Bound by Firelight - Magie der Farben - Dana Swift - E-Book

Bound by Firelight - Magie der Farben E-Book

Dana Swift

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Beschreibung

Ein Vulkanausbruch hat das Königreich Belwar erschüttert - und Thronerbin Adraa wird zu Unrecht beschuldigt, ihn verursacht zu haben. Zur Strafe muss sie ins Gefängnis, und das ohne Zugriff auf ihre Magie. In der undurchdringlichen Festung sitzen die übelsten Kriminellen ein. Viele von ihnen hat Adraa selbst dort hineingebracht. Und nun wollen sie Rache.
Jatin glaubt an Adraas Unschuld und möchte um ihre Hand anhalten - falls er je den Mut findet, sie zu fragen. Zuerst muss er jedoch das Unmögliche schaffen: ihr zur Flucht aus dem Gefängnis verhelfen. Und die Schrecken, denen Adraa dort begegnet, sind noch nicht das Schlimmste, was sie bekämpfen müssen ...

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Seitenzahl: 548

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Gottheiten und ihre Kräfte

Kapitel 1: Ich traf die Liebe meines Lebensund warf sie beinahe vom Dach

Kapitel 2: Verzögerte Verlobung

Kapitel 3: Vom Licht gejagt

Kapitel 4: Verhandlungstrauma

Kapitel 5: Beeinflusste Worte

Kapitel 6: Legale Lügen

Kapitel 7: Folgenschwere Entscheidung

Kapitel 8: Umgang mit dem Tod

Kapitel 9: In der Kuppel

Kapitel 10: Aufgeflogen

Kapitel 11: Unmöglicher Anblick

Kapitel 12: Hoffnungsschimmer

Kapitel 13: Eine alte Bekannte

Kapitel 14: Die Kunst des Atmens

Kapitel 15: Das Treffen

Kapitel 16: Ende des Untergrunds

Kapitel 17: Stimmlose Unterhaltung

Kapitel 18: Demaskierung der Fiza von Agsa

Kapitel 19: Fragen und Antworten

Kapitel 20: Mühsal

Kapitel 21: Qualvolle Ausbildung

Kapitel 22: Kein Verstellen mehr

Kapitel 23: Missglückte Mission

Kapitel 24: Einzelhaft

Kapitel 25: Fluchtbeginn

Kapitel 26: Einbruch in die Kuppel

Kapitel 27: Experiment der Neun

Kapitel 28: Sims redet

Kapitel 29: Rückkehr in den roten Raum

Kapitel 30: Erkenntnis

Kapitel 31: Vorwärtsflug

Kapitel 32: Suche nach Antworten

Kapitel 33: Zweiter Anlauf

Kapitel 34: Rettung durch die Rote Frau

Kapitel 35: Ausbruch

Kapitel 36: Bedeutsame Frage

Kapitel 37: Warten auf Antwort

Kapitel 38: Zerstören, was zerstören wollte

Kapitel 39: Aussprache unter Schwestern

Kapitel 40: Sooft du willst

Kapitel 41: Fizas Kampf

Kapitel 42: Des Rätsels Lösung

Kapitel 43: Signale am Himmel

Kapitel 44: Die wahre Schlacht beginnt

Kapitel 45: Aufbrechen der Eistür

Kapitel 46: Verlust

Kapitel 47: Kampf gegen den Onkel

Kapitel 48: Ein neuer Raum mit Tränken

Kapitel 49: Kampf

Kapitel 50: Kampf im Kopf

Kapitel 51: Selbstbefreiung

Kapitel 52: Mooleks Untergang

Kapitel 53: Enttarnung der Roten Frau

Kapitel 54: Fizas Abschied

Kapitel 55: Eine wahre Rani

Kapitel 56: Die Last des Throns

Kapitel 57: Morgengrauen

Kapitel 58: Beginn

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Dana Swift

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Michael Krug

Für alle, die je das Gefühl hatten, keine Stimme zu besitzen

Gottheiten und ihre Kräfte

Die neun Berührungen

Erif, Göttin des Feuers: herrscht über Vulkane

Rote Stärken: Fähigkeit, Feuer zu erschaffen und zu beeinflussen

Renni, Göttin der inneren Fähigkeiten: überwacht persönliche Entwicklung

Orange Stärken: Fähigkeit der Beeinflussung und Stärkung der Sinne und der Möglichkeiten des Körpers

Ria, Gott der Luft: gebietet über Tornados und den Wind

Gelbe Stärken: Fähigkeit, Luft zu erschaffen und zu beeinflussen, vor allem zum Fliegen

Htrae, Göttin der Erde: beaufsichtigt Felder und Ernten

Grüne Stärken: Fähigkeit, Holz und Pflanzen zu erschaffen und zu beeinflussen

Retaw, Gott des Wassers: regelt Überschwemmungen und Tsunamis

Blaue Stärken: Fähigkeit, Wasser zu erschaffen und zu beeinflussen

Raw, Gott des Kriegs: steht auf den Schlachtfeldern von Soldaten

Violette Stärken: Fähigkeit, Waffen, Schilde und Grenzen entstehen zu lassen

Laeh, Göttin der Heilung: wacht über Kranke und Verwundete

Rosa Stärken: Fähigkeit, zu heilen und Zaubertränke gegen Krankheiten anzufertigen

Dloc, Gott der Kälte: weilt in Schneestürmen und Lawinen

Weiße Stärken: Fähigkeit, Eis, Schnee und andere winterliche Niederschläge zu erzeugen und zu beeinflussen

Wodahs, Gott der Schatten: lebt in der Dunkelheit

Schwarze Stärken: Fähigkeit, sich zu tarnen und Trugbanne zu wirken

Kapitel 1

Ich traf die Liebe meines Lebensund warf sie beinahe vom Dach

Adraa

Der Himmel knistert vor Magie. Sie schießt in die Luft und explodiert zu Sprühnebeln und zischenden bunten Lichtern. Das Fest ist in vollem Gange. Laut. Blendend. Und das Beste, was ich in den vergangenen zwei Monaten gesehen habe.

Über Nacht sind Stände und Buden aufgebaut worden. Seidenbanner in den neun Farben der Magie zieren jede freie Fläche und verdrängen vorübergehend jene aus Brokat für die unlängst Gefallenen. Die Straßen wirken wie Flüsse. Ströme von Zauberern und Hexen suchen nach dem besten Essensstand oder einem guten Platz, um etwas von ihrer Magie in die Luft zu entfesseln und die bunten Rauchschwaden zu ergänzen. Kinder und Unberührte, die nicht zaubern können, werfen stattdessen buntes Pulver und spritzen ihren Freunden ins Gesicht. Obwohl das eigentliche Fest der Farben erst in einigen Monaten stattfindet, ist die Freude aller bei dieser spontanen Feier ansteckend.

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich die Bevölkerung zuletzt so ausgelassen erlebt habe. Aber würde ich von meinem schattigen Plätzchen auf dem Dach hinabsinken, würde die Freude dahinschmelzen. Und bei allen neun Göttern, das ist das Letzte, was ich will. Seit Wochen baut Belwar die Stadt wieder auf. Heute Abend feiern wir die neue westliche Flugstation, die instand gesetzten Häuser und das in diesem kleinen Küstenland nach wie vor blühende Leben. Wenn sich mein Volk etwas verdient hat, dann eine Nacht des Friedens und der Sicherheit. Also mache ich es mir in meinem Versteck weiter gemütlich und beobachte das Spiel der Farben am Himmel. Schließlich wandert meine Aufmerksamkeit jedoch zu der blutroten Magie in meinen Händen. Immer wieder verdichtet sie sich abwechselnd zu meiner Maske und löst sich in Rauch auf. Mir ist bewusst, dass ich die Worte murmle. Ich beschwöre die Magie aus dem komplexen Muster meines Berührungsmals, um den Zauber zu erschaffen, der mein Gesicht verschwimmen lässt und mich in die Rote Frau verwandelt. Trotzdem höre ich nicht damit auf.

Es lindert den Gram.

Genauso wie das hohe Kinderlachen unter mir, glockenhell und so voller Leben. Mir ist nicht klar gewesen, wie sehr ich das Fest gebraucht habe, um zu sehen, dass mein Volk sein Leben weiterführen wird. Meine Magie ist dafür missbraucht worden, den Gandhak zum Ausbruch zu bringen. Einhundertneunundzwanzig Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Seither kämpft mein Land mit der Trauer, während die Stadt wiederaufgebaut wird. Mich persönlich schmerzt am meisten der verbreitete Verdacht, dass ich, Adraa Belwar, den Menschen das angetan habe.

Wochenlang habe ich mich hinter meiner zweiten Persönlichkeit, der Roten Frau, versteckt. Es kostet mich Überwindung, die Maske nicht sofort wieder aufzusetzen und mich in jemand anderen als die Schurkin zu verwandeln, für die mich die Stadt hält. Und ich gebe mir Mühe. Volle anderthalb Minuten versuche ich, mich damit abzufinden, einfach nur Adraa Belwar zu sein, während mein Land seine Farbenpracht feiert, seine Vielfalt und seine Stärke, nach der Zerstörung weiterzuleben.

Zum Glück bin ich überhaupt noch hier, unabhängig davon, was die Menschen von mir denken. Jede Nacht schleiche ich mich an meinen Bewachern vorbei und halte Ausschau nach Anzeichen darauf, dass die Rote Frau gebraucht wird. Dass ich gebraucht werde.

Ein dumpfer Aufprall hallt hinter mir wider. Schritte folgen. Ich wirble herum. Instinktiv klatsche ich mir die Maske ins Gesicht, und meine blutrote Magie qualmt von meinen Handflächen, als ich einen Rammzauber vorbereite, um den Eindringling vom Dach zu stoßen.

