In Evaristos Apotheke - Fernando Pessoa - E-Book

In Evaristos Apotheke E-Book

Fernando Pessoa

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Beschreibung

Fernando Pessoa erschuf eine Handvoll Heteronyme und diese eine in sich kohärente wie kontroverse Utopie. Pessoa hinterließ auch orthonyme Prosa, Texte die seinen Namen tragen, die aber nicht weniger Scharade sind als das Gros seiner unauslesbaren Texte. Zur kontroversen Utopie zählen vor allem seine politischen und esoterischen Texte. Wie tief verwoben sie dennoch sind, wie sehr für Pessoas Figuren gilt: "Wir sind Geschichten, die Erzählungen produzieren", das zeigen die orthonymen Erzählungen In Evaristos Apotheke und Der Bankier und Anarchist aus Pessoas letztem Lebensjahr 1935, in denen der Autor die Extreme Tagespolitik und Religion zusammenhält.

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Inhalt

CoverIn Evaristos ApothekeO Banqueiro Anarquista (1935)Der Bankier und Anarchist (1935)The Anarchist Banker (Fragment)NachwortImpressum

In Evaristos Apotheke

Ein gewöhnlicher Sonntagnachmittag begann. Am Morgen dieses Tages war die militärische Bewegung des 18. April gescheitert. Allem Anschein nach war die Ordnung wiederhergestellt. In den Gesichtern der Menschen lagen Verärgerung und Unbehagen. In den Zeitungen von morgen würde man von der »Freude in den Gesichtern« schreiben; was in einem Land möglich ist, in dem so wenige Menschen lesen können.

In Evaristos Apotheke, die unvermindert geöffnet hatte, trafen die Stammkunden ein. Die Gespräche überschlugen sich in lautem Durcheinander. Mendes’ schneidende Stimme, einem demokratischen Republikaner, schallte jauchzend hervor. In diesem Moment erschienen in der Tür die zwei, die noch gefehlt hatten. Die Runde begrüßte sie allgemein.

José Gomes, der unter Gomes Pipa bekannt war, trat gemächlichen Schrittes in die Apotheke. Von den zwei Gründen für seinen Spitznamen, war ersterer unübersehbar: der imposante Bauch seiner stattlichen Korpulenz. Der andere verbarg sich, für jeden, der es genau wissen will, in seinen Worten, die er beim Eintreten an Justino, den Sattler, hinter sich richtete. Gomes putzte sich den Mund ab.

»Ich habe schon besser getrunken …«

»Ja, aber schlecht ist das Zeug nicht …«

»Nein, schlecht, schlecht nicht … Der Typ gegenüber – schade, dass er zu ist – soll ja einen Weißwein haben …! Na, ist alles wieder ruhig?«

»Alles«, sagte Mendes.

»Und, Mendes, da sind Sie glücklich über die Wiederherstellung der Ordnung, was?«

»Natürlich …«

»Und mit dem Verhalten der treuen Truppen – ich meine, treu der Sache gegenüber, auf die sie eingeschworen waren? …«

»Der Sache, auf die sie eingeschworen waren? Auf die Regierung, der sie sich verpflichteten, treu gegenüber zu sein. Auf die Regierung, die Ordnung, die Institutionen! Sie haben sich korrekt verhalten. Aber sie haben nichts anderes getan, als ihre Pflicht.«

»Da bin ich beruhigt, Sr. Mendes«, sagte Gomes und setzte sich, nach dem Tabakbeutel greifend, auf eine Bank nieder, »und erleichtert, als Freund der Ordnung zu sehen, wie hoch Sie Treueschwur und militärische Pflicht schätzten.«

»Ich sehe keinen Grund zu übermäßiger Freude! Wie man keinen Zweifel daran haben kann, dass sie recht daran taten, ihre militärische, sogar staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen, so ist nichts Wundersames daran, es gut zu finden, dass sie sie erfüllten …«

»Sie haben ja recht«, pflichtete Gomes Pipa bei. »Aber nicht allein deshalb freue ich mich, dass Sie den Militärs wie der Achtung des Schwurs und der militärischen Pflichterfüllung Beifall klatschen. Als Monarchist freue ich mich vor allem über die Verurteilung der Revolution und der Revolutionäre des 5. Oktober, die Sie damit zum Ausdruck brachten.«

»Wie bitte? Was? Die vom 5. Oktober?«

Gomes drehte langsam seine billige Zigarette.

