Die Tränen des Mörders - Mark Billingham - E-Book + Hörbuch

Die Tränen des Mörders E-Book und Hörbuch

Mark Billingham

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Beschreibung

Mit kalter Präzision hat der Täter sein Opfer ausgesucht, es verfolgt und umgebracht. Und er scheint am selben Tag noch ein weiteres Mal zugeschlagen zu haben. Obwohl für Inspector Tom Thorne der Zusammenhang zwischen den beiden Morden sofort deutlich wird, bleiben immer noch Unstimmigkeiten. Je weiter Thorne vordringt, desto klarer wird, dass er es hier mit etwas Schrecklicherem als einem einzelnen Serienkiller zu tun hat ...

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Seitenzahl: 561

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Zeit:13 Std. 3 min

Sprecher:Wolfgang Berger

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Die Tränen des Mörders

Die Tränen des Mörders

© Mark Billingham 2002

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Tom Thorne

Titel: Die Tränen des Mörders

Teil: 2

Originaltitel: Scaredy Cat

Übersetzer: Isabella Bruckmaier

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2020-9

–––

Für Katherine und Jack.

Aber jetzt noch nicht.

Und im Gedenken an Vi Winyard

(1925-2002)

Knock hard, life is deaf.

Klopf laut, das Leben ist taub.

Mimi Parent

Prolog

King Edward IV

Grammar School for Boys

Mr. und Mrs. R. Palmer

43, Valentine Rd.

Harrow

Middlesex 14. August 1984

Sehr geehrte Mrs. Palmer, sehr geehrter Mr. Palmer,

im Anschluss an eine außerordentliche Sitzung der Schulleitung bedaure ich Ihnen die dort getroffene Entscheidung mitteilen zu müssen, Ihren Sohn Martin von der Schule zu verweisen. Dieser Schulverweis tritt umgehend in Kraft.

Ich möchte betonen, dass eine derartige Vorgehensweise ausgesprochen selten ergriffen wird, und zwar nur dann, wenn jede andere Vorgehensweise aussichtslos erscheint. Doch in Anbetracht des vorliegenden Vergehens erschien dies die einzig angemessene Reaktion. Bereits seit längerem gab das Verhalten Ihres Sohnes Anlass zur Besorgnis, und dies ganz besonders vor dem Hintergrund seiner ausgezeichneten schulischen Leistungen und seines zuvor eher zurückhaltenden Charakters. Dieser letzte, zutiefst verabscheuungswürdige Vorfall ist nur der jüngste in einer langen Reihe unakzeptablen Fehlverhaltens und eklatanter Verstöße gegen die Schulregeln.

Wie Ihnen bekannt ist, ist Ihr Sohn nicht der einzige in diesen Fall verwickelte Schüler, und vielleicht ziehen Sie Trost aus der Tatsache, dass Ihr Sohn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Hauptschuldige ist, sondern, meines Erachtens, bis zu einem gewissen Grad mit hineingezogen wurde. Abgesehen davon zeigte er jedoch wenig Reue und keine Bereitschaft, gegen seinen ehemaligen Komplizen auszusagen.

Um weiterhin das hohe schulische Niveau dieses Instituts zu gewährleisten, erscheint mir die Durchsetzung eines ebenso hohen disziplinarischen Niveaus unumgänglich. In Anbetracht dessen kann das von Ihrem Sohn gezeigte Verhalten nicht geduldet werden.

Ich wünsche Martin viel Glück in seiner neuen Schule.

Hochachtungsvoll

Philip Stanley, A. F C., M. A. Direktor

Rectory Road, Harrow, Middlesex, MA3 4HL

Erster Teil

Acht Sommer, ein Winter

2001

Datum: 27. November

Zielobjekt: weibl.

Alter: 20-30

Kontaktaufnahme: Londoner Bahnhof (außer- oder innerhalb des Gebäudes)

Tatort: wird bekannt gegeben

Methode: nur mit den Händen (Waffe im Notfall zulässig)

Nicklin beobachtete mit unbewegter Miene, wie die beiden Hand in Hand quer durch die Bahnhofshalle auf ihn zukamen.

Sie war perfekt.

Er presste noch immer das Buch an sich, das er sich wahrscheinlich im Zug zu Gemüte geführt hatte, und sie schob sich den Rest ihres Sandwichs in den Mund. Die beiden unterhielten sich und lachten. Sie durchquerten die Halle zügig. Nicklin befand sich direkt in ihrer Blickrichtung, doch sie sahen ihn nicht. Sie hielten nach niemandem Ausschau. Sie erwarteten nicht, abgeholt zu werden.

Er saß auf seiner Bank, nippte an seiner Coladose und sah alle paar Minuten hinüber zur Abfahrtsanzeigetafel. Einer dieser frustrierten Reisenden, die die Verspätungen im Blick behielten. Er drehte den Kopf und sah ihnen nach, als sie an ihm vorüberkamen. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zu einem Taxi, zum Bus oder zur U-Bahn. Falls sie sich ein Taxi nahmen, würde er sich zurücklehnen und auf jemand anders warten. Ärgerlich, aber kein Weltuntergang. Falls sie ihre Reise jedoch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortsetzten, würde er sich an ihre Fersen heften.

Er hatte Glück.

Sie hielten sich noch immer an den Händen, als sie auf die Rolltreppe stiegen, die sie nach unten zur U-Bahn bringen würde. Nicklin stellte die halb leere Dose neben sich auf den Boden und stand auf. Dabei hörte er sein Knie laut knacken. Er lächelte. Er wurde nicht jünger.

Er fasste in seine Tasche, um nach dem Schokoriegel zu kramen, den er gekauft hatte. Nachdem er das Messer zur Seite geschoben hatte, zog er den Riegel heraus und fing an, ihn auf dem Weg zur Rolltreppe aus dem Papier zu schälen. Als er sich hinter einem Rucksacktouristen auf die Treppe stellte, nahm er einen großen Bissen. Er vergewisserte sich, dass die beiden noch da waren, knapp zehn Meter unter ihm, und warf einen Blick durch die riesigen Fenster auf den Busbahnhof. Die Leute wurden merklich weniger, die Stoßzeit war so gut wie vorüber.

Es begann gerade dunkel zu werden. Auf den Straßen und in den Häusern.

In den Köpfen der Leute.

Sie nahmen die Northern Line in Richtung Süden. Er entschied sich für einen Sitz ein paar Plätze hinter ihnen und beobachtete sie. Sie war vermutlich Anfang dreißig. Groß, dunkle Haare, dunkle Augen und ein olivfarbener Teint. So nannte man das wohl, vermutete Nicklin. Seine Mum hätte dazu gesagt, die sei »dem Kaminkehrer zu nahe gekommen«. Sie war nicht hübsch, aber auch keine Vogelscheuche.

Nicht, dass es darauf angekommen wäre.

Der Zug fuhr durch das West End und weiter Richtung Süden. Wahrscheinlich Clapham oder Tooting. Wohin auch immer …

Die beiden hingen schon wieder aneinander. Er sah noch immer in sein Buch, wobei er alle paar Sekunden aufblickte und sie angrinste. Sie drückte seine Hand und beugte sich tatsächlich ein paar Mal über ihn, um seinen Nacken zu küssen. Die umsitzenden Fahrgäste lächelten kopfschüttelnd.

Er spürte, wie sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen bildeten, und roch diesen feuchten Kellergeruch, der stets so überwältigend, so scharf und beißend wurde, wenn er kurz davor war.

Als der Zug in den Bahnhof von Balham einfuhr, standen sie auf.

Er sah ihnen zu, wie sie kichernd aus dem Zug sprangen, und wartete ein oder zwei Sekunden, bevor er ihnen folgte.

Um sicherzugehen, blieb er hinter ihnen zurück, doch sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass er wahrscheinlich an ihrem Rücken hätte kleben können. Ohne die Welt um sich herum wahrzunehmen, trieben sie auf den Ausgang zu. Sie trug einen langen grünen Mantel und Stiefeletten. Er trug einen blauen Anorak und hatte eine Wollmütze auf.

Nicklin war in einen langen schwarzen Mantel mit tiefen Taschen gehüllt.

Vor ihm auf der Straße mit der grellen Weihnachtsbeleuchtung hoben sie sich scherenschnittartig vor einem blutroten Himmel ab. Ihm war klar, das war eines dieser Bilder, an die er sich erinnern würde. Natürlich gäbe es noch andere.

Sie liefen an einer Reihe von Geschäften vorbei, und er musste gegen den Drang ankämpfen, in den nächsten Zeitschriftenladen zu stürmen, um noch etwas Schokolade zu kaufen. Er hatte nur noch einen Riegel übrig. Sicher, er konnte in ein paar Sekunden drinnen und wieder draußen sein, doch er wollte nicht das Risiko eingehen, sie zu verlieren. Er würde sich Schokolade besorgen, wenn alles vorbei war. Bis dahin wäre er halb verhungert.

Sie bogen von der Hauptstraße in eine gut beleuchtete, doch ruhige Seitenstraße ein, und sein Atem ging stoßweise, als er sah, wie sie in ihre Manteltasche nach dem Schlüssel griff. Er beschleunigte sein Tempo etwas. Er konnte hören, wie sie über Toast und Tee sprachen und darüber, ins Bett zu gehen. Er konnte ihnen die Freude darüber ansehen, zu Hause zu sein.

