Boca do Inferno - Fernando Pessoa - E-Book

Boca do Inferno E-Book

Fernando Pessoa

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Beschreibung

September 1930. In Lissabon treffen sich zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Der für sein kapriziöses Leben berüchtigte englische Okkultist, Magier, Visionär und Dichter Aleister Crowley, und der Dichter Fernando Pessoa. Die hitzige Freundschaft endet mit dem plötzlichen Verschwinden Crowleys. Ein mysteriöser Abschiedsbrief taucht auf, der die Vermutung schürt, Crowley könne sich in Cascais bei der Boca do Inferno umgebracht haben. Ein Leichnam wird nicht gefunden, die Polizei schaltet sich ein und das Ereignis wird in der internationalen Presse verhandelt. Selbstmord, Mord – oder eine der Possen Crowleys? Steffen Dix wird die Geschichte zum ersten Mal in Dokumenten mit erzählenden Überleitungen darstellen und viele Rätsel lösen, die ins Innerste von Pessoas Werk führen.

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Seitenzahl: 502

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Fernando Pessoa

Boca do Inferno

Aleister Crowleys Verschwinden in Portugal

Herausgegeben von Steffen Dix

Aus dem Portugiesischen von Steffen Dix

Fischer e-books

Aus dem Englischen und Portugiesischen übersetzt, eingerichtet und kommentiert von Steffen Dix.

Boca Do Inferno

Zur Gestaltung des Textes

 

 

[…] Hinzufügung des Herausgebers

 

(…) Leerstelle im Original oder unleserliche Worte

Zu diesem Band

Das hier vorliegende Buch beinhaltet zwei Teile. Der erste Teil versucht anhand eines Briefwechsels nachzuvollziehen, wie es im September 1930 zu einem sehr merkwürdigen Treffen zwischen Fernando Pessoa und Aleister Crowley kam, was in jenen spätsommerlichen Wochen, die der englische Magier in Begleitung einer jungen Geliebten in Portugal verbrachte, genau geschah, und was sich in den darauffolgenden Monaten als Konsequenz dieser Zusammenkunft noch alles ergab. Genauer gesagt umfasst dieser Teil den Zeitraum vom November 1929 bis März 1932. Viele Dinge, die sich in dieser Zeit zutrugen, bewegen sich auch heute noch im dunklen Bereich des Fraglichen, in der Grauzone des Unklaren. Belegbar ist im Grunde nur, dass Aleister Crowley am 23. September unter rätselhaften Umständen in Portugal von der Bildfläche verschwand, vermeintlich an einem außerhalb von Lissabon am Atlantik gelegenen Ort, der als imposantes Naturspektakel bekannt ist und den man »Boca do Inferno« – also Höllenschlund – nennt. Crowleys geheimnisvolles Verschwinden erregte sowohl die Aufmerksamkeit der Polizei als auch der europäischen Presse, und unter der Schlagzeile »Das Mysterium vom Höllenschlund« wurde es recht schnell zu einem internationalen Fall. Da Fernando Pessoa die einzige Person war, mit der Aleister Crowley während seines Aufenthalts in Portugal näheren Kontakt hatte, sah er sich nach dem 23. September nicht nur in die Untersuchungen der portugiesischen Ermittler involviert, sondern hatte auch besorgte Fragen zu beantworten, die ihn aus Berlin, London und Paris erreichten. War es wirklich Selbstmord? Oder eventuell nur eine groteske Posse? Oder handelte es sich möglicherweise sogar um einen Mord? Die Monate nach Crowleys Verschwinden entwickelten sich zu einer ungewöhnlich turbulenten Phase in dem sonst eher sehr zurückgezogenen Leben des Lissabonner Dichters. Die gesamte Angelegenheit kam erst im März 1932 unwiderruflich zu ihrem Ende, als Pessoa einen obskuren Brief erhielt, der mit dem Signum 666 unterzeichnet war und der somit von Crowley stammen musste.

Darüber hinaus wurden im Nachlass Pessoas einige Fragmente gefunden, bei denen es sich offenbar um den Ermittlungsbericht eines englischen Privatdetektivs handelt und die ihm in irgendeiner Weise zugespielt wurden. Aus nicht genannten Gründen und im Namen anonymer Auftraggeber versuchte dieser Detektiv in Lissabon, dem Verschwinden Crowleys auf die Spur zu kommen. Einen Teil seiner Aufzeichnungen brachte er später im katalanischen Barcelona zu Papier und spielte ursprünglich mit dem Gedanken, die gesamte Ermittlung zu publizieren. Zu dieser Veröffentlichung ist es jedoch nie gekommen, da der Autor im Laufe der Zeit allem Anschein nach das Interesse an den Texten verloren hatte und sich somit auch nicht mehr die Mühe machte, sie richtig zusammenzustellen. Sie liegen heute nur noch in einer relativ chaotischen Anordnung vor, sie sollen nun aber, über achtzig Jahre nach dem rätselhaften Ereignis am Höllenschlund, veröffentlicht werden, da sie eventuell einige bisher unbekannte Einzelheiten zu Crowleys Verschwinden ans Tageslicht bringen können. Es wurde daher versucht, diese Dokumente weitestgehend vollständig, in einer ungefähr chronologischen Abfolge und auf Lesbarkeit bedacht anzuordnen. Dies ist Gegenstand im zweiten Teil des vorliegenden Buches.

Teil I

Präludium

Die letzten Augusttage des Jahres 1930 schleppten sich träge dahin, und über großen Teilen Westeuropas schwebte eine bleierne Hitzewelle. Im sonst eher gemäßigten London wurden die Thermometer schon seit 1911 nicht mehr derartig strapaziert, und die andauernden Temperaturen von über 35 Grad Celsius machten nicht nur einfachste Bemühungen unerträglich, sie hatten auch schon über ein Dutzend Menschen elendig dahingerafft. In Lissabon war es ganz ähnlich, vom nahe gelegenen Atlantik kam keine einzige frische Brise, die Möwen über dem Tejo schienen selbst am Abend noch im Leerlauf zu fliegen, und nicht einmal die Nachtstunden konnten etwas lindernde Abkühlung verschaffen. Der wetterbedingte Stillstand hatte mittlerweile auch die Zeitungen der portugiesischen Hauptstadt ergriffen, sie welkten in medialer Langeweile vor sich hin und konnten ihren erschlafften Lesern keine einzige Neuigkeit bieten, die irgendwie nervenaufreibend gewesen wäre oder das allseitige Phlegma erfrischend durchbrochen hätte. Es gab keine einzige Nachricht, die in der Hitzebetäubung dieser Tage für ein mentales Erwachen hätte sorgen können, sieht man einmal von einem Militärputsch im weit entfernten peruanischen Lima ab oder vom bedauernswerten Albano de Jesus, der von den fassungslosen Lissabonnern schon bald der Affenmann genannt wurde und der das Stadtzentrum vom Rato bis zum Rossio mit formidablen Sprüngen, grotesken Schreien und viehischen Gebärden für einen kurzen Nachmittag lang in Atem hielt. Obwohl sich die Hitze inzwischen etwas verflüchtigt hatte, war auch der September, folgen wir weiter den Lissabonner Tageszeitungen, kein sehr ertragreicher Monat. An Nennenswertem konnte er nur mit einem weiteren südamerikanischen Militärputsch aufwarten, diesmal in Buenos Aires, oder mit dem Direktflug von Paris nach New York durch die Franzosen Dieudonné Costes und Maurice Bellonte in der damals spektakulären Zeit von siebenunddreißig Stunden und achtzehn Minuten. Mitte des Monats vermeldeten die Zeitungen einen ansehnlichen Stimmengewinn der Nationalsozialisten im deutschen Reichstag und vermerkten, ein besonders in bayrischen Brauhäusern geschätzter Volksredner hätte sich nun endgültig zu einem entscheidenden Machtfaktor in Deutschland herausputzen können, was an den fernen Ufern des Atlantiks allerdings noch keine wesentliche Beunruhigung hervorrief. Die Angelegenheit wurde vorerst ignoriert, und man störte sich noch nicht daran. Ansonsten hatte der portugiesische Spätsommer des Jahres 1930 nichts anderes zu bieten als die übliche Kleinkriminalität, religiöse Prozessionen, einige Volksfeste in der Provinz, populäre Stierkämpfe mit den spanischen Matadoren Felix Rodriguez, Pepe Iglesias und Alberto Banderas in der Arena des Campo Pequeno, und letztlich noch einen internationalen Anthropologenkongress in der altehrwürdigen Universitätsstadt Coimbra.

