Böse Mädchen sterben nicht - Christina Henry - E-Book

Böse Mädchen sterben nicht E-Book

Christina Henry

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Beschreibung

Wer sich in dieser Geschichte verliert, stirbt! Der brandneue Horrorthriller von SPIEGEL-Bestsellerautorin Christina Henry!

Drei Frauen, drei Storys und ein albtraumhafter Plan: Celia wacht in einem Haus auf, das nicht ihr eigenes ist. Dennoch behauptet ein ihr unbekanntes kleines Mädchen, ihre Tochter zu sein. Und dann ist da noch der unheimliche Kerl, der so tut, als wäre er Celias Ehemann ... Allie wollte eigentlich einen Wochenendausflug mit Freunden machen – doch landet sie in einer abgelegenen Hütte im Wald, wo ein Szenario aus einem Horrorschocker sie erwartet ... Um zu ihrer Tochter zurückzukehren, muss Maggie in einem tödlichen Spiel um ihr Leben kämpfen. Was ist stärker? Ihr Gewissen oder ihr Überlebensinstinkt?

Düster, gruselig, einfach phantastisch – verpass nicht die anderen Bücher von Christina Henry wie »Die Dunklen Chroniken« oder »Der Knochenwald«.

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Buch

Drei Frauen, drei Storys und ein albtraumhafter Plan: Celia wacht in einem Haus auf, das nicht ihr eigenes ist. Dennoch behauptet ein ihr unbekanntes kleines Mädchen, ihre Tochter zu sein. Und dann ist da noch der unheimliche Kerl, der so tut, als wäre er Celias Ehemann … Allie wollte eigentlich einen Wochenendausflug mit Freunden machen – doch sie landet in einer abgelegenen Hütte im Wald, wo ein Szenario aus einem Horrorschocker sie erwartet … Um zu ihrer Tochter zurückzukehren, muss Maggie in einem tödlichen Spiel um ihr Leben kämpfen. Was ist stärker? Ihr Gewissen oder ihr Überlebensinstinkt?

Autorin

Die Amerikanerin Christina Henry ist als Fantasyautorin bekannt für ihre finsteren Neuerzählungen von literarischen Klassikern wie »Alice im Wunderland«, »Peter Pan« oder »Die kleine Meerjungfrau«. Im deutschsprachigen Raum wurden diese unter dem Titel »Die Dunklen Chroniken« bekannt und gehören zu den erfolgreichsten Fantasy-Büchern der letzten Jahre. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin liebt Langstreckenläufe, Bücher sowie Samurai- und Zombiefilme. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Chicago.

Alle Bücher von Christina Henry:

Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland

Die Chroniken von Alice – Die Schwarze Königin

Die Chroniken von Alice – Dunkelheit im Spiegelland

Die Chroniken von Peter Pan – Albtraum im Nimmerland

Die Chroniken der Meerjungfrau – Der Fluch der Wellen

Die Chroniken von Rotkäppchen – Allein im tiefen, tiefen Wald

Die Legende von Sleepy Hollow – Im Bann des kopflosen Reiters

Der Geisterbaum

Der Knochenwald

Böse Mädchen sterben nicht

Christina Henry

Böse Mädchen sterben nicht

Roman

Deutsch von Sigrun Zühlke

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Good Girls Don’t Die« bei Berkley, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Tina Raffaele

Published by Arrangement with Tina Raffaele

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Hamburg

BL · Herstellung: kw

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31600-6V001

www.penhaligon.de

Für meine geliebte Tante Berni.Besser als eine Pop-up-Karte, oder?

Teil I Celia

Kapitel eins

mysterybkluv: Wer hier mag denn sonst noch Cozy-Krimis?

poirotsgirl: Ich liebe Cozy-Krimis, vor allem, wenn hinten noch Rezepte drinstehen.

mysterybkluv: Ganz ehrlich, ich fände es toll, in einer kleinen Stadt zu leben, in der nur ganz und gar gewöhnliche Morde passieren, und ich könnte sie aufklären, während ich gleichzeitig in meinem eigenen Restaurant arbeite.

tyz7412: *lol*, das wär ein Traum.

»Mama.«

Stille.

»Erde an Mama, mach los, Mama. Mama, ich komme zu spät zum Bus!«

Celia schüttelte den Kopf. Die kleine Gestalt neben ihr war verschwommen, unscharf. Brauchte sie jetzt etwa eine Brille?

Und warum nannte dieser kleine Mensch sie »Mama«?

Celia blinzelte heftig, einmal, zweimal, und ihr Blick fokussierte sich. Ein Mädchen – vielleicht zehn, elf Jahre alt? – blickte sie erwartungsvoll an und hielt ihr einen offenen Rucksack hin.

»Was?«, fragte Celia.

»Mein Lunch«, sagte das Mädchen. »Ich brauche mein Lunchpaket. Hattest du heute Morgen schon genug Kaffee?«

Celia sah nach unten. Vor ihr, auf der weißen Arbeitsplatte, lag ein offener Lunchbeutel aus Stoff. Darin befanden sich bereits eine Tüte mit geschnittenen Äpfeln, eine mit Maissnacks mit Käsegeschmack und eine Soja-Schokoladenmilch.

Ein Stück Wachspapier lag ungefaltet auf dem Tresen. Was ist das für eine komische Verpackung? So etwas würde ich nie kaufen.

»Mama!« Das kleine Mädchen wurde jetzt wirklich ungeduldig. »Sandwich!«

Celia konnte nicht mehr klar denken. Sie musste dieses kleine Mädchen loswerden, um sich erst mal sortieren zu können.

Warum nennt sie mich »Mama«? Ich habe doch gar keine Kinder.

»Nur noch zwei Minuten!«, kreischte das Mädchen.

Neben dem Wachspapier lagen ein Laib helles Weizenbrot und eine Packung Käse aus dem Deli. Celia nahm zwei Scheiben Brot heraus.

»Nur eine Scheibe, in der Mitte durchgeschnitten! Mama, was ist denn heute los mit dir?«

»Tut mir leid«, sagte Celia und schnitt die einzelne Scheibe Brot in zwei Hälften. »Wie viel Käse?«

»Zwei Scheiben! Komm schon, komm schon!«

Du bist eigentlich alt genug, um dir das selbst zu machen, dachte Celia, während sie das fertige Sandwich zusammenklappte, es in Wachspapier einwickelte und alles zusammen in den Beutel schob. Das Mädchen schnappte sich sein Lunchpaket, stopfte es in seinen Rucksack und sprintete zur Tür.

»Bye, hab dich lieb«, rief es, als es die Tür aufstieß und dann hinter sich zuschlug.

Wie eine Schlafwandlerin ging Celia zu dem Fenster neben der Tür und spähte zwischen den Jalousien hindurch nach draußen. Das kleine Mädchen rannte eine lange, abschüssige Einfahrt hinunter, die auf eine Landstraße zu führen schien. Auf der anderen Straßenseite war nichts zu sehen außer hohen Bäumen, die wie ältere Ahornbäume, Eichen und Eschen aussahen.

Das kleine Mädchen erreichte das Ende der Einfahrt, als ein gelber Schulbus vorfuhr und auf Höhe des Briefkastens anhielt. Sie kletterte in den Bus und er fuhr davon.

Sie ist weg. Jetzt kann ich nachdenken.

Dumpfe Schritte ertönten aus dem Obergeschoss und Celia blickte alarmiert zur Decke hinauf. Die Schritte bewegten sich über den Boden, und einen Moment später hörte Celia, wie jemand die Treppe herunterkam. Doch von dort, wo sie stand, konnte sie nichts sehen. Auf einer Seite der Küche lag ein Esszimmer, über die andere Seite gelangte man in den Flur. Celia spähte um die Ecke. Die Treppe befand sich am anderen Ende des Flurs.

Ein fremder Mann kam um das Geländer herum auf sie zu, den Blick stirnrunzelnd auf sein Handy gerichtet. Mit klopfendem Herzen wich Celia vor ihm zurück und stieß mit dem Hintern gegen die Kante der Arbeitsfläche. Hektisch schob sie sich daran vorbei und stellte sich in der Nähe der Tür auf, damit sie bei Bedarf die Flucht ergreifen konnte. Sie sah auf ihre Füße hinunter. Socken. Nicht einmal Hausschuhe hatte sie an. Neben der Tür befanden sich zwei niedrige Regale, auf denen Schuhe fein säuberlich aufgereiht standen. Mindestens eines dieser Paare sollte ihres sein. Hatte sie noch genug Zeit, um herauszufinden, welches ihr gehörte, es anzuziehen und zur Tür hinaus zu verschwinden?

»Hey, Babe, ich habe heute Morgen echt viele Termine«, sagte der Mann. »Ich komme mittags im Restaurant vorbei.«

Wer ist das?

