Die Chroniken von Alice - Die Schwarze Königin - Christina Henry - E-Book
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Die Chroniken von Alice - Die Schwarze Königin E-Book

Christina Henry

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Beschreibung

»Die Dunklen Chroniken« gehen weiter: Alice' Abenteuer in einer dunklen, verrückten und absolut faszinierenden Welt ist noch nicht zu Ende ...

Alice hat den Kampf gegen den Wahnsinn gewonnen – vorerst. Sie hat die Schandtaten des Kaninchens sowie den Blutdurst des Jabberwocks überlebt und will nun ein Versprechen einlösen: Jenny, die Tochter ihres Freundes Hatcher, zu finden. Doch Alice und Hatcher erwartet der nächste Albtraum. Sie müssen in das Reich der verrückten Weißen Königin vordringen, wo das wahre Spiel um das finstere Wunderland bereits begonnen hat. Jeder Zug führt Alice näher an ihre Bestimmung. Aber damit sie als Siegerin hervorgeht, muss sie nicht nur ihre neuen Kräfte zu beherrschen lernen, sondern herausfinden, was mit der rätselhaften Schwarzen Königin geschehen ist ...

Alle Bücher von Christina Henry:
Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland
Die Chroniken von Alice – Die Schwarze Königin
Die Chroniken von Alice – Dunkelheit im Spiegelland
Die Chroniken von Peter Pan – Albtraum im Nimmerland
Die Chroniken der Meerjungfrau – Der Fluch der Wellen
Die Chroniken von Rotkäppchen – Allein im tiefen, tiefen Wald

Die Bände (außer Alice) sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 395

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Autorin

Die Amerikanerin Christina Henry ist als Fantasyautorin bekannt für ihre finsteren Neuerzählungen von literarischen Klassikern wie »Alice im Wunderland«, »Peter Pan« oder »Die kleine Meerjungfrau« sowie für ihre Bestsellerreihe »Black Wings«. Ihr Roman »Die Chroniken von Alice. Finsternis im Wunderland« wurde 2015 zum besten Science-Fiction- und Fantasy-Buch bei Amazon gewählt. Christina Henry liebt Langstreckenläufe, Bücher und Samurai- oder Zombiefilme. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Chicago.

Buch

Alice hat den Kampf gegen den Wahnsinn gewonnen – vorerst. Sie hat die Schandtaten des Kaninchens sowie den Blutdurst des Jabberwocks überlebt und will nun ein Versprechen einlösen: Jenny, die Tochter ihres Freundes Hatcher, zu finden. Doch Alice und Hatcher erwartet der nächste Albtraum. Sie müssen in das Reich der verrückten Weißen Königin vordringen, wo das wahre Spiel um das finstere Wunderland bereits begonnen hat. Jeder Zug führt Alice näher an ihre Bestimmung. Aber damit sie als Siegerin hervorgeht, muss sie nicht nur ihre neuen Kräfte zu beherrschen lernen, sondern herausfinden, was mit der rätselhaften Schwarzen Königin geschehen ist …

CHRISTINA HENRY

DIE CHRONIKEN VON

ALICE

DIE SCHWARZE KÖNIGIN

Roman

Deutsch von Sigrun Zühlke

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Red Queen« bei Ace, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2016 by Tina Raffaele

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Melanie Korte, Inkcraft, nach einer Originalvorlage von Titan Books

Umschlagdesign: Julia Lloyd

BL · Herstellung: sam

Prolog Zwischenspiel in der Alten Stadt

In einer Stadt, in der alles grau und nebelverhangen war und sich hinter jedem Hallen von Schritten ein Ungeheuer verbergen konnte, gab es einen kleinen, sehr gepflegten Mann mit goldbraunen Löckchen, der Geschichten sammelte. Er trug einen Samtanzug in Rosenrot, seine Augen glänzten leuchtend grün wie Rosenblätter, und er saß in seinem mit Rosen bedeckten Salon und bot einer Besucherin, einem Mädchen, das sich mit großen Augen staunend umsah, eine Tasse Tee an. Sie wusste nicht genau, wie sie hierhergekommen war, sondern nur, dass dieser seltsame kleine Mann ihr geholfen hatte, als sie dachte, sich verlaufen zu haben.

»Magst du Geschichten?«, fragte der kleine Mann.

Er hieß Grinser, und das Mädchen dachte, dass dies ein seltsamer Name war, auch wenn dieser Salon und das kleine, ebenfalls mit Rosen bedeckte Haus sehr hübsch waren.

»Ja«, sagte sie. Sie war noch jung und wusste nicht, wovor Grinser sie gerettet hatte, als er sie irgendwo in dem Viertel um sein Haus herum aufgelesen hatte. Sie hatte Glück gehabt, mehr als Glück, dass er es gewesen war, der sie gefunden hatte.

»Ich mag auch Geschichten«, sagte Grinser. »Ich sammele sie. Diese Geschichte mag ich besonders, weil ich auch darin vorkomme. Es ist nur eine kleine Rolle, sicher, aber dennoch eine Rolle. Es war einmal ein Mädchen, das hieß Alice, und sie lebte in der Neuen Stadt, wo alles sauber und schön und hell ist. Aber Alice war ein neugieriges Mädchen mit einer seltsamen Gabe. Sie war eine Zauberin. Weißt du, was eine Zauberin ist?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Aber ich habe davon gehört. Sie konnten Wunder wirken, aber sie wurden schon vor sehr langer Zeit von der Obrigkeit aus der Stadt vertrieben.«

»Nun«, sagte Grinser und zwinkerte. »So dachten sie, aber ein paar Zauberer waren übrig geblieben. Und Alice war eine davon, auch wenn sie es zu Beginn unserer Geschichte noch nicht wusste. Sie verfügte über Magie, und das brachte sie in Gefahr. Ein Mädchen, das sie für ihre Freundin hielt, verkaufte sie gegen Geld an einen sehr bösen Mann, der das Kaninchen genannt wurde.«

»Er war ein Kaninchen?«, fragte das Mädchen verwirrt.

»Eigentlich nicht. Auch wenn er Ohren wie ein Kaninchen hatte, war sein Körper der eines Mannes«, erklärte Grinser. »Das Kaninchen hat Alice wehgetan und wollte ihr noch mehr antun, denn er wollte sie an einen Mann verkaufen, der ›das Walross‹ genannt wurde und Mädchen auffraß, um an ihre Magie zu kommen.«

Das Mädchen mit den großen Augen stellte seine Teetasse auf Grinsers rosenbedecktem Tischchen ab und starrte ihn entsetzt an. »Auffraß? In echt auffressen?«

»O ja, meine Liebe«, sagte Grinser sanft. »Er hat sich an ihnen dick und rund gefressen. Aber Alice war schneller und schlauer, als sie dachten, und so konnte sie dem Kaninchen entkommen, bevor er sie an das Walross verfüttern konnte. Allerdings brandmarkte das Kaninchen Alice dabei, kennzeichnete sie mit einer langen Narbe im Gesicht, damit alle wussten, dass sie ihm gehörte. Aber meine tapfere Alice kennzeichnete ihn ihrerseits – sie stach ihm ein Auge aus.

Doch danach war die kleine Alice gebrochen und traurig und verwirrt, und ihre Eltern sperrten sie weg, in ein Krankenhaus für verwirrte Menschen. Dort traf sie auf einen Irren mit einer Axt namens Hatcher, einen Irren, der sich in sie verliebte.