Seine Hand glitt in seine Tasche, dabei blickte er sich um, ob ihn jemand beobachtete.

Hoffentlich war es keine Wohnung. Besser, er hatte seine Ruhe. Vielleicht hatte er ja Glück.

Ihr Schlüssel glitt ins Schloss, und seine Hand legte sich auf ihren Mund. Der erste Impuls war, laut zu schreien, doch Nicklin drückte ihr das Messer in den Rücken, und mit dem Schmerz kehrte die Vernunft zurück. Sie wandte sich nicht um, um ihn anzusehen.

»Gehen wir rein.«

Sie spürt den Schweiß seiner Hand, die Pisse, die ihre Beine hinunterläuft, öffnet die Tür. Ihre Hand flattert verzweifelt, fasst nach unten auf der Suche nach der Person, die sie liebt. Dem einzigen Menschen, der ihr am Herzen liegt.

Ihrem Kind.

»Bitte …«

Seine Hand bringt ihre Stimme zum Verstummen. Das Wort geht unter. Er schiebt sie und den Jungen durch die Tür, folgt ihnen und schlägt die Tür hinter sich zu.

Der Kleine in dem blauen Anorak klammert sich noch immer an sein Bilderbuch. Er blickt hoch zu dem Fremden. Seine Augen sind so dunkel wie die seiner Mutter, und sein Mund formt ein kleines, unendlich verwirrtes »O«.

Erstes Kapitel

Es war morgens, kurz nach halb zehn. Der erste graue Montag im Dezember. Vom dritten Stockwerk des Becke House blickte Tom Thorne hinüber zum Hendon-Komplex, einem Monument aus aufgeblähter Selbstzufriedenheit. Das Letzte, was er gerade wollte, war klar zu denken.

Unglücklicherweise tat er genau das. Das vor ihm liegende Material ordnen und alles in sich aufnehmen. Wobei er jedes Detail, ohne sich darüber klar zu sein, mit einer emotionalen Reaktion belegte, die in den folgenden Monaten ihren Schatten über jede wache Stunde werfen würde.

Und über etliche Stunden seines Schlafs.

Hellwach und konzentriert saß Thorne an seinem Schreibtisch und studierte den Tod, so wie andere auf ihren Computermonitor starren oder an einer Supermarktkasse sitzen. Das war der Stoff, mit dem er sich Tag für Tag beschäftigte, doch in Anbetracht dieses Materials wäre es angenehm gewesen, es nicht ganz so hautnah an sich heranlassen zu müssen. Selbst der Presslufthammer im Kopf nach einer durchzechten Nacht wäre ihm wesentlich lieber. Alles war recht, um den Lärm dieses Schreckens zu dämpfen.

Er hatte Hunderte, vielleicht Tausende solcher Fotos gesehen. Hatte sie im Laufe der Jahre so unbeteiligt gemustert wie ein Zahnarzt ein Röntgenbild oder ein Buchhalter eine Steuererklärung. Er hatte die Übersicht verloren über die unzähligen bleichen Gliedmaßen, die sich ihm auf großen, schwarzweißen Abzügen in unnatürlichen Winkeln entgegenreckten, abgetrennt waren oder gänzlich fehlten. Dann waren da noch die Farbfotos. Fahle Leichen auf grünen Teppichen. Ein Band violetter Blutergüsse um einen Hals. Die grellbunt gemusterte Tapete, auf der sich die Blutspritzer kaum abheben.

Eine nicht enden wollende Ausstellung mit einer einfachen Botschaft: Emotionen sind machtvoll, der menschliche Körper nicht.

So sahen die in seinem Büro archivierten Bilder aus, deren Duplikate in seinem Kopf gespeichert waren. Schnappschüsse von Toten und Porträtaufnahmen vom Leben, das bis zum Letzten ausgereizt wurde. Es war schon vorgekommen, dass Thorne auf diese Leichen in Schwarzweiß gestarrt und geglaubt hatte, er hätte einen Blick auf Wut oder Hass erhascht, auf Gier oder Lust oder womöglich auf den Geist von all dem, der wie Ektoplasma in den Zimmerecken schwebte.

Die Fotos, die an diesem Morgen auf seinem Schreibtisch lagen, waren keineswegs abartiger als andere, die er früher gesehen hatte. Doch bei dem Anblick dieser toten Frau hatte er das Gefühl, in eine Flamme zu stieren und zu spüren, wie seine Augapfel schmolzen.

Er sah sie durch die Augen ihres Kindes.

Charlie Garner, drei Jahre und nun elternlos.

Charlie Garner, drei Jahre, für den seine Großeltern sorgten, die sich jeden Tag und jede Minute mit der Frage quälten, was sie ihm über seine Mami erzählen sollten.

Charlie Garner, drei Jahre, der beinahe zwei volle Tage allein in einem Haus neben der Leiche seiner Mutter verbrachte, ein Schokoriegelpapier in der Hand, das er blitzblank geleckt hatte, hungrig und schmutzig und brüllend, bis endlich ein Nachbar klopfte.

»Tom …«

Thorne blickte noch ein paar Sekunden durchs Fenster ins Graue, bevor er sich resigniert Detective Chief Inspector Russell Brigstocke zuwandte.

Als Teil der Reorganisation der Met vor etwa einem Jahr war eine Reihe von Kommissionen innerhalb der drei neu ins Leben gerufenen Serious Crime Groups gebildet worden. Eine Einheit, die nur aus Polizisten bestand, die sich eigentlich im Ruhestand befanden, war gebildet worden, um sich speziell um alte Fälle und kalte Fährten zu kümmern. Diese Einheit, schnell auf den Namen Graue Zelle getauft, war nur einer von einer ganzen Armada neuer Ansätze, Teil einer frischen und aggressiveren Herangehensweise, das Verbrechen in der Hauptstadt zu bekämpfen. Es gab weitere Kommissionen, die sich auf Sexualverbrechen, Gewalt gegen Kinder und Waffenmissbrauch spezialisiert hatten.

Dann gab es noch das Team 3, Serious Crime Group (West).

Offiziell war diese Kommission für die Fälle geschaffen worden, die nirgends richtig reinpassten – Fälle, die in keinen anderen Verantwortungsbereich fielen. Allerdings wurde auch gemunkelt, Serious Crime Group (West) 3 sei einfach deshalb ins Leben gerufen worden, weil niemand so richtig wusste, wohin mit Detective Inspector Tom Thorne. Thorne selbst mutmaßte, die Wahrheit sei irgendwo in der Mitte anzusiedeln.

Russell Brigstocke war sein Vorgesetzter, und Thorne kannte ihn inzwischen über zehn Jahre. Er war groß und kräftig und eine außergewöhnliche Erscheinung mit seiner Hornbrille und diesen merkwürdigen Haaren, auf die er unmäßig stolz war. Sie waren dicht und blauschwarz, und der Detective Chief Inspector liebte es, sie zu einer Tolle von beinahe Elvis-ähnlichen Proportionen zu formen. Doch sosehr er dem Traum eines Karikaturisten entsprechen mochte, er konnte zum schlimmsten Albtraum eines Verdächtigen werden. Thorne hatte Brigstocke ohne Brille und mit geballten Fäusten erlebt, mit wild in die schweißnasse Stirn fliegender Locke, während er auf der Suche nach der Wahrheit laut brüllend im Vernehmungszimmer auf und ab lief.

»Carol Garner war eine allein erziehende Mutter. Sie war achtundzwanzig Jahre alt. Ihr Mann starb vor drei Jahren bei einem Autounfall, kurz nachdem ihr Sohn geboren worden war. Sie war Lehrerin. Vor vier Tagen wurde sie in ihrem Haus in Balham tot aufgefunden. Es gab keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen. Sie war am siebenundzwanzigsten um sechs Uhr abends mit dem Zug in der Euston Station angekommen, nachdem sie ihre Eltern in Birmingham besucht hatte. Wir vermuten, dass der Mörder ihr vom Bahnhof nach Hause folgte, wahrscheinlich in der U-Bahn. Wir fanden in ihrer Tasche einen Fahrschein.«

Brigstockes Stimme war tief und akzentfrei, beinahe monoton. Doch die Litanei der aufgezählten Fakten war auf schreckliche Weise überwältigend. Thorne kannte das meiste davon, da er von Brigstocke am Tag zuvor bereits informiert worden war, dennoch war jedes Wort wie ein Faustschlag, einer härter als der andere. Und nach diesen Faustschlägen war er zutiefst getroffen und rang nach Atem. Den anderen erging es offensichtlich genauso.

Und er wusste, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand.

Brigstocke fuhr fort: »Wir können nur Mutmaßungen anstellen, wie der Mörder sich Zutritt verschaffte oder wie lange er sich in Carol Garners Haus aufhielt, aber wir wissen, was er während dieser Zeit tat …«

Brigstocke sah hinunter zum anderen Tischende und bat den dort sitzenden Mann, da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Thorne betrachtete die Gestalt in dem schwarzen Fleecepullover mit dem kahl rasierten Kopf und einer verblüffenden Sammlung von Piercings im Gesicht. Phil Hendricks war nicht gerade der typische Pathologe, doch der beste, mit dem Thorne je zusammengearbeitet hatte. Thorne zog eine Augenbraue hoch. War da ein neuer Ohrring, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte? Hendricks mochte es, sich als Erinnerung an einen neuen Freund einen Ring, Stecker oder einen Stachel stechen zu lassen. Thorne wünschte ihm inständig eine feste Beziehung, bevor er vor lauter Metall endgültig unfähig wäre, den Kopf zu heben.