»He. Bring mich nicht gleich um. Ich habe Essen für dich dabei«, sagt eine vertraute Stimme.

Die Lichter von der Straße unten erhellen Jatin Naupure, meinen Geliebten. Meinen Geliebten ... Es fühlt sich seltsam an, so über ihn zu denken. Immerhin war er zuerst mein Verlobter, dann eine eigenartige Mischung aus Rivale, Partner und Schwarm, während wir monatelang voreinander verborgen haben, wer wir waren. Und jetzt ist er ... mein Lebensmensch.

Ich gebe die Verteidigungshaltung auf, und meine Magie verpufft. »Na schön. Dann erlaube ich dir halt, dich neben mich zu setzen.«

»Tu nicht so, als hättest du den Platz nicht ohnehin für mich reserviert, Rauch.«

Lächelnd bestätige ich, dass es stimmt. Ich habe sogar mit ein bisschen roter Magie die Schindeln für ihn warm gehalten. Als Jatin sich setzt, merke ich ihm an, dass es ihm auffällt. Aber er reicht mir nur lächelnd die für mich mitgebrachte Schüssel. Der Duft von gebratenem Seidenfisch auf einem Bett aus Reis und würzigem rotem Curry steigt mir in die Nase. Gierig nehme ich die Schüssel entgegen.

»Wie geht’s unserem Lieblingsspinner?«, fragt Jatin und rutscht näher zu mir.

Ich blicke hinunter zu Nachthexer, der einer Hexe gerade Lammfleisch am Spieß kauft. Es wäre geradezu liebenswert gewesen, wie er versucht, sie zu beeindrucken, wenn ich nicht wüsste, wie der Mann in Wirklichkeit ist. Er kämpft als Käfigzauberer im Untergrund, und sobald er den Mund öffnet, dringt etwas Abstoßendes heraus. Wir folgen ihm seit Wochen in der Hoffnung, dass er uns zu irgendetwas führt, womit wir beweisen können, dass eine Verbrechergruppe namens Vencrin mit Maharadscha Moolek zusammenarbeitet, dem Herrscher des Lands nördlich von uns. Oder zumindest, dass sie beim Versuch, unsere Städte durch einen Ausbruch des Gandhak restlos zu zerstören, unter einer Decke gesteckt haben.

»Er hat heute keine Schläge ins Gesicht abbekommen.«

»Die Nacht ist noch jung.« Jatin verstummt kurz. »Und er hat uns bisher nicht bemerkt.«

»Stimmt.«

Unten beugt Nachthexer den Arm und spannt den Bizeps an. Sogar von hier oben kann ich die Tätowierungen erkennen, die sich seinen Oberarm hinaufschlängeln und die schnörkeligen Muster einer Berührung durch die Götter nachahmen.

»Oh ihr Götter«, murmle ich seufzend. »Das ist einfach nur traurig anzusehen.« Ein Windstoß verstärkt wie eine Erinnerung den Duft des gebratenen Seidenfischs, und ich mache mich darüber her. »Das ist mein Leibgericht, habe ich dir das gesagt?«

Jatin nimmt einen Bissen aus der eigenen Schüssel und lächelt. »Ich glaube, es hat in einem deiner Briefe gestanden.«

Ich runzle die Stirn. »Kann mich nicht erinnern, dir das je geschrieben zu haben.« Vielleicht zu einem Zeitpunkt, als ich noch sehr jung war und es sich angefühlt hat, als würde ich von meinen Eltern zu den Briefen an Jatin gezwungen. Damals wollte ich mich nicht mit einer arrangierten Ehe mit dem hochmütigsten Jungen abfinden, den ich bis dahin kennengelernt hatte. In dem Alter habe ich Liebe als absurde Vorstellung und die Ehe als eine grauenhafte Unvermeidlichkeit empfunden.

»Nein, ich meine, das Pergament hatte Flecken davon.«

Ich remple ihn in die Schulter, als er lacht. »Hör auf zu lügen.«

»Ich könnte es dir zeigen. Hab nämlich alle aufgehoben.«

Mit einem Seitenblick betrachte ich seine ausdrucksstarke Kieferpartie und das dichte schwarze Haar. »Du hast alle aufgehoben?«

»Was denn? Du etwa nicht?«

»Nun ja, doch, schon. Aber du kennst doch diesen Pfosten auf dem Übungshof in Belwar, oder? Dort habe ich sie als Motivation angeheftet, dich zu schlagen. Ich kann nicht behaupten, dass sorgsam mit ihnen umgegangen wurde.«

»Auch die Liebesbriefe? Jetzt bin ich gekränkt, Rauch.«

»Nein.« Ich tunke den Reis in Curry und nehme einen großen Happen. »Die habe ich verbrannt.«

»Glaube ich dir nicht«, erwidert Jatin so überzeugt, dass meine Lüge jeden Halt verliert.

Ich öffne den Mund, um ihm scherzhaft mitzuteilen, dass er nicht der Einzige ist. Aber ich verkneife es mir, weil es sich zu nah der Wirklichkeit anfühlt. Die letzten Wochen haben wir auf den Straßen patrouilliert, auf das von Jatin erschaffene Signal reagiert und Menschen gerettet. Wir haben es sogar zu einem Wettbewerb erhoben. Aber das beschränkt sich auf die Zeit, wenn das Licht der Sterne die Welt erhellt. Am helllichten Tag muss ich eine Ratssitzung nach der anderen mit meinem Vater und den fünf Radschas von Belwar ertragen. Die Radschas wollen mich anklagen und fordern eine Verhandlung mit Wahrheitszauber, um das Ausmaß meiner Untaten aufzudecken.

»Adraa?«, flüstert Jatin, als er wie immer spürt, dass ich anfange, mich in den eigenen Gedanken zu verheddern.

Ich schüttle den Kopf, um ihn frei zu bekommen. »Danke, dass du gestern auf das Signal reagiert hast. Ich konnte nicht weg von der Besprechung.«

Jatin verstummt kurz. »Wollen sie immer noch die Anhörung?«

Ich höre mein Herz laut pochen. »Meine Eltern versuchen nach wie vor, die Radschas davon abzubringen.«

»Sie werden sie überzeugen. Und bald liegt es hinter uns.«

Sein Wort in der Götter Ohren. Das ist alles, was ich will – dass dieser Albtraum hinter uns liegt. Aber sogar auf dem Dach, auf dem wir gerade sitzen, hat sich Asche zwischen den Schindeln eingenistet. In der Luft liegt der Geruch von Ruß statt Meersalz.

Jatin wendet sich wieder dem Essen zu, stopft sich den Reis mit den Fingern in den Mund. »Übrigens habe ich sieben Menschen gerettet.«

Ich lasse ein Stück gebratenen Seidenfisch fallen. »Was?«

Er schenkt mir keine Beachtung, aber ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. »Und du weißt, was das bedeutet.«

Kopfschüttelnd passe ich die Zählung an. Nach über zweihundert ist es schwierig, den Überblick zu behalten. »Ich glaube, ich liege trotzdem noch um zwei vorn.«

»Nein, um zwei zurück.« Sein Lächeln wird breiter.

Der Anblick lässt mich dahinschmelzen, obwohl die ehrgeizige Seite in mir verärgert darüber schnaubt. »Sag es nicht.«

Er beugt sich so nah zu mir, dass ich seinen Atem fühlen kann. »Ich gewi...«

Blitzschnell drehe ich den Kopf, um ihn zu küssen und seine Stichelei abzuwürgen. Ich schmecke die Würze des Essens vom Fest. Und wie immer erfüllt mich Jatins Kuss mit Glück und einem Gefühl von Vollständigkeit. Das Essen ist vergessen. Seine Finger berühren sanft mein Kinn. Bis dorthin hat die Göttin Erif mein Berührungsmal ausgeweitet und burgunderrot gefärbt. Es sieht wie Ranken züngelnder Flammen aus.

»Weißt du, ich habe schon durchschaut, dass du mich küsst, damit ich dich nicht aufziehe. Keine gute Art, mich zu erziehen.«

»Gibst du damit zu, dass du erziehbar bist?«, scherze ich, bevor ich ihn erneut küsse.

Er lächelt, dann jedoch erregt etwas auf der anderen Seite der Gasse seine Aufmerksamkeit. Ich folge seinem Blick. Eine Frau zündet in ihrem Dachgeschoss eine Kerze an. Die Flamme neigt sich der Nacht zu und wirkt, als könnte ein stärkerer Luftzug die Vorhänge in Brand setzen.

Ich seufze, als der Schmerz zurückkehrt. »Da zeichnet sich ein Hausbrand ab.«

»Adraa, etwas solltest du über das Signal gestern wissen ...« Jatin wartet einen Herzschlag. »Es hat mich zu einem Hausbrand geführt.«

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Noch vor zwei Monaten haben Hausbrände der Vergangenheit angehört – dank meiner Erfindung namens Firelight, die nachhaltiges Licht in jeden Haushalt Belwars gebracht hat.

Ich selbst musste das Firelight meines Volks zurückholen, um den Gandhak aufzuhalten, als Maharadscha Moolek den Vulkan mit meiner Magie zum Ausbruch gebracht hat. Trotzdem fühlt sich die Rückkehr der Kerzen wie ein Schlag in die Magengrube an. Ich könnte neues Firelight herstellen. Mühelos. Aber man hat den von mir erfundenen Zauber als bösartig abgestempelt, als Abscheulichkeit. Alle Welt glaubt, ich hätte ihn nicht zum Helfen erschaffen, sondern dafür, mein Volk zu kontrollieren.