»Genau, die vom 5. Oktober. Die Soldaten und Seeleute, die am 5. Oktober revoltierten, haben wie diese geschworen, die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Institutionen zu verteidigen, die damals noch monarchistisch waren. Und wie diese gut daran taten, sich an ihren Schwur und ihre militärische Pflicht gebunden zu fühlen, taten jene schlecht daran, diese zu missachten. Diese Ihre Ansicht freut mich. Ich schätze sie wegen ihrer Unparteilichkeit, so sehr sie auch aus dem Munde eines Republikaners kommt.«

»Verzeihung … Ganz und gar nicht … Der 5. Oktober ist anders gelagert …«

»Anders, inwiefern anders?« Gomes unterbrach unaufgeregt das Anzünden seiner Zigarette.

»Am 5. Oktober war die Revolution Resultat eines nationalen Impulses, sie entsprach sozusagen einem imperativen Mandat der ganzen Nation, oder wenigstens ihrer überwältigenden Mehrheit. Derartig groß, dass die Bewegung trotz scheinbar ungenügender Kräfte mit Leichtigkeit siegte …«

»Mein Guter, mit scheinbar ungenügenden Kräften gewonnen zu haben ist kein Argument. In einem Land, das sich, wie damals, in keiner brillanten Lage hinsichtlich Disziplin und Ordnung befindet, und mit einer schwachen Regierung obendrein, wird jede revolutionäre Bewegung, sobald ein bescheidener Aufstand in Gang kommt, mit Leichtigkeit siegen, und zwar wegen des Abscheus, Landsleute niederschlagen zu müssen und der mangelnden Abgestumpftheit, die man haben müsste, um diese Abscheu zu überwinden. Also lassen wir das mit dem einfachen Sieg beiseite … Oder beabsichtigen Sie, sich mit der Leichtigkeit dieses Siegs auf das einzige Argument zu stützen, das für den nationalen Charakter des 5. Oktober spricht? Wenn es allein auf Leichtigkeit hinausliefe, würde die ›Bewegung das Espadas‹, mit der Pimenta de Castro an die Macht kam, das Rennen um den größeren nationalen Charakter machen.«

»Die ›Bewegung das Espadas‹ war eine ausschließlich militärische Bewegung und hat alle überrascht …«

»Genau, was ich sage … Das Überraschungsmoment genügt, und man siegt über seine Gegner ohne sonderliche Vorbereitung. Der Sieg bewies nur, dass die anderen nicht vorbereitet waren …«

»Warten Sie: so einfach ist das nicht … Die ›Bewegung das Espadas‹ – ich wiederhole mich – war ausschließlich militärisch; beim 5. Oktober waren unzählige Zivilisten beteiligt …«

»Das bestätigt, dass Zivilisten an der Konspiration beteiligt waren, und wenn sie schon beteiligt waren, dann ist es nur natürlich, dass sie an der Revolution teilnahmen. Was alle anderen betrifft, warum sollten sie ihr nicht, sobald sie bewaffnet waren, beigetreten sein? … Ich will damit nicht verneinen, dass die republikanische Seite 1910 nicht ausreichend Anhänger besessen hätte, um Zivilisten massenhaft für die Revolution zu mobilisieren … Was ich jedoch ablehne, ist, wie Sie Ihre Rechtfertigung des Verrats und der Heimtücke der Soldaten und Seeleute begründen (ganz zu schweigen von den Zivilisten), die der Revolution vom 5. Oktober beitraten. Sie sagen, dass dieser Verrat sich rechtfertigt, da es sich beim 5. Oktober um eine nationale Bewegung gehandelt habe, eine Art zwingendes Mandat der Nation. Und dennoch haben Sie mir kein einziges Argument genannt, das die nationale Weite dieser Bewegung beweisen würde, kein Argument, wonach sich diese Bewegung von jeder anderen Bewegung unterscheiden würde, an der Militärs beteiligt sind, die ihre Pflicht und ihren Schwur vergessen haben, und Zivilisten, die eingeweiht waren oder bewaffnet wurden, um sich einzureihen. Allein die Andeutung, die Bewegung habe wenige Kräfte besessen – weshalb Sie behaupten, überrascht zu sein, dass sie siegte, aber das habe ich Ihnen ja schon erklärt – die Tatsache allein, ich wiederhole mich, hervorzuheben, dass es sich um eine Bewegung mit wenigen Leuten handelte, ist mit Sicherheit nicht die beste Art und Weise, zu belegen, dass ein imperatives Mandat der Nation hinter ihr stand, oder eine nationale Bestrebung, die es umzusetzen galt.«