Dr. Phil Hendricks war der Zivilist im Team und trat gleich zu Beginn in Erscheinung. Logischerweise, denn es war ja der Fund einer Leiche, der das Team schlagartig aktiv werden ließ. Eine Leiche, die sich dem Messer ergeben und ihre Geschichte preisgeben würde, die Geschichte, die hinter dieser Reise zu einem kalten, stählernen Seziertisch stand; flüsternd würden das tote Fleisch und die verhärteten Organe ihre Geheimnisse enthüllen. Auf diesem Gebiet war der Pathologe der Fachmann.

Obwohl er und Hendricks sich gut verstanden, war Thorne beruflich betrachtet ab diesem Punkt der Ermittlungen froh, wenn er ihn nicht noch einmal zu sehen bekam.

»Wir gehen davon aus, dass sie am siebenundzwanzigsten irgendwann zwischen sieben und zehn Uhr abends getötet wurde. Als sie aufgefunden wurde, war sie etwa achtundvierzig Stunden tot.«

Sein ausgeprägter Manchesterakzent schien wie dafür gemacht, um nüchtern und präzise die banale Realität echten Grauens auszudrücken. Thorne konnte den unaussprechlichen Gedanken in den Gesichtern der um den Tisch sitzenden Beteiligten sehen.

Wie erlebte Charlie Garner diese zwei Tage!

»Es gibt keine Anzeichen von sexuellem Missbrauch und keinen Hinweis, dass sie sich nennenswert wehrte. Die offensichtliche Folgerung daraus lautet, dass der Mörder das Kind bedrohte.« Hendricks zögerte und atmete tief durch. »Er erwürgte Carol Garner mit bloßen Händen.«

»Scheißkerl …«

Thorne warf einen Blick nach links. Detective Sergeant Sarah McEvoy starrte in die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Thorne wartete, doch sie schien für den Augenblick alles gesagt zu haben, was sie beschäftigte. Von allen im Raum Anwesenden kannte Thorne sie am kürzesten. Und bislang war sie für ihn ein unbeschriebenes Blatt. Sie war tough, zweifelsohne, und mehr als begabt. Aber irgendetwas an ihr machte Thorne misstrauisch. Sie verbarg etwas.

Die Stimme von Detective Constable Dave Holland riss Thorne aus seinen Gedanken. »Gehen wir davon aus, dass er sie wegen des Kinds auswählte?«

Thorne nickte. »Es war ihr Schwachpunkt. Ja, vermutlich war es so …«

Brigstocke fiel ihm ins Wort. »Aber es ist nicht wirklich von Bedeutung.«

»Nicht wirklich von Bedeutung?« Holland klang zutiefst verwirrt und blickte hinüber zu seinem Chef.

Thorne erwiderte den Blick achselzuckend. Abwarten, Dave …

Es lag nun ein gutes Jahr zurück, seit Thorne mit Dave Holland zusammenarbeitete. Und endlich fing er an, annähernd erwachsen auszusehen. Seine Haare waren noch immer etwas zu blond und zu weich, aber die Gesichtszüge darunter wirkten neuerdings ein wenig härter. Thorne war klar, dass das weniger mit dem Alter als mit den Erfahrungen zusammenhing, die Holland gemacht hatte. Abnutzungserscheinungen. Das unschuldigste Gesicht musste sich verdunkeln in Anbetracht der Dinge, die der Job so mit sich brachte.

Die Veränderung hatte mit ihrem ersten gemeinsamen Fall begonnen. Drei Monate, in denen Thorne Freunde verloren und Feinde gewonnen hatte, in denen Dave Holland sich ihm angenähert, ihn beobachtet und absorbiert hatte, und darüber ein anderer geworden war. Drei Monate, die mit dem Schnitt eines Skalpells in einem blutgetränkten Dachboden in Südlondon geendet hatten.

Holland hatte vieles gelernt und verlernt, und Thorne hatte dabei zugesehen – stolz und zugleich traurig. Es war ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte: Schloss das einander aus – ein guter Bulle und ein guter Mensch zu sein?

Zunehmende Desensibilisierung mochte gut und schön sein, aber dafür war ein Preis zu zahlen. Er erinnerte sich an ein warnendes Plakat, das er im Wartezimmer eines Zahnarztes gesehen hatte: die eindrückliche Darstellung eines Patienten, der sich die Lippe abgebissen hatte bei dem Versuch, die lokale Betäubung zu »prüfen«. Man konnte beißen und beißen, ohne das Geringste zu spüren, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Betäubung nachließ, und dann kam der Schmerz, das stand fest.

Auch das Gefühl der Taubheit würde weichen. Das betraf die Kollegen, die Thorne dabei beobachtete, wie sie Tag für Tag in ihrer jeweils spezifischen Rüstung zu überstehen trachteten. Ob sie diese in ihrem Kopf fabriziert hatten oder aus einer Flasche bezogen, eines Tages war sie sicherlich abgenutzt, und dann wäre die Agonie unerträglich. Das war nicht der Weg, den Tom Thorne für sich gewählt hatte, und sein Instinkt sagte ihm, dass es genauso wenig Hollands Weg war, trotz seiner Hoppla-jetzt-komm-ich-Tour und der ganzen Scheiße, die er gelernt hatte.

Der gute Bulle und der gute Mensch. Wahrscheinlich schlossen sie einander nicht aus. Sie ließen sich nur verdammt schwer miteinander vereinbaren. So wie diese Physiksachen, die theoretisch möglich sind, die aber noch niemand gesehen hat.

Schweigen machte sich breit in dem Raum, der lachhafterweise als Konferenzraum bezeichnet wurde, dabei jedoch kaum größer als ein normales Büro war und sich nur durch eine Kaffeekanne und eine größere Anzahl unbequemer Plastikstühle von einem solchen unterschied. Thorne rief sich ins Gedächtnis, was er über den Mann wusste, der Carol Garner getötet hatte. Ein Mann, der gern die Fäden in der Hand hielt. Ein Feigling. Vielleicht nicht körperlich überlegen … Himmel, er klang wie einer dieser Gerichtspsychiater, die er für horrend überbezahlt hielt. Eines allerdings wusste er: Dieser Mörder war keinesfalls gewöhnlich. Er war in hohem Maße außergewöhnlich und zu weit mehr fähig, als Holland und McEvoy bislang klar war.

Dann gab es da natürlich noch die Frage nach dem Warum. Stets die Frage nach dem Warum. Und wie immer ging Thorne diese Frage am Arsch vorbei. Darum wurde er sich kümmern, wenn sie sich aufdrängte. Er würde mit beiden Händen danach greifen, falls er so den Mörder fangen könnte. Aber sie war ihm nicht wichtig. Zumindest kümmerte es ihn nicht im Geringsten, ob der Mann, hinter dem er her war, als Kind ein Fahrrad bekommen hatte …

McEvoy rutschte neben ihm auf ihrem Stuhl hin und her. Sie hatte aufgehört, in der vor ihr liegenden Akte zu blättern, und er spürte, dass sie etwas sagen wollte.

»Was gibt es, Sarah?«

»Das ist schrecklich, keine Frage … und die Sache mit dem Kind, absolut widerlich. Aber mir ist nicht ganz klar, warum das unser Fall ist. Und nicht der Fall einer anderen Gruppe. Ich will damit sagen, woher wissen wir, dass sie nicht von jemandem umgebracht wurde, den sie kannte? Es gab keine Hinweise auf gewaltsamen Zutritt, es könnte ein Freund oder Exfreund gewesen sein … warum also wir, Sir?«

Thorne blickte zu Brigstocke, der mit gekonntem Timing einen weiteren Stapel Fotos in die Mitte des Tisches warf.

Holland nahm sich ein Foto. »Ich hab mir dieselbe Frage gestellt. Ich verstehe nicht, warum …« Er hielt mitten im Satz inne, als er die auf dem Rücken liegende Frau sah, ihren weit aufgerissenen Mund, die hervorquellenden, blutunterlaufenen Augen. Die Frau lag zwischen Müllsäcken in einer kalten, dunklen Straße. Die Frau, die nicht Carol Garner war.

Die Geste entbehrte nicht einer gewissen Dramatik, und das war durchaus beabsichtigt. Brigstocke wollte seinen Leuten Feuer unterm Hintern machen. Er wollte sie schockieren, motivieren und ihre Leidenschaft wecken.

Ihre Aufmerksamkeit hatte er sich auf alle Fälle gesichert.

Thorne übernahm es, ihnen auseinander zu setzen, um was es ging. »Der entscheidende Grund, Holland« – er blickte zu McEvoy – »der Grund, warum es in unseren Bereich fällt, ist, dass er es wieder getan hat.«

Die vorherige Stille erschien nun als die reinste Kakophonie. Thorne konnte nichts hören als das Echo seiner eigenen Stimme und das Zischen des Adrenalins, das durch seine Adern rauschte. Brigstocke und Hendricks saßen, den Kopf gebeugt, wie erstarrt da. Holland und McEvoy tauschten einen entsetzten Blick.