Damit könnte ich wohl leben – mit dem schmerzlichen Missverständnis und meinem ruinierten Ruf. Aber mit Hausbränden? Mit Menschen in Gefahr? Es kostet mich meine gesamte Willenskraft, mir nicht die Maske ins Gesicht zu zaubern, meine Züge zu verhüllen und Adraa Belwar verschwinden zu lassen. Denn mein anderes Ich, die Rote Frau, wird von Belwar akzeptiert und sogar bejubelt, seit Jatin und ich getarnt patrouillieren. Belwar liebt mich, wenn ich die Maske trage.

Jatin ergreift meine rechte Hand – die ohne Berührungsmal. Eine Geste, mit der ich mittlerweile nicht nur Trost in Verbindung bringe, sondern auch Akzeptanz. Liebe. »Danke, Jatin. Dafür, dass du für mein Volk da bist.«

Er drückt meine Finger. »Ich bin auch für dich da.« Seine Miene wird ernst. »Ich wollte mit dir über etwas reden ...«

»Hauptsache, es geht nicht um die Anhörung, meinen Ruf oder darum, dass die Leute immer noch glauben, ich hätte dich verhext, damit du mir vertraust.«

»Nichts davon. Obwohl Letzteres durchaus sein könnte, wenn du mich fragst.«

»Jatin«, schimpfe ich milde. »Was denn?«

Er wird wieder ernst und blickt auf unsere ineinander verflochtenen Hände hinab. »Ich, äh ...«, stammelt er.

»Warum bist du so nervös?«

Er reibt sich den Nacken. »Na ja ...«

Ein Licht steigt in den Himmel auf, rot und weiß ineinander verschlungen. Das kann nur eins bedeuten – einen Ruf für Nacht und die Rote Frau. Jatin hat das Leuchtzeichen erfunden, eine Vorrichtung mit unser beider Magie, mit der die Menschen uns ein Zeichen geben können, wenn sie in Schwierigkeiten sind. Das Signal leuchtet ganz in der Nähe. So nah, dass es die Farben des Fests verzerrt, das Vergnügen wegspült und mich überrascht.

Ein Blick zwischen Jatin und mir genügt, schon rappeln wir uns auf und rennen los. Mit einer fließenden Handbewegung ziehe ich meinen Himmelsgleiter, Hybris den Vierten, von meinem Gürtel. »Vitahtrae«, zaubere ich, und Ranken roter Magie sickern in das robuste Holz. Als der Griff ausfährt und sich der drachenartige Schwanz entfaltet, springe ich darauf und lasse die gelbe Magie mein Gewicht abfedern. Jemand hat sich die falsche Nacht ausgesucht, um sich mit meiner Stadt anzulegen.

Kapitel 2

Verzögerte Verlobung

Jatin

Es hat auch seine Vorteile, wenn man seit dem neunten Lebensjahr verlobt ist. Vor allem muss man nie nach jemandem zum Heiraten suchen. Ich glaube, in den letzten zehn Jahren ist mir nie klar gewesen, wie glücklich oder verwöhnt ich in dieser Hinsicht in Wirklichkeit war. Aber bei den Göttern, es ist auch schlimm. Vor drei Tagen bin ich auf ein Knie gesunken, nachdem Adraa mich bei unserem wöchentlichen Regenbogenturnier besiegt hatte, und sie dachte, ich wäre gestolpert. Sie scheint meine Unbeholfenheit nicht zu bemerken. Aber sie hat auch keine Ahnung, dass ich seit Wochen versuche, uns offiziell zu rehabilitieren.

Ist wohl nicht allein meine Schuld. Wir haben viel zu tun, die Rote Frau und ich. Jedes Mal, wenn meine Erfindung in die Luft aufsteigt, fliegen wir los. Und sie steigt oft auf. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie viele Male sie sich schon gegen mich verschworen hat. Aber mein bester Freund Kalyan führt Buch darüber.

Jedenfalls tun Adraa und ich, was wir am besten können. Und so rutsche ich über Schindeln und löse meinen Himmelsgleiter vom Gürtel, damit wir uns erneut in Gefahr stürzen können. Adraa ist mir zwei Schritte voraus und erweckt Hybris bereits zum Leben. Ich wirke meine eigenen Zauber. Gespenstisch weiße Wolken strömen pulsierend in das Holz. Ein Dach ist nicht der beste Ort zum Abheben, doch das hält Adraa nicht auf. Vor einigen Monaten ist sie sogar aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen, um einen Verbrecher zu jagen. Ich folge ihr, schwinge ein Bein über meinen Himmelsgleiter und schieße damit in die kühle Luft.

Das Zeichen kommt aus dem Ostdorf. Es kann alles Mögliche bedeuten. Aber angesichts der Verbindung der Vencrin mit dem Hafen in der Nähe der Bucht von Belwar ist es schon höchst verdächtig. Adraa geht wohl dasselbe durch den Kopf. Ich merke es ihr an, als sie zu mir herübersieht. »Nacht, glaubst du ...«

Eine Falle? Ja. Tatsächlich warte ich bereits auf den Tag, an dem die Vencrin unser Signal gegen uns verwenden. »Ich gebe jetzt den anderen Bescheid.« Damit lege ich die Hände an den Mund. Verschwommene weiße Magie sammelt sich zwischen ihnen, bis drei Lichtstrahlen himmelwärts schießen. Aber als ich beobachte, wie sich mein Signal unter all die anderen magischen Entladungen von der Feier mischt, wird meine Torheit offensichtlich.

»Das werden sie nicht sehen.«

»Dann bleiben nur du und ich. Wie in den guten alten Zeiten.« Ich hebe den Unterarm und warte.

Adraa fliegt näher heran und stupst mit ihrem Unterarm gegen meinen. »Gute alte Zeiten? Du meinst vor drei Wochen?«

Ich meine jeden einzelnen Tag, den ich mit ihr verbringen darf. »Und? Waren sie für dich etwa nicht gut?«

Sie lacht. »Auf den Zauberer, der uns gerufen hat, damit wir den Affen aus seinem Garten holen, hätte ich ohne Weiteres verzichten können.«

Einige Aspekte des Signals hatte ich nicht ganz zu Ende gedacht. »Mit Affen ist nicht zu spaßen, Rot.«

Sie erwidert nichts, und als wir uns dem Ausgangspunkt des Signals nähern, verstehe ich auch, warum. Auf dem Platz im Ostdorf hat sich eine Menschenmenge eingefunden. Die Leute stehen dicht an dicht. Bunte Festtagskleidung erhellt die Abenddämmerung. Und was sie im Chor rufen, fährt mir schmerzhaft in die Ohren und nagt an meinem Innersten.

Nieder mit den Belwars.

***

Lautlos landen wir einen Block entfernt. Weitere Menschen strömen zu dem Platz. Inmitten der Menge befindet sich eine auf Holzpflöcken errichtete Plattform mit einem Banner. Es zeigt das Wappen der Belwars. Sogar in der Düsternis schimmert das Bildnis der orangefarben aufgehenden Sonne – das Siegel von Adraas Familie. Adraa vergeudet keinen Augenblick. Kaum hat sie den Himmelsgleiter an ihrem Gürtel befestigt, setzt sie sich in Bewegung, schlängelt sich wie eine Tänzerin zwischen den Leuten hindurch.

Ich brauche einen Moment, um sie einzuholen. »Rot, warte. Lass uns gehen. Hier braucht uns niemand.«

Ein Blick in ihr Gesicht, und ich weiß, dass es vergebliche Liebesmühe ist. Entschlossenheit brüllt förmlich aus ihren Augen. Seit Wochen versucht sie verzweifelt, auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Kein Signal wird ignoriert. Und heute Abend ist es nicht anders. »Irgendjemand vielleicht doch. Ich muss mir sicher sein.«

Ich sehne mich danach, mir die Maske vom Gesicht zu reißen, um unscheinbarer zu werden. Aber das können wir uns beide nicht mehr leisten, vor allem nicht Adraa. Und mittlerweile würde auch ich es nicht mehr wagen. Diese Leute haben bereits ihr Mantra gefunden. Viel ist nicht mehr nötig, um das Pulverfass zu zünden. Mit eingezogenem Kopf drängt sich Adraa ins Getümmel.

Unaufhörlich rufen die Anwesenden: Nieder mit den Belwars! Was in mir den Wunsch weckt, auf irgendetwas einzudreschen. Sogar ich fühle mich von dem spürbaren Hass regelrecht erdrückt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es Adraa gehen muss. Ich behalte den auf ihrem Rücken schwingenden Zopf im Auge. Sie hingegen schaut sich nicht nach mir um, sondern sucht den Ursprung des Signals und den Grund, wieso wir zu diesem Wahnsinn gerufen worden sind. Aber ich glaube, ihn zu kennen. Und obwohl ich hoffe, mich zu irren, krampft sich mein Magen zusammen.

Nachdem sich Adraa Stück für Stück durch die dicht gedrängten Reihen gekämpft hat, bleibt sie schließlich stehen. »Ich sehe es nicht mehr«, sagt sie und deutet mit dem Kopf an den Himmel, von dem das Signal verschwunden ist. Ihre Hände zittern, und etwas in mir zerbricht.