»Sr. Gomes, da habe ich mich vielleicht falsch ausgedrückt … Die Atmosphäre, die ganze Stimmung der Bewegung beweisen nur zu gut ihren nationalen Charakter …«

»Mein lieber Mendes, so kommen wir nicht weiter … Stützen Sie das, was sie über die Atmosphäre und die Stimmung sagen, auf etwas Konkreteres. Sie müssen schon deutliche und unumstößliche Belege vorlegen, warum es sich um eine nationale Bewegung gehandelt haben soll oder nicht. Diese ›Atmosphäre‹ oder diese ›Stimmung‹ muss sich in etwas Konkretem niederschlagen, in etwas Greifbarem … Oder beziehen Sie sich beispielsweise darauf, dass die Bewegung, wie es den Anschein machte, mit einer gewissen Sympathie aufgenommen wurde?«

»Ja, zum Beispiel … Und das beweist nichts anderes, als …«

»Beweist, dass ein jeder eine fürchterliche Angst vor der Revolution der Republikaner hatte. Schon aufgrund der fehlenden revolutionären Praxis. War eine Revolution erst einmal losgetreten, um eine vorhandene Welt umzustürzen, würde sie die nächste auch umstürzen … Im Vergleich mit dem, was einem die Bilder an Schrecklichem vor Augen führten, was eine Revolution bedeuten kann, war die vom 5. Oktober, die noch sanft und sauber verlief, eine Erleichterung, so, wie die Wirklichkeit, so schlimm sie auch ist, immer eine Erleichterung ist, wenn die Vorstellungskraft zuvor eine viel schlimmere Wirklichkeit erzeugte. Diese ureigene Erfahrung der Erleichterung muss bei vielen Menschen eine vorsichtige Zurückhaltung verursacht haben … Aber diese Beobachtungen, mein lieber Mendes, sind Phänomene, die auf die Revolution folgen, sie sind die anschließende ›Stimmung‹ und nicht die vorausgehende … Irrtum vorbehalten, aber das Mandat geht dem Prozess voraus … Eine anschließende Stimmung ist keine vorausgehende … Deshalb bleibe ich dabei, dass Sie kein akzeptables Argument gefunden haben, welches mich dazu brächte, den 5. Oktober als eine nationale Bewegung zu betrachten …«

»Das ist schwer zu erklären, in der Tat, aber …«

»Schauen wir mal, ob es Ihnen mit meiner Hilfe gelingt, Ihre Logik zu entwirren … Nehmen wir einen konkreten Fall, der sich als brauchbar erweisen könnte, die Revolution vom 5. Oktober als national zu bezeichnen … Dieser Fall betrifft die Existenz und die Dauer der Republik …«

»Genau, darum geht es.«

»Mitnichten, Mendes, mitnichten … Die Republik hatte ihre Zeit, ja; aber sie überdauerte auf irreguläre Weise und wurde aus verschiedenen Gründen kontinuierlich unterbrochen, mal von den Monarchisten, mal von anderen, und wurde in einer Art permanenter Schock-, Verteidigungsstarre und Verwirrung gehalten. Und so, wie diese ›verschiedenen Gründe‹ keine gewöhnlichen Straßenunruhen waren, sondern in gewisser Weise siegreiche Revolutionen, denen sich ganze Regionen des Landes anschlossen (wie zum Beispiel im Norden die Monarchistische Restauration) und große Kräfte des Heeres, dazu zahlreiche Zivilisten, gibt es, wie es den Anschein macht, Stimmung und Atmosphäre auf beiden Seiten. Was uns keinesfalls berechtigt zu behaupten, der 5. Oktober habe mehr ›nationalen Charakter‹ besessen als jedwede andere Revolution oder Revolte. Eine nationale Bedeutung wäre unbestritten, wenn das ganze Land, nachdem die Republik ausgerufen worden war, in den Frieden zurückgefunden hätte, ohne weitere Agitationen oder Revolutionen, vielleicht hier und da noch kleine Episoden und untypische Aufstände … Aber ich stelle fest, wir sind von unserer Frage abgekommen … Auch wenn man den 5. Oktober als eine ›nationale‹ Bewegung bezeichnen wollte, würde das immer noch nicht die Frage der Untreue und der Rechtlosigkeit der Militärs und der Seeleute rechtfertigen, die ihn in Gang setzten … Dies war glaube ich, der Punkt, den wir diskutierten.«

