Boy 7 - Mirjam Mous - E-Book
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Boy 7 E-Book

Mirjam Mous

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Beschreibung

Boy 7 kommt auf einer glühendheißen, kahlen Grasebene zu sich und weißt weder, wohin er unterwegs ist, noch woher er kommt. Er weiß nicht einmal mehr, wie er heißt. Die einzige Nachricht auf seiner Mailbox stammt von ihm selbst: "Was auch passiert, ruf auf keinen Fall die Polizei." Wer ist er? Wie ist er hierher geraten? Und wem kann er vertrauen?

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Seitenzahl: 274

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Autor

Mirjam Mous,geboren 1963, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller.

Titel

Mirjam Mous

Boy 7

Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© für die deutsche Ausgabe 2011 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Boy 7« bei Van Holkema & Warendorf, Houten.© 2012 Van Holkema & Warendorf/Unieboek The Netherlands Alle Rechte vorbehalten Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer Die Übersetzung dieses Buches wurde von der Stiftung für die Produktion und Übersetzung niederländischer Literatur gefördert. Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80143-8www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Teil 1: Der Junge ohne Gedächtnis

Weil sie durchhielt, erreichte sogar die Schnecke die Arche Noah. (Japanische Weisheit)

1

Ohne Fallschirm aus einem Flugzeug gestoßen werden. In einem Affenzahn mit einem Auto herumrasen, das sich um keinen Preis lenken lässt. Ins tiefe Wasser geworfen werden, obwohl man nie schwimmen gelernt hat. Sich in einer fremden Stadt verirren und niemanden nach dem Weg fragen können, weil alle japanisch sprechen.

So fühlte es sich an. Und zwar alles davon gleichzeitig.

Ich wusste nicht, wer ich war, wo ich war und wie ich an diesen verlassenen Ort geraten war. Aber dass mir fast der Schädel platzte vor Schmerzen, das wusste ich. Es war, als hätte man mir mit einem Hammer alle Erinnerungen herausgeschlagen – und sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte sie nicht wiederfinden. Alles war auf einmal vollkommen unsicher, Geheimsprache und nicht zuverlässig. Ich war da und doch nicht wirklich, und das verursachte schon ein ziemlich gruseliges Gefühl. Mehr als gruselig. Ehrlich gesagt, machte ich mir vor Angst fast in die Hosen – eine ausgefranste Jeans, die mir auch nicht allzu bekannt vorkam. Ich sehnte mich nach einem sicheren Ort, einem Bett oder notfalls einer Höhle, in der ich mich verkriechen könnte, aber auf dieser endlosen gelben Grasebene gab es nichts, was Schutz bieten konnte. Kein Haus, kein Bauernhof, nicht mal ein Schuppen. Nur ein endloser Asphaltstreifen, der die kahle Landschaft spaltete. Die Luft darüber wirkte flüssig in der Hitze. Ich selbst übrigens auch. Mein Hemd – complete stranger Nummer so und so viel – klebte mir am klatschnassen Rücken. Der Ärmel war eingerissen und die Haut darunter aufgeschürft.

Hatte ich einen Unfall gehabt? War ich auf den Kopf gefallen und hatte durch den Schlag mein Gedächtnis verloren?

Ich spähte die Gegend ab. Doch nirgends sah ich einen beschädigten Motorroller oder ein Auto, das möglicherweise auf seinem Dach gelandet war – als wäre ich wie Ikarus mit geschmolzenen Flügeln vom Himmel gefallen. Ikarus, den kannte ich anscheinend. Ich hätte lieber gewusst, wie ich selbst hieß. Wenn ich erst meinen Namen wieder hatte, würde sich der Rest von selbst ergeben ...

Moment!

Fieberhaft wühlte ich in den Taschen meiner Jeans. Ich tastete mein Hemd ab, fühlte in der Mini-Brusttasche.

Leer. Kein Ausweis, kein Einkaufszettel, gar nichts.

In den Augenwinkeln juckte es und meine Gedanken überschlugen sich. Das war bestimmt ein Scherz. Gleich würde ein Mann mit versteckter Kamera aus dem Gras aufspringen, grinsen und »Hab dich!« rufen. Oder vielleicht war ich nicht echt und existierte nur im Kopf irgendeines Irren. Oder noch schlimmer: Ich war selbst verrückt geworden.

Ich senkte den Kopf und presste die Fäuste gegen die aufsteigenden Tränen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich träumte und würde gleich aufwachen.

Aber als ich wieder aufschaute, saß ich noch immer an derselben Stelle in der sengenden Sonne. Mir wurde klar, dass ich die Wahl hatte: hier bei lebendigem Leibe verbrutzeln oder Hilfe suchen.

Ich entschied mich für Letzteres.

Sobald ich aufzustehen versuchte, knickte mein Knöchel um und ich plumpste wieder auf den Boden. Der pochende Schmerz nahm mir fast den Atem. Ich löste die Schnürsenkel und schob meine Socke – dunkelblau mit einer 7 darauf – hinunter. Der Knöchel war dick geschwollen. Da kein Arzt in der Nähe war, packte ich ihn wieder ein und band die Schnürsenkel, so fest es ging. Hoffentlich gaben die Bergschuhe – nie zuvor gesehen, aber sie sahen gebraucht aus und passten genau – genügend Halt zum Laufen.