Eines Tages flohen Hatcher und Alice aus dem Krankenhaus und wanderten durch die Alte Stadt auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und einem Ungeheuer, das der Jabberwock genannt wurde, der eine Spur der Verwüstung hinter sich herzog. Leichen lagen in den Straßen, und in den Rinnsteinen floss Blut.«

Das Mädchen schauderte. »Davon habe ich gehört.«

»Dann sollte ich dir auch erzählen, dass Alice, die kluge Alice, ihn mit ihrer Magie in einen Schmetterling verwandelt hat, sodass er niemals wieder jemandem wehtun konnte, und diesen Schmetterling steckte sie in ein kleines Glas, das sie in ihre Tasche steckte, und dort ist er noch bis zum heutigen Tage – es sei denn, er ist inzwischen gestorben, was vollkommen möglich ist.«

»Und was ist mit dem Kaninchen und dem Walross?«, wollte das Mädchen wissen. »Was ist aus ihnen geworden?«

»Nichts Gutes, meine Liebe«, antwortete Grinser. »Ganz und gar nichts Gutes, denn sie waren böse Männer, und böse Männer nehmen ein schlechtes Ende.«

»Wie sie es auch sollten«, sagte das Mädchen entschlossen. »Was ist aus Alice geworden? Ging die Geschichte gut für sie aus?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Grinser.

Teil EinsDer Wald

Alice war eine Zauberin, obgleich eine, die nicht sonderlich viel von ihrer eigenen magischen Begabung verstand. Sie floh aus einer Stadt, die Zauberer hasste und fürchtete, was einer der Gründe war, warum sie nicht sonderlich viel darüber wusste. Alice war groß und blauäugig und innerlich ein bisschen gebrochen, aber ihrem Gefährten machte das nichts aus, denn sein Inneres war so dermaßen durcheinander, wie ihres niemals werden könnte.

Hatcher war ein Axtmörder, und im Gegensatz zu ihr verstand er sein Handwerk ziemlich gut. Er war groß, grauäuig, verrückt und gefährlich, aber er liebte sie auch, und so blieben sie zusammen, stolperten gemeinsam einer Zukunft entgegen, die es ihnen erlauben würde, ihre Vergangenheit auch in der Vergangenheit ruhen zu lassen.

Sie wünschte, sie könnte irgendetwas Magisches tun wie in einem Märchen – einen Teppich herbeizaubern, um darauf zu fliegen, oder ein praktisches Einhorn heraufbeschwören, um darauf zu reiten. Es erschien ihr ziemlich sinnlos, eine Zauberin zu sein, wenn man nicht über ein paar spektakuläre Tricks verfügte.

Zumindest ein Fahrrad müsste doch herbeizuzaubern sein, auch wenn die Vorstellung von Hatcher, der versuchte, auf zwei Rädern das Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig die Axt nicht loszulassen, sie zum Lachen brachte. Alles wäre besser als dieser Tunnel, dieser endlose, enge Tunnel, dieses ständige Halbdunkel ohne ein Licht am Horizont. Niemals wäre sie hier hineingegangen, hätte sie gewusst, wie lange es brauchen würde, um wieder hinauszukommen – drei Tage mindestens waren sie schon unterwegs. Zumindest schätzte sie das, denn es gab hier unten keine Anhaltspunkte, um das Verstreichen der Zeit zu messen.

Sie schliefen, wenn sie müde waren, und aßen die letzten Reste von dem Proviant, den Hatcher in seinem Bündel trug. Schon bald waren sie hungrig und durstig. Allerdings war das ein Gefühl, mit dem sie sehr vertraut waren, insofern war es nur eine weitere Unannehmlichkeit unter vielen. Seit sie aus dem Irrenhaus mit seinen regelmäßigen Mahlzeiten – Haferbrei morgens und abends – geflohen waren, waren Essen und Trinken nichts, was ihnen regelmäßig zur Verfügung stand.

Im Gehen träumte Alice vom freien Feld, von Wiesen und Wäldern, die sie am Ende der Reise finden würden, dem schönen grünen Land, das Pipkin ihnen beschrieben hatte, dem Kaninchen, das sie aus dem Kampfring des Walrosses gerettet hatten. Alles wäre besser als der erdrückende Nebel und die Düsternis der Alten Stadt.

Hatcher schwankte in seiner typischen Hatcher-Art ständig zwischen trübsinnigem Schweigen und Ausbrüchen von Irrsinn. Wenn er nicht niedergeschlagen vor sich hinbrütete, rannte er weit vor und wieder zurück, immer wieder und wieder, bis er kreidebleich und atemlos war. Manchmal blieb er stehen, um auf die Wand einzuprügeln, bis seine Fäuste blutig waren, oder mit seiner Axt Stücke aus der Wand zu hacken. Alice hatte den Eindruck, dass er mehr vor sich hinbrütete und weniger rannte als gewöhnlich. Allerdings musste man ihm zugestehen, dass er jetzt auch mehr hatte, worüber er trübsinnig grübeln konnte, als früher.

Vor Kurzem erst war die Erinnerung zu ihm zurückgekehrt, dass er eine Tochter hatte, mehr als zehn Jahre, nachdem sie an einen Mädchenhändler in den Fernen Osten verkauft worden war. Es war nicht seine Schuld, dass er sie vergessen hatte, denn die Ereignisse jenes lang vergangenen Tages hatten ihn von Nicholas in den irren Axtmörder Hatcher verwandelt, der er jetzt war. Alice vermutete, dass Schuld und Wut und Hilflosigkeit gleichzeitig in ihm brodelten und sich diese aufwühlenden Gefühle mit seinen Träumen vom Blut mischten, und manchmal sah sie ihm das alles auch an, aber er sprach nie darüber.

Und, dachte Alice, wahrscheinlich ist er auch ein bisschen sauer auf mich, weil ich ihn in Schlaf versetzt habe, als es Zeit war, gegen den Jabberwock zu kämpfen.

Alice bedauerte ihre Entscheidung nicht, auch wenn sie wusste, dass sie Hatchers Selbstbild als ihr Beschützer untergraben hatte. Hatcher neigte dazu, erst seine Axt zu schwingen und dann zu überlegen, und wie sich herausgestellt hatte, war gar kein Blutvergießen nötig gewesen, um den uralten Zauberer zu besiegen.

Sie spürte das beruhigende Gewicht der kleinen Flasche in ihrer Tasche und richtete die Gedanken bewusst davon weg. Schon bald würde der Jabberwock darin tot sein, wenn er es nicht bereits war.

Plötzlich ging es steil bergauf. Und Alice bemerkte, dass die Laternen, die bisher in regelmäßigen Abständen an der Tunnelwand angebracht gewesen waren, verschwunden waren. Licht schien von außen herein.

Hatcher rannte den steilen Hang hinauf, während Alice sich mühte mitzuhalten, immer wieder stolperte und sich mit Händen und Füßen in der Erde festhielt, um nicht wieder herunterzurutschen. Irgendwie schien Alice immer alles schwerer zu fallen als Hatcher, sie war weder so stark noch bewegte sie sich so elegant wie er. Manchmal kam es ihr vor, als hätte sich ihr Körper gegen sie verschworen.

Als sie schließlich aus dem Tunnel ins blendende Licht hinaustraten, beschloss Alice, dass sie schlichtweg nicht geeignet war für ein Leben unter der Erde.