»Deshalb wissen wir, dass er Carol Garner von der Euton Station folgte. Denn sobald er mit diesem Mord fertig war, am selben Tag noch, machte er sich auf den Weg nach King’s Cross. Er ging zu einem anderen Bahnhof, suchte sich eine andere Frau und machte es noch einmal.«

Karen, es ist wieder passiert.

Lass mich dir bitte erzählen, was geschah. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du schlecht von mir dächtest. Ich weiß, dass du mir unmöglich verzeihen oder vergeben kannst, was ich getan habe … was ich tue, aber ich bin mir sicher, dass du es verstehst. Ich hatte immer das Gefühl, dass du, wenn ich die Möglichkeit hätte, dir alles zu erklären, mich dir anzuvertrauen, dazu in der Lage wärst, mich wirklich zu verstehen. Du hast immer gewusst, was ich über dich denke. Das konnte ich an deinem schüchternen Lächeln ablesen.

Du wusstest, welche Macht du über mich hattest. Wes halb ich aber nie wütend war. Einem Teil von mir gefiel es, von dir geneckt zu werden. Ich wollte der sein, den du neckst. Das gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden. In meinen Augen machte dich das nur anziehender, Karen …

Aber jetzt, Herrgott, habe ich es wieder getan. Habe getan, was man mir auftrug.

Sie war allein und hatte nicht die geringste Angst. Das sah ich an der Art, wie sie ging, als ich ihr aus dem Bahnhof folgte. Keine anmaßende oder aufgesetzte Furchtlosigkeit, sondern einfach eine Art Vertrauen. Sie sah in jedem Menschen das Gute, das spürte ich. Es war dunkel, und sie konnte meine Schwäche und Bösartigkeit nicht erkennen. In ihren Augen stand keine Angst, als ich sie ansprach.

Doch sie wusste, was passieren würde, als sie die Angst in meinen sah.

Und als ihr das klar wurde, begann sie zu kämpfen. Aber sie war nicht stark genug. Sie war nicht halb so stark wie ich, Karen, ich brauchte nur abzuwarten, bis ihre Kräfte nachließen. Sie kratzte und spuckte, und ich konnte sie nicht ansehen. Und als es vorbei war, ertrug ich es nicht, dass ihr Gesicht, das so offen und warm wie deines gewesen war, nun aussah, als befände es sich hinter Glas oder sei seit langer Zeit in einem Eisblock eingefroren. Und dass ich dafür verantwortlich war.

Und ich hatte einen Steifen, Karen. Während ich es tat und noch einmal danach, als ich sie versteckte. Ich blieb erregt, bis das Brausen in meinem Kopf aufhörte und die Kratzer auf meinen Händen zu schmerzen begannen.

Ich war so erregt wie noch nie, noch nie, solange ich denken kann.

Damit möchte ich dich nicht in Verlegenheit bringen, aber wenn ich zu dir nicht ehrlich sein kann in diesen Dingen, dann ist alles zwecklos. Ich habe dir nie wirklich gesagt, was ich denke, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Daher werde ich jetzt nichts vor dir verbergen.

Und ich werde dich nie belügen, Karen. Das verspreche ich dir.

Natürlich bist du nicht der einzige Mensch, der mich wirklich kennt, aber du bist der Einzige, der über mein Innerstes Bescheid weiß. Ich möchte keine Entschuldigungen finden, mir ist klar, dass ich nichts verlangen kann, aber zumindest halte ich nichts zurück und bin ich offen. Offen und ehrlich.

Sie hat mir nichts bedeutet, diese Frau vom Bahnhof. Sie hat mir nichts bedeutet, und ich habe zugedrückt, bis das Leben aus ihr draußen war.

Es tut mir so entsetzlich Leid, und ich verdiene, was mit Sicherheit kommen wird.

Ich hasse es, dich um einen Gefallen zu bitten, Karen, aber wenn du sie siehst, die Frau, die ich umgebracht habe, könntest du ihr das von mir ausrichten?

1982

Die Kinder nannten es die »Dschungelgeschichte«.

Das Opfer wurde auf den Asphalt gedrückt, wobei jeweils ein Junge einen Arm festhielt und ein weiterer sich auf seinen Bauch setzte. Als Waffe wurden die Finger eingesetzt – schlagen, pieksen, stechen –, im Rhythmus der Geschichte wurde auf das Brustbein eingetrommelt. Die Geschichte selbst war einfach, eine unverhohlene Ausrede, um Schmerz zuzufügen.

Der drahtige, schwarzhaarige Junge lehnte sich an eine Mauer, seinen kleinen dunklen Augen entging nicht das geringste Detail. Er sah zu, als die Folter begann.

Waren es nur die Kletteraffen oder irgendwelche anderen kleinen Tiere, für die sich der Erzähler der Geschichte entschied, war es nicht mehr als ein Kitzeln. Das Opfer wälzte sich am Boden, bat sie aufzuhören, es loszulassen. Dabei war die Angst vor dem, was noch bevorstand, am schlimmsten. Anschließend kamen die Löwen und Tiger. Schwerere Schritte, die Finger bohrten fester, die ersten Tränen liefen. Wobei natürlich alles auf die anscheinend endlose Elefantenherde hinauslief, die durch den Dschungel trampelte und bei der die Fäuste auf den Brustkorb eintrommelten. Was unerträglich wehtat.

Das große Kind am Boden hatte angefangen zu brüllen.

Der Junge stieß sich von der Wand ab, nahm die Hände aus der Tasche und ging über den Schulhof auf den Kreis zu, den die johlenden und klatschenden Zuschauer bildeten. Es war Zeit einzuschreiten.

Der »Geschichtenerzähler« hieß Bardsley. Der Junge hasste ihn. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, was nicht schwierig war, da die meisten anderen Drittklässler Angst vor ihm hatten. Schließlich war er der »Verrückte«, der, der vor nichts zurückschreckte. Das Kind, das ohne zu zögern ein Pult aus dem Fenster warf, mit seinem kleinen Pimmel vor der Klasse herumfuchtelte oder dem Lehrer die Luft aus den Reifen ließ. Er hatte oft genug nachsitzen müssen, um sich diesen Ruf zu verdienen. Aber der Respekt, den er sich dadurch verschaffte, war es wert gewesen.

Er scherte sich nicht um Geografie oder Französisch, aber über Respekt wusste er Bescheid.

Beiläufig fasste er nach unten, griff in Bardsleys Haare und riss ihn nach hinten. Ein Stöhnen ging durch die Menge, das jedoch schnell nervösem Gelächter Platz machte, als Bardsley aufsprang und sich wütend umsah, um herauszufinden, wer verantwortlich war für das entsetzliche Brennen seiner Kopfhaut.

Dann entdeckte er den Schuldigen. Der Junge, weitaus kleiner und schmächtiger als er, erwiderte seinen Blick gelassen. Seine Augen waren kalt und dunkel wie Steine in eisigem Schlamm. Die Hände hatte er bereits wieder tief in den Taschen vergraben.

Die Menge löste sich schnell auf. Es wurde geschubst und gerangelt, als Bardsley den Rückzug in die Garderobe antrat und fürchterliche Rache androhte, sobald die Schule zu Ende sei, was er allerdings nicht ernst meinte.

Der am Boden liegende Junge stand auf und brachte seine Schuluniform in Ordnung. Er sagte nichts, musterte aber aus dem Augenwinkel nervös seinen Retter, während er seine Krawatte zurechtzupfte und sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischte.

Der schwarzhaarige Junge kannte ihn zwar vom Sehen, aber sie hatten noch kein Wort miteinander gewechselt. Er war ein Jahr jünger, wahrscheinlich erst zwölf, und die verschiedenen Jahrgänge hatten nicht wirklich miteinander zu tun. Seine rotblonden Haare waren normalerweise ordentlich frisiert, mit Seitenscheitel. Man sah ihn oft irgendwo in einer Ecke sitzen, wo er mit seinen blassen, blauen Augen neidisch hinter einem Buch hervorlugte und die anderen bei ihren diversen Spielen beobachtete, bei denen es für ihn keinen Platz gab. Er war ein großer Kerl, mindestens einen Kopf größer als die meisten in seiner Klasse, und verdammt schlau. Aber entsetzlich langsam bei allem, was wirklich zählte. Wahrscheinlich hatte er nichts Besonderes getan, um Bardsley zu vergrätzen. Doch darum ging es nicht.

Der ältere Junge ließ ihn nicht aus den Augen, lächelte, als ein brauner Plastikkamm hervor- und durch die rotblonden Haare gezogen wurde, wobei Schulplatzkies herausrieselte. Er hatte natürlich selbst auch einen Kamm, aber einen aus Metall, was weitaus cooler war, und den er hauptsächlich für die mittäglichen Kammkämpfe brauchte, bei denen er der anerkannte Champion war. Diese Kämpfe waren eine brutalere Form von »Stein, Schere, Papier«. Binnen weniger Sekunden konnte Blut fließen. Er war nicht etwa der Champion, weil er schneller gewesen wäre als die anderen, sondern weil er den Schmerz länger aushielt.

Er konnte, wenn es sein musste, sehr viel Schmerz ertragen.

Der rotblonde Junge steckte den Kamm sorgfältig in die Innentasche seines Blazers, räusperte sich nervös und rang sich zu einem Lächeln durch, was nicht häufig vorkam. Das Lächeln verschwand schnell, als es nicht erwidert wurde. Stattdessen wurde eine bemerkenswert unversehrte Hand ausgestreckt.

