann glitten seine Augen zurück zu Thorne. »Es überrascht mich nicht, dass sie geheiratet hat. Sah gut aus. Wie hat sie sich gehalten? Macht sie noch was her?« Er beugte sich über den Tisch. »Mögen Sie es, wenn sie ein bisschen älter sind?«

Ob diese Frage ein Versuch war, ihn aus dem Konzept zu bringen oder mit ihm eine Beziehung herzustellen, interessierte Thorne nicht, er ignorierte sie. »Sie wird belästigt. So ein Irrer schickt ihr Briefe und ruft sie an ...«

»Das tut mir aber Leid.«

»Wer immer es ist, er behauptet, er habe Jessica Clarke angezündet.« Thorne fixierte Rooker, suchte sein Gesicht nach einer Reaktion ab. »Er sagt, er sei verantwortlich für den Mordversuch.«

Eine Frage blieb aus, aber Rooker schien amüsiert zu sein. Thorne hatte keine Ahnung, warum.

»Ist das lustig?«, fragte Thorne.

»Ziemlich lustig, ja. Wie gesagt, das mit Miss Manley oder wie sie jetzt heißt tut mir Leid. Andererseits ist es schon komisch, wenn man seinen eigenen Verrückten am Hals hat. Hat sich lange Zeit gelassen, wer immer er ist ...«

»Sie wollen mir also erzählen, dass Sie nicht wissen, wer dieser Kerl ist?«

Rooker hob die Hände und schob sie unter seinen Latz. »Ich hab nicht die geringste Ahnung.«

Hätte er in diesem Augenblick Geld darauf setzen müssen, ob Rooker die Wahrheit sagte, hätte Thorne keine Sekunde gezögert, ein paar Scheine zu riskieren.

»Im Lauf der Jahre bekam ich eine Menge Briefe«, fuhr Rooker lächelnd fort. »Sie wissen schon, die mit der grünen Tinte, wo der Füller so hart aufs Blatt gedrückt wurde, dass er durchs Papier ging. Leute, die möchten, dass ich ihnen alles erzähle, damit sie sich einen runterholen können, oder was weiß ich. Waren auch ein paar verrückte Weiber darunter, die mir heiße Briefe geschrieben haben, sie wollen mich heiraten ...«

Vor einem Jahr — als Thorne Carol Chamberlain kennen lernte — gab es einen Fall, der mit solch einem Brief begonnen hatte. Der Brief damals war nicht echt gewesen, aber es gab genug echte. Was Thorne noch immer überraschend und Ekel erregend fand. »Sie sind offensichtlich ein prima Fang, Gordon.«

»Aber das hier ist was anderes, stimmt‘s? Das ist eine Art verkehrter Stalker. Mich kann er nicht verfolgen, also verfolgt er jemand anderen, jemand, der mit der Sache zu tun hatte. Und dabei tut er so, als wär er ich. Tut so, als hätte er getan, was ich getan habe ...«

Thorne fand es an der Zeit, mit dem Gerede aufzuhören. »Er tut also nur so, hm? Das ist nämlich mehr oder weniger der Grund, warum ich hier bin. Um sicherzugehen.«

Die Großspurigkeit, die Coolness, schmolz langsam zwischen den Falten in Rookers Gesicht dahin. Die Schultern fielen nach vorne. Die Stimme war leise und ruhig. Sachlich ...

»Glauben Sie mir. Ich habe dieses Mädchen angezündet. Das ist der Grund, warum ich hier bin.«

Eine halbe Minute lang sah Thorne Rooker zu, wie er an das Tischende starrte. Rosa und schuppig schien seine Kopfhaut unter den weißen Haaren durch. »Wie Sie sagten, er hat sich lange Zeit gelassen, dieser Irre. Warum sind Sie so lange hier, Gordon?«

Die alte Lebhaftigkeit kehrte zurück. »Fragen Sie doch den Scheißkerl von einem Richter. Wenn es so was wie eine Gerechtigkeit gibt, ist dieses Arschloch inzwischen tot.« Er lachte ohne rechte Überzeugung über seinen Witz. »Der hätte Gerechtigkeit nicht erkannt, und wenn sie ihn in den Hintern gebissen hätte.«

»Der Fall hat Wellen geschlagen«, sagte Thorne. »Es stand fest, dass Sie dafür sehr lange würden einsitzen müssen.«

»Jetzt hören Sie mal, ich hab nicht erwartet, dass man mir eine Ohrfeige verpasst. Aber schauen Sie sich doch an, womit diese Mistkerle heute davonkommen. Typen, die ihre Frauen aufschlitzen, sind nach zehn Jahren wieder draußen. Manchmal noch früher ...«

Nicht dass er auch nur ein Quäntchen Mitgefühl für Rooker empfunden oder daran gezweifelt hätte, dass er jede Sekunde im Knast verdient hatte, dennoch begriff Thorne, worauf Rooker hinauswollte. Die zwanzig Jahre, die er bekommen hatte, waren doppelt so viel wie eine ganze Reihe der so genannten »lebenslangen« Haftstrafen, von denen Thorne gehört hatte.