»Ich beende das jetzt.«

Sie fängt meinen Arm ab. »Nein, irgendjemand hier hat uns gerufen. Irgendjemand hier braucht ...« Abrupt verstummt Adraa, als ihr Blick auf die breite Plattform fällt. Ich drehe mich um und sehe, wie ein Zauberer über die improvisierte Bühne schreitet, bis er ein Podium erreicht. Sein schlanker Körper gebärdet sich, als wäre er ein Geschenk der Götter. Sein Lächeln schwindet mit jedem Schritt, als könnte er keine Minute lang eine durchgehende Miene aufrechterhalten. Andererseits bin ich voreingenommen. Schon jetzt würde ich ihm am liebsten die Zähne einschlagen.

Mit einem schnellen orangefarbenen Zauber sorgt er dafür, dass seine Stimme über die Versammelten dröhnt. »Willkommen zusammen. Willkommen, all ihr wahren Belwarer. Egal, ob ihr hier geboren seid oder nicht, ihr seid heute hergekommen, um Licht auf die wahren Probleme von Belwar zu werfen. Wir sind hier, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Und dafür muss sich etwas ändern.« Die Menge applaudiert. Man könnte meinen, er hätte etwas Tiefgründiges von sich gegeben.

»Also sage ich, Schluss mit den Erben. Schluss mit jenen, die Macht missbrauchen, weil sie in sie hineingeboren werden. Wir sollten wählen können. Wir sollten die Stimmen für die Chance erheben, selbst zu entscheiden. Die Götter haben Adr‍aa Belwar aufgegeben, und sie uns. Sie würde nur über Asche und Elend herrschen.« Der Zauberer hebt eine Handvoll Dreck auf und wirft ihn in die Luft. Es ist eine beinahe lächerlich inszenierte Aufführung. Nur lacht niemand. Besorgnis breitet sich in mir aus. Ich beuge mich vor und ergreife Adraas Hand. »Komm jetzt, Rot.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Erheben wir uns!«, brüllt der Zauberer. »Lasst uns heute Nacht, da wir unser Überleben, unsere Eigenständigkeit und unsere Macht feiern, mit den Veränderungen beginnen. Setzen wir mit der aufgehenden Sonne ein, wen wir wollen, und möge es der Anbruch einer neuen Ära sein.« Damit fasst er nach hinten und reißt das Banner entzwei. Der tosende Jubel ist überwältigend.

»Das ist ziemlich überzeugend«, flüstert Adraa mit tonloser Stimme. »Der Teil mit der ›neuen Ära‹ würde meinem Vater gefallen.«

Ich packe sie an den Schultern und drehe sie schwungvoll zu mir herum. »He. He! Wag es ja nicht, darauf zu hören.«

»Warum nicht? Es gibt ja wirklich einige nicht adelige Zauberer und Hexen, die alle neun Arten der Magie beherrschen. Außerdem kann man auch durch Selbstdisziplin und Selbststudium mächtig werden. Dass ich nur wegen meines Bluts regieren sollte – oder hätte regieren sollen –, ist Blödsinn. Die Menschen sollten wählen können.«

»Vielleicht muss sich wirklich etwas ändern. Aber davon rede ich gar nicht. Sie können die Stimmen heute nur erheben, weil du sie gerettet hast. Vergiss das nicht.«

Ihr Blick durchbohrt mich. Ein Teil von mir möchte am liebsten schreien. Warum scheinen alle in diesem Land den Verstand zu verlieren? Adraa Belwar hat uns alle gerettet. Wir arbeiten seit Wochen daran, es zu beweisen. Und das muss ich. Nicht nur, weil ich unbelastet mit Adraa zusammen sein will. Nicht mal, weil sie eine verdammt gute Anführerin ist. Aber wenn es uns nicht gelingt, fällt die gesamte Welt Mooleks heimtückischen Intrigen zum Opfer. Dann gibt es keine Wahl mehr.

»Du hast sie gerettet. Du hast mich gerettet. Bitte sag, dass du das nicht vergessen wirst.«

Der Jubel um uns herum schwillt an, während ich auf Adraas Antwort warte. Man hat uns letztlich entdeckt. »Die Rote Frau! Nacht und die Rote Frau!«, rufen die Leute. Hände strecken sich mir entgegen, berühren mich an den Schultern, stupsen mich. Die Neuigkeit unserer Anwesenheit geht als aufgeregtes Flüstern durch die Menge. Gleich darauf erhebt der Redner die Stimme. »Rote Frau! Du bist unserem Ruf gefolgt. Komm zu mir.«

Also nicht der Hinterhalt, mit dem wir gerechnet haben, aber genauso schlimm. Manchmal hasse ich es, recht zu haben.

»Geht«, drängt ein anderer Zauberer und drückt gegen meinen Arm. Eine aufgebrachte Meute besitzt Macht. Nicht nur, weil sie nötigen Veränderungen Ausdruck verleihen oder sie gar herbeiführen kann, sondern auch, weil Menschen im Schutz der Masse mutig werden. Ohne es zu wollen, werden Adraa und ich zur Plattform geschoben.

Hände strecken sich, um uns nach oben zu zerren. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr.

»Willkommen, verehrte Gäste. Willkommen!« Der Zauberer legt als Zeichen des Respekts zwei Finger an die Halsschlagader. Allerdings ergänzt er die Geste nicht um eine Verneigung, womit er mir Verachtung entlockt. Mein Magen krampft sich fester zusammen. Ich muss den Drang zur Flucht unterdrücken. Da Adraa unbeirrt bleibt, muss ich es auch.

Der Zauberer wendet sich wieder an sein Publikum.

»Wir, das Volk von Belwar, kennen zwar nicht deinen Namen und den deines Gefährten, aber eure Verdienste. Daraus schließen wir, dass ihr echte Belwarer seid, treu, ehrenhaft, wahrhaftig. Doch etwas möchten wir wissen. Seid ihr für die Belwars, oder« – er betont das Wort nicht wie die Einleitung zu einer Alternative, sondern wie eine Anordnung – »seid ihr für das Volk von Belwar?«

Zustimmende Rufe erheben sich von den Versammelten. »Nieder mit den Belwars!«, skandieren sie. »Nieder mit den Belwars!«

Adraa tritt mit gestrafften Schultern vor. »Ich stehe zu Belwar.«

Der Zauberer lächelt, aber nicht mal das bekommt er richtig hin. An den Rändern bröckelt es. »Und du, Nacht?«

»Ich stehe zu Belwar«, wiederhole ich ihre Worte. Eigentlich sollte ich sagen, dass ich zur Roten Frau stehe, zu Adraa Belwar, die untrennbar mit dem Land verbunden ist. Wenn nur die Menschen, die sich hier versammelt haben, um das Gegenteil zu behaupten, zur Vernunft kämen.

»Sie stehen zu Belwar!«, ruft der Zauberer, ergreift unsere Hände und streckt sie empor. Noch nie zuvor im Leben habe ich mich so vorgeführt gefühlt. Und mein Vater hat eigens zu dem Zweck schon Paraden veranstaltet, also will das etwas heißen. Hier halte ich mich an Adraa.

Sie befreit sich von dem Mann und zuckt zurück. Stolz schwillt in meiner Brust an, während ich sie beobachte, und auch ich löse die Hand aus dem Griff des Zauberers. »Ich stehe zu Belwar, und das bedeutet, ich stehe zu den Belwars«, brüllt sie. »Die Familie, die hergekommen ist, um der Diskriminierung im Norden zu entfliehen, hat diese Stadt aufgebaut. Ich verteidige sie, und sie verteidigt nach wie vor dieses Land. Prahtrae«, ruft sie. Ihre blutrote Magie richtet das zerrissene Banner auf und näht es Stück für Stück zusammen.

Stille kehrt ein. Einen Moment denke ich, die Leute haben ihr vielleicht zugehört und kommen zur Vernunft.

Dann jedoch setzen skeptische Blicke ein, gefolgt von Buhrufen.

»Du bist keine Heldin.«

»Adraa Belwar hat versucht, uns alle umzubringen.«

»Sie ist das Monster von Belwar.«

»Mein Haus wurde zerstört. Mooleks Leute haben es repariert.«

»Die Belwars sind Verräter. Allesamt.«

Der Redner runzelt die Stirn. »Wenn du nicht zu uns stehst, dann solltest du überhaupt nicht stehen. Nizlaeh«, brüllt er.

Ich will einen Schild hochziehen, als orangefarbener Rauch aufsteigt, aber jemand kommt mir zuvor. Eine violette Wand entsteht zwischen Adraa und dem Zauberer. Ich schaue auf und erblicke über uns schwebend Adraas Leibwächterin und beste Freundin Riya Burman. Ihr Himmelsgleiter zieht einen violetten Schweif hinter sich her, die von Adraa erfundene Maske bedeckt ihr Gesicht. Neben ihr fliegt mein Leibwächter Kalyan, der mit einem weiß wirbelnden Luftschwall landet.

Riya schwingt ein Bein über ihren Gleiter, lässt sich fallen und landet kniend. Die Plattform erzittert auf ihrem hölzernen Gestell.

Langsam richtet sich Riya mit vernichtendem Blick auf. »Rührt sie nicht an.«

Unwillkürlich lächle ich. Mein Signal hat doch funktioniert. Unsere Verstärkung ist eingetroffen.

***

Auch wenn wir nun Riya und Kalyan an der Seite haben, liegt vor uns ein Platz voller Menschen. Ihre Rufe und der versuchte Betäubungszauber des Redners mit dem falschen Lächeln lassen nur einen Schluss zu – sie wollen unsere Köpfe.

Nicht zum ersten Mal sind wir in der Unterzahl. Aber zum ersten Mal haben wir es mit der an sich friedlichen Bevölkerung zu tun; die Menschen stacheln sich gegenseitig auf und werden streitlustig. Und Riya trägt nicht gerade zum Entschärfen der Lage bei. Als sich der Redner einen Schritt auf Adraa zubewegt, greift Riya ihn an. Gleich darauf hallt ein befriedigendes Knirschen in die Menge, als der Zauberer auf die Plattform fällt.