»Danke für … das, was du gerade getan hast. Ich heiße Palmer, Martin …«

Der drahtige, schwarzhaarige Junge, der Verrückte, der Junge, der vor nichts zurückschreckte, nickte. Er ignorierte die ausgestreckte Hand und nannte seinen Namen, wobei er verschlagen lächelte, als handle es sich dabei um ein schmutziges Geheimnis.

Um ein Geschenk, das weitaus mehr wert war, als es den Anschein hatte.

»Nicklin.«

Zweites Kapitel

»Ein paar Fragen weniger, wenn alles vorbei ist, selbst eine weniger als am Anfang, und es gibt nichts zu meckern.

Thorne lächelte, als er seinen Kaffee ins Wohnzimmer trug und ihm Hollands Reaktion einfiel, als er zum ersten Mal diese markige, selbst gestrickte Lebensweisheit zum Besten gab. Das war auch das erste Mal gewesen, erinnerte sich Thorne, dass es ihm gelang, ihn in einen Pub zu bringen. Der Tag stand unter einem Glücksstern.

Fragen …

Im Pub hatte Holland gegrinst. »Wie? Sie meinen Fragen wie ›Warum habe ich mir in der Schule nicht mehr Mühe gegeben?‹ und ›Kann sich da kein anderer drum kümmern?‹«

»Ich fürchte, ich habe Sie mehr geschätzt, als Sie ein Arschkriecher waren, Holland …«

Thorne stellte seine Tasse auf dem Kaminsims ab und beugte sich hinunter, um in dem auf antik gemachten Kamin die Gasheizung mit dem Flammeneffekt einzuschalten. Obwohl die Zentralheizung bereits auf höchster Stufe lief, fror er noch immer. Und sein Rücken machte sich wieder bemerkbar. Und draußen pisste es …

Es gab eine Menge Fragen, auf die im Augenblick eine Antwort fehlte.

Hingen die zwei Morde tatsächlich zusammen? Abgesehen vom Datum und von der Tatsache, dass beide Frauen erwürgt worden waren, schien es keine Verbindung zu geben. War das mit den Bahnhöfen dann reiner Zufall? King’s Cross konnte auch etwas anderes bedeuten. Hatte er das zweite Opfer aus Versehen für eine Prostituierte gehalten? Warum wurde eine Frau zu Hause und eine auf der Straße umgebracht?

Und dann war die eine Frage, die sich in den Vordergrund drängte: Beging er an einem Tag zwei Morde, weil er außer Rand und Band war, oder war der Doppelmord das eigentlich Zentrale? Blutrausch oder Zwang? Im Augenblick machten Holland und McEvoy Überstunden, um genau das zu klären. Doch wie immer die Antwort ausfallen würde, angenehm wäre sie keinesfalls.

In den acht Monaten, seit das Team zusammen war, hatte es nur an zwei großen Fällen gearbeitet, für die es ausschließlich zuständig war. Die meiste Zeit waren sie – entweder als Gesamtteam oder einzelne Mitarbeiter – anderen Ermittlungen zugewiesen worden, um im Bedarfsfall wieder zurückgeholt zu werden.

Nach dem Terroranschlag vom 11. September hatte die Serious Crime Group noch nie da gewesene Aufgaben übernommen. Nicht wenige hatten ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben, dass sie sich mit so etwas wie der Heimholung von Leichen aus New York abgeben mussten, doch Thorne hatte das eingeleuchtet. Es handelte sich hier um britische Staatsbürger. Sie waren ermordet worden. Daran war nichts kompliziert.

Am schlimmsten waren die Telefonanrufe gewesen. Tausende von Leuten, die wissen wollten, wo sich ihr Ehemann, ihre Ehefrau, ihr Sohn, ihre Tochter befand, Angehörige, die sich nicht gemeldet und sich möglicherweise im Bereich des World Trade Center befunden hatten. Bislang hatte nur einer von den Hunderten ohne Nachricht von ihren vermissten Angehörigen eine identifizierbare Leiche zum Bestatten erhalten …

Drei Monate später hatte die Met noch immer alle Hände voll zu tun – es galt, Witzbolde aufzuspüren, die auf den Anthraxzug aufsprangen, und potenzielle Ziele für Terrorangriffe zu überwachen. Kurz, sie rissen sich den Arsch auf, während die Kleinkriminalität, die Gunst der Stunde nutzend, florierte. Auch wenn sexuelle Belästigung am Telefon plötzlich nicht mehr ganz so wichtig schien, es gab immer noch Verbrechen wie die, die dem Team 3 zugewiesen wurden und die nun wirklich nicht auf die leichte Schulter genommen werden durften.

Diese Fälle waren alle beide … ungewöhnlich. Beim ersten handelte es sich um eine Serie brutaler Morde im Südosten Londons, die allesamt die Kennzeichen eines Bandengemetzels aufwiesen. Es stellte sich jedoch heraus (nachdem die Leichenteile mühevoll zusammengesetzt waren), dass die Ermordeten weder Drogendealer noch Geldverleiher gewesen waren, sondern ganz gewöhnliche, gesetzestreue Bürger. Schnell war klar, dass diese Morde das Werk eines zutiefst gestörten Einzeltäters waren und nicht einer Bande. Ob der Mörder – ein glücklich verheirateter Elektrotechniker – nur versucht hatte, eine falsche Spur zu legen oder unter einem psychischen Zwang litt, Mafiamethoden nachzuahmen, war noch unklar. Er wurde noch immer psychiatrisch untersucht.

Der andere Fall war der beunruhigendere von den beiden, obwohl es keine Leichen gab. Hotelgäste wurden in ihren Zimmern ins Visier genommen und ausgeraubt. Dabei hatten allerdings die körperlichen Übergriffe, die mit den Diebstählen einhergingen, bald angefangen überhand zu nehmen. Selbst wer bereitwillig Bargeld, Rolex und andere Wertgegenstände herausrückte, wurde gefoltert. Das Messer kam zum Vorschein und die Geheimnummer wurde verlangt. Nach Preisgabe der Geheimnummer kam das Messer dennoch zum Einsatz. Kleine Schnitte, Schlitzereien: Verletzungen aus purer Lust. Thorne wusste, dass dieser Kerl es genoss, jemandem das Messer auf die blanke Haut zu legen, zu hören, wie sein Opfer tief Luft holte, und dabei zuzusehen, wie sich der schmale Schnitt mit Blut zu füllen und zu tropfen begann.

Aus dem Raub wurde langsam etwas anderes, aus dem Räuber wurde ein anderer. Hinter seiner schwarzen Sturmmütze fing er an, etwas zu viel Spaß an seiner Arbeit zu haben – es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Leute anfingen zu sterben.

An diesem Punkt holte man Thorne hinzu.

Mit so gut wie keinem Beweisstück und keiner wirklichen Täterbeschreibung war der Fall sehr schnell zu einer Quelle steter Frustration geworden. Thorne, Holland und McEvoy hatten, um diesem latenten Mörder eine Falle zu stellen, einige Nächte in sehr netten Hotels verbracht, doch ohne Erfolg. Offensichtlich waren ihre Bemühungen nicht unbemerkt geblieben, und der Verantwortliche war abgetaucht.

Zwei Fälle, eine Verhaftung. Eine Erfolgsquote von fünfzig Prozent. Und die Zahlen würden ab jetzt nur schlechter werden. Es kursierte der Witz, der Hotelfall würde in ein paar Wochen ohnehin an die Graue Zelle weitergereicht werden, doch Thorne sah das anders. Jeder, der es so sehr genoss wie dieser Kerl, anderen Schmerzen zuzufügen, musste es wieder tun. Irgendwo würde er wieder auftauchen. Der Modus Operandi wäre dann vielleicht vollkommen anders, doch Thorne hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er in nicht allzu langer Zeit irgendwo einem Pathologen zu ein paar Überstunden verhelfen würde.

Thorne nahm seinen Kaffee mit hinüber zum Sofa und schnappte sich die Akte über Carol Garner. Einige Minuten saß er einfach nur da, ohne sie zu öffnen, und schaute hinaus in den Regen, dachte nach über die Hunderte, Tausende von Menschen, die in der Hauptstadt ihren Lebensunterhalt dem gewaltsamen Tod eines anderen verdankten. Dachte nach über das Geld, das mit Mord verdient wurde.

Dachte nach über die Tötungsindustrie.

Dave Holland blickte über den Rand seines Monitors hinüber zu Sarah McEvoy, die konzentriert den ihren studierte. Er dachte nach über seine Freundin Sophie.

Ihr alter Streit, der seit zwei Jahren ein Thema war, war wieder aufgeflammt. Sophie hatte ein Problem mit Thorne. Sie hatte ihn nur einmal getroffen, und die Meinung, die sie sich über ihn gebildet hatte, beruhte ausschließlich auf dem, was Holland selbst am Anfang ihrer Arbeitsbeziehung über ihn erzählt hatte. So war der Mann, den Holland vor einem Jahr als »besessen« und »arrogant« beschrieben hatte, in Sophies eigenartiger Vorstellungswelt zu einem verrückten, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Sturkopf geworden, dessen Weigerung, sich an die Vorschriften zu halten, ihn eines Tages nicht nur die eigene Karriere kosten, sondern alle Leute in seinem Umfeld mitreißen würde. Alle, die es nicht besser wussten …

Es war nicht so, dass sie Hollands Job rundweg ablehnte. Sie wollte nur, dass er ihn auf eine ganz bestimmte Weise erledigte. Dass er die Sorte Bulle war, die in Deckung bleibt und befördert wird und die allgemein beliebt ist. Ein Bulle, der nur seine Arbeit macht und nicht mehr.