»Das ist nicht fair«, sagte Rooker. »Zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre in diesem Scheißtrakt für gefährdete Häftlinge ...«

Thorne verkniff sich ein Grinsen. »Sind Sie denn immer noch gefährdet, Gordon?«

Rooker blinzelte, schwieg jedoch.

»Aber anscheinend noch immer gefährlich. Zwanzig Jahre und noch immer im Hochsicherheitstrakt. Welche Kategorie? B? Sie können kein braver Junge gewesen sein.«

»Es gab da ein paar Vorfälle ...«

»Schwamm drüber, hm? Jetzt haben Sie‘s so gut wie hinter sich?«

»Drei Monate noch, und dann sind die zwanzig Jahre vorbei ...«

Thorne lehnte sich zurück und sah nach rechts. Die Schwarze fing seinen Blick auf, als sie ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Handtasche fischte. Er wandte sich wieder Rooker zu. »Ein seltsamer Zufall, dass dieser Typ ausgerechnet jetzt auftaucht und behauptet, er ist‘s gewesen.«

Rooker schüttelte den Kopf. »Wie man‘s nimmt. Jetzt ist schließlich der bestmögliche Zeitpunkt, wenn einer es auf Aufmerksamkeit anlegt. Kurz vor meiner Entlassung. Meiner möglichen Entlassung. Aber wenn er glaubt, dass sie mich wirklich rauslassen, ist er blöder, als ich dachte.«

»Woran liegt‘s? DLP?«

Rooker nickte. Nach Ablauf der Strafe konnte das Discretionary Life Panel dem Innenminister die Freilassung empfehlen. Das Panel bestand aus einem Richter, einem Psychiater und einem weiteren Experten, der mit dem Fall vertraut war — etwa einem Kriminologen oder einem Bewährungshelfer. Anders als bei einer normalen Entlassung auf Bewährung gehörte zu dieser Überprüfung eine mündliche Anhörung, zu der der Häftling zu seiner Vertretung einen Anwalt oder einen Freund mitbringen konnte.

»Ich hab nicht die geringste Chance«, sagte Rooker. »In den letzten Jahren ging mir noch kein Antrag durch.« Er blickte Thorne an, als erwarte er von diesem eine Erklärung oder die beruhigende Versicherung, es würde diesmal klappen. Er bekam nichts dergleichen zu hören. »Was soll ich denn noch machen? Ich war in der Therapie, hab weiß der Himmel wie viele Kurse belegt ...«

»Reue ist wichtig, Gordon.« Bei diesem Wort flog Rooker geradezu nach hinten in seinen Stuhl. Thorne beugte sich vor. »Aus irgendeinem Grund stehen diese Leute darauf. Die wollen etwas Mitgefühl mit dem Opfer sehen, kapiert? Einen Funken Verständnis dafür, was Sie dem Opfer und seiner Familie angetan haben. Vielleicht haben die den Eindruck, es tut Ihnen nicht richtig Leid, Gordon. Was glauben Sie? Vielleicht geht es um diese Frage? Wo bleibt die Reue?«

»Ich hab die Hand gehoben, hab gestanden.«

»Das ist nicht dasselbe.«

Das scharrende Geräusch von Rookers Stuhl, als er sich vom Tisch wegschob, ließ Thorne zusammenzucken. »Sind wir fertig?«, fragte Rooker.

Thorne schob seinen Stuhl ebenfalls nach hinten und blickte nach rechts, wo die Schwarze sich das Taschentuch an den Mund hielt und schluchzte. Er traf den Blick des Mannes ihr gegenüber.

Der sah aus, als wolle er Thorne den Kopf abreißen.