Wieder stellte ich mich hin, diesmal vorsichtiger. Ich machte ein paar Schritte. Kein angenehmes Gefühl, aber wenigstens blieb ich aufrecht.

Und jetzt? Auf eine Mitfahrgelegenheit konnte man hier vermutlich lang warten. Laufen war auch keine Alternative, mit dem Klumpfuß würde ich nicht weit kommen. Hätte ich bloß ein Handy ...

Mir stockte der Atem. Aus dem gelben Gras ragte ein grüner Maulwurfshügel. Ein Rucksack! Meiner?

Ich vergaß den Knöchel und stürzte mit klopfendem Herzen auf das unwirkliche grüne Ding zu, bevor es – nichts schien mir mehr sicher – plötzlich verschwinden würde.

Geschafft. Gespannt hob ich den Rucksack an den Trägern hoch und drückte ihn an mich. Meine Finger zitterten so stark, dass ich den Verschluss kaum aufbekam.

Ja, ein Klicken! Ich hielt den Beutel kopfüber und ließ den Inhalt herausfallen. Eine Flasche kullerte mir vor die Füße. Wasser! Plötzlich merkte ich, wie durstig ich war. Ungeduldig schraubte ich den Deckel ab und schluckte gierig. Erst als die Flasche zur Hälfte geleert war, fiel mir ein, dass ich es vielleicht ein wenig ruhiger angehen sollte. Wer weiß, wie lange es noch dauerte, bevor ...

Nicht daran denken! Ich setzte die Flasche ab und wischte mir mit dem Handrücken die Tropfen vom Mund. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich die anderen Schätze, die der Rucksack ausgespuckt hatte. Einen hellblauen Schlafanzug und Boxershorts. Eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta. Dinge, die man für eine Übernachtung brauchte. War ich auf der Durchreise? Wo hatte ich die vergangene Nacht verbracht? Keine Ahnung. Wieder stieg Panik in mir auf. Ich versuchte, nicht darauf zu achten und mich auf den verstreuten Tascheninhalt zu konzentrieren.

Eine Rolle Geldscheine – ich machte mir nicht die Mühe, sie zu zählen, sondern stopfte sie in meine Hosentasche. Die Baseballkappe war wie ein Lottogewinn; sobald ich sie auf meinen glühenden Schädel setzte, spendete sie meinen Augen Schatten und Ruhe. Ansonsten lagen noch ein Foto von irgendeinem großen grauen Gebäude und eine Pizza-Hut-Bestellliste im Gras. Vollkommen nutzlos in der unbewohnten Welt.

Es war nicht gerecht. Warum musste mir das passieren? In meinem Kopf sprang ein Deckelchen auf. Ein giftgrünes Monster flutschte wie ein Geist aus der Flasche. Es wollte Blut sehen und auf etwas eindreschen, es gab kein Halten mehr. Ich trat gegen das Gras, denn es gab nichts anderes. Ich fluchte in den Himmel, ließ meine Wut am Rucksack aus, boxte in den Stoff und ...

In der Vordertasche steckte etwas Hartes!

Mein Zorn legte sich so schnell, wie er aufgestiegen war.

Ich keuchte vor Anstrengung. Der Zipp schnitt mir in den Finger. Nach drei Versuchen gab der Reißverschluss endlich nach. Die Zahnreihen grinsten mich an wie ein aufgesperrtes Maul. Ich zwängte meine Hand hinein und ...

Als ich die Umrisse eines Telefons ertastete, brach ich in hysterisches Lachen aus. Ich konnte nicht mehr aufhören, mein Körper wurde schlapp und ich rollte laut lachend durchs Gras.

Lang lebe die moderne Technik. Ich war gerettet!

Dachte ich.

2

Ich klappte das Handy auf. Jetzt brauchte ich nur noch die Notrufnummer einzutippen und dann würde man mich abholen. Keine Ahnung, woher ich dieses Wissen nahm – vielleicht hatte ich das mal in einem Film gesehen – aber ich wusste, dass mich die Polizei über das Signal meines Mobiltelefons orten konnte. In ein paar Stunden wäre ich zu Hause, wo auch immer das sein würde. Meine Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen. Ich stellte mir unser Wiedersehen vor, bei dem natürlich all meine Erinnerungen auf einen Schlag wiederkehren würden.

Anrufen. Auf einmal hatte ich es eilig.

Zum Schutz vor der Sonne hielt ich meine Hand über das Display. Da erst sah ich es: Ich hatte einen Anruf auf meiner Mailbox. Jemand wollte mich sprechen! Mein Vater oder meine Mutter, ein Bruder oder eine Schwester, ein Freund oder ein Bekannter. Plötzlich war alles möglich.

Ich hielt das Handy ans Ohr und lauschte mit angehaltenem Atem.

»Was auch passiert, ruf auf keinen Fall die Polizei.«

Trotz der Hitze bekam ich eine Gänsehaut. Diese Stimme ...

Zum zweiten Mal hörte ich den Bericht ab. Es gab keinen Zweifel: DAS WAR MEINE EIGENE STIMME. ICH SELBST HATTE DIESE NACHRICHT HINTERLASSEN!