Sie kroch über den Rand des Eingangs, halb blind nach den im Dunkeln verbrachten Tagen, blinzelte durch zusammengekniffene Augenlider und wollte sanft über das grüne Gras streichen. Stattdessen ertastete sie etwas, das sich wie sehr feine Asche anfühlte, und ein paar struppige, piksende Pflanzen, die trotzig die Gesichter der Sonne entgegenhielten.

Alice zwang ihre Augen weit auf. Es war schwieriger, als es sein sollte; ihre Augen wollten sich nicht für dieses gleißende Licht öffnen und leisteten immer wieder hartnäckigen Widerstand.

Hatcher schien die Anpassung leichter zu fallen, er rannte auf die Ebene hinaus und feierte die Weite und die Freiheit. Durch ihre halb geschlossenen Augen nahm sie ihn nur als schemenhaften Umriss vor der blendenden Helligkeit wahr. Plötzlich blieb er stehen, und seine unvermittelte Reglosigkeit veranlasste Alice dazu, sich endlich aufzurappeln und in Ruhe umzusehen. Als es ihr gelungen war, wünschte sie beinahe, sie hätte es nicht getan, denn was sie erblickte, versprach keine Verbesserung im Vergleich zu dem Leben im Tunnel.

Der Hang des Hügels, auf den sie aus dem Tunnel herausgekommen waren, musste früher auf offenes Grasland geblickt haben, mit hohen Gräsern und vielleicht getupft mit Wildblumen. Doch jetzt erstreckte sich vor ihnen meilenweit nichts als Niemandsland, eine weite, geschwärzte Ebene, nur hin und wieder von einer leichten Erhebung oder einem Hügel durchbrochen.

»Das ist nicht das, was wir erwartet haben«, sagte Hatcher.

»Nein«, sagte Alice mit schwacher Stimme. »Was ist hier geschehen?«

Hatcher zuckte die Achseln. »Ich seh hier niemanden, den man fragen könnte.«

Alice kämpfte gegen die Tränen an, während sie die Verwüstung um sich herum betrachtete. Dabei gab es hier nichts, worüber man hätte weinen müssen – keine Frauen entführenden Verbrecher, keine Straßen voller Leichen und Blut, kein Kaninchen, das sie für sich stehlen wollte.

Einfach nur Wüste. Niemand, der dir oder Hatcher etwas tun könnte. Du kannst das hier überleben. Es ist nichts im Vergleich zu dem, was hinter dir liegt.

Wenn sie sich das nur oft genug sagte, könnte sie es vielleicht wahr machen. Das ist nichts, ganz und gar nichts.

Aber das Versprechen eines Paradieses vor den Mauern der Stadt hatte ihr Kraft gegeben, sie am Leben erhalten, der Traum von einem Tal in den Bergen und einem See und einem Himmel, der tatsächlich blau statt grau war. So viel durchgemacht zu haben und dann nur dieses ausgebrannte Land zu entdecken, war so eine bittere Enttäuschung, dass in Tränen auszubrechen die einzig vernünftige Option zu sein schien. Sie ließ ein paar Tränen fallen, beobachtete, wie sie in die Asche zu ihren Füßen fielen und sofort aufgesogen wurden. Dann rieb sie sich das Gesicht und sagte sich, dass es damit jetzt genug sein musste.

Sie ging um den Hügel herum, um zu sehen, was in der anderen Richtung lag. In der Entfernung blinkte die Neue Stadt, hinter den mächtigen Umfassungsmauern erhoben sich ihre schimmernd weißen Gebäude. Umschlossen von der Neuen Stadt, lag die Alte Stadt wie eine schwärende Wunde, schwarz und düster, umringt von ihrer Nachbarin.

»Mir war nie klar, dass sie so groß ist«, sagte Alice, als Hatcher sich neben sie stellte. Sein erster Energieausbruch war verflogen, und er wirkte wieder niedergeschlagen, ob allerdings durch seine Sorgen oder die Landschaft, konnte Alice nicht sagen.

Die beiden Städte wirkten wie ein riesiger heller Fleck in der Landschaft, der sich bis zum Horizont erstreckte. Natürlich muss sie riesig sein, dachte Alice. Sie hatten mehrere Tage gebraucht, um vom Krankenhaus zum Bau des Kaninchens zu gelangen, und doch nur einen Bruchteil der Alten Stadt gesehen. Die chaotisch-enge, verschachtelte Bauweise der Alten Stadt ließ sie irgendwie kleiner wirken.

»Was nun?«, murmelte Alice, während sie zum Tunnelausgang zurückkehrte. Hatcher trottete ihr nach, offensichtlich mit den Gedanken ganz woanders.

Sie hatten darauf vertraut, Essen und Wasser zu finden, sobald sie aus dem Tunnel kämen, doch das schien jetzt unvorstellbar.

»Irgendwo muss hier doch ein Dorf oder eine Stadt sein«, sagte sie zu Hatcher. »Schließlich kommen nicht alle Menschen auf der Welt aus der Stadt. Und jenseits dieser Wüste muss es auch irgendetwas geben. Sonst hätten Grinser und die anderen Zauberer doch diesen Tunnel nicht so in Schuss gehalten.«

Hatcher ging in die Knie und strich mit den Fingern durch die schwarze Substanz, die den Boden bedeckte. »Das ist alles verbrannt.«

»Ja«, stimmte Alice ihm zu. »Aber irgendwie unnatürlich verbrannt. Es sieht nicht aus wie normale Asche von einem normalen Feuer.«

»Magie?«, fragte Hatcher.

»Nehme ich an«, antwortete sie. »Aber aus welchem Grund sollte ein Magier Land verbrennen, so weit das Auge reicht? Und wie lange ist das her? Es sieht aus, als würde die verbrannte Fläche bis direkt an die Neue Stadt reichen. Wie kommt es, dass die Stadt selbst nicht auch verbrannt ist?«

»Was auch immer hier passiert ist, du kannst sicher sein, dass niemand in der Stadt davon erfahren hat«, meinte Hatcher.

»Bis auf die Leute in der Neuen Stadt«, sagte Alice. »So was geschieht doch nicht, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.«

»Du hast früher in der Neuen Stadt gelebt«, sagte Hatcher. »Hast du da irgendwas erfahren, wenn die Obrigkeit es dir nicht mitgeteilt hat?«

»Nein«, gab Alice zu. »Aber ich war auch noch ein kleines Mädchen. Ich habe sowieso nicht viel von dem mitbekommen, was sich außerhalb meines Gartens abspielte. Für mich gab es nur meinen Garten, meine Gouvernante und meine Familie.«

Und Dor, dachte sie, aber sie sprach es nicht laut aus. Kleine Dor-Maus, die zum Kaninchen gehuscht war. Dor, die Alice an einen Mann verkauft hatte, der sie vergewaltigt hatte und versucht, sie zu brechen. Dor, ihre beste Freundin auf der ganzen Welt.

Der Gedanke an Dor weckte Erinnerungen an die Teegesellschaft mit dem Kaninchen und dem Walross, den gigantischen Kuchenteller und wunderhübsche Törtchen mit fröhlich buntem Guss. Was hätte sie jetzt nicht alles für einen Kuchen gegeben! Allerdings nicht vom Kaninchen. Seine Kuchen waren mit Pulvern gefüllt gewesen, die sie benommen und gefügig gemacht hatten.