Der Mann war sehr groß, mindestens fünfzehn Zentimeter größer als sie selbst, und sie war keine kleine Frau. Er hatte dunkles Haar, eine Frisur, anhand derer sie ihn als »Millennial-Fondsmanager« einordnen würde, und trug einen gut sitzenden grauen Anzug. Er sah aus, als ginge er regelmäßig ins Fitnessstudio, und wirkte insgesamt wie jemand, der eher in die Stadt gehörte. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er einen teuer aussehenden Wollmantel überzog. Auch seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, wie Celia bemerkte.

Er trat dicht an sie heran und gab ihr geistesabwesend einen Kuss auf die Wange, während er immer noch auf das Display starrte, sodass ihm entging, wie sie ihm unsicher auswich. Sie fing den Geruch seines Aftershaves auf, der etwas Moschusartiges und Schweres an sich hatte, das ihre Nase kitzelte.

»Wir sehen uns später«, sagte er und verschwand durch dieselbe Tür wie zuvor das Mädchen.

Celia ging zum Fenster und zog eine Jalousie hoch, um hinauszuschauen. Der Mann, der sie »Babe« genannt und zum Abschied geküsst hatte, war in einen schwarzen SUV gestiegen, einen Audi, der neben dem Haus geparkt war. Jetzt fuhr er rückwärts die Einfahrt hinunter und auf die Straße, in die entgegengesetzte Richtung zu der, in die der Bus gefahren war.

Ein Audi. Stadtmensch, dachte sie wieder und fragte sich dann, warum ihr dieser Gedanke kam.

Weil ich in einer Stadt lebe und solche Typen ständig sehe, dachte sie. Der Gedanke löste einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf aus. Sie blickte sich in der Küche um, dann sah sie noch einmal aus dem Fenster.

Offensichtlich wohnte sie nicht in einer Stadt. Warum glaubte sie es dann?

Immerhin war das Haus jetzt leer, und sie konnte innehalten und nachdenken.

Die große Küche dominierte eine weiße Arbeitsfläche, die an zwei Wänden des Raums entlanglief und auf der dritten Seite hineinragte, wo sie als Frühstückstresen diente. Dem Esszimmer zugewandt standen ein paar Hocker an dem Tresen.

Celia zog einen davon heran, setzte sich darauf und starrte auf den rechteckigen Esszimmertisch und die Stühle. Alles war in schwerem dunklen Holz gehalten, das sie nie für sich selbst ausgesucht hätte. Sie mochte kein dunkles Holz, da es ihr zu förmlich erschien, und sie mochte definitiv nichts, was danach aussah, als müsse es regelmäßig poliert werden. Celia hasste Putzen, und ganz besonders hasste sie das Abstauben und Polieren. Dieser Esszimmertisch verkörperte alles, was sie an einem Möbelstück nicht leiden konnte.

»Den habe ich nicht gekauft«, murmelte sie. »Ich habe einen runden Eichentisch.«

Wieder spürte sie einen stechenden Schmerz zwischen den Augen und massierte die Stelle mit dem Zeigefinger. Die beiden Leute, die eben das Haus verlassen hatten, schienen zu denken, dass sie hier wohnte, dass sie ebenso hierhergehörte wie der eckige Tisch.

Und der Typ, der mir zum Abschied einen Kuss gegeben hat, kam mir auch irgendwie bekannt vor.

»Er hat gesagt, er würde mich im Restaurant treffen. Arbeite ich in einem Restaurant?«, sprach sie ihre durcheinander rasenden Gedanken laut aus.

Sie erinnerte sich vage daran, wie ihre Hände Geschirr von einem Tisch abräumten oder einen Notizblock in eine Schürze steckten.

Vielleicht habe ich gestern Abend zu viel getrunken. Oder ich hatte einen Mini-Schlaganfall oder so was.

Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war ihr Vorname: Celia.

Sie stand wieder auf und ging in das Esszimmer. An einer Wand stand ein großer Schrank mit Glastüren und Schubladen darunter. Der Schrank passte zu den Esszimmermöbeln und sie rümpfte erneut die Nase.

Ich hasse es, wenn alles so perfekt aufeinander abgestimmt ist. Ich wette, beim Geschirr verhält es sich genauso.

Als sie die Glastüren öffnete, bestätigte sich ihre Vermutung. Das gesamte Geschirr und die Servierplatten stammten aus ein- und demselben Service mit einer Art ländlichem Blumenmuster, das sie an ein Hochzeitsgeschenk denken ließ.

An der gegenüberliegenden Wand hing ein großes Foto von drei Leuten vor einem weichen grauen Hintergrund, wie es ihn in Fotostudios gab. Da war Celia, die neben dem großen dunkelhaarigen Mann saß. Beide trugen grob gestrickte weiße Pullover mit Zopfmuster. Das kleine Mädchen, das nach einem Lunchpaket verlangt hatte, stand mittig vor ihnen. Auch sie war in einen Wollpullover mit Zopfmuster gekleidet, allerdings in Rosa. Alle drei hatten diesen leicht glasigen Blick und das etwas künstliche Lächeln, das man häufig auf gestellten Fotos sah.

Das ist meine Familie?, dachte Celia und sagte sich dann mit etwas mehr Nachdruck: Das ist meine Familie.

Irgendetwas stimmte heute offensichtlich nicht mit ihr. Eine Amnesie schien unwahrscheinlich. Früh einsetzende Demenz?

Es kann keine Demenz sein. Ich bin erst vierunddreißig.

»Ha!«, sagte sie und klatschte in die Hände. Sie hatte sich an etwas anderes erinnert. Sie war vierunddreißig Jahre alt.

Okay, okay, du musst nur ein bisschen herumlaufen, dann fällt dir alles wieder ein. Wahrscheinlich hast du bloß nicht gut geschlafen.

Langsam durchschritt sie das Esszimmer bis ins Wohnzimmer. Ledermöbel – noch mehr Grund zum Naserümpfen –, ein riesiger Fernseher mit Lautsprecherboxen, mehrere Fotos von sich und ihrer Familie bei verschiedenen Aktivitäten: beim Essen von tropfenden Eistüten, beim Bauen von Sandburgen, beim Fotografieren mit einer allseits bekannten Maus in einem Vergnügungspark. Ein ganz normales Familienleben.

Irgendetwas an den Bildern störte sie, aber sie konnte es auch nach minutenlangem Betrachten nicht genauer bestimmen, also ging sie weiter.

Sie stieg die Treppe hinauf und fand im Obergeschoss vier Zimmer – zwei Schlafzimmer, ein Büro und ein Badezimmer. Im Zimmer des kleinen Mädchens hingen Poster koreanischer Popstars und in der Ecke lag ein Haufen Fußballsachen. Der Teppich war rosa, die Wände ebenfalls. Das alles entsprach überhaupt nicht Celias Geschmack, aber da sie nicht hier wohnte, spielte es keine Rolle.

Doch das zweite Schlafzimmer war genauso wenig nach ihrem Geschmack eingerichtet, obwohl es anscheinend ihr eigenes war.

Das Schlafzimmer, in dem ich mit diesem fremden Mann schlafe, dachte sie und wieder überkam sie dieses beunruhigende Gefühl.

Wie im Erdgeschoss bestand auch hier die gesamte Einrichtung aus schwerem dunklen Holz, komplettiert durch einen dicken dunkelblauen Teppichboden.

Sie konnte Teppichböden nicht ausstehen und doch war das ganze Haus damit ausgestattet. Auf einem Nachttisch auf der einen Seite des Betts stand ein Hochzeitsfoto, auf dem eine jüngere Celia neben dem fremden Mann lächelte. Daneben lag eine braune Lederhandtasche.

Markenware, hochwertig. So etwas würde ich mir niemals kaufen. Reine Geldverschwendung. Der Audi-Typ muss sie mir gekauft haben. Er wirkt wie jemand, dem so was wichtig ist.

Celia setzte sich auf die Bettkante und leerte den Inhalt der Handtasche auf die dunkelblaue Tagesdecke. Eine große Brieftasche fiel heraus, zusammen mit einem Päckchen Pfefferminzkaugummi, einer Packung Taschentücher, einer Flasche Handdesinfektionsmittel, einer Puderdose, einer Haarbürste, einem Lippenpflegestift mit Kirschgeschmack und einigen Visitenkarten.

Das Übliche, was man in Damenhandtaschen so fand, aber wie bei den Fotos, die sie unten gesehen hatte, schien irgendetwas zu fehlen. Ihr fiel nur nicht ein, was dieses Etwas sein könnte.

Sie öffnete die Brieftasche und fand einen Führerschein des Staates New York mit ihrem Foto darauf. Ausgestellt auf eine Celia Zinone. Sie sprach den Namen mehrmals laut aus. Im Gegensatz zu allem anderen, was sie heute erlebt hatte, erschien er ihr richtig. In der Klappe befanden sich neben einer Debitkarte und zwei Kreditkarten, die auf denselben Namen ausgestellt waren, noch ein paar weitere Familienfotos, die überwiegend gestellt wirkten. Auf allen war stets nur ihre Kleinfamilie zu sehen. Hatte sie keine Eltern? Keine Brüder oder Schwestern, Nichten und Neffen?