»Verzeihung, eine Sache haben Sie …«

»Welche?«

»Die Treue zum Eid ist wirklich eine Sache von höchstem Gewicht. Aber es gibt Fälle, da ist sie nicht das Allerhöchste. Die Interessen des Vaterlands, die über allem stehen, rechtfertigen notfalls den Vorrang vor allen Eiden und das Abwägen des Treueeids!«

»Ah, ja … Dann ist es wahr: Sie waren ein Germanophiler?«

»Ich?! … Ein Germanophiler?! … Wie kommen Sie darauf? …«

»Weil dies die Worte waren, derer sich von Bethmann Hollweg in seiner berühmten Erklärung bediente, in welcher er Verträge als ›Fetzen Papier‹ bezeichnete. Die höheren Interessen Deutschlands, seines Vaterlands, standen über der Vertragstreue, will heißen, über der getroffenen Einigung beziehungsweise des Schwurs, irgendeines Schriftstücks mit einem Vertrag zum Inhalt …«

»Ja, mag sein … Dennoch, ein Vertrag ist etwas anderes …«

»Er ist bloß ein Kompromiss, ein Schwur, den man niederschrieb. Wollen Sie etwa die Theorie stützen, der zufolge es legitim sei, Schulden zu leugnen, weil sie mit keinem Dokument zu belegen sind? … Zu guter Letzt würde das unser Problem nicht voranbringen. Ihr Argument kann dennoch germanisch und gültig zugleich sein: Deutschland ist es trotz des Krieges nicht untersagt, recht zu haben … Schauen wir uns das Argument an … Wenn es legitim ist, den Eid zu brechen, und es die Pflicht ist, zugunsten und in Verteidigung der höheren Interessen des Vaterlands zu handeln – und unter höheren Interessen des Vaterlandes verstehen Sie ohne jeden Zweifel, was die Revolutionäre für die höheren Interessen des Vaterlands hielten –, warum sollte den aktuellen Umstürzlern wie allen anderen, die sich während der Republik an einem Umsturz beteiligt haben, nicht recht und billig sein, dasselbe Argument vorzubringen? Was Sie an dieser Bewegung gerne erkennen möchten, das sind seriöse Männer, die sich bei der Verteidigung der Ordnung und der Einhaltung der Disziplin stets treu verhielten. Als herausragendes Beispiel mag Oberstleutnant Raúl Esteves dienen. Für ihn, der zahlreiche Einladungen, Bewegungen beizutreten, ablehnte, mochte es etwas bedeutet haben, an diesem Aufstand teilzunehmen. Er glaubte, die höheren Interessen des Vaterlands würden ihn dazu zwingen. Zumindest sieht man sich nicht veranlasst, das Gegenteil zu denken, denn ansonsten könnte man dasselbe über die Revolutionäre des 5. Oktobers sagen. Für mich besitzt das Argument keine Legitimität – für mich kann es nichts über einem geleisteten Eid geben – aber, da Sie sich für die Aufständischen des 5. Oktobers einsetzen, erkenne ich die Legitimität normaler Leute eher an als die der Anführer des letzten Aufstands.«

»Entschuldigen Sie, Sr. Gomes … Weder leugne ich, noch sehe ich eine Veranlassung dazu, die Absicht der Anführer dieser Revolte nicht gut zu heißen. Obwohl die Absicht gut war, stimme ich zu, dass sie zugleich falsch war. Und zwar so falsch, wie die Bewegung keiner nationalen Bestrebung entsprach, was sich erwies, obwohl sie gut vorbereitet war. Und noch etwas, das ich einwenden wollte, was ich aber aufgespart habe, um Sie nicht zu unterbrechen … Diese Bewegung wurde erstickt; sie scheiterte … Der wirkliche Beweis, dass eine revolutionäre Stimmung nicht existiert hat: sie scheiterte …«