»Fiesling«, speit Riya hervor und haucht rosa Magie über ihre geschundenen Knöchel. »Das Signal missbraucht man nicht.«

»Mag sein, aber er scheint einige Anhänger zu haben«, gebe ich zu bedenken.

Mit wutentbrannten Schreien wogt die versammelte Masse vorwärts. »Sphuraw!«, rufe ich und erschaffe aus violetter Magie eine Wand aus gekrümmten Schilden.

Adraa und Riya schließen sich mir an. Zusammen erweitern wir unseren Schutz zu einer Kuppel aus Blutrot, Violett und Weiß. Aber es reicht nicht. Ein paar übereifrige Anstürmende sind bereits darüber hinweggesprungen. Und sie wirken alles andere als freundlich. Einer feuert rosa Dolche auf mein Gesicht ab. Ich weiche aus. Ein anderer befestigt mit grüner Magie Bretter aus Holz an seinen Armen und stürmt vor.

»Tut ihnen nicht weh!«, ruft Adraa von der anderen Seite der Plattform, während sie einen von irgendjemandem beschworenen Wasserstrahl abwehrt.

Ein weiterer rosa Dolch zischt an meiner Nase vorbei. »Sag das lieber denen!«, brülle ich zurück, friere die Hände des Zauberers mit Eis ein und trete ein Brett hoch, das einen anderen Mann ins Gesicht trifft. Als er mit dumpfem Knall zu Boden geht, zucke ich zusammen. Mit Zurückhaltung zu kämpfen ist schwierig.

Kalyan stellt sich neben mich. Fünf Schilde wirbeln um ihn herum wie ein Schildkrötenpanzer und fangen einen Dolch und zwei Speere ab.

»Ich vermute mal, sie hat Nein gesagt«, meint er nüchtern. In dem Moment empfinde ich ihn als so lästig wie noch nie zuvor. Und da er mein Doppelgänger und Leibwächter ist, sehe ich den Kerl täglich, seit er elf Jahre alt war.

»Nein, hat sie nicht«, gebe ich barsch zurück und werfe einen Zauberer über unsere Köpfe hinweg zurück in die Menge. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu fragen. Warte ...« Mit einem Schild blockiere ich drei gelbe Pfeile. »Du hast gedacht, sie würde ablehnen?«

Kalyan zuckt mit den Schultern. »Fünfzig zu fünfzig.«

»Fünfzig zu fünfzig? Sie und ich sind seit zehn Jahren verlobt, und du gibst mir nicht mehr als fünfzig zu fünfzig?« Ich verlängere meine Barriere, dränge Zauberer und Hexen von der Plattform. »Bhitti Himadloc!«, rufe ich. Aus meinen Händen entspringen Eisplatten, steigen auf und hindern weitere Anstürmende daran, sich uns von hinten zu nähern.

Kalyan erschafft eine Peitsche und erwischt damit zwei Männer, die hinter dem Belwar-Banner auf die Plattform zu klettern versuchen. »Zehn Jahre, und immer noch seid ihr nicht richtig verlobt. Jetzt hat sie die Wahl.«

»Natürlich hat sie die Wahl. Aber ...« Ein Zauberer nutzt den Moment, um mit einem Windtrichter meine Eisbarriere zu überwinden. Ich lasse Eis über ihn strömen, erwische ihn mitten im Abstieg und fixiere seine gelb flammenden Hände am Boden. »Sie hat sich trotzdem für mich entschieden.«

Auf der anderen Seite der Bühne fegt Adraa die Beine unter einer Hexe weg, bevor sie ins Rutschen gerät. Mit der Hitze ihrer roten Magie schmilzt sie die von mir sorgfältig errichtete Eisbahn. Im Schlittern stößt sie einen Zauberer zurück ins Getümmel. Es folgt ein Blitz aus rotem Nebel, und zwei weitere Zauberer gehen zu Boden.

Kalyan nickt anerkennend. »Und dafür kannst du dich glücklich schätzen.«

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als sich Adraa aufrichtet, herumwirbelt und prompt wieder ausrutscht. »Muss denn alles aus Eis sein?«, ruft sie.

Ich zucke mit den Schultern. Das ist meine magische Stärke. Was erwartet sie denn? Aber ich lasse die Hände vorschnellen und rufe die uns trennenden Eisbrocken zurück. »Zufrieden?«, frage ich, während mich Kalyans Worte wärmen. Ich werde immer glücklich sein, wenn Adraa Belwar mich auserwählt. Wenn wir jetzt nur einen Augenblick für uns allein hätten, damit ich sie anständig fragen könnte.

Statt zu antworten, reißt Adraa die Augen weit auf und hebt die Hand. Ich drehe mich um, jedoch zu spät. Eine weitere Fanatikerin hat sich hinter uns angeschlichen. Ein blaues Schwert saust auf Kalyan und mich herab. Mir bleibt keine Zeit, einen Schild hochzureißen, bevor uns eine violette Barriere abdeckt. Riya stößt sich über uns davon ab, dreht sich in der Luft und tritt einer Hexe seitlich ins Gesicht. Die Hexe geht zu Boden, und Riya wendet sich uns zu. »Wäre schön, wenn ihr ein bisschen mehr auf die Umgebung achten könntet. Bei den Göttern, wie habt ihr ohne uns so lange überlebt?«

»Offensichtlich mit viel Glück«, meint Kalyan. »Unglaublich viel.«

Adraa eilt zu uns herüber. »Damit sind alle erledigt, die reingeschlüpft sind, bevor wir die Barriere errichtet haben. Lasst uns verschwinden, bevor noch jemand verletzt wird.«

»Dafür könnte es zu spät sein«, entgegnet Kalyan. Zu viert drehen wir uns der Barriere zu und betrachten das Chaos aus gesplittertem Holz. Der Großteil der Menschenmenge hat sich zerstreut, aber innerhalb unseres Blasenschildes liegen einige bewusstlos oder stöhnend auf dem Boden. Allerdings hämmern noch Dutzende Zauberer gegen den Schild. Die Augen vieler leuchten rot, was nur eins bedeuten kann: Sie stehen unter dem Einfluss der Droge Blutlust und allem, was damit einhergeht – mehr Macht, weniger Kontrolle, keine Rücksicht auf Vernunft. Ich habe noch nie so viele auf einem Haufen gesehen.

Drei Zauberer dreschen mit orangefarbener Magie auf die Barriere ein. In der äußeren Hülle zeigen sich bereits erste Risse. Lange wird sie nicht mehr halten.

»Was stimmt nicht mit denen?«, brüllt Riya.

»Sie sind wütend. Ihre Stadt hat gebrannt, und sie wollen einen Sündenbock«, antwortet Adraa mit einem Blick zum Gandhak.

»Heute ist nicht der richtige Tag, um sie zur Vernunft zu bringen.« Ich nicke Riya und Adraa zu. »Ihr zwei zuerst. Kalyan und ich geben euch Rückendeckung.«

Adraa wirft mir einen Blick zu. »Was ist mit dir?«

»Ich bin schon Lawinen entkommen. Also schaffe ich es auch weg von hier.«

»Nach all der Zeit reibst du mir das immer noch unter die Nase?« Adraa schüttelt zwar den Kopf, bereitet aber ihren Himmelsgleiter vor. »Sei vorsichtig.«

Ich lächle. »Bin ich immer.«

Kalyan schnaubt neben mir, während er mehr Eis auf den Fuß des Schilds abfeuert.

Ich breche das Eis oben auf, und Adraa und Riya sausen durch die Öffnung hinaus. Die Frage an Adraa liegt mir immer noch auf der Zunge, ungestellt, unbeantwortet.

Kalyan beobachtet mich aus dem Augenwinkel. »Erinnerst du dich an meine aufmunternden Worte von vorhin?«

»Ja. Du hast gesagt, bei der romantischen Atmosphäre der Feierlichkeiten wäre es schwierig, einen Heiratsantrag zu vermasseln«, antworte ich, entfalte wieder meinen Himmelsgleiter und bereite mich darauf vor, so schnell abzuheben, dass es die bunte Kuppel zurückschleudern wird.

»Vergiss, was ich gesagt habe. Ich hab dabei nicht berücksichtigt, wie schlecht du in solchen Dingen bist«, grinst Kalyan, als wir unsere Himmelsgleiter besteigen. »Und nur, um es klarzustellen, ich meine grottenschlecht.«

»Tja, dann gibt es einen Lichtblick. Ich glaube, sie hat nicht mal mitbekommen, dass ich sie fragen wollte.« Damit richten Kalyan und ich einen Zauber gegen das Holz der Bühne und beschichten es mit weißem Rauch, bis uns eine Wolke davon umhüllt. Als wir uns schließlich abstoßen, zerbricht die Bühne. Zwei Löcher klaffen in ihrer Mitte.

Ich weiß vielleicht nicht, wie man einen Antrag macht, aber zumindest weiß ich, wie man einen überzeugenden Abgang hinlegt.

Kapitel 3

Vom Licht gejagt

Adraa

Ich spüre die Explosion eher durch die Vibration in Hybris’ Holzgriff, als dass ich sie höre. Ich kenne Jatin, und ich kenne Kalyan. Sie sind in Sicherheit. Ich hoffe nur, all die von Blutlust und der Suche nach Schuldigen aufgestachelten Menschen werden wieder gesund.