Celia nahm die Visitenkarten in die Hand. Sie warben für »Zinone’s Italian Family Restaurant«, neben dem Schriftzug war eine Zeichnung eines Tellers mit Spaghetti und Fleischbällchen zu sehen. Darunter stand ihr eigener Name als Besitzerin, darunter wiederum waren Adresse und Telefonnummer angegeben.

Ich betreibe ein Restaurant. Okay.

Wieder blitzte eine Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf – wie sie einen riesigen Topf mit Soße umrührte und wie sie die Zutaten für eine Lasagne aufeinanderschichtete.

»Er hat gesagt, er würde mittags ins Restaurant kommen«, sagte Celia.

Sie nahm die Visitenkarte erneut in Augenschein. Wahrscheinlich sollte sie sich anziehen und zu diesem Restaurant fahren. Vielleicht würde es ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, wenn sie zur Arbeit ging.

Für einen Augenblick packte sie das Grauen. Es fühlte sich an, als stünde sie vor einem schwindelerregenden Abgrund, ohne zu wissen, wer sie wirklich war, ohne Erinnerungen. Ohne zu wissen, was sie am Vortag oder gar an diesem Morgen getan hatte, bevor das kleine Mädchen angefangen hatte, lautstark seinen Lunch einzufordern.

Schwarze Flecken tanzten in ihrem Blickfeld und ihr Herz schien ihr aus der Brust springen zu wollen. Sie atmete schwer und hörte ein Pfeifen, als würde sich ihre Lunge weigern, den Sauerstoff aufzunehmen.

Sie grub die Finger in die Tagesdecke und spürte, wie sich der Stoff unter ihren Händen zusammenballte.

Ruhig, ruhig, ruhig. Atmen, atmen, atmen. Es geht dir gut. Du bist nicht in Gefahr.

Auf diesen Gedanken folgte sogleich ein weiterer: Warum sollte ich in Gefahr sein?

Celia zwang sich, tief und ruhig zu atmen, und kurz darauf verlangsamte sich ihr Herzschlag wieder, obwohl er ihr immer noch unnatürlich laut erschien.

Ich muss nur in das Restaurant gehen, dann wird sich alles klären. Aber wie komme ich dorthin? Ich weiß nicht mal, wo ich hier bin.

Sie warf einen Blick auf die Sachen, die auf dem Bett verstreut lagen, und ihr wurde klar, was fehlte. Ein Handy. Sie besaß doch bestimmt eines. Aber wo hatte sie es gelassen?

Sie suchte alle Oberflächen im Schlafzimmer ab und fand zwei Ladestationen oben auf der Kommode. Angenommen, der fremde Mann (dein Ehemann) hatte nicht zwei Handys, dann musste eines der Ladegeräte zu ihrem Handy gehören.

Warum aber war es dann nicht in ihrer Handtasche? Sie bewahrte ihr Handy immer in ihrer Handtasche auf, wenn es nicht gerade am Ladegerät hing. Im Haus benutzte sie es nicht gern.

Celia klammerte sich an diesen Gedanken, wie sie es mit der Erinnerung an ihr Alter getan hatte. Das war etwas Konkretes, das sie mit Sicherheit über sich selbst wusste: Sie vermied es, ihr Handy im Haus zu benutzen, weil sie nicht zu den Leuten gehören wollte, die den ganzen Tag gedankenlos herumscrollten.

Doch sie konnte es im Schlafzimmer nicht finden, gleichgültig, wie viele Schubladen sie aufzog oder wie viele Taschen sie durchsuchte. Dabei stach ihr auch der Stil der Kleidung im Schrank ins Auge – konservativ aussehende Pullover und Button-Down-Blusen in gedeckten Farben, viel Beige, Grau und Schwarz sowie sanfte Pastelltöne. Bei dem Anblick wurde ihr erneut bewusst, dass irgendwas nicht stimmte. Sie hätte solche Sachen niemals für sich selbst ausgesucht. Sie stand eher auf bedruckte Röcke in fröhlichen, knalligen Farben und schrullige T-Shirts.

Zum dritten Mal pochte ihre Stirn vor Schmerz, und sie fragte sich, ob sie zu wenig Wasser getrunken hatte oder vielleicht eine Migräne bekam.

Ein lautes Klingeln hallte durch das Haus – dem Klang nach ein altmodisches Wählscheibentelefon. Das Geräusch zog Celia aus dem Schlafzimmer und die Treppe hinunter, und sie landete wieder in der Küche, wo alles begonnen hatte.

Das Klingeln verstummte, noch bevor sie den Raum betrat. Unschlüssig stand sie in der Tür und hielt nach einem Festnetzgerät Ausschau, bevor sie auf dem Tresen ein Handy liegen sah. Daher musste das Klingeln gekommen sein.

Sie nahm das Telefon in die Hand – ein iPhone, bereits ein paar Jahre alt, was sie überraschte, da der fremde Mann eher danach ausgesehen hatte, als müsste in seinem Haus alles auf dem neuesten Stand sein – und tippte mit dem Finger auf den unteren Knopf, um es zu entsperren. Der Startbildschirm erschien und darauf ihr eigenes Gesicht neben dem fremden Mann und dem kleinen Mädchen. Sie alle lächelten.

Das ist meine Familie, dachte Celia. Das ist meine Familie und ich erinnere mich nicht an ihre Namen. Sie kommen mir nicht einmal bekannt vor. Überhaupt nicht.

Kapitel zwei

poirotsgirl: Ist dir schon mal aufgefallen, dass in Cozy-Krimis das Mordopfer immer ein Idiot ist, den niemand leiden kann?

mysterybkluv: Ja, als würde die Stadt einen nach dem anderen ausrotten, bis alles wieder perfekt heiter und gelassen ist.

poirotsgirl: *lol* Ich wünschte, das wäre meine Stadt.

Die Entdeckung des Smartphones war eine Offenbarung. In den Kontakten hatte sie ein Bild des fremden Mannes mit dem Namen »Pete« daneben gefunden, und ein weiteres von dem kleinen Mädchen mit dem Namen »Stephanie«. Nun kannte sie zumindest die Namen ihres Mannes und ihres Kindes.

In der Fotogalerie fand sie Bilder von sich selbst bei der Arbeit im Restaurant – manchmal in weißer Bluse und schwarzer Hose am Empfang, manchmal in T-Shirt und Jeans mit Schürze in der Küche. Es gab auch Fotos von ihr mit anderen Personen – eindeutig männliche und weibliche Mitarbeiter, die praktischerweise mit Namensschildern ausgestattet waren. Celia verbrachte einige Minuten damit, sich die Namen und Gesichter sorgfältig einzuprägen.

Der Anruf war von einer Person namens »Jennifer« eingegangen, in Celias Kontaktliste lächelte ihr auf dem Foto neben diesem Namen eine Blondine entgegen. Celia hörte die Sprachnachricht ab.

»Hey, Ceil, ich wollte nur wissen, ob du heute Morgen Zeit zum Joggen hattest, bevor du ins Restaurant gegangen bist. Da du nicht rangegangen bist, nehme ich an, du bist entweder schon unterwegs oder auf dem Weg zur Arbeit. Für den Fall, dass du zu Hause bist und noch mitkommen möchtest: ich laufe die Cedar-Creek-Runde. Vielleicht sehen wir uns ja dort.«

Celia beendete die Verbindung zur Mailbox und starrte auf das Telefon. Joggen? Sie joggte überhaupt nicht gern. Zumindest glaubte sie das. Andererseits schien alles, woran sie sich erinnerte, irgendwie falsch zu sein. Und alles, woran sie sich nicht erinnerte, schien sie von allen Seiten zu umgeben. Vielleicht war sie ja doch eine Läuferin. Vielleicht war sie der Typ Mensch, der gern in seiner Freizeit für Marathons trainierte.

Sie sah an ihrem Körper hinunter. Schlank, aber war das die drahtige Figur einer Läuferin? Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst in einem Studiospiegel, in einer engen Yogahose und einem lockeren Oberteil, den Körper seitlich zur Dreieck-Asana gestreckt. Das schien mehr ihr Stil zu sein, aber möglicherweise waren all diese Erinnerungen nur Teil eines Traums, den sie gehabt hatte, ein Traum, der diese vorübergehende Amnesie verursacht hatte. Oder was auch immer es sein mochte, das da gerade mit ihr passierte.

Celia ließ sich auf den Küchenboden sinken, schlang die Arme um die Knie und starrte auf das Telefon. Was auch immer sie über ihr Leben zu wissen glaubte, war offensichtlich nicht wahr. Die Wahrheit fand sich überall um sie herum. Sie musste nur tief durchatmen und mitspielen, bis ihre Erinnerungen zurückkamen.

Tu einfach so als ob, dachte sie und bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Sie atmete tief durch, bis das Zittern aufhörte. Ich bin stark. Ich bin fähig. Ich stehe das durch.