Der September des Jahres 1930 hätte also auch für Fernando Pessoa eine Zeit ohne Hast und Exzesse werden können, ein verträglicher Monat mit zurückgezogenen Stunden für poetische Stilexperimente und ausgedehnte Streifzüge in komplizierte Sternenkonstellationen, für eingekehrte Pilgerschaften durch historische Weltbetrachtungen und betriebsame Nachforschungen in den undurchschaubaren Irrgärten der menschlichen Seele. Zeitlebens waren dies seine Lieblingsbeschäftigungen, und er brachte sie in einigen dunklen Büroräumen der Lissabonner Unterstadt oder vorwiegend in seinem Stammcafé Martinho da Arcada zu Papier. Dieses Café liegt direkt an der sonnigen Praça do Comércio, die auch unter dem Namen Terreiro do Paço bekannt ist und die mit 36000 Quadratmetern zu den geräumigsten innerstädtischen Freiflächen Europas zählt. In den glorreichen Tagen Portugals ankerten vor diesem weitläufigen, von Arkaden umgebenen Platz die legendären Karavellen, mit Vorliebe verbrannte die Inquisition hier bis ins späte Mittelalter zur Verteidigung des römisch-katholischen Glaubens allerlei Figuren, die sich der Häresie, Blasphemie, Magie oder Hexerei schuldig gemacht hatten, und in jüngerer Zeit war er die willkommene Bühne für heimtückische Königsmorde oder für die eine oder andere Revolution. Nach rechts abbiegend und immer direkt am Fluss entlang, erreichen wir nach einem bequemen Fußmarsch von ungefähr dreißig Minuten den Bahnhof am Cais do Sodré, von wo aus die Züge in die exklusiven Badeorte Estoril und Cascais abfahren. Gleich neben dem Cais do Sodré liegt der Platz Duque da Terceira mit seiner Ansammlung eleganter Cafés, Tabakläden und Reiseagenturen. Unmittelbar hinter dem Café Martinho da Arcada beginnt das vornehme Stadtviertel der Baixa, die nach dem verheerenden Erdbeben am Allerheiligentag des Jahres 1755 im Auftrag des aufklärerischen Marquês de Pombal in der Form eines römischen Heerlagers errichtet wurde und die durch das nun rechteckig angeordnete Straßennetz zum funktionellen Handelszentrum der Stadt avancierte. An die Baixa schließt sich der Rossio an, ein bei Einheimischen und Besuchern ebenso beliebter Platz mit einigen gern besuchten Cafés und Buchhandlungen. An seiner nördlichen Stirnseite sehen wir das Nationaltheater Dona Maria II., das auf Betreiben des Romantikers Almeida Garrett errichtet wurde, und kurz dahinter, auf der linken Seite gelegen, einen heute viel frequentierten Kopfbahnhof, der im neo-manuelinischen Stil erbaut wurde. Er wurde 1890 eingeweiht, und man nannte ihn, eventuell aus Sparsamkeit an Worten, kurzerhand auch Rossio. Reisende betreten ihn durch zwei große Hufeisentore und erreichen ohne große Mühen die obere Plattform, von der aus die Züge durch einige Vororte fahren und schließlich in der Sommerfrische von Sintra ankommen.

Dies war die überschaubare Welt Fernando Pessoas, in der seit Vasco da Gamas Entdeckung des Seewegs nach Indien nichts mehr passierte, die in der sommerlichen Mittagszeit mitunter einen fast kleinstädtischen Eindruck macht und die wir an einem kurzen Vormittag vollständig ablaufen können. Die jahrhundertalte, provinzielle Apathie dieser Welt war für Pessoa jedoch nicht hinderlich, sie inspirierte ihn vielmehr, und er fand hier alles, was das herkömmliche Universum und die von ihm umschlossene menschliche Existenz zu bieten hat. Hier verwandelte er seine fortdauernde Verblüffung über die unerklärliche Wirklichkeit der Dinge in ein polyphones Zettelwerk. Räumliche Einengung, historische Gleichgültigkeit und Reiseabstinenz wirkten bei ihm, und das ist keineswegs paradox, als ein mächtiger Antrieb für essentielle Weltoffenheit. Sicher wäre er auch in jenem Spätsommer 1930 weiter gleichförmig seinem alltäglichen Broterwerb nachgegangen und hätte wie üblich in mehreren Handelshäusern der Baixa die Fremdsprachenkorrespondenz erledigt, er hätte wahrscheinlich weiter im Namen des kurzsichtigen Hilfsbuchhalters Bernardo Soares an einer faktenlosen Biographie geschrieben, wenn nicht am 28. August, einem Donnerstag, bei der Eastern Telegraph Company ein Telegramm eingegangen wäre, mit dem sich eine Figur in Lissabon ankündigte, der zur damaligen Zeit der illustre Ruf vorauseilte, eine der übelsten Gestalten auf Erdenrund zu sein. In besagtem Telegramm hieß es schlicht und einfach: »CROWLEY KOMMT MIT DER ALCANTARA BITTE TREFFEN«.

Aleister Crowley, der 1875 im zur englischen Grafschaft Warwickshire gehörenden Kurort Leamington Spa unter dem Namen Edward Alexander Crowley das Licht der Welt erblickte, wird in der heutigen europäischen Kulturgeschichte eher als eine etwas zwielichtige Figur angesehen. Er brachte es jedoch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Berühmtheit und stand, was seine Persönlichkeit betrifft, zum introvertierten Fremdsprachenkorrespondenten Fernando Pessoa in einem Gegensatz, der kaum hätte größer sein können. Man kannte Crowley als hinreichend begabten, aber exzentrischen Dichter und Schriftsteller, als hervorragenden Schachspieler und beachtlichen Alpinisten ebenso, wie er durch seine Mitgliedschaft in den verschiedensten Geheimorden, seine sexuelle Magie mit Partnern beiderlei Geschlechts und seinen respektablen Drogenkonsum berüchtigt war. Als Erbe eines reichen und den freikirchlichen Plymouth Brethren angehörigen Brauereiunternehmers kam Crowley früh zu einem beachtlichen Vermögen, das es ihm ermöglichte, in Cambridge und London das Leben eines mit Opium, Kokain und Morphium experimentierenden Dandys zu führen, ausgedehnte und teure Weltreisen zu unternehmen, oder an den verschiedensten Orten Europas seinen recht eigentümlichen Vorlieben nachzugehen. Im November des Jahres 1898 wurde er durch Samuel Liddell MacGregor Mathers in der Mark Masons Hall in London unter dem magischen Namen Frater Perdurabo in den Hermetic Order of the Golden Dawn eingeweiht, zu dem unter anderem auch Bram Stoker oder der Nobelpreisträger William Butler Yeats gehörten. In späteren Jahren wurde er nach seinem nicht ganz konfliktlosen Austritt aus dem Golden Dawn Mitglied des Ordo Templi Orientis und gründete um 1907 – andere Quellen sprechen von 1904 – den magischen Orden AA, der ganz auf seine eigene Autorität zugeschnitten war, und in dem Wissenschaft als Methode, Religion aber als das Ziel galten. Seine ersten bergsteigerischen Erfahrungen sammelte er am Eigerjoch in der Schweiz, im Jahre 1900, dann am Iztaccihuatl oder Popocatepetl in Mexiko. Der Rückweg von dieser Expedition führte ihn über Hawaii, Japan und Hongkong nach Ceylon und Indien, wo er ausreichend Zeit fand, sich in die tieferen Geheimnisse des Raja Yoga einzuweihen und hinduistische Praktiken zu studieren.

Im Jahre 1902 gehörte er schließlich zur ersten Gruppe Europäer, die sich an der Erstbesteigung des K2 im Karakorum versuchten, wobei das Unternehmen aber auf einer Höhe von ungefähr 6500 Metern scheiterte, da man sich im Voraus nicht auf die günstigste Route einigen konnte. Im darauffolgenden Jahr heiratete er Rose Edith Kelly, die Schwester des damals im englischen Königshaus geschätzten Porträtmalers Gerald Kelly, und begab sich mit ihr im Frühjahr 1904 über Paris und Marseille auf eine Hochzeitsreise nach Kairo, wo ihm seine junge Ehefrau offenbarte, wer er eigentlich sei, und zwar nichts Geringeres als das Große Tier aus der Johannes-Apokalypse. Er begriff sich fortan als Το Μεγα Θηρίον und unterschrieb bis zu seinem Tod mit dieser Bezeichnung in griechischen Lettern häufig seine Korrespondenz. Bei einem Besuch im ehemaligen Bulaq-Museum, dem heutigen ägyptischen Nationalmuseum, machte Rose ihn auf die Stele des Ankh-ef-en-Khonsu aufmerksam, die damals unter der Katalognummer 666 erfasst war und durch die er sich, ebenso wie durch eine Invokation des Gottes Horus und das Diktat eines Geisteswesens namens Aiwass, der Legende nach an drei Apriltagen desselben Jahres zur denkwürdigen Niederschrift des Liber Al vel Legis inspirieren ließ. Dieses Buch der Gesetze wurde später im Jahre 1909 als die Offenbarungsschrift seiner Thelema-Religion publiziert.

Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt auf seinem schottischen, am Loch Ness gelegenen Landgut Boleskine begab sich Crowley erneut nach Asien, diesmal zunächst in den Himalaya, wo er mit einem Expeditionsteam versuchte, den Kangchenjunga zu besteigen, was für einige Mitglieder der Gruppe tödlich endete. Später begab er sich über Indien nach China zum Studium magischer Rituale und glaubte von nun an, mit dem heiligen Schutzengel in Verbindung treten zu können. Seine bis dahin schon recht ausfüllende Beschäftigung mit okkultistischen Praktiken und sexueller Magie, die Gründung von Geheimorden, sein turbulentes Privatleben und die Publikation verschiedenster heiliger Bücher seiner Thelema-Religion beanspruchte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges den größten Teil seiner Zeit.

Im Jahre 1908 publizierte William Somerset Maugham den Roman The Magician, und seine Hauptfigur Oliver Haddo ist eine Karikatur Crowleys, den der englische Schriftsteller und Arzt einige Jahre zuvor im bekannten Pariser Künstlerlokal Le Chat Blanc in der Rue d’Odessa, ganz in der Nähe des Gare Montparnasse, durch Vermittlung von Gerald Kelly kennengelernt hatte. Maugham konnte Crowley zwar nie sonderlich ausstehen, fühlte sich aber doch in gewisser Weise von der ungewöhnlichen Persönlichkeit und dem durchdringenden Blick des Magiers angezogen.

Nachdem seine Ehefrau Rose immer mehr dem Alkohol verfiel, ließ sich Crowley im Jahre 1909 von ihr scheiden und umgab sich in den folgenden Jahren immer häufiger und abwechslungsreicher mit den verschiedensten Scarlet Women, mit denen er anstellig seine sexuelle Magie betrieb, die dazu dienen sollte, die eigene Wirklichkeit in Erfüllung verschiedenster Zwecke zu transzendieren. Im gewissen Sinne handelte es sich dabei um eine liebestolle Betriebsamkeit, die bei entsprechender Ausdauer und Regelmäßigkeit Erfolg, Gesundheit und Geld herbeizaubern sollte. Wie auch Rose Kelly erlitten viele dieser Frauen ein recht bedauerliches Schicksal und endeten in Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Wahnsinn oder Selbstmord.