So wie sein Vater.

Einmal hatte sie durchklingen lassen, dass er, falls er sich für einen anderen Weg entschiede, diesen allein gehen müsse. Er war wütend gewesen wegen dieser Drohung, und das Ultimatum war stillschweigend in Vergessenheit geraten.

Zumindest taten sie beide so.

Bei diesen Streits ging es niemals laut zu. Sie waren beide ziemlich stur und fraßen alles in sich hinein. Es lief eher über Seitenhiebe und bissige Bemerkungen, die schlagartig zunahmen, als der neue Fall begann. Gestern, nach einem hektischen Tag, der mit einer Einsatzbesprechung begonnen hatte, hatte Sophie ihn über den Küchentisch hinweg angelächelt und die Schlacht eröffnet.

»Na, wie vielen Leuten hat der große Tom Thorne denn heute eins vor den Latz geknallt?«

Er war sich nicht sicher, was ihn an der Sache am meisten aufregte. Ihre Sicherheit, dass sie, was seine Karriere betraf, am besten Bescheid wusste? Die mangelnde Unterstützung? Oder die Tatsache, dass sie, was ihre Einschätzung von Thorne betraf, in den meisten Fällen absolut richtig lag?

McEvoy sah von ihrem Monitor auf und fixierte ihn mit ihren strahlenden grünen Augen. Erwischt.

Sie war groß, einen Meter siebzig oder fünfundsiebzig, hatte schulterlange, braune Locken, eine gebrochene Nase und volle Lippen, die schnell und, wie Holland fand, häufig lachten. Im Augenblick, vermutete er, lachte sie aus mindestens drei verschiedenen Gründen.

Die ihm allesamt ein Rätsel waren.

»Ich habe heute etwas äußerst Seltsames gehört.« Ihr Familienname täuschte, sie war eine waschechte Jüdin aus dem Norden Londons, mit einem eher flachen, harten Akzent. Einem sexy Akzent. »Ein böses Gerücht über das Stehaufmännchen …« Dieser Spitzname spielte auf Thornes Figur an, bei der man sich nur schwer vorstellen konnte, ihn zu Fall zu bringen.

Holland zog die Augenbrauen hoch. Noch ein Gerücht? Was Thorne betraf, kannte er die meisten, aber er hatte, wie andere auch, eine Schwäche für eine gute Story oder etwas Klatsch.

»Ich habe gehört, er steht auf Countrymusic. Stimmt das?«

Holland nickte, als gelte es, die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu bestätigen. »Ja, absolut.«

»Mit dem ganzen Yee-ha und Dolly Parton und so weiter? Geht er auch zum Squaredance?«

Holland lachte. »Ganz so simpel ist es nicht. Er hat auch eine Menge Techno und Garage gehört, aber ich denke, das war nur eine Phase.« Er blinzelte langsam, als er an den beinahe hypnotisierenden Krach dachte. Und an den Fall, den man damit wenigstens ein bisschen hatte ausblenden können.

McEvoy wirkte enttäuscht. »Schade. Einen Augenblick lang glaubte ich, er wäre interessant …«

»Ach, er ist … interessant.«

Davon war Holland überzeugt, wenn er denn überhaupt, was Thorne betraf, von etwas überzeugt war. Wenn interessant gleichzusetzen war mit unkalkulierbar und stur. Mit der Weigerung, sich einzugestehen, dass man sich vielleicht irrte. Mit Entschlossenheit und Rachsucht und einem Gespür dafür, was richtig und was falsch war, ohne sich um die bescheuerten Regeln zu scheren. Sowie mit einer Nulltoleranz gegenüber Idioten. Und der Art von Leidenschaft, die unweigerlich dafür sorgte, dass etwas passierte. Eine Leidenschaft, für die Dave Holland, was immer andere von ihm erwarten mochten, getötet hätte, um einen winzigen Funken davon zu besitzen …

Er dachte an seinen Vater. Der mit sechzig Jahren als Polizeisergeant gestorben war. Der immer seine Arbeit gemacht hatte und nicht mehr.

McEvoy zuckte mit den Achseln, und ihre Augen wanderten zurück zum Monitor. Zurück zu dem EDV-Katalog von Leiden und Tod, der innen beiden zu ein paar Antworten verhelfen sollte.

Holland hatte London, relativ betrachtet, für keine so gewalttätige Stadt gehalten und geglaubt, ihre Suche könne nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen.

In beiden Punkten hatte er sich geirrt.

Nach am selben Tag begangenen Morden zu suchen hatte nach einer klaren Aufgabe geklungen, doch Thorne war nicht der Typ für halbe Sachen. Sowohl der Zeitrahmen wie die Suchkriterien wurden ständig erweitert. Anfangs hatten McEvoy und Holland nach Strangulierungen gesucht und von da ausgehend ihren Suchradius erweitert. Überfälle durften sie nicht ausschließen, denn sie könnten vom selben Täter begangen worden sein, der mittlerweile zum Mörder gereift war. Selbst bei Weglassung von häuslichen Streitigkeiten und bandenkriegsähnlichen Überfällen war eine Menge zu tun. Der Zeitaufwand war beträchtlich, wollte man alles gründlich überprüfen und dabei auch weit in die Vergangenheit zurückgehen, um ein Muster zu finden – falls es tatsächlich eines geben sollte.

Holland sah hinauf zur Uhr. Noch zwanzig Minuten, und die Nacht war gelaufen. Er versuchte, sich Thorne mit einem Stetson und Cowboystiefeln vorzustellen, was ihm jedoch nicht richtig gelingen wollte.

Thorne war zu gefährlich, um als Witzfigur herzuhalten.

Johnny Cashs Musik eignete sich wunderbar, um Autopsieberichte zu lesen.

Schließlich hatte dieser Mann ein berühmtes Lied darüber gesungen, jemanden zu erschießen, nur um ihm beim Sterben zuzusehen. Ob das nun bloßes Gerede war oder ein schlimmer Fall von Langeweile, er sang, als ob er eine Menge vom Tod verstünde. Während er die Worte las, die Phil Hendricks gewählt hatte, um Carol Garners Tod zu beschreiben, fragte sich Thorne, wie viel er wirklich wusste. Jetzt sang der Mann mit der Stimme, die klang wie ein langsames Torkeln in Richtung Hölle, über Fleisch und Blut, das nach Fleisch und Blut verlangt. Nicht dass Thorne ihn gebraucht hätte, aber der Beweis lag auf seinem Schoß – der Beweis, dass es Fleisch und Blut manchmal auch danach verlangte, Fleisch und Blut zu zerstören.

Die Leiche des zweiten Opfers, Ruth Murray, war von einem anderen Pathologen untersucht worden. Thorne hatte den ursprünglichen Bericht gesehen, der als Todesursache Strangulation nannte und angab, unter den Fingernägeln des Opfers seien für eine DNS Analyse Gewebeproben entnommen worden. Es war zu früh, sich deshalb große Hoffnungen zu machen. Sicher, es klang viel versprechend, doch er wollte abwarten, was Hendricks dazu sagte, nachdem er eine zweite Autopsie durchgeführt hatte.

Früher hatte Thorne gedacht, erwürgt zu werden sei, was Mord anbetraf, noch eine verhältnismäßig sanfte Option. So entsetzlich, wie mit mehreren Messerstichen niedergestochen oder totgeprügelt zu werden, war es gewiss nicht. Es war mit Sicherheit auch nicht damit zu vergleichen, zu ertrinken oder Bleichmittel zu schlucken.

So hatte er gedacht, bevor er seinen ersten Autopsiebericht über ein Opfer gelesen hatte, das mit bloßen Händen erwürgt worden war. In mancher Hinsicht machte es gerade die Verwendung der bloßen Hände – dieses Fleisch auf Fleisch – zur schlimmsten Methode, jemanden umzubringen. Da war keine Waffe, die das Opfer vom Täter trennte. In den meisten Fällen wurde das Opfer schnell bewusstlos, aber die zugefügten Verletzungen konnten beträchtlich sein. Nicht selten war das Opfer so blutig und von Blutergüssen entstellt, als sei es mit einem Hammer angegriffen worden.

Carol Garner war an Sauerstoffmangel infolge Abdrücken der gehirnversorgenden Arterien gestorben. An ihrer Leiche fand sich so gut wie jedes der klassischen Merkmale einer gewalttätigen Strangulation.

Die Augen waren offen, die Augäpfel traten hervor, die Cornea sowie die Haut wiesen Hämorrhagien auf. Im Nackenbereich fanden sich massive Blutergüsse, von denen einige bis zu drei Zentimeter Durchmesser hatten, und es gab blutige, halbmondförmige Abdrücke von den Fingernägeln des Mörders.

Thorne legte sich die Hände um den Hals. Er schloss die Augen.

War das sein Schokoriegel, Charlie? Gab er ihn dir, um dich zum Schweigen zu bringen? Oder hatte er ihn sich mitgebracht, um ihn langsam zu essen, als er fertig war und Zeit hatte, sein Opfer zu betrachten, während du weintest?