Dann ging sie nach oben, duschte, zog sich an, räumte alle lose verstreuten Gegenstände auf dem Bett zurück in ihre Handtasche und begab sich im Erdgeschoss auf die Suche nach Schlüsseln, Schuhen und Auto.

Die Schlüssel hingen an einem Haken in der Küche; die Nike-Turnschuhe mit dem hellblauen Swoosh an der Seite passten ihr am besten. Celia schloss die Tür sorgfältig ab und fand draußen vor dem Haus einen kleinen Toyota Camry. Sie stieg in den Wagen, ließ den Motor an und tippte in der Navigations-App auf dem Smartphone die Adresse des Restaurants ein.

Dann rollte sie aus der Einfahrt, bog von dort nach rechts ab und fuhr langsam in Richtung Stadt, wobei sie ihre Umgebung genau beobachtete. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein Waldgebiet, so weit das Auge reichte. Die Bäume standen dicht zusammen, und sie konnte nicht erkennen, ob es überhaupt Wege darin gab. Auf der rechten Seite stand alle paar Hundert Meter eine kleine Ansammlung von Wohnhäusern. Die meisten sahen aus wie zweistöckige Mittelstandshäuser, weiß, blau oder grau, mit preiswerten Mittelstandswagen in den Einfahrten.

Nach ein paar Kilometern rückten die Häuser näher zusammen, bis sich schließlich die Straße von den Bäumen abwandte und sie an einem Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Jacksville« vorbeifuhr.

Ihre Lippen kräuselten sich angesichts des Ortsnamens. Jacksville? Warum nennen sie es nicht einfach Smalltown, USA?

Dann schüttelte sie den Kopf. Sie musste damit aufhören. Dies war ihr Zuhause, ob sie sich nun daran erinnerte oder nicht. Dies war der Ort, den sie gewählt hatte, um mit dem fremden Mann zu leben

(mein Mann ist kein Fremder und sein Name ist Pete)

und das kleine Mädchen großzuziehen

(meine Tochter, die wir Stephanie genannt haben. Stell dir nur vor, wie es sie verletzen würde, wenn ihre eigene Mutter sich nicht mehr an ihren Namen erinnert).

Sie fuhr auf die Main Street, die auf beiden Seiten von einer Reihe kleiner Geschäfte gesäumt war. Alle hatten sie ein wenig zu niedliche, zu provinziell klingende Namen wie Sweet ToothCandy Shop und Melissa’s Marvelous Books und Best Bread.

So ähnlich wie der Name meines Restaurants, dachte sie.

Es fuhren nur wenige Autos auf der Straße. Etwa ein Dutzend Fußgänger gingen in den Geschäften ein und aus. Einige von ihnen winkten ihr zu, als sie vorbeifuhr, und sie winkte zurück und hoffte, dass ihr Gesicht dabei nicht so starr vor Angst aussah, wie es sich anfühlte. Nichts von alledem kam ihr bekannt vor. Es wirkte wie eine Filmkulisse, die Vorstellung eines Bühnenbildners von einer freundlichen Kleinstadt, in der jeder jeden kannte.

Die Zielführung auf dem Smartphone dirigierte Celia zu einem einstöckigen Backsteingebäude an der Ecke Main Street und Cherry Lane. Ihr Restaurant hatte eine grün-weiß gestreifte Markise, die sich über ein großes Panoramafenster an der Vorderseite erstreckte. Die Jalousien des Fensters waren zugezogen. Über der Markise stand in schwungvoller Schreibschrift »Zinone’s Italian Family Restaurant«.

Sie konnte sich gerade noch ein Augenrollen angesichts des Namens der Querstraße verkneifen (Cherry Lane? Ernsthaft?), als sie um die Ecke und auf den kleinen Parkplatz an der Rückseite des Restaurants fuhr. In der Nähe der Hintertür gab es drei Parkbuchten, die als Angestelltenparkplätze gekennzeichnet waren, und sie stellte den Camry auf den Platz, der der Tür am nächsten lag.

Der Schlüsselbund, den sie gefunden hatte, bestand aus zwei Teilen, die sich voneinander lösen ließen: einem Ring, an dem Auto- und Hausschlüssel hingen, und einem weiteren Schlüsselbund, von dem sie annahm, dass er zu dem Restaurant gehörte.

Ein paar Minuten später (nachdem sie mehrere Schlüssel ausprobiert hatte) gelangte sie endlich durch die Tür. Unter ihren Armen hatten sich Schweißflecken gebildet, und sie war sehr dankbar dafür, dass niemand Zeuge ihrer verzweifelten Bemühungen geworden war, den richtigen Schlüssel zu finden. Sie musste unbedingt so tun, als sei alles wie immer, zumindest bis sie herausgefunden hatte, was eigentlich mit ihr los war.

Warum sagst du nicht einfach jemandem – zum Beispiel deinem Ehemann –, dass du vielleicht eine Amnesie hast?, dachte sie, als sie den Lichtschalter betätigte.

Sie schüttelte den Kopf über ihren eigenen Gedanken. In Filmen wurde Frauen nie geglaubt, wenn sie ihr Gedächtnis verloren oder seltsame Dinge sahen oder unpassende Erinnerungen hatten, und dann wurden sie auf unbestimmte Zeit in einer psychiatrischen Klinik eingesperrt.

Solange Celia denken konnte, war das ihre größte Angst gewesen – dass sie irgendwo hinter Schloss und Riegel verschwinden würde, weil sie Dinge sagte, die ihr niemand glaubte, und sie die Kontrolle über das Leben verlor, das sie sich selbst geschaffen hatte.

Das ist eine Erinnerung. Das ist noch etwas, das du über dich selbst weißt. All diese kostbaren Erinnerungsfetzen bewahrte sie sorgsam auf in der Hoffnung, dass sie irgendwann etwas Größeres auslösten.

Nein, sie würde niemandem sagen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie würde so tun, als sei alles in bester Ordnung, und wenn ihr ein Fehler unterlief, konnte sie einfach behaupten, dass sie schlecht geschlafen habe.

Sie konnte so tun als ob, bis all ihre Erinnerungen zurückkehrten. Sicherlich würde niemand bemerken, dass sie nicht wusste, wer sie war, was sie tat oder warum sie überhaupt hier war.

Sie stand in einem Lagerraum voller Metallregale, die mit San-Marzano-Tomaten in Dosen, Flaschen mit Olivenöl extra vergine und Plastikeimern mit der Aufschrift »Mehl« und »Zucker« gefüllt waren. Es gab auch Knoblauch- und Zwiebelpulver in Eimern.

An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine weitere Tür, und als Celia hindurchging und auch hier das Licht einschaltete, erhellte es eine blitzsaubere Küche. Bei diesem Anblick nickte sie beifällig. Es fiel ihr immer schwer, in Restaurants zu essen, weil sie wusste, dass niemand in der Küche so hohe Ansprüche an Sauberkeit und Hygiene haben konnte wie sie selbst. Die Küche war der einzige Ort, den Celia regelmäßig gründlich putzte.

Das ist noch eine Erinnerung. Siehst du? Nicht mehr lange, und du weißt wieder, wer du bist.

Eine Schwingtür führte von der Küche in den Gastraum, der typisch war für ein italienisches Restaurant: rote Ledersitze, dunkle Holzvertäfelung, rot-weiß-karierte Tischdecken. Es wirkte nicht allzu gehoben, was zu dem Begriff »Familienrestaurant« passte. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das rote Leder als Kunstleder, was bedeutete, dass es leichter zu reinigen war, wenn Milchshakes von kleinen Händen umgestoßen wurden.

Celia schlenderte zum Eingang. Dort stand ein hölzerner Stehtisch mit einem flachen Computermonitor und einem Telefon darauf. Darunter befand sich eine ausziehbare Ablage für eine Tastatur.

Ein Porträt an der Wand neben dem Empfangspult zeigte ein älteres Paar. Celia schnappte nach Luft und lehnte sich dem Bild entgegen. Sie kannte diese Leute. Sie kannte sie, tief in ihrem Herzen, und brauchte dafür nicht erst in dem Durcheinander in ihrem Kopf herumzusuchen. Das waren ihre Eltern, Sonny und Mary Zinone.

Sonny hatte auf dem Foto eine Halbglatze, sein restliches Haar war grau und strähnig. Auf der Nase trug er eine dicke Brille mit schwarzem Plastikgestell, durch deren Gläser er sie mit lebhaften dunklen Augen ansah. Er hatte eine weiße Schürze umgebunden, über einem weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und einer schwarzen Hose. Sein Arm lag um ihre Mutter Mary, die er um einige Zentimeter überragte.

Mary hatte dunkelbraunes Haar, das »gemacht« worden war – sie ging einmal pro Woche zum Friseur, und die Frisur wurde jeden Abend vor dem Schlafengehen mit Lockenwicklern und einem Haarnetz geschützt. Auch sie trug eine Schürze über einer weißen Bluse zu einer dunklen Hose.

Die beiden standen zusammen unter der gestreiften Markise am Eingang des Restaurants und strahlten um die Wette.