Aber warum? Hatte ich vorhergesehen, dass diese Situation eintreten könnte? Dass ich hier landen und alles vergessen haben würde? Ich hätte mich wirklich schlagen können! Warum hatte ich bloß meinen Namen nicht genannt und alles erklärt? Jetzt hockte ich hier mutterseelenallein neben einer völlig verlassenen Straße und wusste nichts. Nur, dass ich die Polizei nicht alarmieren durfte.

Aber der Rucksack und das Handy gehörten demnach wirklich mir. Das Telefonbuch!

Ich ging auf Kontakte und wollte schon scrollen, aber ... Das Display blieb grau. Keine einzige Nummer im Speicher.

Tränen schnürten mir die Kehle zu. Ich war niemand. Unsichtbar. Ich konnte hier krepieren, ohne dass es jemand merkte.

Was jetzt? Mir fiel nur noch ein, dass ich den Anruf beantworten konnte. An irgendeinem Ort, an dem ich einmal gewesen war, stand ein Telefon und höchstwahrscheinlich wohnten dort Menschen, die mich kannten!

Eintippen. Am anderen Ende der Leitung klingelte es und auf meiner Stirn stach der Schweiß.

»Ja?«, fragte ein Mann.

»Hier ist ...« Wie machte man das, wenn man den eigenen Namen nicht wusste?

»Wo sind Sie?«

»Als ob du das nicht wüsstest«, antwortete der Mann gereizt. »Du rufst mich doch gerade hier an.«

Im Hintergrund war Musik zu hören – irgendein Ohrwurm, den ich nicht kannte – und etwas näher dran Gemurmel. Ich hörte, wie eine Frau »Neinnein, nicht siebenunddreißig, achtunddreißig« sagte.

»Jemand hat mich angerufen.« Ich versuchte, so ruhig und überzeugend wie möglich zu klingen. »Von dieser Nummer aus.«

»Na, ich jedenfalls nicht.« Der Mann schwieg kurz. »Das ist ein öffentlicher Fernsprecher. Du hattest Glück, dass ich zufällig hier vorbeikam.«

Kein Zuhause, keine Adresse, sondern ein öffentlicher Fernsprecher.

Ich umklammerte mein Handy. »Wo steht dieses Telefon?«

»Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit für diesen Unsinn«, sagte der Mann. »Es ist fast drei Uhr und dann sind wir an der Reihe.«

»Warten Sie!«, schrie ich.

Zu spät. Er hatte aufgelegt.

Niedergeschlagen ließ ich mich ins Gras fallen. Die harten Halme piksten durch mein Hemd. Es war mir egal. Alles war mir egal. Ich war verloren. Neben mir raschelte die Pizza-Hut-Liste.

Die Polizei durfte ich nicht anrufen, aber von Pizzabäckern hatte ich nichts gesagt!

Hinsetzen. Ich angelte nach der Bestellliste und legte sie auf meine Knie. Lieferung ins Haus. Ich tippte die Nummer ein.

»Pizza Hut, Tracy am Apparat, womit kann ich Ihnen helfen?« Ihr freundlicher Ton machte Mut.

»Bitte nicht auflegen«, ratterte ich los. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich glaube, ich habe einen Unfall gehabt und dabei mein Gedächtnis verloren. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und es gibt keinerlei Häuser in der Nähe, ich kann also niemanden um Hilfe bitten. Die einzige Telefonnummer, die ich habe, ist die von euch.« Ich drückte die Daumen, dass sie nicht auflegte!

»Das ist wirklich blöd für dich«, sagte Tracy. »Aber ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, wo du bist. Du solltest lieber die Polizei anrufen.«

»Keine Polizei!«

»Wieso nicht?« Sie klang nicht mehr so freundlich wie anfangs. Ich hörte den Argwohn in ihrer Stimme. »Hast du vielleicht etwas zu verbergen?«

Angenommen, sie hätte recht? Die Geldscheine! Vielleicht war die Polizei hinter mir her, weil ich jemanden ausgeraubt hatte. Meine Kehle steckte auf einmal voller Rasiermesser. Ich konnte alles Mögliche sein. Ein Dieb oder sogar ein Mörder. Ohne, dass ich es wusste.

»Keine Ahnung, aber ich hatte einen Anruf auf meiner Mailbox und ...« Es hatte keinen Zweck. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Sie würde denken, ich sei paranoid!

Ein leises Brummen näherte sich. Es dauerte eine Weile, bevor es zu mir durchdrang: EIN AUTO!

»Schon gut.« Ich unterbrach die Verbindung und pfefferte das Handy in meinen Rucksack, die anderen Sachen stopfte ich darauf. Los, schnell! Ich stolperte zur Straße hinüber.

Ja, am Horizont glitzerte etwas Silbriges und es kam allmählich näher. Ich stellte mich mitten auf den Asphalt auf Höhe der Streifen. Ich war ein Panzer, der nichts und niemanden durchließ. Zur Not würde ich mich vor die Räder werfen, dieser Wagen musste anhalten!

Das Motorengeräusch wurde stärker, das Auto größer. Ich erkannte die verschwommenen Umrisse des Fahrers.

Wie ein Riesenvogel mit verletztem Fuß tanzte ich über den Asphalt, während ich die Arme schwenkte und »Stopp, stopp!« rief.