Kurz dachte sie sehnsüchtig an Grinsers magische Verpflegungspäckchen, doch dann fiel ihr ein, dass sie dafür eine Verbindung zu ihm unterhalten müsste, was sie nicht wollte.

Aber vielleicht konnte sie Nahrung heraufbeschwören. Sie hatte bisher noch nichts in der Art versucht, weil es ihr schwerfiel, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, eine Zauberin zu sein. Wenn sie erst einmal weit genug entfernt von der Stadt waren, könnte sie vielleicht nach einem Zauberer suchen, von dem sie lernen konnte. Sie konnten doch nicht alle so schrecklich sein wie die Raupe und das Kaninchen und Grinser und der Jabberwock.

Alice musste aufhören, an den Jabberwock zu denken. Der Wunsch hatte besagt, dass sie ihn vergessen und er daran sterben sollte. Also musste sie ihn vergessen, denn sie wollte nie wieder die Verheerungen mit ansehen müssen, die seine Wut hinterließ. Die Straßen der Alten Stadt voll von Leichen und Strömen aus Blut, totenstille Straßen, auf denen sich nichts Lebendiges mehr regte außer Hatcher und ihr.

Im Grunde läuft es schon wieder auf dasselbe raus, ehrlich, dachte Alice. Nur sie und Hatcher und eine verwüstete Landschaft.

So wie sie hier in den Ruinen einer eingeäscherten Landschaft saß, die wahrscheinlich von einem magischen Feuer verzehrt worden war, und sich an die schrecklichen Taten dieser Männer in der Alten Stadt erinnerte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass es auch gute Zauberer geben könnte.

»Vielleicht verdirbt sie die Macht«, überlegte Alice laut.

Ein beängstigender Gedanke, einer, der sie plötzlich zögern ließ, überhaupt jemals ihre Magie auszuprobieren. Sie hatte Jahre unter dem Einfluss mächtiger Drogen gelebt, die sie hatten glauben machen, sie sei verrückt. Sie lernte gerade erst, wer Alice war. Wie es war, sie selbst zu sein. Lieber würde sie für immer auf Magie verzichten, als jemand zu werden, den sie nicht mehr wiedererkannte.

»Wen verdirbt Macht?«, fragte Hatcher.

»Hm?«

»Du hast gesagt: Vielleicht verdirbt sie die Macht.«

»Die Zauberer. Wir haben noch keinen anständigen getroffen.«

»Ja, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. In der Geschichte, die Grinser uns erzählt hat, hat ein guter Zauberer die Welt vor dem Jabberwock gerettet. Zumindest für eine Weile.«

»Stimmt«, sagte Alice. »Das hatte ich vergessen.«

»Die guten Sachen vergisst man leicht«, sagte Hatcher, und diese Bemerkung schien ihn erneut in Grübeleien versinken zu lassen. Er setzte sich in die Asche und begann mit der Spitze eines der vielen Messer, die er immer bei sich trug, darin herumzumalen.

Alice beschloss, ihn in Ruhe zu lassen. Hatcher war schon zu seinen besten Zeiten nicht gerade redselig, und ihn zu zwingen, sich zu erklären, würde nur damit enden, dass sie beide verärgert waren.

Es konnte nicht schaden, ein bisschen Magie zu bemühen. Offenbar würden sie erst einmal nicht weitergehen, und Alice hatte Hunger.

Bisher hatte sie nur Magie gewirkt, indem sie sich etwas gewünscht hatte, zumindest wenn sie es bewusst getan hatte. Sie hatte sich gewünscht, dass der Jabberwock zu einem Schmetterling wurde; sie hatte sich gewünscht, dass die Verbindung zwischen ihr und Grinser abriss. Ein köstliches Mahl war vielleicht nur einen Wunsch entfernt.

Sie setzte sich ein paar Meter von Hatcher und seinen Malereien entfernt hin. Er malte nicht nur planlos im Dreck herum, sondern schien an einem Muster zu arbeiten, das wuchs und komplexer wurde. Jetzt hockte er auf den Fußballen und hüpfte von einer Seite zur anderen, während er das Muster auf dem Boden ergänzte und erweiterte.

»Was machst du da?«, fragte sie neugierig.

Er knurrte nur, und Alice runzelte die Stirn. Na schön, wenn er es so will, kann er es so haben. Sie drehte sich bewusst von ihm und seiner Arbeit weg und konzentrierte sich auf ihre eigene Aufgabe.

Also, dachte sie mit einem vorfreudigen Kribbeln im Magen, was soll ich mir wünschen?

Alice war eine fürchterliche Naschkatze, sie liebte Süßigkeiten, und diese Vorliebe war von mindestens zehn Jahren faden Haferbreis nicht ausgelöscht worden. Ihr erster Gedanke war daher, sich einen Teller mit Plätzchen und Kuchen zu wünschen sowie eine große Kanne dampfenden Tee samt schöner Porzellantassen. Doch das war kein sinnvoller Wunsch. Sogar Alice war klar, dass sie mit Zuckerguss und Butter nicht weit kommen würden.

Was also dann? Irgendetwas, das man gut in Hatchers Beutel packen konnte und das in dieser ausgedörrten, heißen Landschaft nicht verderben würde. Es war wirklich sehr heiß. Schweiß stand ihr in dicken Tropfen auf Stirn und Oberlippe und lief ihr den Rücken hinunter. Im Tunnel war es kühl und dunkel gewesen. Jetzt knallte die Sonne auf sie herunter und ließ ihr Hemd, ihre Jacke und die schwere Hose, die sie trug, am Körper kleben, weshalb sie noch schlechtere Laune bekam und sich noch unwohler fühlte als ohnehin schon.

Sie zog die Jacke aus und steckte das kleine Messer, das sie immer in der Tasche trug, in den Gürtel ihrer Hose. Dann streckte sie die Hände mit den Handflächen nach unten vor sich aus, auch wenn sie sich ein bisschen dämlich dabei vorkam. Irgendwie hatte sie die seltsame Vorstellung, dass die Magie aus ihren Händen kommen müsste. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich fest auf das, was sie wollte.

»Ich wünsche mir … sechs Fleischpasteten«, entschied sie. »Und ein Dutzend Äpfel. Und einen Krug mit frischer Milch.«

Alice öffnete die Augen und blickte unter ihre Hände. Nichts. Nur feine graue Asche und ein heißer, unnachgiebiger Wind, der darin spielte und sie zu kleinen Wirbeln formte.

Sie runzelte die Stirn. Wieso hatte das jetzt nicht funktioniert? Als sie die Worte wiederholte, behielt sie ihre Hände bei sich und starrte entschlossen ins Leere.

Wieder nichts. Sie merkte, dass Hatcher in seinem manischen Tun innegehalten hatte und ihr über die Schulter sah.

»Ich glaube, so funktioniert das nicht«, sagte er. Er klang beinahe normal, als wäre das Fieber vergangen, das ihn gepackt hatte.

»Was weißt du denn schon darüber?«, fauchte Alice ihn an. Ihr gescheiterter Versuch war ihr ein bisschen peinlich, als hätte man sie bei etwas Unanständigem ertappt.

Er zuckte die Schultern. »Genauso viel wie du, schätze ich. Wahrscheinlich etwas weniger.«

»Wie kommst du dann auf die Idee, dass es so nicht funktionieren kann?«, fragte sie.