Celia strich mit dem Finger über ihre Gesichter und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihre Eltern. Sie erkannte sie. Und wenn sie sie erkannte, dann würde auch der Rest ihres Lebens bald zu ihr zurückkehren.

Aber wo sind sie? Haben sie sich zur Ruhe gesetzt? Sind sie gestorben? Warum stehen ihre Namen nicht in der Kontaktliste auf meinem Handy? Warum gibt es keine Textnachrichten von meiner Mutter, oder Fotos von ihnen im Urlaub oder beim Ausgehen?

Ein Anflug von Trauer durchzuckte sie. Was wäre, wenn sie für immer weg waren?

Das kannst du nicht wissen. Du weißt gar nichts mit Sicherheit, also mach dir nicht unnötig Sorgen.

Sie ging durch den Gastraum in die Küche zurück. Dort bemerkte sie eine weitere Tür, die sie vorhin nicht gesehen hatte, an der ein Schild mit der Aufschrift »Büro« angebracht war.

Um diese Tür zu öffnen, benötigte sie wieder einen Schlüssel, und wieder war Celia froh, dass es keine Zeugen für ihren Kampf mit dem Türschloss gab, während sie jeden Schlüssel am Ring ausprobierte. Drinnen fand sie einen kleinen Holzschreibtisch und einen glänzenden, neu aussehenden Aktenschrank vor. Auf dem Schreibtisch lag ein gelber Notizblock mit einer ordentlich geschriebenen Aufgabenliste und einem großen Kalender, in dem für jeden Tag verschiedene Dinge eingetragen waren – »Brotlieferung« war zum Beispiel an drei Tagen in der Woche markiert. Sie verstand nicht, warum sie das hätte eintragen sollen, wenn es doch sowieso jeden zweiten Tag geschah, aber sie hatte es anscheinend getan.

Okay, ich bin gewissenhaft und gründlich. Das ist doch gut, oder?

Sie hängte Mantel und Handtasche an den Ständer in der Ecke und setzte sich, um die Aufgabenliste und die Papiere auf dem Schreibtisch durchzugehen. Vielleicht würde das ja eine weitere Erinnerung auslösen.

Sie stieß auf eine Rechnung für einen Kammerjäger. Unten auf der Rechnung befand sich ein handschriftlicher Vermerk: Tut mir leid, aber ich muss Ihnen den Besuch in Rechnung stellen, obwohl es eigentlich nichts zu entfernen gab. Vielleicht will Mrs. C. ja dafür bezahlen? – Nick.

Während Celia noch überlegte, wie sie die Nachricht interpretieren sollte, hörte sie, wie sich an der Hintertür ein Schlüssel drehte und eine weibliche Stimme rief: »Hallo!«

Panik durchzuckte sie. Dann holte sie tief Luft (Allmählich werde ich professionelle Tiefatmerin). Wer auch immer durch die Tür gekommen war, hatte einen Schlüssel. Wer einen Schlüssel hatte, gehörte ins Restaurant.

Ich hoffe nur, ich bringe den richtigen Namen mit dem richtigen Gesicht zusammen. Sie widerstand dem Drang, noch einmal die Fotos auf ihrem Smartphone zu öffnen und nachzusehen.

Eine große schlanke Rothaarige steckte den Kopf durch die Tür. »Du bist aber früh dran!«

»Ich hatte noch ein paar Sachen zu erledigen, aber jetzt bin ich fertig«, antwortete Celia vage und versuchte dabei, in Gedanken die Fotos durchzugehen, die sie sich am Morgen angesehen hatte. Katherine. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Katherine ist.

»Okay«, sagte Katherine fröhlich. »Bleibt es bei der getrüffelten Pilzlasagne als Empfehlung des Tages?«

»Ja«, sagte Celia nur. Sie hatte keine Ahnung, ob das die Spezialität für heute sein sollte, aber wenn diese Frau ihr Hinweise bot, würde Celia sie nutzen. »Ich helfe dir.«

»Danke, Boss«, sagte Katherine. »Alles schmeckt besser, wenn du es kochst. Dieser Zinone-Touch.«

Celia lächelte, aber sie fühlte sich unwohl. Das Kompliment klang vollkommen aufrichtig, aber das Ganze wirkte ein wenig wie ein Dialog aus einem Buch, nicht aus dem echten Leben. Wieder überkam sie das verstörende Gefühl, dass nichts von dem, was ihr auf der Straße begegnet war, real war. Dass alles, was sie gesehen hatte, irgendwie falsch war.

Reiß dich zusammen, Celia. Das hier ist dein Leben.

Sie band sich eine Schürze um und folgte Katherine in die Küche. Sobald sie anfing, die Lasagne zuzubereiten, wurde sie ruhiger. Das war etwas, das sie konnte – instinktiv, ohne ihren Kopf nach Erinnerungen zu durchforsten. Sie war nicht ganz sicher, wo sich alle Zutaten im Vorratsraum befanden, aber das spielte keine Rolle, denn Katherine schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, alles zum Arbeitstisch zu tragen. Celia verfiel bald in einen gewohnten Rhythmus: Bechamelsoße mit Marsala-Wein zubereiten, die Pilze sautieren, den Nudelteig ausrollen und die langen Lasagneblätter ausschneiden. Katherine hackte den Thymian und rieb den Fontina- und den Romanokäse, dann arbeiteten sie Seite an Seite, um mehrere Formen mit Lasagne zu befüllen, die sie abgedeckt in den Kühlschrank stellten, damit sie später gebacken werden konnten.

»Was kommt jetzt? Bolognese?«, fragte Katherine. »Oder sollen wir die Gnocchi machen?«

»Ich fange mit der Soße an, du mit den Gnocchi«, sagte Celia.

»Oh, ich hasse es, die Gnocchi zu machen«, stöhnte Katherine.

Celia fühlte einen Stich der Verärgerung, hielt ihn aber aus ihrer Stimme heraus, als sie sagte: »Fang einfach an.«

Katherine grinste. »Du behältst das Rezept für die Bolognese immer noch für dich, hm? Ich bin immer so beschäftigt mit deinen Anweisungen, dass ich nicht richtig beobachten kann, was genau du in den Topf gibst und in welchen Mengen.«

Ein Klopfen an der Hintertür ersparte es Celia, etwas zu erwidern. Das Klopfen klang aggressiv, als sei die Person auf der anderen Seite verärgert.

»Oh nein. Das wird Mrs. Corrigan sein«, stöhnte Katherine erneut, als Celia zur Tür ging. »Können wir nicht einfach so tun, als wären wir nicht da?«

Celia drehte mit einer gewissen Beklemmung den Türknauf, da Katherine zu wissen schien, wer dort draußen war, und sie definitiv nicht.

Vor der Tür stand eine mürrisch aussehende Frau in einem rosafarbenen Sweatshirt, sauber gebügelten Khakis und weißen Sportschuhen. Ihr Haar war grau und kurz geschnitten, und ihre Hand zur Faust geballt, als rechnete sie damit, erneut an die Tür klopfen zu müssen.

»Guten Morgen?«, sagte Celia unsicher.

Die Frau, von der Celia annahm, dass es sich um die besagte Mrs. Corrigan handelte, machte ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Für Sie mag es vielleicht ein guter Morgen sein, aber für mich ist er das ganz sicher nicht. Ich war die ganze Nacht wach und habe das Ungeziefer unter meinem Fenster herumkriechen gehört. Ungeziefer, das sich, wie ich hinzufügen möchte, nur wegen Ihres ekelhaften Restaurants in dieser Gegend herumtreibt.«

Mrs. Corrigan drehte sich um und zeigte auf den Müllcontainer in der hinteren Ecke des Restaurantparkplatzes. Das Grundstück war von großen Sträuchern begrenzt, hinter denen sich ein zweistöckiges Haus erhob, das genauso rosa war wie Mrs. Corrigans Sweatshirt.

Die Rechnung für die Schädlingsbekämpfung und die seltsame Notiz, die Celia vorhin gefunden hatte, ergaben endlich einen Sinn.

»Es tut mir leid, Mrs. Corrigan. Ich habe Nick von Gianni’s Pest Removal kommen lassen, aber er hat kein Ungeziefer gefunden und auch keine Spuren davon«, sagte Celia. Sie fragte sich, welches »Ungeziefer« Mrs. Corrigan unter ihrem Fenster vermutete. Mäuse? Kakerlaken?

»Als ob ich einem Bericht von denen trauen würde! Das sind Spaghettifresser, genau wie Sie – die sagen doch alles für eine der Ihren.«

Katherine sog scharf die Luft ein. Celia war ebenfalls schockiert. Warf Mrs. Corrigan immer mit solchen Beleidigungen um sich? Celia überlegte, ob sie der Frau die Tür vor der Nase zuschlagen sollte, entschied sich dann aber doch für den diplomatischen Weg.