Ja, der Wagen bremste ab! Es war ein rostiger Pick-up mit einem Werbetext auf der Motorhaube: BOBBIE’S BED & BREAKFAST.

»Stoooopppp!«

Der Pick-up hielt. Im offenen Fenster der Fahrerseite erschien der kantige Kopf eines Mädchens. Kurze schwarze Haare, riesengroße Ohrringe und ein Diamantpiercing im rechten Nasenflügel.

»Hattest du eine Panne?«, fragte sie.

Ich nickte. »Nimmst du mich mit?«

Sie reckte den Hals und spähte die Umgebung ab. »Wo ist dein Auto?«

Die Wahrheit hatte mich bislang nicht wirklich weitergebracht, deswegen beschloss ich, den leichtesten Weg zu wählen. »Man hat mich hier abgesetzt.« Vielleicht stimmte das sogar.

»Hier?« Sie runzelte die Augenbrauen.

»Ist ’ne lange Geschichte.«

»Wo musst du hin?«

»Egal, der nächste Ort reicht völlig.«

Sie betrachtete mich abschätzend. »Woher weiß ich, dass du kein gefährlicher Irrer bist?«

»Woher soll ich wissen, dass du keine gefährliche Irre bist?«

Pfff, sie musste lachen.

»Ich setze mich gern auf die Ladefläche, wenn du dich dann sicherer fühlst«, bot ich an.

Aber sie beugte sich schon über den Nebensitz und öffnete die Tür von innen. »Steig ein.«

Erleichtert ging ich zur Beifahrerseite.

»Du humpelst ja.«

»Umgeknickt.« Ich schwang meinen Rucksack ins Auto und ließ mich auf den klebrigen Sitz fallen. »Heiß.«

»Wenn es dem Herrn nicht passt ...«

»Kein Problem.« Schnell zog ich die Tür zu.

3

Der Wagen rauschte über die Straße. Das Armaturenbrett klapperte. Ich sah auf die Uhr über dem Steuer. Es war fünf nach drei.

»Du hast dich nicht einmal ordentlich vorgestellt«, sagte sie.

Augenblicklich fühlte ich mich wieder unwohl. »Du dich auch nicht.«

»Lara Rogers. Und du?«

Lügen oder ... Sie würde mir nie glauben. Ich wandte meinen Blick von ihr ab und betrachtete meine Füße. Im Sitzen ließen meine Hosenbeine die Knöchel frei. Ich sah die 7 auf den Socken. »Seven.«

»Und dein Vorname?«

Mein Blick wanderte auf meinen Rucksack. Auf dem Träger war eine Marke eingestickt: Boy 7.

»Boy.« Boy Seven. Ich probierte die Wörter auf meiner Zunge. Jetzt hatte ich einen Namen. Ein Pseudonym, wie Schriftsteller es manchmal nutzten. Es war ein Halt. Zumindest gab es mir das Gefühl, wieder einen Faden in der Hand zu haben. Einen ausgedachten Faden, zugegeben, aber immerhin meinen.

Sie blies sich die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. »Was hast du denn auf dieser Grasebene gemacht?«

Das Lügen ging immer leichter. »Irgend so ein Vollidiot hat mich mitgenommen. Auf seiner Rückbank hatte er ein Gewehr liegen, und als ich das sah, wollte ich sofort aussteigen.«

Sie kicherte. »Nicht gerade der ideale Ort zum Aussteigen.«

»Das kannst du laut sagen.« Ich rutschte tiefer in den Sitz und wagte es endlich, mich ein wenig zu entspannen. Nur noch kurz und ich war wieder in der bewohnten Welt. Ich hatte genügend Geld, um ein Motel zu bezahlen. Mit ein wenig Glück würde ich meine Gedanken nach einer guten Nachtruhe wieder sortieren können. Es war immer noch beängstigend, dass mich mein Gedächtnis im Stich ließ, aber die Situation wirkte um einiges weniger hoffnungslos als anfangs.

»Du bist ziemlich jung dafür, dass du allein reist.«

Diesmal konnte ich die Wahrheit sagen. »Ich bin auf dem Weg zu meinen Eltern.«

Sie zeigte auf den Werbetext auf der Motorhaube. »Ich wohne bei meiner Tante und helfe ihr mit ihrem Bed & Breakfast.«

Ich tastete nach dem Geldbündel in meiner Hosentasche. »Meinst du, da ist noch ein Zimmer frei?«

»Bestimmt. Es ist ein schlechter Sommer für Touristen. Die meisten Leute suchen Abkühlung an der Küste.« Sie sah mich munter an. »Es wird dir nicht leidtun. Es ist wirklich ein tolles Haus mit einem wunderschönen Garten, in dem sich die Gäste aufhalten dürfen.«

»Cool.« An der Innenwand meines Schädels pochte noch immer ein dumpfer Schmerz. Ich schloss einen Moment die Augen.

»Stört es dich, wenn ich das Radio einschalte?«, fragte Lara.

»Nein, kein Problem.«

Knistern. Sie drehte am Knopf, um einen geeigneten Sender zu suchen. Fetzen von Countrymusik, Pop und Klassik huschten vorbei.

»Was hörst du gern?«, wollte sie wissen.