In der Muskulatur sowie an der Schleimhaut des Mundbodens, der Epiglottis und des Rachens fanden sich massive Einblutungen und Aufschürfungen. Die Zunge war beinahe durchgebissen. Der Crycoidknorpel war zertrümmert, der Schildknorpel praktisch nicht mehr erkennbar und das Zungenbein gebrochen. Diese inneren Verletzungen waren der deutlichste Hinweis auf das Ausmaß der Brutalität, die zu Carol Garners Tod führte.

Hast du gesehen, wie es passierte, Charlie? Sperrte er dich aus, oder hast du daneben gestanden und gebrüllt, mit deinen kleinen Fäusten auf seinen Rücken eingeschlagen und zugesehen, wie die Augäpfel deiner Mami aus den Augenhöhlen herausquollen?

Thorne beugte sich nach unten, um nach dem Kaffee zu greifen, den er neben dem Sofa auf den Boden gestellt hatte. Er war eiskalt. Er sah auf die Uhr. Über eine Stunde war er in die Details des Todes vertieft gewesen. Wie immer verstörte Thorne, wie … aufnahmefähig er in dieser Hinsicht war.

Er hatte mal versucht, Krimis zu lesen, jedoch überhaupt keinen Geschmack daran gefunden. Kaum las er ein, zwei Minuten in einem so genannten Thriller, schon schweiften seine Gedanken ab. Doch eine von Fachjargon strotzende Beschreibung malträtierten Fleisches fesselte ihn sofort. Er war sicher, dass daran nichts übermäßig Perverses war. Es entsprach der Wahrheit, dass er noch nie gerne bei einer Autopsie zugesehen hatte.

Die Wahrheit war, dass seine intime Kenntnis wirklicher Mörder und wirklicher Opfer ihn zu einem schwer zufrieden zu stellenden Leser machte.

Thorne hatte genug Schießwütige und blutverkrustete Klingen gesehen und Perverse mit halb verhangenem Blick. Er hatte jede Menge Schläger gesehen und Brandstifter und freundlich lächelnde Giftmischer. Er hatte mehr übel zugerichtete menschliche Körper gesehen, als ihm zustand: einige davon waren tot gewesen, andere, die weitaus schwerer verletzt waren, waren lebendig zurückgelassen worden, auf dass sie sich ihr Leben lang an ihr Martyrium erinnerten.

Er hatte die Löcher in den Menschen und in den Leben der Menschen gesehen.

Thorne nahm die Kaffeetasse und machte sich auf den Weg in die Küche, um sich noch eine Tasse zu kochen, als es an der Tür läutete.

Hendricks stand draußen. Er trug einen bis zum Boden reichenden schwarzen Ledermantel und eine Strickmütze. Er schwang eine blau gestreifte Plastiktüte, die wegen der Unmengen billigen Lagerbiers jeden Augenblick zu platzen drohte. Sein Tonfall war für theatralische Erklärungen denkbar ungeeignet, aber er gab sich größte Mühe. »Trinken wir Bier und reden über den Tod.«

Thorne machte kehrt und ging zurück in die Wohnung. Sie legten beide keinen Wert auf Zeremonielles. »Klingt, als hättest du schon ein klein wenig getrunken Hendricks warf die Wohnungstür ins Schloss und folgte Thorne in die Wohnung. »Ich habe beides getan, Kumpel. Ich war den Großteil des Tages mit Dr. Duggan zusammen …« Er machte die innere Tür hinter sich zu und folgte ihm in das Wohnzimmer.

»Der die erste Autopsie der Ruth Murray durchgeführt hat?«

»Die. Es ist eine Sie. Emma Duggan. Sehr gut und sehr attraktiv. Wenn man auf so was steht.«

Kopfschüttelnd fasste Thorne in die Plastiktüte, die Hendricks inzwischen zärtlich an sich drückte. »Tut mir Leid, Formaldehyd ist nicht mein Ding.«

»Und ich hab die letzten paar Stunden bis zu den Ellbogen in Ruth Murray verbracht, also«, erklärte Hendricks und stellte die Tüte auf dem Sofa ab, »hab ich mir auf dem Weg hierher ein paar genehmigt.«

Während Hendricks den Mantel ablegte, machte Thorne ein Bier auf und griff nach der Fernbedienung für den CD-Spieler. Er ging an den Anfang von Cashs Solitary Man zurück. Die Gitarre setzte ein bei »I won’t back down«.

Thorne setzte sich in den Sessel und Hendricks aufs Sofa. Ein vertrautes und behagliches Arrangement, das, abgesehen von ein paar merkwürdig verlaufenen Wochen im letzten Jahr, mindestens einmal wöchentlich wiederholt wurde, seit Thorne vor fast achtzehn Monaten hier eingezogen war. Er hatte nach seiner Scheidung noch drei Jahre in dem großen Haus in Highbury gewohnt, in dem er sich ganz verloren fühlte, bevor er sich aufraffte und die Wohnung kaufte. Er hatte sich noch immer nicht an sie gewöhnt. Das haferschleimfarbene IKEA-Sofa mochte er inzwischen schon weitaus lieber, nachdem es ein paar Flecken abbekommen hatte, doch obwohl die Wohnung endlich anfing, etwas abgenutzt auszusehen, war sie nicht anheimelnder geworden.

Der für die Flecken Verantwortliche brummte, endlich zu Hause und bereit, über den Tod zu sprechen.

»Also …?«, bemühte sich Thorne, nicht allzu ungeduldig zu klingen.

»Also … interessant.«

Das Telefon klingelte. Thorne seufzte, hievte sich aus dem Sessel hoch und marschierte hinüber zu dem schnurlosen Telefon, das sich am Eingang befand.

»Thorne …«

»Sir, hier ist Holland …«

»Nichts Neues bis jetzt?« Er hörte die Verwirrung aus dem Schweigen am anderen Ende der Leitung heraus. »Machen Sie sich keine Gedanken, Holland, ich erkenne es an Ihrer Stimme, wenn Sie aufgeregt sind. Sie geht dann eine Oktave rauf.«

»Sir …«

»Also überhaupt nichts Neues? Vielleicht sollten wir unsere Suche auch geografisch ausweiten …«

»Zwei wären in Betracht gekommen, aber es gab in beiden Fällen Verhaftungen, und die anderen beiden … zwei Frauen, die im Juli am selben Tag erstochen wurden, ließen sich zeitlich nicht unter einen Hut bringen.«

»Wirklich nicht?«

»Hundert pro. McEvoy hat es überprüft. Kann unmöglich derselbe Täter gewesen sein. Er hätte einen Hubschrauber gebraucht, um sie beide umzubringen.«

»Okay, lasst es für heute … was ihr ohnehin wolltet. Vielleicht läuft’s morgen früh besser. Ich bin sicher, dass das nicht das erste Mal war. Wir finden da was. Außerdem werden Sie morgen früh nicht abgelenkt.«

»Wie bitte?«

»Ich nehme Detective Sergeant McEvoy mit nach Birmingham.«

Holland brauchte ein paar Sekunden, bis er verstanden hatte, was Thorne bewog, nach Birmingham zu fahren und Sarah McEvoy mitzunehmen. Doch dann war er froh, dass er den Part vor dem Computer zugewiesen bekam.

Kaum hatte er aufgelegt, begann Holland sich zu fragen, was Thorne mit »abgelenkt« gemeint haben könnte.

»Erzähl, was interessant war.« Hendricks sah ihn fragend an. Thorne führte aus: »Ruth Murray. Du sagtest: »interessant«.«

Ruth Murray. 32. Verheiratet, Gott sei Dank keine Kinder. Ihre Leiche wurde zuerst gefunden. Eingeklemmt zwischen zwei Abfallcontainern hinter dem Bahnhof von King’s Cross.

Hendricks hatte sich selbst aus Thornes nicht gerade üppig gefülltem Kühlschrank bedient, während dieser mit Holland telefoniert hatte, und er musste mehrmals innehalten, um einen gigantischen Happen hinunterzuschlucken, den er von seinem Käsesandwich abgebissen hatte. »Gleich morgen früh … schreib ich den Bericht …«

»Gleich morgen früh bin ich nicht da.«

»Mittags hast du ihn auf dem Schreibtisch, okay?«

»Nur die wichtigsten Punkte, Phil.«

Hendricks wischte sich den Mund ab, legte schwungvoll die Beine auf das Sofa und wandte sich Thorne zu. Es gab Wichtiges zu berichten. »Okay, als Erstes, mach dir nicht zu viel Hoffnung wegen der Haut unter den Fingernägeln.«

»Weil …?«

»Weil der Großteil davon wahrscheinlich von ihr selbst stammt.« Er erklärte es Thorne, bevor dieser ihn fragen konnte. »Das ist bei Strangulationen üblich. Das Opfer zerkratzt sich den Hals, um sich von dem Seil, der Schnur oder, in diesem Fall, den Händen des Mörders zu befreien.« Während seiner Erklärung fasste Hendricks sich automatisch an den Hals, und Thorne sah ihm dabei zu, wie er an sich herumkratzte. »Sie hatte gute Nägel … hat sich übel zugerichtet. Vielleicht hat sie ihn auch gekratzt, es lohnt sich also nachzusehen.«

»Carol Garner hatte keine guten Nägel?«

Hendricks schüttelte den Kopf. »Böse abgeknabbert Thorne schoss der Gedanke durch den Kopf, ob sie wohl nach dem Unfalltod ihres Mannes angefangen hatte, an den Fingernägeln zu kauen. Als sie, wenn ihr Blick auf ihren kleinen Sohn fiel, seinen Vater vor sich sah. Und sich nie hätte träumen lassen, ihr Sohn sei vor seinem vierten Geburtstag Vollwaise.