»Du versuchst, aus dem Nichts etwas zu erschaffen«, sagte er. »Als du den Jabberwock zum Schmetterling in das Glas gewünscht hast, hast du den Jabberwock verzaubert, der vor dir stand. Als du die Verbindung zwischen dir und Grinser zerrissen hast, hast du etwas zerrissen, das es schon gab. Du hast nicht mit dem Nichts angefangen.«

Alice dachte nach. »Und was war, als ich den Jabberwock vertrieben habe, um dich zu schützen? Da hab ich etwas aus dem Nichts gemacht.«

Hatcher schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast deine eigene Angst benutzt, deine eigene Liebe, und hast sie dem Jabberwock entgegengeschleudert.«

»Ich habe Hunger und Durst«, sagte Alice. »Wieso kann ich daraus kein Essen machen, wenn Liebe und Angst ein Ungeheuer verjagen können?«

»Du bist die Zauberin«, sagte Hatcher und wartete sichtlich darauf, was sie als Nächstes tun würde.

»Etwas aus Etwas«, murmelte Alice. »Immer diese Regeln! Wohin wir auch gehen, immer gibt es Regeln! Wozu ist man denn ein Zauberer, wenn man sich nicht mal ab und zu selbst helfen kann?«

»Also, ich würde ja sagen, dass alle Zauberer, die wir bisher getroffen haben, nichts anderes getan haben, als sich selbst zu helfen«, bemerkte Hatcher. Er legte den Kopf schief. »Hörst du das?«

»Was?«, fragte Alice. Sie war damit beschäftigt, mit den Händen Asche zusammenzuschieben und kleine Häuflein daraus zu formen, genau in der Größe der Fleischküchlein, die sie sich wünschen wollte.

Hatcher stand auf, beschattete die Augen und hielt Ausschau in Richtung Stadt. »Ein Summen.«

Da hörte Alice es ebenfalls – ein gleichmäßiges, jaulendes Summen, kein Geräusch, wie es ein Tier von sich geben würde, sondern wie von einer Maschine. Sie ließ die Asche Asche sein, stand auf, stellte sich neben Hatcher und beschattete ebenfalls ihre Augen. Genau über der Stadt war ein kleiner schwarzer Fleck in der Luft.

»Was ist das?«, fragte sie, während sie versuchte, den Umriss und das Geräusch zu deuten.

Hatcher schüttelte langsam den Kopf. »Keine Ahnung, aber natürlich ist das nicht. Kein Insekt gibt solche Geräusche von sich.«

»Für ein Insekt ist es auch viel zu groß«, gab Alice zurück. »Es sei denn, es ist Magie im Spiel.«

»Grinser?«, überlegte Hatcher laut. »Aber warum so offensichtlich?«

»Ja, das sieht ihm nicht ähnlich, er hält seine Macht doch eher geheim«, stimmte Alice ihm zu. »Er arbeitet lieber im Verborgenen.«

Vielleicht gab es noch einen unbekannten Zauberer in der Stadt. Das war möglich, ja wahrscheinlich. Allein, dass es die Zauberer gab, die sie bisher getroffen hatten, zeigte doch, dass es der Regierung nicht gelungen war, sie alle zu vertreiben.

Das Summen wurde lauter, und der schwarze Fleck löste sich vor ihren Augen in viele kleinere Flecken auf.

»Flugmaschinen?«, fragte Alice.

»So kleine habe ich noch nie gesehen«, sagte Hatcher. »Man konnte sie vom Fenster des Krankenhauses aus beobachten.«

»Stimmt«, sagte Alice.

Die Luftschiffe waren silbern und groß und gemächlich durch die Luft gesegelt. Es herrschte stets große Aufregung, wenn sie über den Himmel der Stadt zogen, auch weil es so selten überhaupt irgendetwas Aufregendes im Krankenhaus zu erleben gab. Die einzige Unterhaltung bestand darin, wenn die Pfleger versuchten, Hatcher aus der Zelle zu holen, um ihn zu baden. Manchmal hatte sich Alice einen Spaß daraus gemacht mitzuzählen, wie viele Nasen und Finger brachen, bevor sie aufgaben und ihn in Ruhe ließen.

Die Objekte blitzten metallisch auf, und das Summen, das ihnen vorauseilte, bohrte sich in Alice’ Schädel. Sie hielt sich die Ohren zu, als Hatcher sie am Arm packte und zurück zum Tunnel zerrte. Verblüfft sah sie ihn an und nahm kurz eine Hand vom Ohr, um zu hören, was er zu sagen hatte.

»Was immer das ist, wir wollen nicht, dass es uns im offenen Gelände erwischt«, erklärte er.

Er duckte sich in den Tunnel hinein und zog Alice mit sich. Sie wäre die steile Rampe hinuntergerollt, wenn er ihren Oberarm nicht mit solcher Kraft gehalten hätte, dass seine Hände Blutergüsse hinterließen. Alice bohrte Ellbogen und Zehen in den festgetretenen Lehm, während sie die Hände auf die Ohren presste. Hatcher neben ihr rollte schon wieder mit den Augen, wie immer, wenn er sich aufregte. Der Lärm hatte einen Anfall ausgelöst. Er zitterte am ganzen Körper, ein feines Beben verspannter Muskulatur, die nur darauf wartete, losgelassen zu werden.

Und das, wo er sich gerade erst beruhigt hatte, dachte Alice. Seine Anfälle machten ihr nicht so viel Sorge, wie sie es wahrscheinlich sollten, aber in diesem Zustand konnte er sehr impulsiv sein. Halb fürchtete sie, dass er aus dem Loch springen und draußen Aufmerksamkeit erregen könnte.

Der Lärm erfüllte den Tunnel, er schien in die Erde zu sickern und durch die schwächliche Dämmung von Alice’ Fingern zu kriechen. Sie fühlte sich wie ein Wurm, der in der Erde Zuflucht gesucht hatte.

»Meine Jacke«, sagte sie, als ihr einfiel, dass sie sie gut sichtbar draußen auf dem Hügel hatte liegen lassen. Und das verschlungene Muster, das Hatcher gezeichnet hatte, fiel ihr auch wieder ein. Alice konnte nur hoffen, dass ihre Spuren nicht bemerkt wurden, egal, was für eine Kreatur sich ihnen gerade näherte.

Der Lärm wurde ohrenbetäubend, lange bevor die Objekte über sie hinwegschossen. Dann blitzte es über ihnen silbern auf, gefolgt von einem weiteren silbernen Blitz und noch einem. Sie wirkten wie ein Schwarm Fische, der auf wundersame Weise nach oben in die Wolken versetzt worden war. Alice erkannte, dass es tatsächlich Flugmaschinen waren. Allerdings sahen sie vollkommen anders aus als alle, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Im Gegensatz zu den großen, majestätischen Luftschiffen mit ihren riesigen Ballons und den großen Propellern waren dies kleine schlanke Zylinder, Projektile, vielleicht so lang wie ein Mann. Jedes hatte einen Propeller an einem Ende, auch wenn Alice nicht erkennen konnte, wie diese winzigen Dinger dafür sorgen sollten, dass sich das Projektil bewegte oder wie sie sich ohne Magie überhaupt vom Boden hatten lösen können. Auf jedem Zylinder saß rittlings ein Mensch in hautenger schwarzer Kleidung, die Körper, Kopf und Gesicht bedeckte.

Mutter hätte diese Klamotten unanständig gefunden, dachte Alice.