Die Zeit des Ersten Weltkrieges verbrachte Crowley in New York, und es wird vermutet, er wäre dort bei gleichzeitiger prodeutscher Propaganda und Werbung für die irische Unabhängigkeit als ein Spion des britischen Geheimdienstes tätig gewesen.

Nach dem Krieg ging er wieder zurück nach Europa und ließ sich einige Zeit später an der Nordküste Siziliens nieder, oder genauer in dem in einer idyllischen Bucht gelegenen Fischerörtchen Cefalú, ungefähr auf halbem Weg zwischen Messina und Palermo. Etwa zwei Kilometer oberhalb des aus normannischer Zeit stammenden Domes San Salvatore gründete Crowley im April des Jahres 1920 seine von Palmen umsäumte, sonst aber relativ schlichte und heute völlig zerfallene Abtei Thelema. Von einer anmutigen Mittelmeerlandschaft umgeben, betrieb er hier mehr als drei Jahre lang okkultistische Praktiken, sexuelle Magie und uneingeschränkten Drogenkonsum, was von der selbstbewussten Erwartung getragen wurde, dem Christentum ein möglichst baldiges und unwiderrufliches Ende zu bereiten, um danach freudig ein neues paganes Äon einläuten zu können. Obgleich die italienischen Behörden schon seit längerer Zeit ein misstrauisches Auge auf das Treiben Crowleys und seiner meist weiblichen Anhänger geworfen hatten, kam es erst im Jahre 1923 zu einem offenen Konflikt, ausgelöst durch den bis heute nicht völlig geklärten Tod des jungen Raoul Loveday, der angeblich sein tragisches Ende durch das Trinken des Blutes einer geopferten Katze gefunden haben soll. Erledigt wurde die Angelegenheit durch die Ausweisung Crowleys, die von einem ehemaligen sozialistischen Funktionär unterzeichnet wurde, der schon damals eine Vorliebe für prächtige Uniformen hatte und sich wenige Jahre später mit dem Beinamen Il Duce schmücken sollte.

Sein einst staatliches Vermögen hatte Crowley in den Jahren des unentwegten Reisens nahezu völlig verbraucht und musste 1934 Bankrott anmelden, nachdem er sich gerichtlich wirkungslos gegen das von Nina Hamnett geschriebene und überaus erfolgreiche Buch Laughing Torso zur Wehr zu setzen versucht hatte. Die als Queen of Bohemia berühmte und mit Henri Gaudier-Brzeska, Amedeo Modigliani, Pablo Picasso, Ezra Pound, Serge Diaghilev und Jean Cocteau bekannte Künstlerin bezichtigte ihn darin der schwarzen Magie.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Crowley überwiegend im englischen Netherwood, wo er am ersten Dezembertag des Jahres 1947 im Alter von zweiundsiebzig Jahren verstarb. Folgt man einer nicht belegten Aussage der Künstlerin Lady Frieda Harris, mit der Crowley in seinen letzten Lebensjahren das derzeit noch sehr beliebte Thoth Tarot entwarf, so beendete er sein irdischen Dasein mit den schlichten Worten »Ich bin verblüfft«.

Es sollte wohl keinen Zweifel daran geben, dass der eigenwillige Ruf dieses Mannes auch Fernando Pessoa, der das europäische kulturelle Leben jenseits seiner eigenen provinziellen Landesgrenzen sehr aufmerksam verfolgte, bekannt war. Was brachte Crowley, der keine Gelegenheit ausließ, um beherzt den lärmenden Jahrmarkt um seine eigene Figur zu fördern, nun aber dazu, einen stillen und völlig unbekannten Lissabonner Büroangestellten zu besuchen, der zwar einen Teil seiner Jugend im südafrikanischen Durban – in einer Zeit, in der auch Mahatma Gandhi als junger Rechtsanwalt und Winston Churchill als Berichterstatter der Morning Post im zweiten Burenkrieg in der Metropole am Indischen Ozean lebten – verbrachte, später aber kaum mehr das leicht erfassbare Zentrum Lissabons verließ, und der noch viel weniger eine dem Lebensstil des englischen Magiers nur ansatzweise nahekommende Exzentrik pflegte?

Obgleich ihm an jenem 28. August 1930 sehr wahrscheinlich nicht unbedingt der Sinn danach stand, gab es für Pessoa nach der telegraphischen Meldung keine andere Möglichkeit mehr, als diese in der öffentlichen Meinung als bête noire bekannte Persönlichkeit zu empfangen. Ihm wurde allerdings noch ein kleiner Aufschub gewährt, da sich durch die latente Hitze der letzten Augusttage in Bodennähe feuchte Luftschichten angestaut hatten, die vielerorts heftige Sommergewitter oder noch häufiger einen dichten Nebel auslösten. Nachdem sie vor dem galizischen Vigo von hartnäckigen Dunstschwaden aufgehalten wurde, erreichte die für den Passagier- und Postverkehr nach Südamerika eingesetzte und von Southampton ausgelaufene Alcantara erst am 2. September 1930 den Hafen Lissabons. Pflichtbewusst stand Pessoa am Nachmittag der verzögerten Ankunft an der Anlegestelle und begrüßte den damals fünfundfünfzig Jahre alten Crowley, der diese Reise allerdings nicht allein angetreten hatte, sondern in Begleitung der fast sechsunddreißig Jahre jüngeren Hanni Larissa Jaeger, einer hübschen deutschen Künstlerin, die damals wohl seine Scarlet Woman war und bei den üblichen sexuellen Magieritualen ihren jugendlichen Körper zur Verfügung stellte. Crowley machte einen zufriedenen Eindruck, er hatte London endlich hinter sich gelassen, samt der unerträglichen Hitze der letzten Augusttage und der privaten Unannehmlichkeiten, die ihn bis dahin verfolgt hatten.

Das Paar quartierte sich zunächst in dem an der Praça Luís de Camões gelegenen Grand Hotel de l’Europe ein und verbrachte den Rest des Tages bei einem Spaziergang durch die verschlafene Stadt, den Crowley in seinem Tagebuch lakonisch mit den Worten kommentierte, Gott habe eines Tages versucht, Lissabon mit einem Erdbeben aufzuwecken, dies aber als sinnlose Anstrengung rasch wieder aufgegeben. Vermutlich erregten beide auf ihrem Streifzug bei der katholisch-konservativen Bevölkerung ein ähnlich entsetztes Erschrecken wie nur einige Jahre später die von jenseits der Pyrenäen kommenden Flüchtlingsfrauen, die in kurzen Röcken und Zigaretten rauchend auf dem Rossio die Terrasse der Pastelaria Suiça bevölkerten und auf eine Fluchtmöglichkeit in die USA warteten. Portugal war in jener Zeit gerade dabei, sich von einem zurückgebliebenen Agrarstaat in eine klerikal-faschistoide Diktatur zu wandeln, und insofern muss es zwischen der rustikal-biederen Bevölkerung und dem mondänen Paar aus Europa eine Art Wechselverhältnis gegeben haben. Sie sahen sich wohl gegenseitig als exotisch an. Der Aufenthalt im Hotel de l’Europe dauerte nicht lange, Crowley schien an Lissabon nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein und entschied sich daher umgehend, ein paar erholsame Tage an der nahe gelegenen, wesentlich eleganteren Küstenregion zwischen Estoril und Cascais zu verbringen. Er erwartete von den kommenden Tagen nichts anderes, als sich am Strand unter südlicher Sonne zu erholen, geruhsam seiner Malerleidenschaft nachzugehen, mit der graziösen Hanni Jaeger Sexualmagie in allen ihren anatomischen Möglichkeiten zu betreiben, und dann und wann behaglich eine Partie Schach zu spielen. Zu all dem kam er auch, nur endete sein Auftritt in Portugal nicht nur mit spätsommerlicher Strandbräune, sondern auch mit einem bizarren Kriminalfall, der sorgfältig von der Polizei und vermeintlich von einem englischen Privatdetektiv untersucht wurde, der in ganz Europa für Schlagzeilen sorgte und in dem sonst recht beschaulichen Leben Pessoas einige Turbulenzen verursachte. Bevor wir uns aber diesem sonderbaren Ereignis, das wir in Anlehnung an Pessoa das »Mysterium vom Höllenschlund« nennen wollen, in allen Einzelheiten zuwenden, sollten wir zunächst um ein Jahr zurückgehen, um zu verstehen, wie es zu diesem unwahrscheinlichen Rendezvous zwischen zwei so völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten kommen konnte.

Anfang des Jahres 1929 gründeten Edward Goldston und der Australier Percy Reginald Stephensen, auch Inky genannt, in London den kleinen, aber exklusiven Verlag Mandrake Press, der in seiner nur achtzehn Monate dauernden Geschichte neben so unterschiedlichen Autoren wie Liam O’Flaherty oder Giovanni Boccaccio einen Teil der damals als anstößig geltenden Malerei von D. H. Lawrence veröffentlichte. Diese unter dem Titel The Paintings of D. H. Lawrence erschienene Ausgabe war insofern ein großer Erfolg, da ein Teil der Ausgabe aufgrund einer Polizeianordnung vernichtet werden musste, immerhin waren auf mehreren Bildern einige Schamhaare und Genitalien nicht zu übersehen. Die Zusammenarbeit mit D. H. Lawrence konnte nicht fortgesetzt werden, da dieser zu jener Zeit andere Verpflichtungen hatte und kurz darauf im März 1930 verstarb. Um die Zukunft des jungen Verlages sichern zu können, wandte sich Inky Stephensen, der von jeher ein Bewunderer Aleister Crowleys war, an diesen in der Hoffnung, ein kleines, aber ausgesuchtes und zahlungsfähiges Stammpublikum zu finden. Crowley sollte als der Starautor des Verlages aufgebaut werden, und neben einigen anderen Titeln wurden mit nicht geringem finanziellen Aufwand auch die ersten beiden Bände seiner Confessions publiziert. Eine der ersten Bestellungen aus dem Ausland kam im November 1929 in einer etwas umständlichen Form aus Lissabon und stammte von Fernando Pessoa.