Aus den Lautsprechern ertönte ein Gitarrensolo. Funken in meinem Hirn. Ich erkannte den Song! »Eric Clapton ist okay.«

Sie drehte die Lautstärke hoch und zu meinem Erstaunen konnte ich jedes Wort mitsingen. Mein Gedächtnis kam zurück! Noch nie war ich so erleichtert gewesen. Na ja, zumindest so weit ich mich erinnern konnte.

Schweigend fuhren wir weiter über den Asphalt. Nach einer Weile wurde die Umgebung grüner. Ich sah immer mehr Bäume, ein Schild mit BRANDING, BRIGHT AND SHINEY und dann die ersten Häuser.

Lara tippte mit den Fingernägeln aufs Lenkrad. »Wir sind fast da.«

Branding war nicht gerade eine Weltstadt. Wir kamen an einer Tankstelle vorbei, zwei Kirchen, einem McDonald’s, einem Motel, einem Wal-Mart, einem Bäcker und einer Reihe frei stehender Häuser mit Veranden. Ich sog jeden Stein, jeden Garten und jedes Haus auf, aber ich erkannte nichts.

Lara lenkte den Wagen in eine Auffahrt und parkte unter einem hölzernen Carport mit einem weißen Blütendach. »Bobbie’s B & B. Willkommen.«

Sobald der Motor schwieg, war es seltsam still. Ich nahm meinen Rucksack und öffnete die Tür. Mein Knöchel protestierte sofort, als ich meinen Fuß auf den Kies stellte. Ich stützte mich auf die Tür, schob mich raus und mir wurde fast schwindelig von einem betäubend süßen Geruch.

»Die Blumen«, sagte Lara. »Heftig, was? Komm, ich zeige dir den Rest des Gartens.«

Mir war es ganz recht, dass ich nicht sofort ganz allein in einem fremden Gästezimmer sitzen musste. Laras Wortschwall sorgte dafür, dass ich mein Elend für einen Augenblick vergaß und mich fast normal fühlte.

»Selbst gezüchtet.« Sie zeigte auf eine Pflanzengruppe. »Und dieses Rosenbeet ist das Paradepferdchen meiner Tante. Sie hat damit sogar einen Preis gewonnen.«

Ich glaubte nicht, dass ich einen grünen Daumen besaß. Okay, ich wusste, wie eine Rose aussah und dass man einen Rasen hin und wieder mähen musste, aber weiter reichten meine Pflanzenkenntnisse nicht.

Bei einem Vogelhäuschen stand eine Frau. Breiter Rücken, Schaftstiefel, die Haare lässig hochgesteckt. Sie schippte Futter aus einer Tüte in das Häuschen.

»Tante Bobbie«, rief Lara. »Ich habe einen Gast mitgebracht.«

Die Frau drehte sich um. Ihre grauen Augen musterten mich neugierig. »Hallo.« Sie wischte sich die Hand an ihrer Hose ab und streckte sie mir dann entgegen.

Ich musste ein paar Schritte auf sie zugehen, um sie zu ergreifen. »Boy Seven.«

»Bobbie.« Sie hatte einen festen Händedruck. »Was ist mit deinem Bein?«

»Knöchel verstaucht.«

»Im Verbandskasten ist eine elastische Binde.« Bobbie nickte Lara zu. »Er kann im gelben schlafen.«

»Glückspilz.« Lara strahlte, als hätte ich soeben den Hauptpreis gezogen. »Vom gelben Zimmer hast du die beste Aussicht auf den Garten.«

»Lust auf Tee?«, fragte Bobbie.

Lara legte ihrer Tante den Arm um die Taille. »Sie backt großartige Obstkuchen.«

Auf einmal spürte ich wieder, wie müde ich war. »Nachher vielleicht. Ich würde gern erst duschen.«

Lara brachte mich zu meinem Zimmer. An der Decke rotierte ein Ventilator auf vollen Touren, wodurch es ziemlich kühl war. An einer blassgelben Wand stand ein Doppelbett, auf der Kommode gegenüber eine Schale voller Blätter und Zweige, die einen würzigen Duft verbreiteten. Ich nahm die Baseballkappe ab und legte sie neben die Schale.

»Hier ist das Badezimmer«, sagte Lara.

Ein Plastikvorhang mit Rosenmotiv schirmte den Duschraum ab. Es gab eine Toilette mit einer dottergelben Klobrille und einer passenden WC-Matte davor. Auf dem Waschbecken lagen Gästeseifen und es gab Flakons mit Shampoo. Darüber hing ein Spiegel und ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen blonden Jungen, dessen Haare in alle Richtungen abstanden. Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass ich mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte.

»Ist was?«, fragte Lara.

Und ob etwas war! Ich hatte mich nicht erkannt.

»Neinnein.« Schnell ging ich wieder ins Zimmer und versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Lara kam mir nach und öffnete die Balkontüren. »Schau nur, wie hübsch.«

Ich stellte mich neben sie auf den Balkon und starrte, ohne etwas wahrzunehmen, in den Garten. In meinem Kopf hämmerte es, als würde ich einen Specht beherbergen. Ich war also blond. Sah ich einigermaßen normal aus? Ich hatte es nicht gewagt, lange genug in den Spiegel zu schauen.