»Das ist gut: ein weiteres germanisches Argument!«

»Noch ein germanisches Argument?«

»Ja. Der deutsche Philosoph Hegel entwickelte das Argument, nach dem der Sieg selber die Rechtfertigung des Sieges ist, und wer siegt, das Recht hatte zu siegen, weshalb er nämlich siegt. Ein in Deutschlands militärischen Kreisen und bei Schlachtenpoeten geflügeltes Wort, das eine gewisse moralische Verwandtschaft mit dem von ›der Kraft, die das Recht überwindet‹ aufweist, das von ------------ stammt und Bismarck angriff, weil dieser der Urheber dieses Mottos gewesen sein könnte. Aber wir sind wieder dort, wo wir gerade schon waren. Ein Argument kann von Hegel stammen und gültig sein. Der Kern ist ein anderer. Bestätigt der Sieg die Legitimität, die ›Stimmung‹ die Bewegung? Nun gut … Hiernach hätte auch Sidónio gewonnen …«

»Und, Sr. Gomes, wie lange hielt der Aufstand dieses Sidónio?«

»Er hielt, bis er endete, wie alles. Er hielt, solange er hielt. Lang genug, um als Argument ins Gewicht zu fallen. Er endete auch nur deshalb, weil er auf einen Einzelnen konzentriert war, weshalb ein einzelner Mensch mit einer einfachen Kugel ihn beenden konnte. Aber wo waren wir? Sie hatten behauptet, dass der Sieg einer Revolte die vorherrschende Stimmung quasi bestätige. Ich hatte das bereits teilweise beantwortet, als ich auf Ihre Andeutung der Einfachheit einging, mit der der 5. Oktober obsiegt hatte; und jetzt antworte ich ein weiteres Mal mit dem Sieg Sidónios. Und dann wichen Sie aus, indem Sie nicht mehr vom bloßen Sieg redeten, sondern von der Dauer des durch den Sieg verursachten Zustands, das ist etwas ganz anderes … Wieviel Zeit benötigt ein Zustand, damit Sie ihn für legitim halten?«

»Es ist nicht die Dauer, mein Guter, es ist die Art und Weise, wie er überdauert …«

»Ich habe auch darauf schon geantwortet … Ich sagte, wenn das Leben der Republik nichts als sanften Frieden gebracht hätte, wenn mit der Einführung der Republik die großen Meinungsverschiedenheiten beseitigt worden wären, könnte man in der Tat von einem nationalen Charakter der Bewegung ausgehen, der sie in Gang setzte. Aber da es so nicht gewesen ist, sondern exakt anders herum, sehe ich nicht, welche ›Art und Weise der Dauer‹ Ihnen vorschwebt …«

Canha, der Barbier, der seitlich zur Ladentheke saß und der Unterhaltung aufmerksam gefolgt war, unterbrach das Hin und Her mit einem Hüsteln.

»Erlauben Sie, Gomes, die Sache liegt anders … Es geht nicht um die Art und Weise der Dauer, wie sie sie auslegen. Wenn mir Mendes gestattet, in seinem Namen zu reden, werde ich versuchen, die Sache deutlicher zu machen … Seit der Errichtung der Republik haben wir in der Tat gegenläufige revolutionäre Bewegungen gesehen, von denen manche in ihrer Ablehnung der sogenannten ›konstitutionellen Normalität‹ zeitweilig erfolgreich waren. Aber früher oder später kehrten sie doch in die originale Spur zurück, will heißen in die der legitimen Nachfolge republikanischer Regierungen, die, ob zum Guten oder zum Schlechten, nach gültigen Regeln der Verfassung, die allen zivilisierten Staaten gemein sind, von gewählten Parlamenten eingesetzt werden. Früher oder später kehrten sie in diese ›Normalität‹ der Verfassung zurück; was einen zu der Feststellung bringen kann, dass die Bestrebungen, diese Normalität auszuhebeln, ob gescheitert oder über kurze Zeit erfolgreich, stets bloße Unterbrechungen gewesen sind und keinen nationalen Charakter besaßen, so, wie die Dezember-Situation nach Sidónios Tod, die mit einer verblüffenden Eile im Sand verlief. Wenn ich mich nicht irre, wollte Mendes dies damit sagen, als er sich auf die ›Art und Weise der Dauer‹ republikanischer Regierungen berief, die nach der Verfassung legitim sind, und auf die kurze Dauer des sidonistischen Regimes, die ihm sozusagen als Beleg für das Fehlen des nationalen Charakters dient, worin es sich von legitimen Regierungen unterschied. Mendes, war es das, was Sie meinten?«

