Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? - Mirjam Mous - E-Book

Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken? E-Book

Mirjam Mous

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Beschreibung

Zwei Geschwister. Zwei Wahrheiten. Ein Feind, der ihre geheimsten Gedanken kennt. Das Finale der Data-Leaks-Reihe: Noch rasanter, noch gefährlicher, noch gnadenloser setzt Mirjam Mous, die Erfolgsautorin von Boy 7, ihren Tech-Thriller fort. Im riskanten Spiel mit der Wahrheit hat eine KI ihre Schöpfer überlistet - wer kann sie jetzt noch stoppen? Holden ist zu spät: Seiner Schwester Prissy und ihrer Bande von Hackern ist es gelungen, den Supercomputer der Regierung zu knacken - genau wie die künstliche Intelligenz SIMS es wollte. Holden ist der Einzige, der SIMS' Pläne durchschaut hat, aber niemand glaubt ihm. Auf der Suche nach Verbündeten wendet er sich an die Aussteigerkolonie in der Dead Zone am Rand von Paradise, deren Mitglieder der digitalen Technik abgeschworen haben. Die Zeit wird knapp, denn Prissy und die Hacker rufen zum Sturz der Regierung auf, ohne zu ahnen, dass SIMS jeden ihrer Schritte lenkt. Alle Bände der Reihe: Band 1: Data Leaks - Wer macht die Wahrheit? Band 2: Data Leaks - Wer kennt deine Gedanken?

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Room 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort

Password – Zugriff für immer verweigert

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Virus – Wer aufgibt, hat verloren

Last Exit – Das Spiel fängt gerade erst an

Paradise Project – Der Schein lügt

Data Leaks (1) – Wer macht die Wahrheit?

 

 

 

Mirjam Mous,

geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.

Mirjam Mous

Data Leaks

Wer kennt deine Gedanken?

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Ein Verlag in der

 

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »H@ck De kolonie #2« bei Van Goor, ein Imprint von Uitgeverij Unieboek | Het Spectrum, Amsterdam, Niederlande.

Text copyright © 2020 by Mirjam Mous

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Covergestaltung: ZEROWerbeagentur, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock/Sergey Tarasov; Vesnin_Sergey; Photo Win1

Satz: Malte Ritter

E-Book-Herstellung:

Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen

Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download zur Verfügung.

E-Book ISBN978-3-401-80943-4

 

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

Teil 1 Paradise Lost

Die Wahrheit ist nie genau so, wie man glaubt, dass sie sein könnte.

– Johan Cruijff, niederländischer Fußballer und Trainer, 1947-2016

Prissy

Das blaue Coupé gleitet lautlos in die Parkbucht.

»Dort ist es«, sagt Mo.

Mit zusammengekniffenen Augen spähe ich durch das kleine Seitenfenster des Wagens zur anderen Straßenseite. Ich hatte eine unbezwingbare Festung mit superdicken Mauern und hohen Zaunspitzen erwartet. Stattdessen schaue ich über einen grünen Hügel. Wie bei einem Sportplatz ist er umgeben von imposanten Pfosten mit Sonnenpaneelen, Lampen und Kameras, die sich langsam bewegen.

»Bist du ganz sicher?«, frage ich. »Ich sehe nur Gras.«

Alle drei Meter steht ein kleines Schild auf Kniehöhe: PRIVATGELÄNDE. BETRETEN VERBOTEN.

»Das ist kein natürlicher Hügel, sondern die Oberseite der Computerzentrale«, sagt Lașer. »Das Gebäude wurde so entworfen, dass es sich vollkommen in die Landschaft einfügt. Der Eingang befindet sich im Osten und ist von der Straße aus nicht zu sehen. Trotzdem patrouillieren dort Tag und Nacht Wachen. Die einzige Möglichkeit, unbemerkt ins Innere zu kommen, ist über das Grasdach.«

Ein Dach ohne Fenster.

»Ja, klar«, sage ich verächtlich. »Machen wir mal eben.«

Ins City-Museum eindringen und ein Kunstwerk stehlen scheint mir weniger kompliziert. Und das ist schon nahezu unmöglich. Also.