Pessoa an die Mandrake Press (18. 11. 1929)

Mandrake Press  18. November 1929

41, Museum Street

London, W. C.1.

 

Sehr geehrte Herren,

ich habe einen Katalog der Confessions Aleister Crowleys erhalten und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich darüber informieren könnten, ob der erste Band bereits erschienen ist, und was genau überwiesen werden sollte, damit er per Einschreiben nach Portugal geschickt werden kann.

Ich hätte sehr gern die sechs Bände des gesamten Werkes, wobei jeder einzelne Band gesondert geschickt werden sollte, sobald er als solcher erschienen ist. Ich nehme an, die Bände werden hinsichtlich des Gewichtes und des Preises übereinstimmen, womit Ihre Angaben des Preises und der Postgebühren für einen Band dann wahrscheinlich auch für die folgenden Bände gültig sind. Würden Sie mir bitte das Erscheinungsdatum eines jeden umgehend mitteilen.

Wurde The Stratagem bereits publiziert? Sollte es so sein, werde ich den entsprechenden Betrag der Überweisung für den ersten Band der Confessions hinzufügen.

Ich sollte eventuell ergänzen, daß ich Ihren von mir erwähnten Prospekt aus Frankreich erhalten habe, wobei ich jedoch nicht genau sagen kann, wer ihn geschickt hat, oder was es eigentlich bedeutet, daß er mir aus Frankreich geschickt wurde. Selbstverständlich wende ich mich an Sie, da Ihr Name in ihm enthalten ist.

Ich besitze bereits ein Werk Aleister Crowleys – 777 –, wußte allerdings nicht, daß es von ihm stammt.

Im voraus bedanke ich mich für Ihre Antwort.

 

Mit herzlichen Grüßen, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

Pessoa erhielt eine bemerkenswert rasche Antwort, und es ist auffallend, wie es den Verantwortlichen des Verlages anscheinend ganz selbstverständlich entging, dass Lissabon nicht in Spanien, sondern in Portugal liegt. Wie wir später noch sehen werden, handelte es sich um ein damals recht geläufiges geographisches Missverständnis, auf das Pessoa in leicht ironischer Form in einem seiner folgenden Briefe hinweisen wird.

Mandrake Press an Pessoa (22. 11. 1929)

THE MANDRAKE PRESS  22. November 1929

41 Museum Street

London W. C.1.

 

Herr Fernando Pessoa

Postfach 147

Lissabon, Spanien

 

Sehr geehrter Herr,

wir haben Ihren Brief vom 18. des Monats erhalten und schicken Ihnen sehr gern in einer separaten Sendung den ersten Band der »CONFESSIONS OF ALEISTER CROWLEY«, der eben erschienen ist, als auch, gemäß der hier angefügten Rechnung, eine Ausgabe des Bandes »STRATAGEM«, und wir gehen von einem sicheren Empfang aus.

Eine baldige Überweisung wird gewürdigt.

 

All unsere Hochachtung,

 

mit freundlichen Grüßen,

 

i.a. THE MANDRAKE PRESS

Im Nachlass Pessoas findet sich heute noch die Rechnung der Mandrake Press, aus der hervorgeht, dass der erste Band der Confessions £ 2.20 kostete. Zuzüglich des Preises des Bandes The Stratagem und der Postgebühren bezahlte Pessoa insgesamt £ 2.70, was in der Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise eine nicht unbeträchtliche Summe war. Pessoa bestätigte Anfang Dezember schriftlich die Überweisung bei der Bank Lissabon & Azoren und fügte in seiner wie immer ausgesprochen höflich zurückhaltenden Art eine inhaltliche Anmerkung hinzu, die zeigte, dass er den ersten Band der Confessions bereits aufmerksam gelesen hatte, und die zum Ausgangspunkt seiner Beziehung zu Crowley werden sollte.

Pessoa an die Mandrake Press (4. 12. 1929)

Mandrake Press  4. Dezember 1929

41, Museum Street

London, W. C.1.

 

Sehr geehrte Herren,

ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihren Brief vom 22. November und auch für Ihre Freundlichkeit, mir die beiden bestellten Bücher so schnell zugesandt zu haben. Ich lege hiermit die entsprechende Zahlungsanweisung von £ 2.7.0. bei. Wenn möglich, bestätigen Sie mir bitte den Erhalt.

Als die Bücher ankamen, war ich gerade nicht in Lissabon, weshalb ich auch erst mit einer Woche Verspätung antworte. Ich bin oft für einige Zeit – jedoch nie länger als vierzehn Tage – außerhalb Lissabons, und das will in Zukunft auch eventuelle ähnliche Verspätungen erklären, zumindest bezüglich dessen, was Sie als eine annehmbare Zeit für Postsendungen betrachten. Bitte senden Sie mir sofort nach Erscheinen jeden weiteren Band der Confessions, und ebenso wie bei diesem Band immer in einem registrierten Paket, und senden Sie mir mit einem nicht registrierten Brief (oder einer einfachen Postkarte) die Bestätigung, daß Sie mir den Band zugeschickt haben.

Sollten Sie, wie es wahrscheinlich ist, die Möglichkeit haben, sich mit Aleister Crowley in Verbindung zu setzen, so informieren Sie ihn bitte, daß sein Horoskop nicht ganz korrekt ist und daß er, wenn er selbst annimmt, am 12. Oktober 1875 um 23 Uhr 16 Minuten und 39 Sekunden geboren zu sein, den Widder 11° als Medium Coeli mit dem entsprechenden Aszendenten und den Häusereinteilungen haben wird. Er wird dann seine Ausrichtung exakter vorfinden, als er sie zuvor vorgefunden hat. Das ist selbstverständlich nur reine Spekulation und es tut mir leid, Sie mit einer rein phantastischen Aufdringlichkeit zu belästigen, zumal es sich ja hier hauptsächlich nur um einen Geschäftsbrief handelt.

 

Mit freundlichen Grüßen, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

 

Beigefügt:

Scheck Nr. 155095/6905

Ausgestellt durch die Bank Lissabon & Azoren

National-Provinzial Bank Ltd.

Pessoa war nun also im Besitz des ersten Bandes von Crowleys Confessions, bei denen es sich dem verwegenen Untertitel zufolge um eine nachträglich re-antichristianisierte Autohagiographie handelt, und er offenbarte im letzten Abschnitt seines Briefes gleichzeitig eine Leidenschaft, der er schon seit mehreren Jahren nachging und in der er eine mitunter verblüffende Produktivität entwickelte. Ungefähr gegen 1914 fing Pessoa an, regelmäßig Horoskope und astrologische Berechnungen für die unterschiedlichsten Individuen aus der Geschichte und seiner eigenen Gegenwart zu erstellen. Dazu gehörten neben Personen aus seinem engsten Umkreis vorwiegend berühmte Künstler, Politiker, Diktatoren oder Monarchen, und selbstverständlich auch seine wichtigsten Heteronyme Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos, deren Lebensweg er in den Sternenkonstellationen zu deuten wusste. So fand man in seinen Fragmenten astrologische Prognosen für Shakespeare, Goethe, Milton, Oscar Wilde, Baudelaire, Victor Hugo oder Lord Byron, für Mussolini und Salazar, für den König von Italien, für den Bayern Ludwig II. oder Kaiser Wilhelm II., um nur einige Beispiele zu nennen. Das Schicksal Portugals versuchte er ebenso in Horoskopen zu deuten wie den Erfolg von jenen Literaturzeitschriften, bei denen er mitarbeitete oder die er selbst initiierte. In seiner Privatbibliothek befinden sich achtundzwanzig astrologische Bücher, wobei es scheint, er habe insbesondere den englischen Sternendeuter und Theosophen Alan Leo, den man heute in den entsprechenden Kreisen als den Vater der modernen Astrologie verehrt, zu schätzen gewusst. Er bezeichnete sich in einer seiner Aufzeichnungen selbst als Studenten der Astrologie, und seit 1915 gab es unter seinen fiktiven literarischen Persönlichkeiten auch einen Astrologen Raphael Baldaya, dessen Name auf Raphael’s astronomische Ephemeriden anspielt, die heutzutage immer noch erhältlich sind. In einigen Traktaten versuchte Pessoa, die Geschichte der Astrologie von der Antike bis in die Gegenwart rational aufzuarbeiten und sie als eine positive Wissenschaft darzustellen. Er muss als Astrologe einen gewissen Namen gehabt haben, denn einige Freunde und Bekannte baten ihn schriftlich um eine auf sie zugeschnittene Himmelskarte, und letztlich gibt es Hinweise darauf, er habe in jungen Jahren mit dem Gedanken gespielt, seinen Lebensunterhalt gänzlich mit der professionellen Deutung von Schicksalen, Begebenheiten und Persönlichkeitseigenschaften anhand von Sternenstellungen zu verdienen. Entsprechend einer im Nachlass gefundenen Kalkulation hätte ein einfaches Horoskop gemäß der damaligen Währung 500 Reis gekostet, ein komplettes Horoskop mit einer ausführlichen Beschreibung von Leben und Glück 2500 Reis, und ein vollkommen detailliertes Sternenbild wäre schließlich für 5000 Reis erhältlich gewesen, womit ihm bei der entsprechenden Nachfrage tatsächlich ein bequemes Auskommen zugefallen wäre. Die Anmerkungen zum Horoskop Crowleys stammten also nicht von einem Laien, der irgendwie Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, sondern von jemandem, der damit langjährige Erfahrung besaß und für sich allein schon unzählige Horoskope von historischen und zeitgenössischen Figuren erstellt hatte. Die Verantwortlichen der Mandrake Press überstellten den Brief an Crowley, und dessen Aufmerksamkeit wurde von etwas geweckt, das Pessoa mit der ihm eigenen Bescheidenheit eine »phantastische Aufdringlichkeit« nannte.