»Auf den Punkt genau, Sr. Canha«, stimmte Mendes zu, ohne düpiert zu sein. »Wie gut, dass Sie mir aus dem Munde gesprochen haben, da ich die Dinge nicht so klar hätte ausdrücken können …«

»Schon gut«, winkte Gomes Pipa ab. »Was sich so ›Regierungsnormalität‹ nennt, ob verfassungsgemäß oder nicht, steht unabänderlich auf einer von drei Säulen: Entweder der Fortsetzung der alten Regierung, der Bestätigung durch eine Wahl, oder der spontanen Zustimmung durch das Land, ungeachtet einer Fortsetzung oder einer Bestätigung. Die Normalität kann auf mehr als einer dieser drei Säule stehen, aber auf wenigstens einer muss sie immer stehen. Eine vierte Säule existiert nicht, auf der sie stehen könnte.

Also, liebe Leute, gehen wir die drei Säulen Stück für Stück durch. Beginnen wir mit der Einfachsten, obwohl es egal ist, womit wir beginnen, da wir uns alle anschauen werden. Die einfachste Aufgabe dabei ist die Frage, ob es eine spontane breite Zustimmung der republikanischen Sache im Land gibt oder nicht, oder ob die Zustimmung etwas mit den Ergebnissen der Revolution vom 5. Oktober zu tun hat. Darauf war ich kurz zuvor schon eingegangen. Wenn die Republik das Land in eine verfassungsgemäße, authentische Normalität überführt hätte, ohne Geheul, Konterrevolutionen und Proklamationen, die teils so wirkungsvoll wie erfolgreich waren, dann könnte man zurecht von einer spontanen, landesweiten Zustimmung der Republik reden. Aber da es nicht so war, kann man von keiner spontanen Zustimmung sprechen, sondern muss anerkennen, dass eine Zustimmung nicht existierte. Man könnte noch einwenden, dass manche dieser Bewegungen, die Vorstöße aus Kühnheit gewesen sein wollen, nichts anderes als simple Vorstöße aus Verwegenheit waren. Um dies logisch untermauern zu können, muss jedoch festgehalten werden, dass diese Revolutionen und Aufstände erstens nicht beharrlich genug waren, denn das Einzige, was beharrlich an ihnen war, war der konstitutionelle oder wie auch immer gelagerte Ausnahmezustand, der das Gegenteil von Normalität ist; zweitens, dass diese Revolutionen keine besonders wichtigen waren und von Mal zu Mal bedeutungsloser wurden, was einmal mehr darauf hindeutet, dass sie in ihren Tagen über genügend Masse oder Kraft verfügten, jedenfalls mehr als die Regierung an Masse und Macht zusammen; und drittens, wollte man diesen Bewegungen noch eine gewisse Verwegenheit unterstellen, träfe dies trotzdem nicht auf die des 5. Oktobers zu, die bedeutend weniger Kraft hatte als die Mehrheit all der anderen Bewegungen. Weder weist sie eine spontane breite Zustimmung der republikanischen Sache auf, noch etwas, das an eine spontane Zustimmung heranreicht. Schauen wir uns an, ob es nicht doch eine Bestätigung gibt, sei es durch Fortsetzung der früheren Regierung, oder durch genehmigte Neuwahlen.