»Die Cloud, in der das Architekturbüro seine Daten aufbewahrt, war so leck wie ein Sieb«, fährt Lașer ungerührt fort. »Ich habe mir die Bauzeichnungen angeschaut und das Ventilationssystem scheint mir die beste Option. Ganz oben auf dem Hügel ragt ein großer Lüftungsschacht heraus.«

»Und was ist mit den Kameras?«, frage ich.

»Schon gehackt.« Er öffnet seine Umhängetasche. »Jemand war so freundlich, uns die Sicherheitscodes durchzugeben.«

Ein Mitglied von Bit’s a Mystery natürlich – die Geheimgesellschaft von Nerds, zu der Lașer und Mo ach so gern gehören wollen.

»Nur ein Roboter kann Dutzende von Kameras gleichzeitig steuern.« Lașer bringt einen Portable zum Vorschein, dessen Linse abgeklebt ist. Es sieht aus wie ein Auge mit Piratenklappe. »Darum habe ich zu Hause ein kleines Programm geschrieben. Sobald ich es starte, bewegen sich alle nach einem Schema, das ich mir sorgfältig ausgedacht habe. Gleich wird sich jede Kamera genau im richtigen Moment von uns wegdrehen.«

Meine Finger schließen sich um den Anhänger, den ich an einer Lederschnur um den Hals trage: eine dicke silberfarbene Scheibe mit tief eingravierten, seltsamen Zeichen. Es ist der Computerschlüssel, den Papa früher immer bei sich trug. Vielleicht fühlt es sich deshalb so an, als sei er ganz nah, obwohl er schon seit fast zwei Jahren tot ist.

»Und wenn es schiefgeht?

Lașer findet meine Frage so lächerlich, dass er sich nicht einmal die Mühe macht zu reagieren.

»Entspann dich«, antwortet Mo an seiner Stelle. »Solange wir die Zeit gut im Auge behalten, kann nichts passieren.«

Lașer nickt. »Wir haben fünf Minuten, um ungesehen oben auf den Hügel zu gelangen.«

Okay, das müsste zu schaf‌fen sein.

»Und das Gitter vom Lüftungsschacht zu schrauben«, fügt er hinzu.

Mein Herz schlägt augenblicklich schneller. Ich sehne mich nach einem Surprise-Yummy, doch bedauerlicherweise habe ich die Schachtel nicht dabei. »Und wenn wir es nicht schaf‌fen?«

»Dann bleiben alle vom Calmexin betäubt und unsere Führenden können weiterhin einfach machen, was sie wollen.« Mo reicht mir einen Schraubenzieher. »Das lassen wir doch nicht zu, oder?«

Ich versuche, ein fest entschlossenes »Nein« herauszubringen. Meine zitternde Stimme verdirbt es.

»Das Auto steht außer Reichweite der Kameras«, sagt Lașer. »Aber sobald wir die Straße betreten …«

»Zwei Schritte«, sagt Mo. »Dann sind wir voll im Bild.«

»Es sei denn, ich aktiviere diesen Link.« Lașer bewegt seinen Finger über den Monitor des Portables.

Ich folge seinem Blick zu den Pfosten. Die Kameras drehen sich langsam in Richtung des Hügels oder der Landschaft dahinter. Nicht eine von ihnen beäugt uns.

Lașer räuspert sich zufrieden und checkt die Zeit auf seinem Portable.

»In sechs Sekunden gehen wir los.«

Fast rutscht mir der Schraubenzieher aus den feuchten Händen. Wenn Mama wüsste, was wir vorhaben …

Ich denke an die hunderttausend Nachrichten, die sie mir geclickt hat. Wo bist du? Warum reagierst du nicht? Hast du die Kette von Ministerin Adams gestohlen?

Ja, hab ich, und deswegen baumelt sie jetzt an Mos Handgelenk.

Lașer hat sich den dritten und letzten Computerschlüssel um den Hals gebunden. Den Schlüssel, den wir aus dem Lagerraum der Downtown-Wache geklaut haben.

Den ich geklaut habe.

»Drei, zwei …«, höre ich ihn sagen.

In Paradise ist kein Platz für Kriminelle. Auch wenn ich wollte, ich kann nicht mehr zurück.

»Jetzt!«, ruft er.