Wie versprochen rief Thorne sofort an, nachdem er aus dem Gefängnis draußen war. Er berichtete ihr kurz von dem Gespräch mit Rooker. Sie bekam genau das zu hören, was sie sich gewünscht hatte, und dennoch blieb die Erleichterung, die Carol Chamberlain sich davon erhofft hatte, aus.

Sie saß an ihrem Schreibtisch, in dem behelfsmäßig eingerichteten Büro, in das Jack und sie vor einem Jahr das Gästezimmer verwandelt hatten. Inzwischen war es nicht mehr ganz so voll gestopft wie damals. Einen Großteil des Gerümpels hatten sie auf dem Schrank und unter dem Gästebett verstaut, Aktenordner stapelten sich auf der ehemaligen Kommode. Das Zimmer wurde jetzt nur noch ein-, zweimal im Jahr als Gästezimmer genutzt, wenn Jacks Tochter aus seiner ersten Ehe zu Besuch kam.

Von unten rief Jack: »Ich mach Tee, Schatz. Möchtest du welchen?«

»Ja, bitte.«

Chamberlain hatte nie diese Kollegen — Exkollegen — verstanden, die behaupteten, sie könnten sich an bestimmte Fälle nicht mehr erinnern. Sie konnte es nicht fassen, wenn Kollegen Mühe hatten, sich an die Namen und Gesichter von bestimmten Vergewaltigern oder Mördern zu erinnern. Oder an deren Opfer. Ja, eine Aktennummer vergaß man oder die Farbe eines Fahrzeugs, natürlich, aber doch nicht die Menschen. Zumindest sie vergaß sie nicht.

Und auch nicht Thorne, so viel wusste sie. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er am wenigsten die Gesichter vergessen konnte, die er nie gesehen hatte. Die Gesichter der Mörder, die er nicht zu fassen bekam. Die selbstzufrieden grinsenden Gesichter derer, die davongekommen waren.

Vielleicht hatten die, die behaupteten, sich nicht zu erinnern, eine Methode gefunden, um zu vergessen, und ihr einen handwerklichen Kniff voraus. Falls dem so war, hätte sie wohl besser mehr Zeit mit ihnen verbringen, öfter auf ein Curry oder ein Bier mit ihnen gehen sollen. Womöglich hätten sie ihr dann das Geheimnis verraten.

Aus Gründen, die sie sich selbst noch nicht eingestehen wollte, hatte sie die Jessica-Clarke-Akten nicht auf offiziellem Weg angefordert, das würde nur Aufmerksamkeit auf sie oder den Fall ziehen. Stattdessen war sie in das Archiv an der Victoria Station gelaufen und hatte ein paar Akten überflogen, während ein alter Freund ihr den Rücken zukehrte. Kaum hatte sie den ersten, verknitterten braunen Ordner geöffnet, wusste sie, dass ihr Bild von Gordon Rooker stimmte. Das Gesicht auf dem verblichenen schwarz-weißen Polizeifoto sah genauso aus, wie sie es sich in jener Nacht vorgestellt hatte, als sie den ersten Anruf erhielt ...

»Ich habe sie angezündet ...«

Es war noch immer das Gesicht, das sie vor sich gesehen hatte, in all den vergangenen zwanzig Jahren. Nach ihrem Gespräch mit Thorne hatte sie versucht, das Bild im Kopf älter zu machen, sich die Haare grau vorzustellen und die Falten hinzuzufügen, die Thorne beschrieben hatte, doch ohne Erfolg.

Vermutlich funktionierte das Gedächtnis nun mal so ...

Ein Kollege von der Cold Case Unit, inzwischen Anfang sechzig, hatte an dem Fall der Moormorde mitgearbeitet. Er erzählte ihr, dass er, wenn er an Hindley und Brady dachte, noch immer ihre berühmt-berüchtigten Fotos vor sich sah, diesen selbstzufrieden-verschlagenen Ausdruck und die tief liegenden Augen. Es gelang ihm immer noch nicht, sich den verhärmten alten Mann und die lächelnde, muttchenhafte Brünette vorzustellen.

Bizarrerweise musste Carol Chamberlain Rookers Gesicht vor sich sehen. Sie setzte diese detaillierte Erinnerung innerlich gleich mit ihrer Überzeugung, dass er schuldig war. Sein Gesicht, das Gesicht, das sie so genau kannte, war das Gesicht des Mannes, den sie neben dem Zaun knien sah. Sein Gesicht, an dessen Lächeln im Verhörraum sie sich noch erinnerte, war das Gesicht des Mannes, den sie hastig den Hügel hinunterrennen sah.