Sie lehnte sich über die Balustrade. »Der dahinten ist mein Lieblingsbaum. Er trägt jedes Jahr tonnenweise Nüsse.«

Lara Gartenfreak. Wenn ich bloß wüsste, was ich gern machte.

Sie wandte sich um. »Möchtest du morgen hier oder im Garten frühstücken?«

Morgen. Bis dahin hatte ich vielleicht mein Gedächtnis wieder.

4

Kaum war Lara weg, stieg ich aus den Bergschuhen. Ich öffnete die Knöpfe meiner Jeans und streifte die Hose ab. Da erst entdeckte ich das Etikett an der Innenseite. Genau das gleiche Etikett wie an meinem Rucksack. Boy 7. War das irgendeine Kleidermarke, spezialisiert auf Rucksäcke und Jeans? Oder ...

Hastig zog ich mein Hemd aus und überprüfte den Kragen. Darin befand sich ein Label von Tumblewoods und daneben wieder ein Boy-7-Etikett. Ich griff nach meinen Bergschuhen und studierte das Lederfutter. Bingo. Die Innenseite meiner Baseballkappe und der altmodisch wirkende Schlafanzug: ebenso. Ich riss meine Socken von den Füßen – au! – und drehte sie von außen nach innen. Ja, klar. Sogar in den beiden Boxershorts stand es in winzigen Buchstaben ...

Vielleicht hieß ich wirklich Boy Seven!

Aber wer hatte die Etiketten in die Kleidungsstücke genäht? Und warum?

In einer normalen Familie wurde Kleidung nicht gekennzeichnet. Wohnte ich vielleicht in einem Heim oder einem Internat?

Mein Zeh stieß gegen die Rolle aus Geldscheinen, die mir aus der Hosentasche gefallen war, und sofort hatte ich wieder das Echo meiner Stimme in den Ohren: Ruf auf keinen Fall die Polizei. Angenommen, ich wäre aus einer Jugendstrafanstalt abgehauen?

Ein Schauder lief mir über das Rückgrat.

Duschen. Mit klarem Kopf konnte man besser nachdenken.

Ich stand vor dem Waschbecken und starrte auf meine Füße auf der dottergelben Matte. Ich wollte zwar in den Spiegel schauen, traute mich aber nicht. Er flößte mir Angst ein, als könnte der Mann mit dem Beil plötzlich hinter mir auftauchen wie in manchen Horrorfilmen. Oder vielleicht hatte ich Angst, ich selbst könnte der Junge mit dem Beil sein!

Andererseits konnte der Spiegel vielleicht Antworten geben. Das Äußere sagte auch etwas über den Charakter. Es gab sogar eine gewisse Chance, dass sich beim Anblick meines Gesichts ein Türchen öffnete. Obwohl. Von dem kurzen Blick vorhin war ich nur erschrocken. Mich an etwas erinnern? Nicht die Spur.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da so auf der Matte gestanden habe, aber irgendwann hatte ich endlich genügend Mut gesammelt, um den Kopf zu heben. Er kam mir so schwer vor wie eine Kanonenkugel. Und dann dauerte es noch Minuten, bevor ich es wagte, die Augen aufzumachen.

Es war weniger beklemmend, als ich erwartet hatte. Ich meine: Ich war kein Monster oder so. Und auch wenn ich mich nicht wirklich erkannte, hatte mein Spiegelbild durchaus etwas Vertrautes. Wie ein Freund, den man erst nach vielen Jahren wiedersieht. Ein Freund, der sich so sehr verändert hat, dass man auf der Straße an ihm vorbeigehen würde – aber wenn man dann eine Weile mit ihm gesprochen hat, glaubt man doch, einige bekannte Züge auszumachen.

Ich hatte ein schmales Gesicht mit einer hohen Stirn und tief liegende blaue Augen. Meine Unterlippe war breiter als meine Oberlippe, und wenn ich lächelte, strahlte mich eine kerzengerade Reihe weißer Zähne an. Meine Nase war weder groß noch klein, aber auf ihr thronten ein paar kleine rote Pickel. Übrigens auch auf Stirn und Kinn. Meine fransigen Haare reichten bis zu den Ohrläppchen. Mit meinem Körper war ich jedoch hochzufrieden, der war durchtrainiert. Vielleicht gehörte ich ja einer Kampfsportschule an?

Leider blieb es beim Rätselraten.

Der Duschstrahl prasselte mir auf Kopf und Schultern. Im Stillen dankte ich Bobbie für Seife und Shampoo und überlegte, dass ich dringendst ein paar Einkäufe erledigen musste. Ein paar preiswerte Kleidungsstücke. Und eine Zeitung! Wenn ich ein Verbrecher auf der Flucht war, hatte das bestimmt Schlagzeilen gemacht. GESUCHT: BOY 7. Warum eigentlich nicht einfach Seven? Oder war das zu lang für so ein Etikett?

Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Auch in einem Irrenhaus wurde Kleidung natürlich gekennzeichnet!

Es war schon ziemlich irre, das Gedächtnis zu verlieren. Genauso gut konnte ich schon Monate in einer Anstalt verbracht haben und heute aus irgendeinem Grund einfach aus dem Tor spaziert sein ...

Aber wie war ich dann auf dieser einsamen Grasebene gelandet? Und weshalb konnte ich mich an alles, was seither passiert war, sehr wohl erinnern?