Riya manövriert ihren Himmelsgleiter dicht neben mich. Der Wind rauscht, als eine neue Strömung das Drachenleitwerk des Gleiters erfasst. »Also ...«, sagt sie gedehnt. »Ich weiß, der Abend heute ist nicht gerade gut gelaufen. Aber hat irgendetwas anderes das aufgewogen?«

Ich habe nicht erwartet, dass der Flug zurück zum Belwar-Palast schweigend verlaufen würde. Aber ich habe auch nicht mit dem flapsigen Ton gerechnet, den sie sich dafür vorbehält, mich aufzuziehen. »Was?«

»Gibt es irgendetwas Neues, das du mir sagen willst? Etwas zugleich Lebensveränderndes, aber auch total Erwartetes?«

»Wovon redest du? Riya, du hast genauso gut gehört, was diese Leute gesagt haben, wie ich.«

Sie seufzt. »Vergiss es.«

Mir ist klar, dass mir irgendetwas entgeht, irgendein Hinweis, den sie fallen gelassen hat. Aber was soll neu sein? Riya ist drei Jahre älter als ich. Und obwohl der Unterschied mit jedem weiteren Jahr an Bedeutung verliert, strahlt sie manchmal immer noch etwas Allwissendes aus.

»Wo war Prisha heute Nacht?«, frage ich. »Wir haben auch nach ihr gerufen.«

Riya verlagert das Gewicht auf ihrem Himmelsgleiter. »Hiren fragt mich ständig, ob mir irgendeine Veränderung aufgefallen ist. Aber ich weiß nur, dass sie sich seltsam verhält.«

»Inwiefern seltsam?« Ich beuge mich vor. Mir wiederum ist aufgefallen, dass meine jüngere Schwester mir aus dem Weg geht. Zwar taucht sie normalerweise auf und ergänzt unsere Gruppe, wenn ein Signal aufsteigt, aber wenn ich mein wahres Gesicht trage, behandelt sie mich wie der Rest von Wickery wie eine Ausgestoßene.

»Launisch.«

»Dir ist schon klar, dass wir über Prisha reden, oder? Sie ist fünfzehn Jahre alt und ein Mädchen. Launisch sollte ihr zweiter Vorname sein.«

»Nein, es liegt an etwas anderem. Sie schwänzt immer wieder ihre Schichten in der Klinik.«

Ich schwenke Hybris so, dass ich Riya ins Gesicht sehen kann. »Alle?«

»Alle.«

Vor meiner nächsten Frage muss ich einige Male tief durchatmen. Ich muss wissen, wie weit sich der Hass auf den Namen Belwar ausgebreitet hat. Diese Leute haben nämlich nicht nur im Chor mein Ende verlangt, sondern das meiner gesamten Familie. »Liegt es daran, dass unser Volk nicht mehr von einer Belwar geheilt werden will?«

Riyas Züge werden milder, was angesichts ihrer dichten Brauen und kräftigen Wangenknochen gar nicht so einfach ist. An ihrer Reaktion erkenne ich, wie verletzlich ich gerade aussehen muss und wie verheerend die Antwort auf meine Frage ist. »Adraa ...«

Ein orangefarbenes Licht gleißt zwischen uns hindurch. Wir schwenken beide zur Seite. Hybris knarrt protestierend in meinem Griff. Der Wind, so friedlich und praktisch nicht vorhanden, erwacht wirbelnd zum Leben, während ich mich drehe. Eine Sekunde später richte ich mich auf, bemerke Riyas verwirrten, suchenden Blick und halte selbst Ausschau nach dem nächsten Aufflammen von Licht. Die Farben sind vom Himmel verschwunden. Die Straßen mögen noch in bunte Pracht getaucht sein, aber die Dunkelheit hat alles in unserem Blickfeld verschluckt. Nur schwache, nutzlose Kerzen brennen tief unter uns.

»Links von dir!«, schreit Riya.

Ich drehe mich um und ducke mich. Wieder schießt ein Strahl orangefarbener Magie an meinem Kopf vorbei. Ich verrenke mich und beobachte, wie der Zauber wendet und geradewegs zu mir zurückrast. Wir werden nicht blind beschossen, wir werden ins Visier genommen.

»Es ist nur hinter dir her. Tauch ab!«, brüllt Riya. Ich gehe in den Sturzflug. Das orangefarbene Gleißen folgt mir sogar, wenn ich im Zickzack fliege. Meine schnellen Manöver helfen nicht. Ich ziehe den Himmelsgleiter abrupt hoch, aber der Zauber folgt mir weiter. Oh ihr Götter! Ich kann Dinge nicht leiden, die genauso stur sind wie ich.

Wieder tauche ich ab, bis hinunter auf die Höhe der Dächer und in die Flugverbotszone. Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Ding abzuschütteln, und die bietet der offene Himmel nicht. Ich fege durch die Gassen meiner Stadt. Die über den Türen aufgehängten Laken, die Bewohner vor schwarzer Tarnmagie warnen sollen, flattern wild. Torbögen werden zu Hindernissen. Mein Himmelsgleiter verfängt sich an einer Wäscheleine mit Teppichen, als ich ihr mit Hybris’ Schwanz zu nahe komme.

Nach der achten Kurve fehlt von dem orangefarbenen Licht jede Spur. Schlingernd bremse ich ab und zaubere eine orangefarbene magische Verstärkung auf meine Augen, um in der trüben Dunkelheit mehr erkennen zu können.

Alles ist ruhig.

Zumindest, bis der Wind pfeift, ich nach links schaue und Riya auf mich zurasen sehe. Ich erstarre zu lang, bevor ich mit einem Ruck nach rechts ausweiche, doch da ist es bereits zu spät. Riya versetzt mir einen Stoß. Alles spielt sich so schnell ab, und ich bin nur ein Bündel wackeliger Glieder. »Simaraw«, rufe ich, um hastig einen Schild zu errichten. Das orangefarbene Licht ist nicht verschwunden, es rast auf uns herab.

Dann hält es an. Unvermittelt rührt es sich nicht mehr. Riya und ich beobachten durch unsere schimmernden Barrieren, wie sich das orangefarbene Licht in Worte auflöst – Komm sofort nach Hause. Danach gibt eine Stimme dieselbe Botschaft wieder. Die Stimme meines Vaters.

Riya und ich sehen uns an und seufzen erleichtert, schlucken die letzten Reste unserer Panik hinunter. In letzter Zeit bin ich in zu viele Hinterhalte geraten. Oder einmal zu oft um ein Haar umgekommen.

»Ich wusste gar nicht, dass er das kann«, murmelt Riya, als die Nachricht verblasst und schließlich erlischt. »Eine Nachricht losschicken, die jemanden auf diese Weise sucht.«

Ich bin nicht wütend, nicht mal frustriert. Seit der Sache mit dem Gandhak versucht mein Vater, einen Zauber zu entwickeln, mit dem er sich an den gesamten Landkreis auf einmal wenden kann, ein Benachrichtigungssystem für Notfälle. Wie wir alle will er nicht, dass Belwar noch einmal überrumpelt wird. Dieser Zauber muss sein neuester Fortschritt sein. »Wie andere auch lernt er neue Zauber«, sage ich.

Riya zieht eine Augenbraue hoch, als wir den Weg zum Palast antreten. »Wäre nett gewesen, wenn er mich und die anderen Wächter bei einer der täglichen Sicherheitsbesprechungen darauf aufmerksam gemacht hätte. Du weißt schon, die Besprechungen, bei denen wir darüber reden, wie wir verhindern können, dass Mitglieder der königlichen Familie vom Himmel stürzen und sterben.«

»Das wäre so oder so nicht deine Schuld.« Ich sehe ihr in die Augen. »Mein Tod oder mein Verderben könnten nie deine Schuld sein.«

Riya starrt mich an, bevor sie den Blick auf unsere Umgebung richtet – die dunklen Gassen, die Asche in den Winkeln, die vom Fest über die Straßen verschmierten Farben. »Es ist meine Aufgabe, auf dich aufzupassen. Also wäre es sehr wohl mein Fehler. Schuld ist leicht zuzuweisen, aber schwer loszuwerden.«

In dem Moment weiß ich nicht, ob sie über mich, sich selbst oder die Leute auf der Kundgebung spricht, die einen Sündenbock für den Ausbruch des Gandhak wollten. Vielleicht meint sie auch alle zusammen. Vielleicht sind wir auch alle Übeltäter, wenn es um die Schuldfrage geht, weil wir die Sache gären lassen.

***

Das neue Nachrichtenverfahren meines Vaters hat mich erschreckt. Noch mehr jedoch ängstigt mich, dass er mich sofort zu sehen wünscht.

Seit dem Ausbruch habe ich nicht viel Zeit mit ihm verbracht. Ich dachte, nachdem meine Mutter herausgefunden hatte, dass ich die Rote Frau bin, würde auch mein Vater davon erfahren. Aber wie ich festgestellt habe, kann Mama ein Geheimnis bewahren. Manchmal nur zu gut – und zu viele, um sie zu zählen. Ich hatte mehrmals die Gelegenheit, es ihm zu sagen. Aber ich habe jedes Mal den Mund gehalten. Allerdings ist er damit beschäftigt, gegen das Gerichtsverfahren zu kämpfen, das über mein Schicksal und meine sogenannten Verbrechen entscheiden würde. Irgendetwas sagt mir, dass ich heute Abend beichten sollte, weil es zu spät sein könnte, wenn ich nicht bald mit allem herausrücke.