Sie warf einen Blick zu Hatcher und sah, dass sich seine Lippen bewegten. Er zählte stumm alle Schiffe, bis sie verschwunden waren. Schweiß rann an seinen Schläfen hinunter, während er um ein Mindestmaß Selbstbeherrschung kämpfte. Die Flieger schienen den Tunneleingang, das auf den Boden gemalte Muster und ihre Jacke nicht bemerkt zu haben.

Als alles vorbei war, kletterten sie wieder aus dem Tunnel und blickten den Fluggeräten nach, die nach und nach kleiner wurden und schließlich am Horizont verschwanden.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Alice. »Ich dachte, wir würden der Stadt entkommen, wenn wir sie erst mal hinter uns gelassen hätten.«

»Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragte Hatcher. »Grinser und die anderen sind auch über die Stadtgrenzen hinausgegangen. Da ist es nur vernünftig anzunehmen, dass auch die Machthabenden das tun.«

»Ja, klar«, sagte Alice, aber sie war beunruhigt. Beunruhigt durch diese Maschinen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und die rätselhaften Wesen, die darauf ritten. Beunruhigt durch den Gedanken, dass etwas oder jemand sie über die Stadtgrenzen hinaus verfolgen könnte. Konnte jemand – ein Minister, ein Zauberer, ein Doktor – herausgefunden haben, dass Alice und Hatcher den Brand im Krankenhaus überlebt hatten? Wurden sie gejagt?

Sie sagte nichts zu Hatcher. Er würde nur abfällig schnauben und behaupten, sie wären nicht interessant genug für die Ärzte oder ihre Familie. Oder er würde im Gegenteil selbstverständlich davon ausgehen, dass sie verfolgt würden, woraufhin sie sich dumm und naiv vorkäme, weil sie diese Möglichkeit überhaupt nicht bedacht hatte.

Alice merkte, dass sie vor dem Muster stand, das Hatcher so sorgfältig in die Asche gemalt hatte. Sie hockte sich auf die Fersen, um es besser betrachten zu können.

Es war ein fünfzackiger Stern, der von sechs kleineren Sternen umringt war. Fünf der Sterne wiesen die gleiche Größe auf, aber der oberste schien besonders groß zu sein. Während sie auf den Stern blickte, schien er sich im Sand zu bewegen und aufzuleuchten, wie es ohne Magie nicht möglich sein konnte.

Sie stand schnell auf, und der Stern kehrte zu seiner ursprünglichen Form zurück.

»Was soll das bedeuten?«, fragte sie Hatcher und zeigte auf die Zeichnung.

»Das ist das Zeichen der Verlorenen«, antwortete er.

»Wer sind die Verlorenen?«

Hatcher machte ein überraschtes Gesicht und sagte: »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Alice seufzte. »Also eine Vision. Irgendetwas, das wir früher oder später zu sehen bekommen oder tun müssen.«

Sie unterdrückte die Bemerkung, dass seine seherischen Fähigkeiten ihnen mehr nützen würden, wenn seine Visionen etwas konkreter wären. Doch sie war selbst nicht gerade eine besonders fähige Zauberin, daher stand es ihr nicht zu, Hatchers Fähigkeiten zu kritisieren.

»Möglicherweise hat es etwas mit Jenny zu tun«, bemerkte er und konnte die Hoffnung in seiner Stimme nicht unterdrücken. Er hatte seine Tochter vergessen und sich dann wieder an sie erinnert. Jetzt klammerte er sich an jeden Hinweis und jede Hoffnung.

Alice legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er ergriff sie mit der anderen Hand, sodass sein Arm quer über seiner Brust lag, als umarmte er sich selbst, um zu verhindern, dass er auseinanderflog.

»Lass uns mal sehen, ob ich nicht doch aus Asche Pasteten zaubern kann«, sagte Alice sanft, während sie ihm ihre Hand entzog. »Sieht aus, als hätten wir noch einen weiten Weg vor uns.«

Nach einigen Versuchen gelang es Alice, zwei kleine Pasteten zu produzieren (allerdings ziemlich fettig, und die Soße schmeckte nicht besonders gut), vier erbärmlich aussehende Äpfel und etwas Milch, so sauer, dass sie sie sofort wegschütteten.

»Immerhin hast du es geschafft, Essen zu zaubern«, befand Hatcher, während er auf seiner Pastete herumkaute. Etwas knirschte zwischen seinen Zähnen, und er zog ein kleines Knöchelchen heraus.

Alice versuchte sich einzureden, dass dies besser war als nichts, doch die Pastete war kaum genießbar. »Ich frage mich, ob sie so eklig schmecken, weil ich sie aus Asche gemacht habe«, sagte sie und dachte wieder sehnsüchtig an Kuchen mit Zuckerguss und heißen Tee. Selbst einfaches, sauberes Wasser zu haben wäre herrlich gewesen, um den staubigen Geschmack der Pasteten wegzuspülen.

Sie packten die Äpfel für später ein, denn sie wussten nicht, wann es wieder anständiges Essen geben würde, und machten sich in die Richtung auf, in die die Zylinder geflogen waren. Die Stadt lag im Westen, also gingen sie in die entgegengesetzte Richtung.

Alice musste sich zwingen, nicht an die Männer zu denken, die auf den seltsamen Maschinen aus der Stadt geflogen gekommen waren. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie schrecklich ausgesetzt sie in dieser Landschaft waren und dass sie nichts darüber wussten, wie diese Männer bewaffnet waren. Sie versuchte, nicht an die Waffe zu denken, die Hatcher unter seinem Mantel versteckt trug, die Pistole mit einer Kugel für sie und einer für ihn, für den Fall, dass jemand versuchte, sie gefangen zu nehmen und ins Irrenhaus zurückzubringen.

Sie versuchte es. Und scheiterte kläglich.

In der Ferne waren kleine Hügel zu erkennen, ähnlich dem, aus dem sie gekommen waren. Alice überlegte, ob sich darin ebenfalls Tunnel befanden, und falls ja, wohin diese Tunnel wohl führen mochten.

»Sieh mal.« Hatcher zeigte plötzlich auf den Boden.

In der Asche vor ihnen war der unverwechselbare Fußabdruck eines Kaninchens zu sehen. Eines sehr, sehr großen Kaninchens.

»Pipkin!«, rief Alice. Sie hatte schon lange nicht mehr an das Kaninchen gedacht, das sie vor dem Walross gerettet hatten, und an die Mädchen, die er aus der Stadt herausführen wollte.

Wie enttäuscht sie gewesen sein mussten!, dachte Alice traurig. Als sie aus dem Tunnel kamen und sich in dieser öden Wüste wiederfanden statt den grünen Wiesen, die ihnen versprochen worden waren.

Sie wusste, dass ihre Enttäuschung nicht vergleichbar sein konnte mit der dieser Mädchen, die in einem Bordell mit Männern eingeschlossen worden waren, die sie nicht kannten, und einige von ihnen in Käfigen, damit das Monster sie fressen konnte, das sie gefangen genommen hatte.

»Wie weit sie wohl vor uns sind?«, fragte Alice.

»Sehr weit können sie nicht sein, so frisch, wie der Abdruck aussieht«, meinte Hatcher. »Es ist nicht besonders windig.«

Alice hielt Ausschau nach sich bewegenden Gestalten am Horizont. Doch da war nichts, als immer dieselbe Leere zu sehen, und die einzigen Lebewesen in Sicht waren sie und Hatcher.