Betrachten wir dafür zunächst, ob es einen triftigen Grund für Wahlen geben könnte oder nicht. Nun, in Portugal heißt es, sind Wahlen entweder ein Schwindel oder keiner, oder sie sind mal ein Schwindel und mal keiner. Wären sie immer ein Schwindel, was die meisten Menschen vorgeben, solange sie nicht aus Parteilichkeit lügen, gäbe es keinen triftigen Grund für Wahlen und das Argument würde von Grund auf kippen. Wenn sie niemals ein Schwindel sind, waren jene aus Sidónios Tagen so gültig wie die in demokratischen Zeiten, insbesondere jenes herausragende Votum, das Sidónio in einer direkten Abstimmung als Präsident der Republik bestätigte, das zugleich das deutlichste Wahlergebnis hervorbrachte, das Portugal als Republik erlebte. In diesem Fall zeigte das portugiesische Volk seine extreme Wandelbarkeit und Dummheit und verlangte entweder nach keiner Regierung, um ein Äquivalent zu dieser Wandelbarkeit zu erhalten, oder nach einem monarchistischen oder absolutistisch diktatorischen Regime, um seinen Wankelmut wirksam einzudämmen. Wenn Wahlen mal ein Schwindel sind und mal keiner, wie dann das eine vom anderen unterscheiden? Da allein durch die Anzahl der Revolutionen jeden Typs – die ausreichend Kräfte besaßen, um sich formieren zu können und sogar erfolgreich zu sein – jeder beobachten kann, wie sehr das Land in verschiedene politische, zum Teil ziemlich kraftvolle Strömungen gespalten ist, wird er bei genauem Hinsehen erkennen, dass die am wenigsten betrügerischen Wahlen jene wären, aus denen die parlamentarische Zusammensetzung noch gespaltener hervorgehen würde, in der sich die Gegner der gegenwärtigen politischen Lage am klarsten repräsentiert wiederfänden, vor allem solche, die sich als Gegner der gültigen Regierungsform selbst erwiesen. Folglich war das einzige Parlament der republikanischen Ära mit einer breiten monarchistischen Gesinnung Sidónios Parlament gewesen. Darum war Sidónios Parlament, ohne mit absoluter Seriosität zustande gekommen zu sein, eines, das einem seriösen Parlament noch am nächsten kam.«

Canha fiel ihm barsch ins Wort.

»Kommen Sie, Gomes! Die Monarchisten erhielten dermaßen viele Stimmen, weil Sidónio es beabsichtigte …«

»Er ›beabsichtigte‹, das heißt auch, dass er mit ihnen keine Wahlspielchen trieb, und nichts anderes wollte ich beweisen – dass diese Wahlen, die keine schönen waren, dennoch die besten waren, die es in Zeiten der Republik gab.«

Mendes meldete sich zurück, zuckte mit der Schulter.

»Sidónio wollte die Macht, aber nicht aus Gründen der Gerechtigkeit … Er griff nach der Macht, weil ihn die Monarchisten unterstützten, und es scherte ihn nicht, dass viele von ihnen im Parlament saßen.«

»Touché«, pflichtete Gomes bei. »Da die Monarchisten Sidónio selbst nicht feindlich gesinnt waren, hätten wir hiermit das Ideal der ›konstitutionellen Normalität‹ eines Parlaments, in dem beide Strömungen, so gegensätzlich sie auch sein mögen, das Regierungsoberhaupt stützen. Das entspricht dem englischen Parlament, in welchem alle es konstituierenden wichtigen Strömungen sich über die Akzeptanz des Regierungsoberhaupts und den Gehorsam ihm gegenüber einig sind, welches in diesem Land der König ist.«

»Sie vergessen«, wandte Canha ein, »dass die alten republikanischen Parteien den Urnengang bei dieser Wahl ablehnten …«

»Nicht anders als die Monarchisten, die es verneinten, an den Wahlen zur konstituierenden republikanischen Versammlung teilzunehmen, was, um dieses Kriterium anzuwenden, diesem Mandat jegliche Bedeutung stahl, ist dies doch der ›legale‹ Auftakt einer jeden konstitutionellen Normalität.«

Als die Unterhaltung kurz stockte, machte sich von der Ecke her, wohin sich Bastos, ein listiger Oberst im Ruhestand, gerne zurückzog, eine sanfte und ein wenig heisere Stimme bemerkbar.

»Ich weiß nicht, warum Sr. Gomes die ganze Zeit auf diesem Argument rumreitet und Hypothese nach Hypothese aufstellt …«

»Welches Argument, Oberst?«