Nachdem ich im Arbeitszimmer und Besprechungsraum nachgesehen habe, finde ich ihn vor dem Thron, wo er rastlos auf und ab läuft. Einige der letzten Firelight-Kugeln erhellen das Belwar-Wappen, das die hintere Wand ziert. Die Strahlen der orangefarbenen Sonne darauf weisen wie Speere zur Decke. Früher habe ich darin Hoffnung gesehen. Jetzt fühlt es sich eher wie ein schmerzhafter, unerreichbarer Traum an, das Symbol eines bröckelnden Erbes, das mit mir zu zerfallen begonnen hat. Heute Nacht habe ich unser Wappen wieder zusammengenäht. Aber wird es mir auch im größeren Maßstab gelingen, wieder zusammenzufügen, was zerbrochen ist?

Ich beobachte meinen Vater. Soweit ich mich erinnere, habe ich ihn noch nie rastlos auf und ab laufen gesehen. Das macht eher meine Mutter. Auch ich neige dazu. Vater ist sonst so ruhig wie ein Fels in der Brandung.

»Papa, ich muss dir was sagen ...«

Als er sich umdreht, trübt Besorgnis seine grünen Augen. »Adraa, endlich.« Er eilt herbei und zieht mich in eine Umarmung. Seit ich ein kleines Mädchen war, kenne ich meinen Vater zwar als liebevoll, aber er hat nie dazu geneigt, dem körperlich Ausdruck zu verleihen. Er zeigt mir durch Humor, Bestärkung und seine Bereitschaft, mir die politischen Abläufe in unserem Land beizubringen, wie viel ihm an mir liegt. Das habe ich vor langer Zeit gelernt. Die Anzahl unserer Umarmungen kann ich an einer Hand abzählen. Die einzige in jüngerer Vergangenheit habe ich erhalten, als ich aufgewacht bin, nachdem ich mein Firelight vom Gandhak zurückgeholt hatte – und dabei um ein Haar gestorben wäre. Dass ich gerade in seinen Armen liege, jagt mir mehr Angst ein als seine Botschaft. Und mehr als alles andere, was heute Nacht passiert ist.

»Es tut mir leid. So leid«, flüstert er unablässig. »Ich habe dich im Stich gelassen.«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Leid? Was tut dir leid?« Aber etwas tief in mir murmelt, dass ich es bereits weiß. »Und du lässt mich nie im Stich.«

»Diesmal schon. Ich habe versagt. Die Radschas haben mich überstimmt. Und jetzt wird morgen ...«

Ich erzittere. »Was passiert morgen?« Ich muss es ihn sagen hören.

Mein Vater zieht sich zurück und sieht mich an. »Morgen wirst du für den Mord an einhundertneunundzwanzig Menschen vor Gericht gestellt.«

***

Langsam bahne ich mir den Weg zu meinem Zimmer. Unterwegs komme ich an Wandteppichen mit Darstellungen der Geschichte meines Lands vorbei, an orange-rosa Brokat, auf dem die Namen meiner Eltern leuchten, und am Wappen der aufgehenden Sonnen, das nie auf meine Kleidung genäht werden wird. Ein Gedanke hat sich in meinem Kopf wie mit Widerhaken festgesetzt.

Es ist wahr geworden. Ich gehöre nicht wirklich zum Gefüge dieses Palasts. Meine Geschichte wird nie in sein Geflecht eingewoben werden. Ich habe versagt. Es geht nicht mehr nur um meinen Ruf und Gerüchte. Das gesamte Land Belwar glaubt es.

Alle glauben, dass ich sie vernichten will.

Als ich mein Zimmer erreiche, weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll. Nachdem Papa meine Tränen mit den Worten gelindert hat, ich sollte es als Neubeginn betrachten, hat er mir geraten, mich für den bevorstehenden Tag auszuruhen. Ausruhen. Was für ein unmöglicher Vorschlag. Vor allem, da die Zahl einhundertneunundzwanzig durch meinen Schädel kreist und mich mit Stille schlägt. Mit stillen Tränen. Mit stillem Zittern. Mit stillem Hass.

Ein dumpfer Laut an meinem Fenster erschreckt mich so sehr, dass ich meine Magie einsatzbereit auf der Haut spüre. Als ich den Mut zusammengekratzt habe, die Vorhänge aufzuziehen, entdecke ich auf der anderen Seite der Scheibe Jatin. Mit einem Klicken, einem Zischen und dem leisen Bimmeln von Warnglocken öffnet sich das Fenster.

Ein Blick. Nur ein Blick, und ich bin überzeugt davon, dass er mitten in mich hineinsieht. Und er ist nicht hier, um über die Kundgebung zu sprechen, deren Ausschreitungen wir gerade entkommen sind. Irgendwie weiß er, was mir morgen bevorsteht, ohne dass ich etwas sage. Ich merke es ihm an der Falte zwischen den Brauen ebenso an wie an der mitfühlenden Traurigkeit in seinen Augen. Oh ihr Götter, er besitzt so freundliche und wissende Augen.

Keiner von uns will zuerst das Wort ergreifen. Also mustern wir uns schweigend, bevor ich mich überwinde.

»Woher weißt du es?«, gelingt es mir schließlich zu flüstern.

Jatin blickt auf seine Hand, die einen zerfledderten, zerknitterten Brief umklammert. Langsam hebt er den Arm, und das Pergament entfaltet sich. »Ich bin als erster Zeuge geladen.«

Meine Züge fallen in sich zusammen. Ich sacke gegen ihn, und er schließt mich in die Arme. »Keine Sorge. Von mir werden sie höchstens erfahren, wie sehr ich dich liebe. Könnte zwar für die Zuschauer peinlich werden, aber das ist mir egal.«

Mir rutscht ein schnaubendes Lachen heraus, an dem ich mich verschlucke.

»Rede mit mir«, fordert Jatin mich auf.

Früher hätte ich alles in mir verschlossen, hätte kein Quäntchen Selbstzweifel oder Verletzlichkeit nach außen dringen lassen. Aber bei Jatin muss ich nicht fürchten, verurteilt zu werden. Er hält mich für stark und lässt es mich spüren. Also bin ich schonungslos ehrlich.

»Ich habe Angst. Vor meiner Zeremonie habe ich meine Bedenken geäußert, und alle haben mich beruhigt. Dann ist die Welt explodiert. Was wird dieses Mal passieren? Was, wenn ich nicht beweisen kann, dass es Moolek war? Was, wenn man mir nicht glaubt und wirklich denkt ... Wenn man ...«

»Es ist ein Wahrheitszauber im Spiel, Adraa.« Behutsam zieht er meine Hände vom Körper weg und hält sie fest. »Sie müssen dir glauben.«

Ich hole tief Luft. »Und wenn ich ihnen zu viel Wahrheit sage? Wenn mir herausrutscht, dass ich all mein Wissen als Käfigzauberin und als Rote Frau erlangt habe? Alle meine Beweise habe ich mit einer Maske beschafft. Wir kundschaften jede Nacht, und jede Nacht stoßen wir auf mehr Anzeichen, dass etwas vertuscht wird. Die versuchen, uns loszuwerden. Oder zumindest mich.«

»Das lassen wir nicht zu.«

Ich ziehe mich zurück und sehe ihn an. »Oh, das klingt ja ziemlich einfach.«

Er lächelt. »Ich weiß. Wir sind auch ziemlich beeindruckend. Ich finde, indem ich mir solche Lösungen einfallen lasse, habe ich bewiesen, warum ich als Jahrgangsbester abgeschlossen habe.«

»Hat dich bestimmt den ganzen Flug hierher gekostet, oder?«

»So ungefähr.« Dann wird er ernst und drückt meine Schultern. »Aber Spaß beiseite. Die wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben. Wir ...«

Das unverwechselbare Geräusch von berstendem Glas dringt in mein Zimmer.

Wir zucken beide erschrocken zusammen. »Was um alles in Wickery war das?«, platze ich heraus und male mir bereits das Schlimmste aus. Leute von der Kundgebung oder Vencrin, die uns gefolgt sind. Der Palast wird angegriffen. Man hat aufgedeckt, wer ich bin.

Aus dem Augenwinkel nehme ich das Aufflackern von weißem Nebel wahr. »Du gehst voraus«, flüstert Jatin.

Ich beschwöre meine Magie. Roter Rauch umhüllt mich bis zum Hals, bevor wir aus meinem Zimmer schleichen. Auf dem Weg durch die Gänge wird mir schon bald klar, woher das Geräusch gekommen ist. Prompt lasse ich jede Tarnung fahren und renne zum Krankentrakt.

Vermutlich habe ich mit einem aufmüpfigen Patienten gerechnet. Oder mit meinem Dienstmädchen Zara, die auch als Heilerin in der Klinik arbeitet, wie sie aufgelöst die Scherben eines zerbrochenen Glasbehälters aufsammelt. Aber Jatin und mich erwartet etwas völlig anderes. Wir treffen auf Hiren, einen unserer Elitegardisten – nebenbei auch der Leibwächter meiner Schwester – und Sohn eines der fünf hohen Radschas. Er duckt sich gerade, als eine Schlammkugel auf ihn zufliegt.

»Hiren, was ist hier los?«, brülle ich.

Er wirbelt herum. Sein zu großer Mantel fegt dabei über den Boden. Vor zwei Jahren ist er Prishas Garde beigetreten, ein Geschenk seines Vaters. Seither ist er bestrebt, in Belwar Rang um Rang aufzusteigen. Im Augenblick könnte er seinen Posten bereuen. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber nichts kann sie beruhigen.«

Zwar höre ich seine Worte, kann ihnen jedoch keinen Sinn entnehmen, bis ich um die Ecke biege. Vor mir liegt die Klinik, das zweite Zuhause meiner Mutter. Als Zehnjährige habe ich diesen Ort »den Geruchsbetrieb« getauft. Rosmarin stapelt sich auf Eimern mit Ingwer und Tulsi. Chilis, Paprika und Kreuzkümmel reihen sich ordentlich in Holzregalen nebeneinander. Organe und Blut von Ziegen, Schweinen und Eidechsen sind nach Datum und Konsistenz geordnet. Zumindest sieht es normalerweise so in der Klinik aus. Im Augenblick hockt meine Schwester völlig verdreckt und besudelt mittendrin. Einen Moment lang stehe ich nur verdattert da, bis Prisha kreischt und violette Magie durch die Luft peitscht und eine Flasche Molchaugen zertrümmert.