Der Specht hatte sich nur eine Pause gegönnt, er begann wieder zu hämmern.

Ich drehte den Wasserhahn zu. Nicht grübeln. Einkaufen gehen. Selbst in Branding würde es vermutlich Paracetamol geben.

Lara hatte mir die elastische Binde aus dem Verbandskasten gegeben. Ich wickelte sie um meinen Knöchel und zog meine feuchte Socke wieder darüber. Saubere Socken, die mussten auch auf die Liste. Und eine Landkarte, damit ich bestimmen konnte, wo ich war und wohin ich wollte. Mit den Anhaltspunkten, die ich hatte, konnte ich eine Strecke festlegen ...

Welche Anhaltspunkte?, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.

Klappe!

Ich stopfte das Geld in die Hosentasche zurück. Hemd an. Schuhe. Wenn ich die Schnürsenkel fest genug zurrte, tat mein Knöchel kaum noch weh.

Wie spät war es eigentlich? Ich warf einen Blick auf mein Handy. Fast sechs! Wenn ich Pech hatte, war heute Samstag und die Geschäfte hatten schon zu. Ich hatte wenig Lust, bis Montag in denselben Boxershorts zu stecken. Los jetzt!

Ich verschloss das Zimmer und nahm die Treppe nach unten. Bobbie wusste genau, was ihre Gäste brauchten: In der Diele hing ein Kalender. Mittwoch! Da waren die meisten Geschäfte bis 22 Uhr geöffnet. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass Bobbie auch brav jeden Tag ein Blatt abriss.

Im Garten traf ich Lara.

»Tee?« Sie hob vielsagend die Augenbrauen.

Nein, den Obstkuchen hatte ich nicht vergessen. Den nicht.

»Gleich«, sagte ich. »Erst noch schnell zum Wal-Mart.«

»Gleich essen wir.« Sie rekelte sich in ihrem Sessel. »Magst du Spareribs?«

Keine Ahnung. »Gern.«

Die Glastür öffnete sich mit einem Seufzer und muntere Musik wehte mir entgegen. Ich zog einen Einkaufswagen aus der Reihe und schob ihn durch den Eingang. Der Laden war klein für einen Wal-Mart – ich war also früher schon einmal in einem Wal-Mart gewesen! –, aber sie hatten alles, was ich brauchte. Ich schlenderte durch die glänzend gebohnerten Gänge zur Textilabteilung. Boxershorts, Socken, ein paar T-Shirts. Ich schwankte kurz zwischen einer coolen, teuren Khakihose mit vielen praktischen Taschen und einer billigen Jeans mit lächerlichen Stickereien. Ich entschied mich für Khaki. Offensichtlich war es mir wichtig, gut auszusehen.

Ich schob den Wagen zur Drogerieabteilung und fand eine Großpackung Paracetamol. Im Zeitschriftenregal gab es nur zwei Zeitungen. Ich überflog die Schlagzeilen, aber es war niemand ausgebrochen und der Täter eines Raubüberfalls saß bereits sicher hinter Schloss und Riegel. Ausnahmsweise waren keine Nachrichten gute Nachrichten.

Die Landkarten lagen bei den Büroartikeln. Danach suchte ich einen Stift, um bestimmte Stellen und Orte wie die Grasebene und Branding markieren zu können. Mein Blick blieb an einem Korb mit kleinen dicken Büchlein in fluoreszierenden Farben und der Aufschrift NOTEBOOK hängen. Genau so etwas bräuchte ich, um die Dinge wieder auf die Reihe zu kriegen! Ich könnte mir notieren, an was ich mich noch erinnerte, Anhaltspunkte aufschreiben und sogar eine Art Logbuch führen für den Fall, dass ich mein Gedächtnis noch einmal verlor. Ohne Zögern entschied ich mich für ein blaues. Vielleicht war das meine Lieblingsfarbe?

Schon um einiges vergnügter ging ich zur Kasse und legte alles aufs Band. Die Kassiererin steckte meine Einkäufe in braune Tüten und nannte den Gesamtbetrag. Ohne eine Miene zu verziehen, zählte ich die Scheine ab, aber insgeheim erschrak ich. Die Rolle war gewaltig geschrumpft und ich hatte Bobbie noch nichts bezahlt. Wenn das so weiterginge, wäre mein Geld innerhalb einer Woche aufgebraucht.

Ich schob den Gedanken beiseite. In einer Woche war ich bestimmt wieder zu Hause.

Lara stand in der Küche und putzte Salat. »In einer Stunde können wir essen.«

»Okay!« Morgen würde ich zu McDonald’s gehen. Das war wahrscheinlich billiger.

Zumindest, wenn ich dann überhaupt noch hier wäre.

Ich ging mit meinen Einkäufen nach oben und leerte sie auf meinem Bett aus.

Zuerst diesen Specht ins Koma fallen lassen!

Im Bad schluckte ich zwei Tabletten. Es war noch immer ungewohnt, aber nicht mehr beklemmend, in den Spiegel zu schauen. Eigentlich mochte ich den Typen, der mir da entgegenblickte, durchaus.