Sie fand sich damit ab, dass es ein weiterer langer und anstrengender Tag werden würde, und ließ ihre Gedanken schweifen, während sie durch die Asche stapfte.

»Wie hast du das gemacht, Alice?«

Die Stimme eines kleinen Mädchens. Dors Stimme. Voller Verwunderung und, wie Alice heute wusste, damals aber nicht verstanden hatte: Neid.

»Keine Ahnung!«, antwortete Alice, während sie beide auf die kleinen blauen Edelsteine blickten, die plötzlich in Alice’ Handfläche lagen.

Sie hatte ein blaues Vergissmeinnicht in der Hand gehabt, das sie verbotenerweise im liebevoll gepflegten Garten ihrer Mutter gepflückt hatte, und gedacht, dass die Blütenblättchen aussahen wie kleine Edelsteine in der Sonne, und auf einmal lagen da kleine Edelsteinchen in ihrer Hand.

Nicht besonders nützlich, dachte Alice jetzt, Edelsteine aus Blumen.

Zu dumm, dass sie nie gelernt hatte, aus Dreck Brot zu machen. Dann hätte sie jetzt zumindest eine Ahnung davon, wie sie ihre Bäuche füllen könnten.

Alice war in den letzten zehn Jahren meistens hungrig gewesen, doch im Krankenhaus hatte ihr das nicht allzu viel ausgemacht. Überwiegend, weil sie sowieso den ganzen Tag unter Drogen stand, sodass alles um sie herum unwirklich wie in einem Traum dahinzutreiben schien.

Seit sie geflohen waren, hatte sie fast immer Hunger gehabt und das Gefühl, niemals richtig satt werden zu können, und dieses Gefühl wurde durch die zahllosen Gefahren, denen sie immer wieder ausgesetzt waren, noch verstärkt: gefangen genommen, gefoltert und getötet zu werden.

Am liebsten hätte sie sich einfach nur hingesetzt, mit einer anständigen Mahlzeit vor sich, und sich danach zu einem geruhsamen Schlaf hingelegt. Und außerdem hätte sie alles für ein richtig gutes Bad gegeben, ein richtiges Bad in einer richtigen Kupferwanne mit heißem Wasser, das aus Kesseln eingefüllt wurde, und süß duftenden Seifenblasen überall. Das Einzige, was in letzter Zeit einem Bad zumindest nahe gekommen war, war der See in Grinsers Irrgarten gewesen, den sie durchschwommen hatte, um Hatcher zu retten vor … was auch immer das für eine Kreatur gewesen war.

Seither war sie in eine ganze Menge gewalttätiger Auseinandersetzungen verwickelt und mit reichlich Blut bespritzt worden und durch Dreck gerobbt, und Alice war sich nur allzu sehr des üblen Geruchs bewusst, den sie nach all diesen Anstrengungen verströmte.

Die Sonne ging unter, der Mond erschien am Himmel, und die Einöde um sie herum schien sich plötzlich zu beleben. Überall huschte es und kroch und schob sich durch den Sand, Schatten, die Alice näher an Hatcher rücken ließen.

Hatchers graue Augen glänzten im Mondlicht wie die Augen einer Katze, und so glänzte auch die Schneide seiner Axt. Dies war Hatchers Zeit, hier war er in seinem Element, konnte den Jägern zeigen, dass er keine Beute war.

Beschämt durch ihre Angst, zog Alice ihr Messer. Sie hatte sich schon wesentlich gefährlicheren Männern und Tieren gestellt als den kleinen Wesen, die da draußen herumhuschen mochten. All diese Kreaturen waren klein, leicht verwechselbar mit einer Sinnestäuschung, kaum als Lebewesen erkennbar. Sie konnten unmöglich dieselbe Bedrohung darstellen wie zum Beispiel das Walross.

Plötzlich erstrahlte der Himmel glühend hell, als wäre die Sonne wieder aufgegangen, als hätte sie die Geduld mit dem Mond verloren und wäre direkt an den Zenit gestiegen.

Das Licht flackerte, als stammte es von einer Fackel oder einem Feuer, auch wenn sie wusste, dass kein Feuer der Welt so groß sein konnte.

Außer dem, das dieses ganze Land verbrannt hat, du Schwachkopf, dachte sie.

Das Licht enthüllte, was die Dunkelheit verborgen hatte. Die Landschaft um sie herum war mit Dutzenden kleiner Lebewesen gesprenkelt, deren Augen in dem gelblichen Lichtschein glänzten, der die Nacht erhellte. Anfangs hielt Alice sie für Wiesel, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass mit den Tieren etwas nicht stimmte. Kein Wiesel hatte jemals so lange gebogene Fangzähne gehabt oder so irre rote Augen.

»Alice«, sagte Hatcher, und seine Stimme klang sehr ruhig, während er auf etwas in der Entfernung starrte, auf die Stelle am Horizont, von der das Licht ausging. »Was, wenn Jenny mich hasst?«

Das war also der Grund für seine düsteren Grübeleien, auch wenn es wahrscheinlich besser gewesen wäre, wenn Hatcher damit gewartet hätte, bis sie nicht in möglicherweise tödlicher Gefahr waren.

»Wahrscheinlich wird sie das tun«, sagte Alice, während sie sich hinter Hatcher schob, sodass sie Rücken an Rücken standen. Im Allgemeinen fand sie, dass es besser war, nicht zu lügen, und Hatcher im Besonderen konnte sie gar nicht anlügen. »Kleine Mädchen glauben, dass ihre Väter einfach alles können, sie aus jeder Gefahr retten. Dein Vater ist der stärkste Mann der Welt.«

Alice erinnerte sich, wie tief es sie beeindruckt hatte zu hören, dass ihr Vater eine Ratte getötet hatte. Sie war ins Haus eingedrungen als sie noch klein war, und für sie war ihr Papa der größte Held aller Zeiten gewesen.

Alice war sich sicher, dass Jenny jeden Abend nach ihrem Vater geweint hatte. Und als er nicht gekommen war, hatte sie gelernt, ihn dafür zu hassen, dass er sie nicht gerettet hatte.

»Das hätte ich auch getan, wenn ich mich hätte an sie erinnern können«, sagte Hatcher. »Ich hätte jeden getötet, der sie auch nur angerührt oder ihr wehgetan hätte. Ich hätte sie in Stücke gehauen, wie ich die Männer in Stücke gehauen habe, die ihre Mutter getötet haben. Aber das wird jetzt nicht mehr viel zählen, nehme ich an.«

»Nein«, sagte Alice. »Wird es wohl nicht.«

Die Wiesel, oder was immer sie waren, rückten näher. Sie gaben leise, kehlige Geräusche von sich. Nicht wie das zischelnde Singen einer Schlange, sondern ein rauerer, bedrohlicher klingender Ton, der sich scharf von der umgebenden Stille abhob.

Alice hatte kurz das Bild vor Augen, wie diese winzigen, wimmernden, bösartigen Tiere über sie hinwegschwärmten und ihr das Fleisch von den Knochen fraßen, während sie ihren letzten Todesschrei hinausheulte.

»Nein«, sagte sie.

Die Tiere verharrten. Als sich der helle Schein zu einem schwachen Glimmen abschwächte, konnte sie ihre Gesichter kaum noch erkennen. Ihre Köpfe neigten sich alle gleichzeitig zu einer Seite wie neugierige Hündchen.