»Es tut mir leid, dass Sie so denken, Mrs. Corrigan. Aber wir sind Ihren Anschuldigungen nachgegangen, und es gibt keinerlei Beweise dafür, dass mein Restaurant etwas mit Ihrem Problem zu tun hat.«

Mrs. Corrigan trat einen Schritt näher und stach mit dem ausgestreckten Zeigefinger knapp vor Celias Gesicht in die Luft.

»Man hätte Ihnen niemals erlauben dürfen, diesen Müllcontainer in einem Wohngebiet aufzustellen. Alle Lebensmittelabfälle sollten direkt zur städtischen Mülldeponie gebracht werden. Es ist Ihre Schuld, dass in meinem Keller Ratten hausen, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr Restaurant wegen Verstoßes gegen die Hygienevorschriften geschlossen wird. Warten Sie’s nur ab.«

Celia war bereit, den diplomatischen Weg einzuschlagen, aber nicht, sich von jemandem bedrohen zu lassen, nicht einmal von einer alten Frau. Sie schlug Mrs. Corrigans Hand von ihrem Gesicht weg.

»Sie haben mich angegriffen!«, kreischte Mrs. Corrigan. »Ich zeige Sie bei der Polizei an! Körperverletzung! Tätlicher Angriff!«

»Ihre Hand ist meinem Gesicht einfach zu nahe gekommen«, sagte Celia, die allmählich wirklich wütend wurde. »Und Sie sind ab jetzt auf meinem Grund und Boden nicht mehr willkommen.«

Mit diesen Worten schlug sie Mrs. Corrigan die Tür vor der Nase zu. Die alte Frau wütete noch eine Weile vor der Tür und hämmerte mit der Faust dagegen. Celia drehte dem Lärm den Rücken zu und blieb an die Tür gelehnt stehen. Katherine starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich weiß, sie war noch unausstehlicher als sonst, aber das hättest du nicht tun sollen, Boss«, sagte Katherine und schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ihr Neffe Lyle bei der Polizei ist. Wenn sie behauptet, dass du sie angegriffen hast, wird er dich für den Rest deines Lebens drangsalieren.«

»Ich habe sie nicht angegriffen«, gab Celia verärgert zurück. »Nicht mal annähernd. Sie hatte ihre Hand in meinem Gesicht und ich habe sie weggeschoben – sanft, wie ich hinzufügen möchte.«

»Sicher, aber es steht dein Wort gegen ihres.«

»Du hast doch auch gesehen, was passiert ist. Du bist meine Zeugin«, sagte Celia.

»Als ob Lyle irgendetwas glauben würde, das ich sage. Ich arbeite schließlich für dich, und außerdem – er ist nie darüber hinweggekommen, dass ich auf dem Abschlussball Steve Miller geküsst habe, als Lyle mein Date sein sollte.«

Celia rieb sich die Schläfen. Ernsthaft jetzt? Mrs. Corrigan kann mich nach Lust und Laune schikanieren, weil ihr Neffe bei der Polizei ist und meine Köchin ihn in der Highschool gekränkt hat? Das ist ja wie in einem dieser Kleinstadtkrimis

(genau die Art, die du gern liest, hat nicht gerade erst jemand danach gefragt …)

Es klopfte laut am Eingang.

»Was denn jetzt noch?«, stöhnte Celia. »Das ist doch hoffentlich nicht wieder Mrs. Corrigan.«

»Sie kommt nie zum Eingang. Allerdings hast du sie auch noch nie tätlich angegriffen.« Katherine machte mit ihren Fingern Anführungszeichen um die zwei letzten Wörter.

»Wenn sie es noch mal ist, haue ich ihr eine rein«, murmelte Celia.

»Das wäre eindeutig ein tätlicher Angriff«, gab Katherine zu bedenken.

»Träumen darf man ja wohl noch«, sagte Celia, während sie steifen Schrittes durch den Gastraum nach vorne ging.

Sie entriegelte die Eingangstür, ohne vorher durch die Jalousien zu sehen, wer davorstand, und riss die Tür auf. Eine junge Frau mit federnden braunen Locken und grünen Augen blickte sie überrascht an.

»Wow, wieso so angriffslustig, C?« Die junge Frau trug eine weiße Bluse und eine schwarze Hose unter einer offenen blauen Windjacke. Auf dem Namensschild an ihrer Bluse stand »Tia«.

Gott sei Dank, ich glaube nicht, dass mir ihr Name eingefallen wäre, dachte Celia.

»Mrs. Corrigan«, sagte Celia, als sie Tia hereinließ.

Tia hob die Hand. »Das reicht mir schon. Die Dame muss dringend an ihrem Sozialverhalten arbeiten.«

»Das ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts«, sagte Katherine. Offensichtlich war sie Celia aus der Küche gefolgt, um zu sehen, wer vor der Tür stand.

Tia zog eine Augenbraue hoch. »Ich würde ja fragen, was passiert ist, aber ich vermute, dass es etwas mit den sagenumwobenen Ratten in ihrem Keller zu tun hat.«

»Bingo«, sagte Celia. »Im Grunde hat sie mich als Lügnerin bezeichnet und behauptet, Nick würde sich mit mir verschwören, um die Ratten geheim zu halten.«

»Jeder Idiot kann sehen, dass es hier nirgendwo Rattenkot gibt«, sagte Tia. »Ich habe früher in der Stadt gelebt, und glaub mir, wenn man Ratten hat, dann hat man auch Kot. Um das zu erkennen, brauchst du Gianni’s nicht.«

»Aber ich hab’s von Gianni’s überprüfen lassen, nur lässt sie sich davon nicht beeindrucken«, sagte Celia.

Tia warf einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde geht’s mit dem Mittagessen los. Du wirst Mrs. Corrigan und ihre Probleme vorübergehend auf Eis legen müssen.«

»Richtig«, sagte Celia und warf Katherine einen Blick zu.

»Ich weiß, ich weiß, ich muss die Gnocchi noch machen«, murrte die und ging zurück in die Küche.

Celia rieb sich erneut die Schläfen. Ihr Kopf hatte fast den ganzen Vormittag über gepocht, und ihr unerklärlicher Gedächtnisverlust ließ womöglich alles schlimmer wirken, als es eigentlich war. Mrs. Corrigan war nur eine laute alte Miesepeterin. Auf Dauer würde sie ihr doch kaum so viel Ärger machen können, oder?

Kapitel drei

mysterybkluv: Im Ernst, manchmal ist ein Mord superpraktisch.

poirotsgirl: Ist euch schon mal aufgefallen, dass es immer ungefähr fünfzehn Leute mit einem Motiv gibt, aber die Polizei sich nur auf eine Person konzentriert?

tyz7412: Polizisten haben keine Fantasie.

In dem Trubel, das Mittagessen vorzubereiten und zu servieren, vergaß Celia Mrs. Corrigan, oder zumindest fast. Pete kam kurz vorbei, um sich Lasagne zum Mitnehmen zu holen, aber sie bekam keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, weil sie in der Küche zu tun hatte. Er steckte den Kopf gerade lange genug zur Tür hinein, um sie zu begrüßen und ihr zu sagen, dass er Stephanie vom Fußballtraining abholen würde, und verschwand dann wieder – was gut war, da sie nicht die geringste Ahnung hatte, worüber sie mit ihm reden sollte. Sie erinnerte sich an nichts aus ihrem gemeinsamen Leben, und das konnte man nicht mal eben beiläufig fallen lassen, während man eine Portion Essen zum Mitnehmen vorbereitete.

Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass sie, auch wenn sie sich an kaum etwas zu ihrer Identität erinnern konnte, anscheinend über eine Art Muskelgedächtnis für die Führung eines Restaurants verfügte. Rezepte tauchten in dem Moment in ihrem Kopf auf, in dem sie sie brauchte; ihre Hände bewegten sich, ohne dass sie bewusst darüber nachdenken musste, wie man Nudelteig ausrollte und Salatsoßen zusammenstellte. Kurz vor Mittag hatte sich eine weitere Kellnerin zu Tia gesellt, eine rundliche Frau mittleren Alters namens Nancy, und die beiden bildeten ein so eingespieltes Team, dass Celia keine Anweisungen geben musste.

Um 16:00 Uhr machte sich Tia auf den Weg zu ihrem Kurs am örtlichen Abendgymnasium. Nancy blieb noch eine Stunde länger und bediente die ersten Senioren, die hereinkamen, um früh zu Abend zu essen, dann übergab sie die Abendschicht an drei neue Leute. Celia hatte keine Zeit, sich ihre Gesichter genau anzusehen oder die Namen zu merken. Gegen 17:00 Uhr kamen die ersten Familien mit kleinen Kindern und das Restaurant war bis fast 19:00 Uhr gut besucht, als sich der Andrang auf einige Paare um die zwanzig ausdünnte, die einander in die Augen starrten. Als Katherines Schicht zu Ende ging, versicherte ihr Celia, dass sie die letzte Stunde allein bewältigen konnte.

Celia stopfte sich ein Stück Brot in den Mund.

Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, sondern dafür gesorgt, dass Katherine ausreichend Pausen bekam, und hatte folglich inzwischen einen Bärenhunger. Jetzt, da es etwas ruhiger geworden war, nahm sie sich ein Stück Trüffellasagne und stellte sich damit an den Arbeitstisch.

Einer der Kellner, ein junger Mann mit langen braunen Haaren und Pferdeschwanz, lugte zur Tür herein, als sie sich gerade den ersten Bissen in den Mund steckte. »Äh, Boss?«

»Ja?« Sie erinnerte sich nicht an seinen Namen und konnte sein Namensschild nicht sehen, was ärgerlich war.

»Hier ist ein Polizist, der Sie sprechen möchte. Lyle Corrigan.«

»Oh, um Himmels willen«, sagte sie und schüttelte dann den Kopf. Es hatte keinen Sinn sich aufzuregen, bevor sie überhaupt mit ihm gesprochen hatte, auch wenn sie wusste, dass es nur einen möglichen Grund für seine Anwesenheit gab. »In Ordnung. Schick ihn einfach nach hier hinten.«

»Mach ich«, sagte er und verschwand.

Celia sah auf die Lasagne hinunter, die eben noch so appetitlich gewirkt hatte. Jetzt fragte sie sich, wie viel Macht dieser Polizeibeamte über sie hatte. Ja, es war eine Kleinstadt, aber er war kein Hygieneinspektor. Er konnte sie nicht wegen nicht vorhandener Verstöße anklagen, die die Existenz des Restaurants gefährden könnten.

Oder doch?

Die Hintertür schwang auf und Lyle Corrigan kam herein. Wie seine Tante hatte er den angespannten, mürrischen Gesichtsausdruck von jemandem, der stets das Schlimmste von der Welt erwartete und es gewöhnlich auch fand. Er war ungefähr so groß wie Celia, vielleicht knapp 1,80 Meter, und hatte sehr breite Schultern und einen Bizeps, der aus den kurzen Ärmeln seines Uniformhemds quoll.

Ein Typ, der Gewichte stemmt und sein Ego mit Eiweißshakes pflegt, dachte Celia. Der hat wahrscheinlich seit dem Highschool-Abschluss keine Kohlenhydrate mehr zu sich genommen.

»Officer Corrigan«, sagte Celia mit einem Lächeln, das sich so gekünstelt anfühlte, wie es zweifellos aussah. »Sind Sie wegen des heutigen Angebots hier? Die Trüffellasagne ist bei unseren Gästen sehr beliebt.«

»Sie wissen, dass ich hier nichts essen würde, selbst wenn Sie mich dafür bezahlen«, sagte Corrigan.

Sie hatte ein gewisses Maß an Autorität erwartet, aber nicht dieselbe unverhohlene Feindseligkeit, die sie von Corrigans Tante erfahren hatte. Die Wut kochte in ihr hoch, aber sie schluckte sie herunter. Es würde ihrer Sache nicht dienen, wenn sie einen Polizisten anschrie, der offensichtlich ihr gegenüber bereits voreingenommen war.

»Wie kann ich Ihnen dann helfen, wenn Sie nicht zum Essen gekommen sind?«

»Ich bin hier, um einer Anzeige nachzugehen, dass Sie heute Morgen meine Tante angegriffen haben«, sagte er und holte ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Hemdtasche. »Ich würde gern Ihre Version der Ereignisse hören.«

Wie er »Ihre Version der Ereignisse« sagte, gefiel Celia nicht – als würde alles, was sie sagte, automatisch als Fiktion ausgelegt. Sie beschloss, dass es am besten wäre, so schnell wie möglich die Tatsachen klarzustellen.

»Ihre Tante hat heute Morgen an die Hintertür geklopft, noch bevor wir aufgemacht haben. Sie hat mir wütend vorgeworfen – oder besser gesagt hat sie dem Müllcontainer in der Ecke des Parkplatzes die Schuld gegeben, dass Ratten in ihrem Keller proliferieren.«

Corrigan hielt beim Schreiben inne und blickte sie an. In diesem Moment fiel ihr auf, wie sehr er tatsächlich einem Neandertaler ähnelte, vom Augenwulst bis hin zur übergroßen Brust. »Proliferieren?«

»Vermehren«, sagte Celia und biss sich auf die Lippe, um nicht über seine unübersehbare Irritation zu lachen. Offensichtlich mochte Officer Corrigan es nicht, mit Worten konfrontiert zu werden, die er nicht kannte. »Ich habe ihr gesagt, dass ich extra einen Schädlingsbekämpfer bezahlt habe, um ihren Behauptungen nachzugehen. Gianni’s hat keine Ratten in ihrem Keller gefunden, aber sie beharrt trotzdem auf dem Gegenteil. Während des Gesprächs hat sie mir mit ihrem Finger ins Gesicht gestochen und ich habe ihn sanft weggeschlagen. Daraufhin hat sie angefangen zu schreien, dass ich sie angegriffen hätte. Da habe ich die Tür geschlossen. Meine Köchin war Zeuge des gesamten Vorfalls, und ich versichere Ihnen, dass es zu keinerlei Übergriff kam. Katherine wird das bestätigen.«

Corrigans Lippen kräuselten sich. »Katherine. Aha.«

Oh, komm schon, dachte Celia. Er wird doch nicht wirklich noch sauer auf sie sein wegen etwas, das vor Jahren an der Highschool passiert ist?

Sie wartete, während er eifrig in sein Notizbuch kritzelte, und fragte sich, warum er sich auf so altmodische Art Notizen machte. Warum nahm er ihre Aussage nicht einfach mit dem Telefon auf? Dann fragte sie sich, ob dies hier so etwas wie eine offizielle »Aussage« war. Sollte sie sich Sorgen machen? Sollte sie sich nach einem Anwalt umsehen?

Corrigan beendete das Schreiben und schloss betont sein Notizbuch. »Ich muss Ihnen sagen, Ms. Zinone, dass meine Tante eine ganz andere Aussage gemacht hat. Sie sagte, Sie hätten ihr ins Gesicht geschlagen und ihr medizinische Versorgung verweigert, als sie darum gebeten hat.«

Celias Mund blieb zwar nicht offen stehen, aber sie war kurz davor. »Meine Hand war nicht mal in der Nähe ihres Gesichts. Wenn überhaupt, dann war ich diejenige, die Gefahr lief, durch ihren Finger ein Auge ausgestochen zu bekommen.«

»War das so«, sagte Corrigan, und das mit einer so selbstgefälligen Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt-Art, dass Celia ihm am liebsten ihren Lasagne-Teller an den Kopf geworfen hätte. »Warum hat sie dann ein blaues Auge?«

Celia blinzelte. »Ein blaues Auge?«

»Ja«, sagte er und zog sein Handy aus der Tasche.

Nachdem er kurz auf den Bildschirm getippt hatte, hielt er es Celia vor die Nase. Es war ein Foto von Mrs. Corrigan in demselben lachsrosa Sweatshirt, das sie an diesem Morgen getragen hatte. Die linke Seite ihres Gesichts war der Kamera zugewandt, und ihr Auge war lila verfärbt und geschwollen.

Da wurde Celia klar, wie entschlossen die schreckliche Frau und ihr offensichtlich ebenso schrecklicher Neffe waren, ihr etwas anzuhängen, irgendetwas. Sie verstand nur nicht, warum. Hatte sie ihnen in der Vergangenheit Unrecht getan?

Die Leerstellen in ihrem Gedächtnis erschienen ihr plötzlich weniger wie leicht beunruhigende schwarze Löcher und mehr wie ein scharfkantiger Behälter voller Zähne und Monster. Ich muss mich an mein Leben erinnern. Ich muss mich daran erinnern, wer ich bin.

»Dazu haben Sie nichts zu sagen?«, fragte Corrigan.

Celia wurde klar, dass sie das Foto ausdruckslos angestarrt hatte. Sie musste in der Gegenwart bleiben und sich später Gedanken über ihre Amnesie machen. »Es tut mir furchtbar leid, dass Ihre Tante verletzt wurde, aber diese Verletzung hat nichts mit mir zu tun.«

»Was soll das heißen? Sie ist gegen einen Schrank gelaufen?«, fragte Corrigan spöttisch und klang dabei so provozierend, dass Ceila dem mächtigen Drang, ihm Essen an seinen großen, dummen Kopf zu werfen, kaum noch widerstehen konnte.

Einer der Kellner kam in die Küche, einen Berg Teller auf dem Arm. Sichtlich überrascht von Corrigans Anwesenheit blieb er abrupt in der Tür stehen und blickte zwischen Celia und dem Polizisten hin und her.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. Er sah ein bisschen älter aus als die anderen beiden, war vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig, und irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck schien Celia daraufhin zu deuten, dass er Officer Corrigan nicht besonders gut leiden konnte.

Celia warf einen raschen Blick auf sein Namensschild. »Danke, Will. Alles bestens. Du kannst die Teller ruhig hier abstellen.«

Will trug die Teller zur Spüle und begann übertrieben langsam, einen nach dem anderen in die Spülmaschine daneben einzuräumen. Corrigan sah ihm dabei zu und seine Miene verhieß spätere Vergeltung. Dann steckte er sein Handy weg.