Mandrake Press an Pessoa (9. 12. 1929)

THE MANDRAKE PRESS  9. Dezember 1929

41 Museum Street

London W. C.1.

 

Herr Fernando Pessoa

Postfach 147

Lissabon, Spanien

 

Sehr geehrter Herr,

wir bestätigen mit herzlichem Dank Ihren Brief vom 4. des Monats, gemeinsam mit der Zahlungsanweisung über £ 2.7.0.

Wir haben vermerkt, Ihnen die kommenden Bände der »Confessions of Aleister Crowley« nach ihrer Veröffentlichung zuzuschicken.

In einem separaten Paket schicken wir Ihnen noch heute den zweiten Band gemäß der beiliegenden Rechnung und gehen davon aus, daß Sie ihn sicher erhalten.

Ihr Brief wurde an Aleister Crowley übermittelt, der Ihnen ohne Zweifel direkt bezüglich seines zweiten Teils antworten wird.

Wir versichern Ihnen unsere größte Aufmerksamkeit.

 

Mit herzlichen Grüßen,

 

i.a. THE MANDRAKE PRESS

Diesem Brief war die Zahlungsanweisung des zweiten Bandes der Confessions beigefügt, der wie der erste £ 2.20 kostete. Aufgrund finanzieller Engpässe bei der Mandrake Press sollte es vorläufig der letzte Band der ursprünglich auf sechs Bände angelegten Ausgabe sein, und es vergingen nahezu vierzig Jahre, bis die übrigen im Jahre 1969 endgültig publiziert werden konnten.

Während Pessoa die ersten beiden Bände erstand, hielt sich Crowley im ungefähr dreißig Kilometer östlich von London gelegenen, ländlichen Knockholt auf und verbrachte dort einige Wochen mit seiner zweiten, aus Nicaragua stammenden Ehefrau Maria Teresa Ferrari de Miramar, die er, damit sie die englische Staatsbürgerschaft erlangen konnte, am 16. August 1929 in Leipzig im Beisein des britischen Konsuls geheiratet hatte. Schon kurz nach der Eheschließung eignete sich Maria, die Crowley seine Voodoo-Priesterin nannte, biedere Trinkgewohnheiten an, diese verursachten bei ihr wiederum eine bemerkenswerte Paranoia und bescherten ihr nur einige Monate später die Unterbringung in einer Psychiatrie. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Knockholt schrieb Crowley am 10. Oktober in sein Tagebuch, er fühle sich in seinem einfachen Landhaus zwar ganz wohnlich, Maria habe jedoch inzwischen schon einige schreckliche Anfälle von Wahnvorstellungen erlitten; und nur zwei Tage später, an seinem 54. Geburtstag, muss es bei ihr wohl zu einer Art Nervenzusammenbruch gekommen sein. Inky Stephensen, der Mitbegründer der Mandrake Press, besuchte Crowley mehrmals in dieser Landidylle, um mit ihm Schach zu spielen und um sich von ihm bei der Abfassung eines kleinen Buches beraten zu lassen. Diese Broschüre sollte dazu dienen, die übelsten Gerüchte über Crowleys Leben aus dem Weg zu räumen, er sollte verkaufsfördernd als ein seriöser Autor und vielseitiger Künstler vorgestellt werden, was zu jener Zeit auch nötig war, denn man kannte bereits die unbehaglichen Darstellungen aus dem Sunday Express und dem John Bull, auf die Pessoa bald noch selbst eingehen wird. Bei dem Buch Stephensens handelt es sich um The Legend of Aleister Crowley. A Study of the Facts, das Pessoa besaß und über das er sich, wie wir im Laufe der Geschichte noch sehen werden, etwas zweideutig äußerte. Wir dürfen also vermuten, dass Stephensen den Brief Pessoas gleich persönlich an Crowley übergeben hatte, schließlich folgte dessen Antwort postwendend, und diesmal mit einem schon etwas deutlicher ausgeprägten Fingerspitzengefühl für geographische Besonderheiten – Lissabon wurde von Crowley ganz richtig nach Portugal verlegt.

Crowley an Pessoa (11. 12. 1929)

Dom Fernando Pessoa  Ivy Cottage,

Postfach 147  Knockholt, Kent,

Lissabon, Portugal  11. Dezember 1929

 

Lieber Bruder,

Tue, was Du willst, soll sein das Ganze des Gesetzes.

Die Mandrake Press hat mir Ihren Brief vom 4. des Monats zugesandt und ich möchte daher auf den letzten Abschnitt antworten.

Die Zeit meiner Geburt ist nicht ganz klar. In der Nummer 10 des ersten Bandes von The Equinox entschied ich mich für 0°3´ des aufgehenden Löwen. Aber anschließend dachte ich, die Zeit müsste etwas später sein, da ich vermutete, Herschel und entsprechend Saturn befänden sich im ersten und siebten Haus.

Ich wage es zu sagen, Ihre Vermutung ist völlig korrekt. Ich beschäftige mich nicht mit Direktionen. Ich gebe mich sehr wenig mit Astrologie ab, ausgenommen reiner Fragen der Geburt und des Übergangs. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie mir einige Informationen zu meiner gegenwärtigen Situation schicken könnten.

 

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

 

Brüderlich, Ihr

 

Το Μεγα Θηρίον 666

Crowley antwortete also höflich auf Pessoas Berichtigung seines Horoskops und überschrieb seinen Brief gewohnheitsgemäß mit einem seiner bekanntesten Sätze, dem Hauptgrundsatz Thelemas aus dem im Jahre 1909 erschienenen Buch des Gesetzes. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob er Pessoa mit der lateinischen Anrede »Care Frater« (in späteren Briefen meist nur noch in der Abkürzung CF) hat schmeicheln wollen, oder ob er damit bereits eine feste Absicht verband und Pessoa schon als einen Eingeweihten grüßen wollte. Dies ist sicherlich reine Spekulation, allerdings wird auch Pessoa, zumindest der Freundlichkeit halber, diese Anrede in seinen folgenden Briefen benutzen. Auf alle Fälle geht aus dem Brief, in dem Crowley den Uranus noch nach seinem Entdecker William Herschel benannte, hervor, dass er sich selbst wenig mit Astrologie beschäftigte und Pessoas weitere Hilfe gern in Anspruch nehmen würde, worauf dieser via Mandrake Press sofort einging, geleitet von einer unauffällig ehrerbietigen Geste, die aber ohne weiteres auch als ein beabsichtigter Hintergedanke interpretiert werden könnte.

Pessoa an die Mandrake Press (15. 12. 1929)

Mandrake Press  (Portugal)

41, Museum Street  15. Dezember 1929

London, W. C.1.

 

Sehr geehrte Herren,

ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Brief vom 9. des Monats und für den zweiten Band der Confessions. Beide kamen gestern (Samstag) am Nachmittag an; da ich morgen in aller Frühe Lissabon verlassen werde, wird es mir erst nach meiner Rückkehr, was ungefähr den 20. des Monats betrifft, möglich sein, die Überweisung Ihrer Rechnung zu betätigen.

Ich habe ebenfalls den Brief von Herrn Crowley empfangen, von dem Sie ausgingen, ich würde ihn empfangen.

Als ein Versöhnungsgeschenk und einfach nur als Kuriosität ohne Interesse sende ich Ihnen drei Broschüren mit englischen Versen, die ich hier vor einiger Zeit veröffentlicht habe. Sie werden, wie auch dieser Brief, am Dienstag – also noch nicht morgen – von Lissabon aus an Sie geschickt. Ähnliche Broschüren werden morgen an Herrn Crowley geschickt. Ich schicke diese beiden Sendungen getrennt, da, als ich das letzte Mal diese Broschüren an Leute in England geschickt habe, ich sie alle mit derselben Post schickte, und nur eine Sendung erreichte ihr Ziel; obwohl alle registriert waren, alle, wobei aber die eine irgendwo beschlagnahmt wurde.

Ich sehe, daß Sie mir mit dem zweiten Band der Confessions einen Prospekt der Fanfrolico Press geschickt haben. Leider muß ich Ihnen gestehen, daß diese Ausgaben kein Interesse für mich haben: Ich habe keinerlei bibliophiles Interesse an irgendeinem Buch. Mein Interesse an Herrn Crowleys Confessions ist von einer anderen Art.

 

Mit herzlichen Grüßen, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

 

PS: Würden Sie bitte Ihre Schreibkraft fragen, ob sie Portugal von Spanien abkoppeln könnte. Danke.

Bei den in diesem Brief angesprochenen englischen Gedichtbänden handelte es sich um das im Jahr 1918 publizierte schmale Bändchen 35 Sonnets, das im September desselben Jahres ohne große Begeisterung im The Times Literary Supplement besprochen wurde, und darüber hinaus um die im Jahre 1921 in seinem eigenen, kurzlebigen Verlag Olisipo erschienenen English Poems I–II und English Poems III. Diese beiden Bände umfassen sowohl die Gedichtzyklen Antinous und Inscriptions als auch die Zusammenstellung Epithalamium. Ob es sich wirklich nur um eine völlig uneigennützige Aufmerksamkeit kurz vor den Weihnachtsfeiertagen handelte, kann nicht mehr geklärt werden, nur sollte ein kleines editorisches Eigeninteresse Pessoas nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Zumindest wird er später noch näher auf diese Gedichte eingehen, und sicherlich hätte er nicht ablehnend reagiert, wenn von der Mandrake Press ein unmittelbares Publikationsangebot gekommen wäre. Der mitgeschickte Prospekt der Fanfrolico Press existiert im Nachlass heute nicht mehr, es handelte sich einfach nur um etwas Marketing von Seiten des umtriebigen Inky Stephensen, der Mitinhaber dieses Verlages war. Die Mandrake Press zeigte sich gegenüber Pessoas freundlicher Zusendung ungerührt und nordisch unterkühlt, entwickelte aber nach seinem Postskriptum mehr Feingefühl für die althergebrachte und unerschütterliche Tatsache, dass Lissabon am westlichsten Rand der Iberischen Halbinsel in Portugal liegt. Allerdings provozierte Pessoas Freundlichkeit so kurz vor dem Weihnachtsabend noch eine Reaktion, mit der er wahrscheinlich überhaupt nicht gerechnet hatte.