»Nein«, wiederholte sie und legte diesmal etwas mehr Entschlossenheit in ihre Stimme. Die Luft begann mit Magie zu schimmern. »Lasst uns durch.«

Der letzte Funken Licht erlosch und ließ sie in der Dunkelheit zurück, die nun dichter erschien als je zuvor. Aber Alice brauchte ihre Augen nicht.

Es gab immer noch so viel, was Alice an der Magie nicht verstand. In ihren Worten lag Macht, und die Kreaturen reagierten darauf, auch wenn sie nicht wusste, warum. Die Nacht war wieder genauso, wie sie sein sollte, dunkel und voller Sterne.

Die wieselartigen Tiere hielten still, während Alice und Hatcher durch sie hindurchgingen, ihr Schweigen wirkte irgendwie respektvoll.

Hatcher seufzte, und Alice spürte eher, als dass sie sah, wie sich Hatchers Axt-Hand an seiner Seite entspannte. Er war enttäuscht, das wusste sie. Tief in seinem Herzen war Hatcher ein Killer, und er lechzte danach zu tun, was er am besten konnte: zu spüren, wie Knochen und Muskeln unter seiner Klinge nachgaben, wie das Blut ihn mit heißen Spritzern taufte. Er bedauerte jede Gelegenheit für wilden Tod, Chaos und Körperverletzung.

Alice wusste all dies, wusste, dass er sich nach dieser Erlösung sehnte. Doch sie wusste auch, unerklärlicherweise, dass er ein guter Mann war und dass diese gute Seite seine mörderischen Impulse unter Kontrolle hielt – meistens zumindest.

Sie wusste nicht, wie weit sie in jener ersten Nacht gingen, aber der Gedanke an Schlaf kam ihr nicht einmal in den Sinn. Es schien ihr zutiefst unklug, sich in diese trügerische Asche zu legen, so verletzlich und ahnungslos, wie sie waren. Dass die Wiesel sie nicht angegriffen hatten, bedeutete noch lange nicht, dass sie die Gelegenheit nicht ergreifen würden, sobald sie sich bot.

Außerdem plagten sie ihre Sorgen dermaßen, dass es ihr unvorstellbar erschien, an Schlaf auch nur zu denken. Sie war (naiverweise, wie es jetzt schien) davon ausgegangen, dass sie, sobald sie aus der Stadt hinaus waren, auch den Einflussbereich der Stadt verlassen würden. Die seltsamen Flugmaschinen und ihre rätselhafte Mission schienen darauf hinzudeuten, dass dies nicht der Fall war, dass die Fangarme der Stadt wie bei einem Lebewesen wesentlich weiter reichten als ihr aufgeblasener Körper. Wie weit würden diese Fangarme reichen?

Alice wollte ihr altes Leben in der Stadt abstreifen wie eine Schlange ihre Haut. Sie hatte Angst davor, wieder in dieses Leben zurückgezogen, aus ihrer Freiheit entführt zu werden. Und sie wollte so viel Abstand wie möglich zu Grinser gewinnen. Damit er am Ende nicht doch noch beschied, dass sie zu wertvoll war, um sie entkommen zu lassen.

Sie musste für einen Moment eingenickt sein. Eben noch hatte sie die etwas dunkleren Schemen beobachtet, die sich in der schwarzen Asche um ihre Füße herum bewegten, und im nächsten Augenblick schien die Sonne, und sie schmiegte sich an Hatchers Brust wie ein Kind.

Er bewegte sich unbeirrbar durch diese seltsame Wüste, vollkommen unbeeinträchtigt durch das Gewicht in seinen Armen. Alice blinzelte in die Helligkeit und erblickte mehrere große Vögel, die in der Luft kreisten.

»Setz mich lieber ab, Hatch«, sagte sie. »Diese Vögel sind auf der Suche nach einer Mahlzeit.«

»Das sind sie, aber sie sind nicht hinter uns her«, sagte Hatcher, als er sie absetzte. Er strich ihr mit der Hand über das Haar und dann über die Wange, wo er kurz innehielt. Dann zeigte er direkt nach vorn. »Da vorne ist das, wohinter sie her sind.«

Weit vor ihnen hoben sich verschiedene schwarze Umrisse von der flachen Landschaft ab. Angesichts der vollkommenen Gleichheit in alle Richtungen war es schwierig zu sagen, wie weit sie entfernt waren.

Alice wollte nicht wissen, was da war. Es konnte nichts Gutes sein, und sie hatte allmählich die Nase voll von allem, was nichts Gutes war. Aber sie gingen nach Osten, und die dunklen Umrisse befanden sich genau auf ihrem Weg.

Als sie den Platz erreichten, über dem die Geier kreisten, verbrachte Hatcher einige freudige Momente damit, die Vögel mit seiner Axt zu verscheuchen. Alice starrte derweil verwirrt auf die Leichen. Sie waren alle zu einem verkohlten Haufen aufgetürmt, und es war kaum noch genug Fleisch daran, um sie interessant für die Aasfresser zu machen.

»Wodurch sind sie so verbrannt?«, überlegte Alice laut, während sie auf den Leichenhaufen zuging. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen, während sich ihr die Kehle zuschnürte.

»Wahrscheinlich dasselbe, was diese ganze Landschaft verkohlt hat«, meinte Hatcher. »Dasselbe, was gestern Nacht den ganzen Himmel erleuchtet hat, nehme ich an.«

Hatcher nahm die Axt von einer Hand in die andere und beäugte einen aufsässigen Geier, der sich geweigert hatte, zusammen mit seinen Gefährten zu verschwinden.

»Hatcher«, sagte Alice.

Er schien sie nicht gehört zu haben, denn er pirschte sich an den Vogel heran, der ihm den Rücken zukehrte und sich eifrig das Gefieder putzte.

»Hatcher«, wiederholte sie, und dieses Mal drang sie durch.

»Was denn?«, fragte er und richtete sich auf.

Der Geier drehte sich um, erkannte, wie nah Hatcher ihm gekommen war, und flog auf.

»Pipkin«, sagte sie und zeigte auf ihn.

Jetzt, da sie wusste, worauf sie blickte, konnte Alice den verkohlten Umriss eines Kaninchenohrs ausmachen, einen geschwärzten Schuh, den zarten Brustkasten eines Mädchens.

»So hätte es nicht für sie enden sollen«, sagte Alice. Ihre Trauer drohte überzuquellen, in die Wüste hinauszuexplodieren, sich über die Leichen derjenigen zu ergießen, die ein besseres Leben hätten finden sollen. »Sie sollten doch glücklich auf grünen Wiesen tanzen.«

Es ist alles umsonst gewesen, dachte Alice. Ihre Leiden, ihre Flucht, alles umsonst. Mit einem Mal hatte sie auch für sich und Hatcher nicht mehr viel Hoffnung.

»Die Welt verschlingt uns, kaut uns durch und spuckt uns wieder aus«, sagte Hatcher, der auf seine verblüffende Art ihre Gedanken las. »Glückliche Ausgänge sind reiner Zufall.«

»Und trotzdem hoffen wir darauf«, sagte Alice. Traurig betrachtete sie die Überreste der einst so hoffnungsvollen Gesichter. Vor allem hoffen wir darauf, nicht in Angst und Schrecken zu sterben.

Kurz darauf gingen sie weiter und ließen die Überreste des riesigen Kaninchens und der Mädchen hinter sich zurück, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Alice versuchte, auch ihre Trauer hinter sich zurückzulassen, aber sie umklammerte ihr Herz wie ein Albtraum.