»Prisha!«

Sie wirbelt herum – das Gesicht nass von Tränen, die Miene untröstlich.

»Prisha, das sind gute Kräuter und Heilmittel, die Menschen helfen. Weißt du eigentlich, wie viele noch verletzt sind und ...«

»Tja, und wessen Schuld ist das?«, fällt sie mir scharf ins Wort.

Ich stolpere zurück. Die nächsten Worte hauche ich so leise, dass ich sie selbst kaum hören kann. »Was hast du gesagt?« Zu mehr lasse ich mich nicht verleiten, denn ich weiß, die nächsten Worte würden harsch und unbesonnen sein – zu sehr wie die alte Adraa Belwar, die Dinge überstürzte. Und wohin hat mich das gebracht? Wohin hat uns das gebracht?

Prisha sackt in sich zusammen und schluchzt auf. »Adraa, ich weiß nicht, was in meinem Kopf vorgeht.«

Ich gehe neben ihr in die Hocke. Haben die Leute das gemeint, als sie gesagt haben, dass die Belwars wegmüssen? Nicht nur wegen Mooleks ausgeklügeltem Plan, uns alle auszulöschen, wie ich glaubte, sondern wegen innerer Gründe? Wegen Unsicherheit und Versagen?

»Ich ... habe Rosa als Stärke«, bringt sie zwischen dem Schluchzen hervor.

Ich halte inne. Darüber ist sie so aufgebracht? Stärken?

»Prisha, du bist noch nicht mal sechzehn.«

Ruckartig richtet sie sich auf, starrt mich finster an und sieht sich dann um, bis sich ihr Blick auf einen in der Ecke köchelnden Kessel heftet.

»Hilloretaw«, befiehlt sie. Eine rosa Rauchranke kräuselt sich von ihren Fingerspitzen, taucht in den Kessel und holt das Wasser heraus. Eine flüssige Spirale schwebt in der Luft, bevor Prisha den Zauber abbricht. »Alles, was ich versuche, hat diese Farbe.«

Also ist es wahr. Keine Überreaktion ihrerseits. Die Stärke meiner Schwester ist Rosa. Die Göttin Laeh hat sie als Vertreterin derer auserkoren, die Verletzte und Kranke heilen können. Das sind unerwartete, aber erfreuliche Neuigkeiten für mich. Prishas Züge hingegen sind schmerzverzerrt. Als sich bei mir vor zwei Jahren meine Stärke herauskristallisiert hat, war das ein Grund zum Feiern. In den frühen Jahren dachte meine Familie, ich könnte eine Unberührte sein und ohne Kräfte enden, weil mein rechter Arm unnatürlich kahl ist – dunkelbraun wie der Rest von mir, nicht mit magischen, schnörkeligen Mustern von den Göttern berührt. Mein Magen krampft sich zusammen. Das ist erst zwei Jahre her. Der Anblick meiner Schwester vor mir ... ist kein Grund zum Feiern.

»Prisha ...«

»Sag nicht, es wäre anders. Lüg nicht.«

»Schon gut. Es stimmt. Aber rosa Magie verheißt Wunder und Leben ...« Abrupt verstumme ich und schlucke runter, was mir auf der Zunge liegt. Nicht wie das Feuer einer roten Stärke. »Keine Zerstörung. Nicht so was.« Ich deute auf die Umgebung der Klinik. So verwüstet habe ich sie nicht mehr erlebt, seit die vom Gandhak verursachten Erdbeben die Tränke wie Blut verspritzt haben. Es hat Wochen gedauert, alles wieder in Ordnung zu bringen.

»Seit ich dich zurückgeholt habe, ist es schlimmer geworden. Daran muss es liegen.«

Also gibt sie mir die Schuld. Ich merke es ihr am Gesichtsausdruck an, auch an dem distanzierten Ton, mit dem sie die Worte hervorbringt. »Soll das heißen, dir wäre lieber, du hättest mich nicht gerettet?«

Ihre Tränen tropfen auf den Boden, das Haar hängt ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. »Ich habe jeden Tag gebetet, Adraa. Jeden Tag. Ich will das nicht als mein Schicksal haben.«

»Das ist es auch nicht. Allmählich bin ich es leid zu versuchen, dich davon zu überzeugen. So gern die Menschen auch in Schubladen denken, man ist mehr als die Farbe seiner Magie. Rosa Kräfte sind nicht lammfromm, fürsorglich oder weiblich, nur weil sie heilen können. Du wirst viel mehr sein als eine Trankmeisterin oder bessere Heilerin. Du wirst eine Rani sein.« Mir widerstrebt, wie verbittert ich mich beim letzten Satz anhöre. Sie wird eine Rani werden, vielleicht sogar die Maharani von Belwar, und ich ... werde nie einen solchen Titel besitzen. Und wichtiger noch, niemand will es.

Aber Prisha scheint mich nicht gehört zu haben. Sie jammert weiter. »Als du gestorben bist, habe ich zu Laeh gebetet. Ich habe mich an sie gewandt, nach all den Jahren, die ich sie gemieden, sie praktisch entehrt habe. Und ich glaube, das ist ihre Rache an mir.«

Vielleicht. Wie ich mittlerweile weiß, sind auch die Götter und Göttinnen nicht unfehlbar. Wie wir besitzen auch sie Persönlichkeiten und ein Temperament. Ihnen unterlaufen Fehler. Sie können ganze Leben vermasseln und uns sogar umbringen. Ich dachte, ich hätte ein Schicksal. Aber nein, das haben sie mir genommen. Ja, die Göttin Erif hat mir auf dem Gandhak geholfen. Zugleich jedoch hat sie zugelassen, dass Maharadscha Moolek mich ruiniert. So sehr, dass meine eigene Schwester zweifelt.

»Wenn es dein Schicksal ist, musst du aufhören, so selbstsüchtig zu sein. Vielleicht dachten die Götter, du solltest dich zur Abwechslung mal um andere kümmern.«

»Ach, ich bin hier die Selbstsüchtige? Ich habe dich seit Tagen nicht mehr in der Klinik gesehen.« Sie sieht mir unverwandt in die Augen. »Weißt du, man gibt dir nicht ohne Grund die Schuld.«

Ich zucke zurück und stehe auf, um Abstand zwischen mich und ihre Andeutung zu bringen. »Also glaubst du die Gerüchte? Du glaubst, ich hätte mein Firelight in den Gandhak gebracht, um unser Volk zu vernichten?«

Prisha weint zwar weiter, aber ich höre keinen Widerspruch. Nur Schuldgefühle, Angst und ...

Also nicht mal nur Zweifel. Sondern Überzeugung. Es passiert wirklich. Sogar mit Prisha.

»Morgen stehe ich vor Gericht. Dann werden wir wohl erfahren, ob die Schuld bei mir liegt.«

Abrupt schaut Prisha auf. Ihr Blick wird schärfer. Sie hat es eindeutig noch nicht gewusst. »Adraa, ich ...«

Ich halte es keinen Moment länger in ihrer Nähe aus. Jäh wende ich mich von ihr ab. Jatin sieht mir fragend ins Gesicht, und ich schüttle den Kopf. Keine Ahnung, ob es mir je wieder gut gehen wird.

Ich gehe an Hiren vorbei. »Bitte hol Zara. Ich will nicht, dass meine Mutter dieses Chaos sieht«, flüstere ich.

Man merkt ihm an, dass er etwas erwidern will. Ich spüre den Blick seiner dunklen Augen, höre, wie er scharf einatmet. Als ich schon denke, dass er die Worte runterwürgen wird, fahren sie mir in den Rücken.

»Sie betet dich an. Mehr als alle Gottheiten. Dich.« Eine Schwere schwingt in seiner Stimme mit. Ich kann mich nicht überwinden, zurück zu dieser Stätte der Qualen zu schauen. Dafür hat mich meine Schwester zu sehr verletzt.

»Es ist hart für sie, ihre Heldin fallen zu sehen«, flüstert Hiren.

Ich atme tief durch und versuche verzweifelt, die Fassung zu bewahren. »Wer sagt denn, dass ich eine Heldin bin?«

Kapitel 4

Verhandlungstrauma

Jatin

Das Verfahren beginnt drei Stunden nach Tagesanbruch. Als ich eintreffe, linst die Sonne gerade über die Berge und erfüllt den halben Gerichtssaal mit Licht. Obwohl es nicht still ist, höre ich jeden meiner Schritte, als ich mich dem mir zugewiesenen Stuhl nähere.

Ich habe noch nie an einem Wahrheitsverfahren dieser Größenordnung teilgenommen. Andererseits hat man auch noch nie eine Thronfolgerin so offen angeklagt und unverhohlen vorgeführt. Wenn sich Adelige ein Fehlverhalten leisten, wird es entweder unter den Teppich gekehrt, oder man landet damit im Rampenlicht. Aber das ist mehr als Rampenlicht. Die Hälfte der Zuschauenden ist zwar in Schatten getaucht, Adraa hingegen wird in der prallen Sonne stehen, und wir alle fühlen es.