Crowley an Pessoa (22. 12. 1929)

Ivy Cottage

Knockholt, Kent

22. Dezember 1929

Lieber Bruder,

Tue, was Du willst, soll sein das Ganze des Gesetzes.

Vielen Dank für die drei kleinen Bücher. Sie sind in der Tat ausgesprochen bemerkenswert.

In den Sonetten, oder vielmehr Quatorzaine, scheint es, Sie haben den ursprünglichen elisabethanischen Impuls wiedergewonnen – was großartig ist.

Auch die anderen Gedichte gefallen mir wahrhaftig.

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

 

Brüderlich, Ihr

 

Aleister Crowley

 

Ich habe in der Tat die Ankunft Ihrer Dichtung als eine definitive Botschaft begriffen, die ich Ihnen persönlich erklären sollte. Sind Sie in den nächsten drei Monaten in Lissabon? Wenn dem so sein sollte, werde ich kommen und Sie treffen: Aber sagen Sie niemandem etwas davon. Lassen Sie es mich bitte wissen in einem Antwortschreiben. 666

Den letzten Teil seines Briefs verfasste Crowley handschriftlich, und wir wissen nicht, ob Pessoa sich darüber im Klaren war, was mit dieser definitiven und ein wenig eleusinischen Botschaft gemeint sein könnte. Sollte Crowley nach dem Hinweis auf sein nicht ganz korrektes Horoskop und nach der Lektüre der englischen Poesie Pessoas angenommen haben, in Lissabon könnte eventuell ein tüchtiger Mann sitzen, der geeignet wäre zur Gründung und Führung einer Art Portugalfiliale für einen seiner Geheimorden? Viele Indizien sprechen dafür. Im Gegensatz zu der von der Mandrake Press hervorgebrachten, oder vielmehr im Gegensatz zu ihrer fehlenden Reaktion gegenüber Pessoas Gedichten, muss die zustimmende Anmerkung Crowleys jedoch aufrichtig gemeint gewesen sein. Erst kürzlich wurden Pessoas Gedichtausgaben im Nachlass Crowleys neu gesichtet, und bei ihnen fand man einen Auszug aus einem seiner Briefe, geschrieben am 20. Januar 1936 – also ungefähr zwei Monate nach Pessoas Tod – an seinen engen Bekannten Gerald Hamilton. Der Brief bezieht sich auf eine eventuelle Reise Hamiltons nach Lissabon, und sollte er dort auf Fernando Pessoa treffen, so werde er unvermeidlich auch einen erstklassigen Dichter treffen, der es verstehe, wirklich bemerkenswerte Sonette in der Art Shakespeares zu schreiben. Da Crowley offensichtlich nichts von Pessoas Tod wusste, war diese Randbemerkung gewiss keine Höflichkeitsfloskel.

Da Pessoa sich wiederum seine eigenen Gedanken darüber machte, was Crowley denn so plötzlich in Lissabon wolle und was es für eine Bewandtnis mit der Geheimhaltung auf sich haben könne, war seine Reaktion zunächst erst einmal ziemlich verhalten. Aus seiner Reaktion auf den Vorschlag ist kein sonderlicher Enthusiasmus herauszulesen, und er bemühte sich eigentlich nur umständlich und langatmig, einen eventuellen Besuch Crowleys in Lissabon so weit wie möglich hinauszuzögern. Erst im Februar könne er ihm genau Bescheid geben. Bemerkenswert ist allerdings das Formgefühl Pessoas, der Crowley nun auch mit »Carissime Frater« anredet. Zu diesem Formgefühl passend, schrieb Pessoa seine ersten Briefe an Crowley in einer geschliffenen Handschrift auf erstklassigem Briefpapier, versäumte es aber nicht, für seinen eigenen Nachlass maschinengeschriebene Kopien anzufertigen.

Pessoa an Crowley (6. 01. 1930)

Postfach 147  6. Januar 1930

Lissabon

 

Sehr geehrter Bruder,

ich danke Ihnen sehr für Ihre Briefe vom 11. und 22. Dezember, ausdrücklich für den zweiten und insbesondere für den in ihm enthaltenen handschriftlichen Nachtrag.

Ich bin eben erst nach Lissabon zurückgekehrt, womit meine »Rückkehr per Post« unausweichlich etwas spät kommt, auch wenn ich jetzt sofort schreibe.

Für alle praktischen Absichten sollte ich während der nächsten drei Monate in Lissabon sein. Auch wenn ich nicht hier sein sollte, werde ich nur in Evora verweilen, was mit dem Zug keine vier Stunden von hier entfernt ist: Ich kann insofern bei einer äußerst kurzfristigen Benachrichtigung sofort nach Lissabon zurückkehren. Andererseits müßte ich diese Benachrichtigung aber auch rechtzeitig erhalten, denn sollte sie noch nicht in Lissabon angekommen sein im Moment meiner Abfahrt und sollte ich sie demnach erst nach meiner Rückkehr, was eventuell an die vierzehn Tage bedeutet, vorfinden, wird der Zweck einer solchen Benachrichtigung gegenstandslos.

Wenn jedoch irgendeiner dieser ersten drei Monate des Jahres Ihrer Zeit und Vorstellung entspricht, so würde ich es bevorzugen, Sie hier im März zu treffen – zu irgendeiner Zeit im März. Ich werde wahrscheinlich in diesem Monat Lissabon nicht verlassen, im gegenwärtigen Monat und im Februar bin ich mit Dingen beschäftigt, die zwar an sich nicht wichtig sind – weder absolut noch relativ –, die mir aber eine äußere Aufmerksamkeit abfordern, von der ich nicht vereinnahmt sein will, wenn ich Ihnen zuhöre.

Davon unabhängig sind es astrologische Gründe, die mir nahelegen, den März vorzuschlagen; und in der Tat ist es der Abfall der Direktionen, was den Januar und den Februar zu unmöglichen Monaten macht, den März aber zu einem geeigneten Monat, speziell was ein Treffen mit Ihnen betrifft, denn die bestimmende Sonnendirektion (pro. ∗ ♆) ist bemerkenswert auf diesen Umstand ausgerichtet.

Darüber hinaus gibt es eine vage Möglichkeit, daß ich Ende Februar nach England komme. Wenn dem so sein sollte, informiere ich Sie rechtzeitig und das würde Sie (wenn es nicht einen Grund, den ich nicht vorhersehen kann, dafür geben sollte, daß das Treffen in Lissabon stattzufinden hat) von der Mühseligkeit entbinden, nach Portugal zu kommen.

Mitte Februar sollte es mir möglich sein, Sie über all diese Dinge genauer zu informieren.

Selbstverständlich werde ich niemanden von Ihrem Besuch erzählen. Hat Ihre Warnung etwas mit dem Erhalt einer Broschüre (in französischer Sprache) von Raul Leal zu tun? Er ist einer meiner Freunde (sozusagen, da ich insgesamt jeglicher Art von Freundschaft und jeglicher Art der Intimität fernstehe); ich übersetzte ihm hier und dort einige Seiten des ersten Bandes Ihrer Confessions, und er fragte mich daraufhin nach der Adresse des Verlags, um Ihnen dann sein Buch mit der Post schicken zu können. Er sagte mir nach meiner Rückkehr nach Lissabon, er habe von Ihnen einen Brief erhalten und würde Ihnen nun einen langen »über okkulte Angelegenheiten« schreiben. Damit habe ich selbstverständlich nichts zu tun, so wie ich eigentlich mit nichts etwas zu tun habe. Begreifen Sie das bitte nicht als irgendeine Überlegung hinsichtlich Leals, den ich sehr gern habe und dessen ausgezeichnet inständige metaphysische Fähigkeit ich schätze. Dies ist schlicht die Beurteilung einer Tatsache und, sozusagen, die Anmerkung eines Nicht-Juroren.

Ich hoffe, Ihnen noch im Verlauf des gegenwärtigen Monats eine Berichtigung Ihres Horoskops zu schicken, und auch der Direktionen, die sich davon auf die gegenwärtige Zeit ableiten lassen. Als ich nicht in Lissabon war, hatte ich keine Ephemeriden und Werte.

Ich gebe diesen Brief als Einschreiben auf, um einfach nur sicher zu sein, daß er sich unterwegs nicht verirrt.