»Aber…«

»Was?« Thorne beugte sich weit vor. Hendricks hatte etwas zurückgehalten. Immer dieses Verlangen, eine kleine Show abzuziehen.

»Vielleicht … vielleicht ergibt sich noch eine andere DNS-Quelle. Duggan hat etwas übersehen.«

»Aber du hast doch gesagt …«

»Sie war gut. Ja, sie ist zweifelsohne hervorragend. Aber nicht so hervorragend wie ich.«

Thornes Gereiztheit brach sich Bahn »Verdammte Scheiße, Phil, kannst du die Quincy-Nummer nicht lassen?«

»Na gut … es ist so, sobald klar war, das kein Sex im Spiel war, hielt Duggan es nicht für nötig, nach Körpersekreten zu suchen. Sprach ja auch nichts dagegen, die Leiche war vollständig bekleidet, ebenso wie Carol Garner. Aber ich hatte das bei meiner Autopsie an ihr überprüft, also machte ich es hier genauso …«

Thorne hielt den Atem an. Er spürte, wie sich die Aufregung aufbaute. Es begann stets an derselben Stelle, am Scheitelpunkt. Ein Schwirren, ein Kitzeln, ein langsames Pochen, spannungsvolle Erwartung und gleichzeitig Abscheu. Er hasste es, wenn es mit Sex zu tun hatte. Das erhöhte zwar leicht die Chancen auf Erfolg, aber er hasste es dennoch.

Hendricks war nicht weniger erregt. »Mit Luminol und UV kam der Durchbruch. Winzige Flecken auf ihrem Gesicht und den Armen. Ich brauchte ewig, bis ich dahinter kam, um was es sich dabei handelte, besser gesagt, um was es sich alles nicht handelte … »

Thorne nickte, das war eine gute Nachricht. Wenn sie ihn fassten, war die Verurteilung damit so gut wie sicher. Dennoch schlug ihm die Nachricht auf den Magen. Es war kein Trost, dass der Mörder es wohl erst nach Ruth Murrays Tod getan hatte. Es machte es eher noch schlimmer.

»Also achtundvierzig Stunden?«

Hendricks hob die Hand. »Yeah, hoffentlich. Es ist wirklich nur eine absolut winzige Menge von dem Zeug und, um ehrlich zu sein, ich bin nicht mal sicher, ob wir überhaupt etwas damit anfangen können. Möglicherweise findet sich darin etwas Zellgewebe, aber ich habe noch von keinem Fall gehört, wo das gemacht wurde.«

Thorne erhob sich. »Einen Moment, Phil, ich komm da nicht mit … reden wir nicht von Sperma?«

Hendricks schüttelte den Kopf. »Tränen, Kumpel. Getrocknete Tränen.«

Thorne fiel tatsächlich leicht die Kinnlade nach unten. Hendricks angelte sich, als wäre nichts geschehen, eine weitere Dose Bier. »Der Dreckskerl hat sich keinen runtergeholt, als er sie umbrachte, Tom. Er hat geweint.«

1983

Nicklin ging zurück zu den Gleisen. Seine Rechte hing merkwürdig nach unten, umklammerte seinen feuchtklebrigen Schatz. In der anderen Hand hielt er den Rest eines Schokoriegels. Er schob ihn in den Mund, warf das Papier auf den Boden und machte kehrt. Er war an die sieben Meter weg, gerade richtig, um loszurennen. Doch Palmer hatte den Schläger auf den Boden gelegt.

Nicklins Gesicht rötete sich. Er hatte wirklich Lust, zurückzugehen und Palmer eins über den Schädel zu ziehen, doch er blieb ruhig. »Komm schon, Mart, heb den Schläger auf. Das wird phantastisch.«

Der größere Junge schüttelte den Kopf, schielte hinüber zu Nicklin und hob die Hand, um die Augen vor der Sonne zu schützen. »Ich mag nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich einfach nicht mag.« Sie starrten einander eine Weile an. »Warum kann ich nicht werfen? Du schlägst viel besser als ich.

»Du kannst das nächste Mal werfen.«

Palmer wirkte etwas blass um die Nase. »Machen wir es noch mal? Aber wie …?«

Nicklin lachte. »Hier gibt es eine Unmenge davon. Jetzt hör auf, dich anzupissen, Martin. Heb den Schläger auf.«

Palmer sagte kein Wort, dachte nur an die verbleibenden zwei Wochen Ferien.

Die Gleise begannen zu summen; ein Zug kam. Sie sahen zu, wie er vorbeirumpelte, eine demolierte alte Lok, die ein paar verrostete Waggons zog. Dreißig Sekunden später war nichts mehr zu hören als ein leises Zischen in der Ferne und das Zirpen einer Heuschrecke irgendwo in der Nähe.

Palmer blickte auf. Er sah die blauen und rosa Tupfer der Kornblumen und des Fingerhuts in dem Grün am Bahndamm auf der anderen Seite des Gleises. Er sah die Tannenwedel und das Immergrün neben Nicklins Füßen. Er sah Nicklin, der ihn mit diesem Blick anschaute, bei dem seine Handflächen klatschnass wurden, er Kopfweh bekam und seine Blase sich zu füllen begann.

Dennoch wollte er das nicht tun.

Es lief immer auf so etwas hinaus. Nicklin suchte ihn, und dann verbrachten sie eine halbe Stunde unten bei der Bahn damit, mit Steinen auf Flaschen zu werfen oder über Fußball zu reden, bis Nicklin dieses Lächeln aufsetzte und das Spiel sich änderte. Dann steckten sie Hundescheiße in Briefkästen oder schmissen Eier auf Busse oder taten … das hier.

Palmer hörte im hohen Gras hinter sich ein Rascheln. Er wollte sich umdrehen, um nachzusehen, aber Nicklin hielt seinen Blick fest. Plötzlich sah Nicklin richtig traurig aus; er schien kurz vor einem Tränenausbruch zu stehen

Palmer rief ihm zu: »Es ist doch nicht wirklich wichtig, oder? Wir können was anderes machen … »

Nicklin nickte und ballte seine Faust heftiger um ihren Inhalt. »Das ist mir schon klar. Ich dachte nur … du wärst mein Kumpel, das ist alles. Wenn dir nichts an unserer Freundschaft liegt, brauchst du es nur zu sagen, und ich verschwinde. Sag’s einfach …«

Palmer wurde schwindlig. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Er ertrug es nicht, dass Nicklin so zumute war. Nicklin war sein bester Freund. Es wäre ihm weitaus lieber gewesen, wenn er wütend auf ihn wäre, als dass er sich im Stich gelassen fühlte. Er spürte, wie er sich nach dem Cricketschläger bückte. Ein Hochgefühl durchströmte ihn, als er aufblickte und sah, wie Nicklin ihn anstrahlte.

»Genau, Martin. Ich wusste, du machst es. Bist du bereit?«

Palmer nickte langsam und Nicklin rannte auf ihn zu. Voll konzentriert, die Zunge zwischen den Zähnen.

Der Frosch streckte die Arme und Beine aus, als Nicklin ihn losließ, und eine Sekunde sah es so aus, als flöge er. Kaum hatte er die Hand geöffnet, begann Nicklin zu johlen.

»Jetzt, Martin … jetzt.«

Palmer schloss die Augen und schwang den Schläger.

Es war ein nasses Geräusch. Dumpf und matschig. Ein leichtes Vibrieren im Arm.

Nicklin entging nichts. Mit aufgerissenen Augen und laut brüllend sah er zu, löste die Augen nicht von dem herrlichen Anblick des spritzenden Bluts und der durch die Luft fliegenden grünen Eingeweide, die anmutig in den Brennnesseln auf der anderen Seite der Gleise landeten.

Er wirbelte herum, die schwarzen Augen voller Vorfreude auf den angewiderten Ausdruck auf Palmers pickligem Gesicht: als habe er sich in die Hose gemacht. Den Ausdruck, den er danach immer sah. Er erstarrte, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, sie hatten etwas anderes im Blick, etwas hoch hinter Palmer.

Palmer ließ den Schläger fallen und wandte sich ab, ohne den Fleck darauf anzusehen, um wieder auf den Bahndamm zu klettern. Er blieb wie angewurzelt stehen. Neben dem Loch in dem Drahtzaun stand in dem hohen Gras, das ihm bis zu den Knien reichte, ein Mädchen mit langen blonden Haaren. Es schien in seinem Alter zu sein, vielleicht auch ein bisschen älter. In seinem ganzen Leben hatte Palmer noch niemanden gesehen, der so schön war. Das Mädchen steckte zwei Finger in den Mund und pfiff.

Dann fing es an zu applaudieren und grinste wie blöd übers ganze Gesicht.

Drittes Kapitel

Sowohl Thorne als auch McEvoy fühlten sich entschieden unwohl in ihrer Haut, als sie durch die Bahnhofshalle der Euston Station gingen. Keiner gestand dies dem anderen ein, was sie später bedauerten. Beide litten, als sie sich Magazine und Zeitungen kauften und noch schnell einen Tee tranken, unter der Vorstellung, die Augen des Mörders würden auf ihnen ruhen.