»Wir sprechen später noch einmal über diese Angelegenheit, Ms. Zinone«, sagte er und marschierte aus der Küche hinaus und durch den Gastraum.

»Was für ein Arschloch«, sagte Will, während er den Rest der Teller mit wesentlich weniger Liebe, dafür umso zügiger in die Maschine einräumte. Als er fertig war, lehnte er sich neben Celia mit dem Rücken an die Arbeitsfläche. »Was hat er denn jetzt schon wieder für ein Problem?«

Die Art, wie Will da stand und mit ihr sprach, deutete auf eine größere Vertrautheit mit ihr hin als bei den anderen Kellnern. Sie schienen in etwa im gleichen Alter zu sein, und Celia überlegte, ob sie vielleicht zusammen zur Schule gegangen waren.

Warum kann ich mich nicht erinnern?, dachte sie, und der Gedanke wurde sehr schnell lauter, bis er als Schrei in ihrer Kehle stecken blieb und ihr den Atem raubte. Warum kann ich mich nicht erinnern?

Will sah sie erwartungsvoll an und eine kleine Sorgenfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. »Hey, Ceil, geht’s dir gut? Was hat der Idiot zu dir gesagt?«

Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben. Atme und lass niemanden merken, was mit dir nicht stimmt. Niemand darf davon erfahren. Sonst halten sie dich für verrückt.

»Er scheint der Auffassung zu sein, ich hätte seiner Tante heute Morgen ein blaues Auge verpasst«, erklärte sie und war beeindruckt, wie ruhig ihre Stimme klang. Niemand würde ihr anmerken, dass sie am Rande einer ausgewachsenen Panikattacke balancierte.

»Und, hast du?«, fragte Will.

Celia blickte ihn finster an und er lachte.

»Kleiner Scherz, ich weiß, dass du so was nicht tun würdest. Aber wenn es jemand verdient hätte, dann Mrs. Corrigan. Die halbe Stadt würde dir wahrscheinlich einen Preis dafür verleihen.«

»Mag sie eigentlich überhaupt irgendjemand?«, fragte Celia.

Will zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Du weißt ja, wie das ist. Die meisten Leute können sie nicht ausstehen und alle anderen sind großzügig ihr gegenüber. Ich glaube nicht, dass irgendjemand gern mit ihr zusammen ist.«

»Außer Lyle.«

»Ja, und jeder weiß, dass Lyle es nur tut, weil er auf diese hübsche, hübsche Erbschaft wartet.«

»Mir kommt sie nicht besonders wohlhabend vor«, sagte Celia und merkte zu spät, dass sie sich vielleicht gerade verraten hatte, dass sie vielleicht wissen sollte, wie wohlhabend Mrs. Corrigan war, weil es allgemein bekannt war.

»Na ja, niemand weiß genau, wie viel Geld sie wirklich hat, das weißt du«, sagte Will. »Aber ihr Mann hat vor seinem Tod die Keksfabrik an diesen internationalen Konzern verkauft und dabei ist sicher mehr als nur Kleingeld rausgesprungen.«

»Und trotzdem schreien ihre Klamotten ›Sonderangebot‹, und das nicht gerade aus dem Markensortiment«, sagte Celia.

»Sie ist ein Pfennigfuchser, kein Zweifel. Und jetzt erzähl mir, was heute Morgen passiert ist.«

Celia erläuterte die Umstände und fügte hinzu, dass Katherine die ganze Sache miterlebt hatte.

»Er hat nicht den Hauch einer Chance, daraus einen Fall zu machen, und wenn er es weiter versucht, zeige ich ihn wegen Schikane an«, sagte Celia. »Und seine Tante gleich mit.«

»Aber sicher doch. Das läuft bestimmt genauso gut wie beim letzten Mal, als du ihn wegen Schikanierung angezeigt hast«, sagte Will und verdrehte die Augen. »Der Polizeichef ist auf halbem Wege zur Pensionierung, und es ist ihm egal, was Lyle so treibt, solange er es leise tut.«

»Das ist doch absurd«, sagte Celia. »Warum sollte ich mich von einer alten Frau und ihrem trotteligen Neffen schikanieren lassen, nur weil dieser Neffe zufällig Polizist ist?«

»Das ist amerikanisches Kleinstadtleben, Schätzchen«, sagte Will und klopfte ihr auf die Schulter. »Daran solltest du dich doch inzwischen gewöhnt haben.«

Er verließ die Küche und Celia blieb einen Moment lang stehen, betrachtete ihre Lasagne und kippte sie in den Müll. Sie hatte definitiv keinen Hunger mehr.

Die letzte Stunde verging mit einer Flut von Aufräumarbeiten und Vorbereitungen für den nächsten Tag. Die drei Kellner räumten im Speisesaal ab, wischten die Tische ab, füllten die Parmesanstreuer nach und spielten »Schere, Stein, Papier«, um zu bestimmen, wer die letzte Ladung Geschirr spülen und wegräumen sollte. Celia füllte die Soße in Gläser, packte den Rest der Lasagne ein und putzte alle Flächen in der Küche auf Hochglanz.

Die anderen drei kamen einer nach dem anderen heraus, je nachdem, wie sie ihre Aufgaben erledigten. Will blieb in der Hintertür stehen und sah zu, wie Celia den Müllsack mit den Küchenabfällen zuknotete.

»Hör zu, mach dir nicht zu viele Gedanken über Mrs. Corrigan oder ihren Neffen, okay? Das ist deine Zeit und Energie nicht wert.«

Celia nickte nur. Sie sagte nicht, dass sie die ganze Zeit ein ängstliches Brummen im Magen hatte, oder dass es mit ihren fehlenden Erinnerungen und dem anhaltenden Gefühl zusammenhing, dass sie eigentlich gar nicht hierher gehörte, dass dies nicht ihr Leben war und sie nicht ihre Leute waren. Sie sagte nichts von alledem, weil es sehr wichtig war – und sie war sich nicht wirklich sicher, warum, aber dennoch fest davon überzeugt, dass es zutraf –, dass niemand erfuhr, was in ihr vorging. Sie musste es geheim halten. Sie durfte sich nicht in Gefahr bringen.

Etwas huschte durch ihr Hirn, eine Erinnerung, wie ein flinkes Kaninchen, das hakenschlagend durch ihre Gedanken sauste. Feste Hände um ihre Handgelenke, ein grausamer Mund, der ihr sagte, dass ihr niemand glauben würde, niemand würde ihr glauben, egal, was geschah.

Ein scharfer Schmerz folgte unmittelbar darauf, ein Schmerz, der wie ein elektrischer Schlag hinter ihre Augen schoss. Sie stöhnte auf und beugte sich vornüber.

»Hey, hey«, sagte Will, war an ihrer Seite und hielt sie an der Taille fest. In diesem Moment kam er ihr so vertraut vor, so viel vertrauter als der Mann, der sich ihr Ehemann nannte. Sie kannte Will. Sie kannte seinen Geruch und sein Gesicht und sogar die Art, wie seine Hand ganz leicht ihre Hüfte berührte, auf eine Weise, die ihr sagte, dass er sie auffangen würde, wenn sie hinfiel, aber nur, wenn sie es wollte.

»Was ist denn mit dir los? Willst du ein Glas Wasser?«

»Ja.« Sie wollte kein Glas Wasser, aber sie musste ihn irgendwie dazu bringen, wegzugehen, denn diese plötzliche Vertrautheit hatte sie verwirrt – hatte sie fast glauben machen, dass sie sich vielleicht irrte und dies doch ihr Leben war.

Er füllte ein Glas halb mit Wasser aus dem Wasserhahn und brachte es ihr mit zusammengezogenen Brauen.

»Es geht mir gut«, sagte sie und nahm ihm das Glas ab. »Ich habe nur vergessen, etwas zu essen, und jetzt habe ich Kopfschmerzen.«

»Kannst du nach Hause fahren?«

»Auf jeden Fall«, sagte sie und wedelte ihn weg. »Geh nur schon, mir geht es bestens.«

»Du siehst aber nicht gut aus. Du siehst aus, als müsstest du dich gleich übergeben.«

»Na ja, ich habe nichts im Magen, was ich auskotzen könnte, also ist das schon mal kein Problem. Wirklich, es war nur ein kleiner Schmerz, der mich überrascht hat. Es ist ja nicht weit nach Hause, das schaffe ich schon.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich sage es«, sagte sie und sammelte die Müllsäcke ein. »Geh schon, ich muss noch abschließen.«

Sie folgte Will zur Tür hinaus und schaltete im Gehen das Küchenlicht aus. Als er in sein Auto stieg, schloss sie die Tür ab. Sie war froh, dass sie noch wusste, welchen Schlüssel sie benutzen musste. Es hätte ihr gerade noch gefehlt, dass Will bemerkte, dass noch mehr mit ihr nicht stimmte.