 

Brüderlich, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

In diesem Antwortschreiben fragte sich Pessoa, woher Crowleys Verlangen nach Geheimhaltung stammen könnte und vermutete dahinter den angesprochenen Raul Leal. Dieser zählte zu seinen langjährigen Bekannten und literarischen Mitstreitern aus vergangenen Zeiten, und da uns Leal im Verlauf der folgenden Geschichte noch gelegentlich begegnen wird, sollte eine beiläufige biographische Zwischenbemerkung zu dieser recht eigenwilligen Figur nicht zum Schaden sein. Raul d’Oliveira Sousa Leal, wie sein vollständiger Name lautete, entstammte ursprünglich einer sehr wohlhabenden Familie, sein Vater war Direktor der portugiesischen Nationalbank, und er selbst besaß die bemerkenswerte Begabung, ein üppiges Familienvermögen und mehrere nicht weniger verführerische Erbschaften zwischen Lissabon, Biarritz und Paris innerhalb kürzester Zeit und ohne jedes schlechte Gewissen unter die Leute zu bringen. Im Jahre 1913 hatte er die Eingebung, er müsse der für den 1. Januar 1914 geplanten Pariser Uraufführung von Wagners Parsifal in der Grand Opéra beiwohnen. Nachdem er schon auf dem Weg nach Paris Unsummen verschleudert hatte, quartierte er sich in der französischen Hauptstadt in den luxuriösesten Hotels ein, verbrachte seine Zeit mit teuren Einkäufen und anderen kostspieligen Zerstreuungen, zu denen unter anderem auch die Freundschaften zu Gabriele d’Annunzio und Filippo Tommaso Marinetti gehörten. Die Verbrüderung hauptsächlich mit dem letzten dieser beiden Italiener trug dazu bei, dass 1917 die Zeitschrift Portugal Futurista erscheinen konnte, die man öffentlich allerdings kaum zur Kenntnis nahm, da sie von der Polizei noch am Eingangstor der Druckerei beschlagnahmt wurde. Raul Leal ließ sich durch dieses Malheur freilich nicht einschüchtern und spielte eine Zeitlang sogar mit dem verblüffenden Gedanken, eventuell eine futuristische Kirche zu gründen. Umtriebig verfasste er Beiträge in wichtigen portugiesischen Literaturzeitschriften und zählte zur Gruppe der Zeitschrift Orpheu, die heute als Geburtsort der literarischen Moderne in Portugal geschätzt wird. Im Februar des Jahres 1923 publizierte er in Pessoas kurzlebigem Verlag Olisipo das Bändchen Sodoma Divinizada und provozierte mit dieser überspannten Mischung aus Esoterik und Homosexualität einen kleinen Literaturskandal, in den sich im Nachhinein auch Pessoa involviert sah. Nur ein paar Wochen nach Erscheinen des Buches wurde es vom Zivilgouverneur Lissabons für unmoralisch erklärt und kurzerhand konfisziert. Neben seinen literarischen Aktivitäten war Raul Leal auch ein esoterischer und okkultistischer Abenteurer, der sich in den lebhaften Glauben hineinsteigerte, eine Wiederverkörperung des Propheten Henoch zu sein. Da er sich also mit prophetischen Fähigkeiten ausgerüstet sah, machte er sich unverzüglich an die Arbeit und hob das etwas wahnhafte System des Parakletianismus aus der Taufe. Hierbei berief er sich auf den Parakletos aus dem Johannes-Evangelium, und es handelte sich insgesamt um eine Art der religiösen Lehre des Heiligen Geistes. Der portugiesische Surrealist Mário Cesariny bezeichnete Raul Leal nachträglich einmal als den einzig wirklich Verrückten in der Gruppe um den Orpheu, und es ist irgendwie bezeichnend für Pessoas eigene Persönlichkeit, dass er sich zeitlebens von einigen wunderlichen Figuren hat faszinieren lassen, oder zumindest von Gestalten, die von seinem zeitgenössischen (und auch vom heutigen) Allgemeinsinn ausgehend nicht unbedingt zum Bereich des Normalen, wenn es denn so etwas geben sollte, gezählt wurden. In einem späteren Brief vom 22. März 1957 an den portugiesischen Schriftsteller Jorge de Sena bestätigte Raul Leal explizit die Vermutungen, die Pessoa gegenüber Crowley geäußert hatte. In der Tat hatte Pessoa ihm einige Passagen aus den Confessions übersetzt und ihm die Adresse der Verleger gegeben. Leal hatte daraufhin sein Bändchen Antéchrist et la Gloire du Saint-Esprit, in seinen Augen eine heilige Gedichthymne, mit Umweg über die Verleger der Mandrake Press an Crowley geschickt. Dieser hatte seinerseits ausgesprochen manierlich und wohlwollend gedankt, und Leal brannte nun darauf, von Crowley eine Einweihung zu erhalten. Zu dieser Einweihung sollte es ein paar Monate später auch tatsächlich kommen. Allerdings war Leals anfängliche Bewunderung gegenüber dem englischen Magier nicht von langer Dauer, und in den letzten Lebensjahren versteigerte er sich unbeirrbar zu der etwas delirierenden Gewissheit, Crowley habe sich magisch an seinen portugiesischen Bekanntschaften gerächt. In einem Brief aus dem Jahre 1950 an den Pessoa-Biographen João Gaspar Simões machte er die schwarzkünstlerischen Machenschaften Crowleys für den plötzlichen Tod Pessoas im Jahre 1935 verantwortlich, und auch für seine eigene Erkrankung, die ihn schon nahe an den Abgrund geführt habe. Leals endgültiges Ableben verzögerte sich hingegen noch einige Jahre, die er größtenteils unter miserablen Umständen verbringen musste. In den Zeiten ihrer literarischen Zusammenarbeit erstellte Pessoa ein Horoskop für Leal und prophezeite ihm für das Jahr 1964 ein tragisches Ereignis. Es war genau das Jahr, in dem er völlig verarmt verstarb und in einem Massengrab verscharrt wurde.

Wie es Pessoa in seinem Brief an Crowley andeutete, fühlte sich Raul Leal Anfang 1930 ermutigt, dem Magier in einem weiteren Brief seine okkulten Pläne zu offenbaren, was zu einer zweiten Antwort Crowleys an Leal führte, in der er, genauso wie bei Pessoa, ein persönliches Treffen vorschlug. Wie von Pessoa nicht anders zu erwarten war, distanzierte er sich von den okkulten Angelegenheiten Leals und zeigte sich, wie eben gesehen, im Hinblick auf ein eventuelles Treffen eher reserviert. Pflichtgemäß, und mit einer Entschuldigung für die Verspätung, schickte er noch am selben Tag einen Brief an die Mandrake Press mit beigelegtem Scheck für den zweiten Band der Confessions, und der Verlag wird kurz darauf die Überweisung bestätigen.

Pessoa an die Mandrake Press (6. 01. 1930)

Mandrake Press  (Portugal)

41, Museum Street  6. Januar 1930

London, W. C.1.

 

Sehr geehrte Herren,

ich bestätige meinen Brief vom 15. Dezember und habe die Freude, Ihnen eine Zahlungsanweisung in der Höhe von £ 2.3.6. als Bezahlung Ihrer Rechnung vom 4. Dezember zuzuschicken, bezogen auf den zweiten Band von Aleister Crowleys Confessions. (Scheck Nr. 155775/7575, ausgestellt durch die Bank Lissabon & Azoren der National-Provinzial Bank)

Ich möchte mich für die etwas übertriebene Verspätung der Bezahlung entschuldigen, da ich doch dachte, sie schon Ende letzten Monats zu betätigen. Allerdings bin ich eben erst wieder nach Lissabon zurückgekehrt.

 

Mit freundlichen Grüßen, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

Mandrake Press an Pessoa (14. 01. 1930)

THE MANDRAKE PRESS  14. Januar 1930

41 Museum Street

London W. C.1.

 

Sehr geehrter Herr,

mit herzlichem Dank bestätigen wir hiermit Ihren Brief vom 6. des Monats, gemeinsam mit einer Zahlungsanweisung von £ 2.3.6. zur Bezahlung Ihrer Rechnung vom 4. Dezember 1929.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

i.a. THE MANDRAKE PRESS

Im Verlauf des weiteren Geschehens wird sich herausstellen, dass Crowley gegenüber Raul Leal, anders als dieser es zu jener Zeit selbst vermutete, nicht sonderlich viel Sympathien hegte. Crowley bemerkte dies intuitiv schon sehr zeitig und bevorzugte weiterhin Pessoa als Ansprechpartner, um seine Reise nach Portugal zu planen. Dies ist insofern erstaunlich, da Crowley im letzten Brief Pessoas eigentlich hätte spüren müssen, wie dieser weitschweifig unter der wunderlichen Angabe astrologischer Gründe versuchte, das Treffen auf die lange Bank zu schieben. Im Nachhinein kann jedoch belegt werden, dass es sich Crowley fest in den Kopf gesetzt hatte, mit Hilfe von Fernando Pessoa einen portugiesischen Ableger von einem seiner Orden zu gründen, wodurch er das nötige Feingefühl für dessen subtile Untertöne wahrscheinlich verloren hatte. Zunächst hatte aber auch er einige andere Dinge zu klären und kam daher mit Pessoa überein, der März sei die günstigste Zeit für einen Besuch in Portugal. Freilich wäre es nicht zum Nachteil, wenn Pessoa eventuell schon im Februar nach London kommen könnte, um mit ihm genau über das zu reden, was es mit der in seinem Brief vom 22. Dezember erwähnten Botschaft auf sich habe.

Crowley an Pessoa (14. 01. 1930)

Ivy Cottage

Knockholt

Kent

die ♂

in 24°

An I4

Lieber Bruder,

Tue, was Du willst, soll sein das Ganze des Gesetzes.

Ich war sehr erfreut über Ihren Brief vom 6. Januar. Ich stimme mit Ihnen überein, was den März betrifft. Ich habe vieles in Ordnung zu bringen.

Allerdings wäre es besser, wenn Sie im Februar nach London kommen könnten. Unser Treffen hier würde viele Dinge erhellen, die sich in meinen Gedanken hinsichtlich der Botschaft* ergaben, so daß wir richtige Pläne machen können. Ich nehme an, von Ihnen zu hören, sobald Sie Ihre eigenen Pläne kennen.

 

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

 

Brüderlich, Ihr 666

 

* Ich sagte nicht, oder meinte auch nur »Warnung«.