Ich entfernte die Preisschildchen von meinen neuen Kleidungsstücken und wechselte mein Hemd gegen ein T-Shirt. Jetzt erst sah ich, dass ich die ganze Zeit auch noch mit einem Riss auf dem Rücken herumgelaufen war. Beim Essen würde ich Bobbie um Nadel und Faden bitten. Die restliche Kleidung stopfte ich in die oberste Kommodenschublade.

Dann setzte ich mich mit der Karte auf den Boden und klappte sie auf. Es dauerte eine Weile, bis ich Branding gefunden hatte. Ich umkreiste den kleinen schwarzen Punkt und betrachtete die umliegenden Ortschaften. Die erste nennenswerte Stadt lag etwa hundert Kilometer im Osten. Es sah so aus, als wären wir aus dem Westen gekommen. Dort verlief zumindest eine lange gerade Straße durch etwas, das die Legende als Grasebene bezeichnete. Ich zog eine Linie und machte ein Kreuz im leeren Grün. Aber von wo war ich davor gekommen? Die Bestellliste von Pizza Hut!

Ich zog meinen Rucksack vom Bett und klickte den Verschluss auf. Die Wasserflasche fühlte sich noch lau an, das Foto des grauen Gebäudes war geknickt. Ich strich es glatt und betrachtete es aufmerksam. Betonmauern und dicht unter dem Dach ein paar kleine vergitterte Fenster, im Hintergrund ein Turm. Es könnte eine Fabrik sein oder ein Gefängnis. Ich bekam einen unangenehmen Geschmack in den Mund. Später. Ich legte das Foto neben die Karte und wühlte wieder in meiner Tasche. Ja, da war die Bestellliste von Pizza Hut und darauf stand tatsächlich nicht nur eine Telefonnummer, sondern auch eine Adresse!

Die Buchstaben kringelten sich auf dem Papier. Ich musste meinen Blick erst mehrfach scharf stellen, bevor es mir gelang, den rot gedruckten Text zu lesen: Hallstreet 6, Flatstaff.

Mit klopfendem Herzen suchte ich auf der Karte. Bingo! Flatstaff lag auf der anderen Seite der Grasebene, etwas südlicher als Branding. Es könnte also durchaus sein, dass ich dort wohnte! Auf jeden Fall war ich irgendwann einmal dort gewesen, es sei denn, die Bestellliste war durch magische Kräfte in meiner Tasche gelandet. Ich unterstrich die Ortsnamen auf der Karte und setzte ein Ausrufezeichen dahinter. In Flatstaff würde ich meine Suche starten!

5

Lara hatte einen Tisch im Garten gedeckt und Fackeln und Kerzen angezündet. Der Abend war mild – die Temperatur perfekt zum Draußensitzen, wie immer nach einem drückend heißen Tag. Die Wassersprenger weiter hinten im Garten gaben quiekende Geräusche von sich und im Gebüsch hinter mir hockte eine Grille, die sich anstrengte, sie zu übertönen. Meine Kopfschmerzen wurden von Minute zu Minute weniger. Nur vor einer Sache graute mir noch, und zwar, dass Bobbie und Lara lästige Fragen stellen könnten. Zu meiner Erleichterung gab es noch einen Gast.

»Jones.« Er schüttelte mir die Hand.

»Boy Seven.« Ich versuchte einzuschätzen, was ihn nach Branding geführt hatte. Er wirkte nicht wie ein Tourist. Eher wie ein Vertreter, der wohl zu viel arbeitete, den Wülsten unter seinen Augen nach zu urteilen. Er trug eine Hose mit einer messerscharfen Falte, ein strahlend weißes Oberhemd und ein Jackett.

»Bobbie ist eine großartige Gastgeberin.« Er hängte das Jackett über die Rückenlehne seines Stuhls, setzte sich und schlug seine langen Beine übereinander. »Meine Kochkünste reichen gerade für ein Spiegelei, deswegen komme ich meist zum Abendessen hierher, wenn meine Frau außer Haus ist.«

»Oh.« Ich traute mich nicht, weitere Fragen zu stellen. Ein Gespräch bestand aus Geben und Nehmen und nachher würde er auch Dinge über mich wissen wollen.

»Tataaa!« Lara stellte eine gläserne Salatschüssel auf den Tisch. Unter ihrem Arm klemmte eine Weinflasche, die sie Jones reichte.

Mit Kennerblick betrachtete er das Etikett. »Ausgezeichnete Wahl.«

Sie zauberte einen Korkenzieher aus ihrer Hosentasche. »Was möchtest du trinken?«, fragte sie mich.

»Wasser ist in Ordnung.« Ich griff nach der Karaffe und schenkte mir ein.

Plopp, machte der Korken. Lara füllte Jones’ Glas und stellte die Flasche in den Kühler. Dann setzte sie sich auf den Stuhl neben mir und goss sich Wasser ein.

Ich hätte natürlich fragen sollen, ob sie auch etwas wollte.

»Entschuldige.«

»Kein Problem, du bist der Gast.« Sie tauschte einen Blick mit Jones. Ziemlich verschwörerisch, fand ich. Aber wahrscheinlich war das alles nur Einbildung. Gedächtnisverlust machte einen ganz schön argwöhnisch, so viel hatte ich schon gelernt.

Bobbie kam mit einer dampfenden Schüssel nach draußen. Ich erkannte den Geruch, noch ehe ich die Spareribs sah. Das war bestimmt ein gutes Zeichen!