Crowley hatte in den ersten Wochen des Jahres 1930 wahrhaftig einige Dinge ins rechte Lot zu rücken, angefangen mit den immer heftiger werdenden Alkoholproblemen seiner Ehefrau bis hin zur verworrenen Episode der erzwungenen Zurücknahme einer Vorlesung in der ehrwürdigen Oxford University Poetry Society. Von dieser wurde er in den ersten Tagen des Jahres 1930 ganz formell eingeladen und entschied sich zu einem Vortrag über den in der Geschichte Frankreichs ebenso als erfolgreichen Heerführer bejubelten wie als grausamen Serienmörder gefürchteten Grafen Gilles de Rais. Neben seinen militärischen Großtaten an der Seite von Jeanne d’Arc im Krieg gegen die Engländer hob sich Gilles de Rais durch eine diabolische Leistung hervor, die ganz Frankreich seinerzeit den Atem stocken ließ. Ihm wurde vorgeworfen, 140 Kinder auf die entsetzlichste Art gefoltert und ermordet zu haben, und einzelne Berichte geben zu allem Überdruss noch zu verstehen, ein Teil dieser bedauerlichen Geschöpfe wäre auf seinem Speiseplan gelandet. Die Anzahl von 140 Kindern stützt sich auf kirchliche Untersuchungen, in anderen heißt es jedoch, es wären noch wesentlich mehr gewesen. Der Vortrag Crowleys, der Anfang Februar gehalten werden sollte, hätte sicherlich für volle Plätze im Auditorium gesorgt, nur kam das Thema dem katholischen Kaplan der Universität zu Ohren, worauf der Poetry Society im Falle der Durchführung der Veranstaltung Disziplinarmaßnahmen angekündigt wurden. Um einer unangenehmen Maßregelung zu entgehen, entschied man sich für eine kurzfristige und etwas unelegante Absage, was Crowley seinerseits nicht auf sich sitzenließ und sich vornahm, den Vortrag auf eine andere Art publik zu machen. Er beauftragte über Inky Stephensen die Mandrake Press mit der Veröffentlichung des Vortrages, der nur wenige Tage später in der Form einer sehr preisgünstigen Broschüre unter dem Titel The Banned Lecture auf dem Oxforder Campus erhältlich war und bei den Studenten einen ansehnlichen Absatz fand. Er wurde im Nachhinein also noch populärer, als er es hätte bei der ursprünglich geplanten Vorlesung werden können. Zu allem Unglück gab Crowley den örtlichen Tageszeitungen auch noch Interviews, beschwerte sich über das an Zensur erinnernde Verbot und vermutete spöttisch, man habe wohl unter der Befürchtung gelitten, er hätte während seiner Vorlesung einige der jungen Studenten niedermetzeln können, um dann ihre Leichname genüsslich auszuweiden. Durch die Publikation des Vortrages stellte sich nun aber heraus, dass es Crowley nicht vordergründig um die Person des Grafen Gilles de Rais und sein Leben ging, sondern dass er vielmehr in einer etwas ausgefallenen Weise erläutern wollte, wie die Überzeugungen und Dogmen der katholischen Kirche dem unbedingten und natürlichen Wissensdrang des Menschen widersprechen. Crowley war in der katholischen Kirche sicher nie sonderlich beliebt gewesen, nach der Episode in Oxford hatte er sich aber zweifelsohne ein paar wütende Feinde, von denen wir noch mehrmals hören werden, eingebrockt. Ein weiteres Problem, das Crowleys Reise nach Lissabon behinderte, bestand darin, dass sich schon in dieser Zeit bei der Mandrake Press die ersten Anzeichen einer zunehmenden finanziellen Beklemmung offenbarten, und Inky Stephensen dringend versuchen musste, neue Teilhaber für den Verlag zu finden. Obwohl Crowley in diesem Moment von den wirtschaftlichen Engpässen der Mandrake Press noch nicht direkt berührt war, werden sie im weiteren Verlauf des Geschehens doch eine wichtige Rolle spielen.

Pessoa wiederum ließ fast sechs Wochen verstreichen, bis er auf Crowleys Vorschläge antwortete. Dieser hatte ihn ja unter anderem dazu angeregt, bereits im Februar nach London zu kommen, um einige wichtige Dinge zu besprechen. Dies kam für Pessoa nicht in Betracht, und sicherlich war es keine unbedeutende Zufälligkeit, dass er sich selbst erst am Ende des Monats zu einer ausgesprochen reservierten Antwort überreden konnte. Die nicht unbeabsichtigte Verspätung seiner Antwort machte die Frage hinsichtlich einer eventuellen Reise nach London überflüssig und entspricht völlig seiner ihm eigentümlichen Abneigung gegenüber physischen Ortwechseln, wie sie so oft in grandiosem Stil von seinem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares im Buch der Unruhe geschildert wurden.

Pessoa an Crowley (25. 02. 1930)

Postfach 147

Lissabon, den 25. Februar 1930

Lieber Bruder,

mein so verspätetes Schreiben bedeutet einfach nur, daß ich mir erst gestern darüber im klaren war, nicht nach England zu kommen.

Ich werde Lissabon – bis auf eine eventuell kurze Reise nach Evora, von dem aus ich in vier Stunden zurückkehren kann – bis Jahresmitte nicht verlassen, und auch danach werde ich es wahrscheinlich nicht verlassen.

Wünschen Sie daher, hierher zu kommen, oder glauben Sie, es entsprechend dem Schicksal tun zu müssen, dann sollten Sie mir im voraus eine kurze Benachrichtigung geben und ich werde dann hier sein, um Sie zu sehen und zu hören.

Meine Astrologie ist etwas in den Rückstand gekommen, ich hoffe aber Ihre Geburtsangaben innerhalb einiger Tage berichtigt zu haben.

 

Brüderlich, Ihr

 

(Fernando Pessoa)

Pessoa ließ zwar grundsätzlich keinen Zweifel an seiner Bereitschaft zu einem Treffen aufkommen, nur versprühte auch dieser kurz gefasste Brief keinen sonderlichen Enthusiasmus, und sein zurückhaltender Ton ist nicht zu überhören. Es gibt keinerlei ernsthafte Hinweise darauf, dass Pessoa in dieser Zeit oft im ungefähr 140 Kilometer südöstlich von Lissabon gelegenen Evora weilte. Es ist sogar wahrscheinlicher, dass diese Reisen nur als ein Vorwand für ein Hinauszögern genommen wurden. Doch dies scheint Crowley im Moment nicht bemerkt oder gestört zu haben, bahnten sich doch in seinem Leben wieder einmal aufregende Momente an, durch die das immer gravierender werdende Alkoholproblem seiner Frau Maria zeitweise in den Hintergrund gerückt wurde und seine sexuelle Magie einen sehr jugendlichen Aufwind bekam. Während Pessoa seinem gleichförmigen Tagesrhythmus nachging, konnte sich die Mandrake Press durch einige neue Teilhaber kurzfristig finanziell stabilisieren, und Crowley bereitete sich auf eine Reise nach Berlin vor. Israel Regardie, in dieser Zeit Crowleys Londoner Sekretär, informierte Pessoa kurz und bündig von den unaufschiebbaren Geschäften des Magiers und von dessen beabsichtigter Reise nach Deutschland.

Israel Regardie an Pessoa (9. 04. 1930)

Oddenino’s Hotel

Regent Street, W.1.

9. April 1930

Lieber Bruder,

Tue, was Du willst, soll sein das Ganze des Gesetzes.

666 hat mich darum gebeten, Ihnen diese kleine Mitteilung zukommen zu lassen. Aufgrund gewisser dringender Geschäftsangelegenheiten wird es ihm in der nächsten Zeit nicht möglich sein, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Er hat eine Reise nach Deutschland geplant, und dann … seine Pläne sind, so glaube ich, im Moment etwas unbestimmt, er wird allerdings mit Ihnen in Verbindung treten, sobald genauere Vereinbarungen getroffen wurden.

 

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

 

Brüderlich, Ihr

 

 – 358 (Israel Regardie)

Sekretär

Nach diesem kurzen Brief verstrichen einige Wochen ohne jeden weiteren Kontakt. Pessoa hatte gewiss schon einen möglichen Besuch Crowleys aus seinen Gedanken gestrichen und verbrachte wie üblich seine Zeit in den vertrauten Büros und Cafés. In jenen Frühlingstagen und in den kommenden Sommermonaten schrieb Pessoa viele Textpassagen seines Buchs der Unruhe mit beeindruckenden Liebeserklärungen an die Menschlichkeit der durch die Baixa quietschenden Straßenbahnen und an die heitere Stadtlandschaft nach einem warmen Regenschauer. Lissabon empfand er mehr denn je als seine Heimstadt und spürte nicht das geringste Verlangen, dieses ihm so vertraute Universum eifriger Dienstboten, schwatzender Kellner, aufmerksamer Barbiere, murrender Bürochefs, lachender Näherinnen oder pfeifender Messerschleifer auszublenden, um sich irgendwo mit einem übel beleumdeten Magier zu treffen. Folgen wir den Fragmenten aus dieser Zeit, so genügte es ihm, oder zumindest dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, seine Umgebung teilnahmslos zu beobachten oder sich seine eigene Welt zu erträumen. In seiner engen Rua dos Douradores war er träumend alles, Caesar oder Napoleon, ein sozialistischer Dorfvorsteher oder Lenin, Omar Khayyam oder Shakespeare, er war sie alle in ihrer Größe und in ihren dunkelsten Stunden. Die weltentrückte Stadt am Tejo mit ihrem sanften Frühlingseinzug kam Pessoas Gefühlsleben zu jener Zeit wesentlich näher als ein von Botschaften beseelter Okkultist, der es darauf abgesehen hatte, seine Geheimorden auf einer globalen Ebene auszubreiten. Es waren Monate, in denen er sich nicht unbedingt nach zu viel Wirklichkeit sehnte, und gewiss genügte ihm Crowley damals vollkommen als imaginäres Traumgebilde. Als banale und alltägliche Realität hätte er jeglichen Zauber verloren.

Allerdings dachte Crowley in jenen Tagen auch nicht unbedingt an eine Reise ins verschlafene Lissabon, hatte er sich doch inzwischen in einer Stadt eingerichtet, die trotz beginnender Depression noch ein überschäumendes kulturelles und intellektuelles Leben zu bieten hatte, und seinem eigenen Charakter sicher wesentlich mehr entsprach als eine alte Provinzstadt am Atlantik. Am 17. April traf er in Bremerhaven ein und begab sich anschließend direkt nach Berlin, wo er neben vielen anderen Verabredungen am 30