Wir steigen aus und überqueren im Laufschritt die Straße, wobei ich sehnlichst hoffe, dass kein Auto kommt. Ich schlängele mich an einem Verbotsschild vorbei und versuche, mit Mo und Lașer Schritt zu halten, was mir nicht leichtfällt, denn meine Beine sind wie Wattestäbchen – megadünn und schwach.

Mo schaut über seine Schulter und gestikuliert, ich solle mich beeilen.

Als würde ich mich nicht schon wahnsinnig anstrengen.

Ich öffne den Mund und will protestieren, doch gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass die meisten Geräte auch Geräusche auf‌fangen können, also renne ich schweigend weiter, zwischen zwei riesigen Pfosten hindurch. Die Überwachungskameras obendrauf erinnern mich an Tierköpfe mit langen Schnauzen. Sie weisen in entgegengesetzte Richtungen, beide von uns weg. Solange wir in gerader Linie weiterlaufen, sind wir sicher.

Es sei denn, es taucht gleich eine Drohne auf, nörgelt eine Stimme in meinem Kopf.

Tsss, denke ich. Wie viele Kameras braucht man?

Aber meine Augen richten sich schon mit fliegendem Blick nach oben und spähen nervös den Himmel ab.

Sie hätten besser auf den Boden geachtet. Meine Schuhspitze stößt gegen etwas Hartes und ich stolpere. Mit aller Kraft versuche ich, mich zu halten, aber ich habe schon zu viel Schwung. Die Welt kippt. In einem Reflex drehe ich den Kopf zur Seite.

BÄNG!

Wie ein abgestürztes Flugzeug liege ich auf dem Hügel, die rechte Wange im Gras.

Mo ist sofort neben mir und zerrt an meinem Arm. »Aufstehen«, flüstert er drängend. »Sonst schaf‌fen wir es nicht.«

Während ich mich hochziehen lasse, sehe ich ein Metallteil, das im Boden steckt.

Wie blöd kann man sein? Über so etwas Beklopptes wie einen Rasensprenger zu stolpern.

Nicht nur mein angeknacktes Ego hat was abbekommen. Mein Knie schmerzt und an meinem linken Handgelenk brennt eine Schürfwunde. Am liebsten würde ich mich wieder hinlegen und unseren idiotischen Plan vergessen, aber Mo hält mich fest, also kann ich nicht anders, als mit ihm zu humpeln, bis wir keuchend den Gipfel erreichen. Lașer steht schon dort und studiert das Linienspiel auf seinem Portable. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber noch immer zeigt keine einzige Kamera in unsere Richtung.

»Noch dreieinhalb Minuten«, sagt er leise. »Maximal.«

Mo lässt mich augenblicklich los und konzentriert sich auf das Gitter, das auf den rechteckigen Lüftungsschacht geschraubt ist. Ich weiß, dass ich ihm helfen müsste, aber mein Handgelenk erfordert meine ganze Aufmerksamkeit. Es fühlt sich an, als hätte jemand meine Haut mit Schmirgelpapier bearbeitet und …

Lașer rammt mir seinen Ellenbogen zwischen die Rippen. »Pris.«

Wie er mich ansieht! Ich versuche, wieder tapfer zu sein und mir den Schmerz zu verbeißen.

Es heißt, dass man bei einem Sturz alles festhält, was man in dem Moment in den Händen hält. Das stimmt. Zu meinem großen Erstaunen liegt der Schraubenzieher noch immer in meiner Hand. Bibbernd stecke ich ihn in den Schlitz der Schraube, die mir am nächsten ist, und fange an zu drehen. Mo hat die erste schon gelöst und beginnt mit der daneben.

»Noch drei Minuten«, meldet Lașer.

Wir arbeiten hastig und schweigend. Ich zittere immer noch, aber nicht mehr so schlimm wie anfangs, und mache mich an die zweite Schraube, die ziemlich festsitzt. Mo hat inzwischen schon vier gelöst und stürzt sich auf Nummer fünf.

»Noch eine Minute.«

So wenig?

Lașers blöde Abzählerei macht mich doch wieder nervös. Mo scheint kein Problem damit zu haben. Er hat die vorletzte Schraube rausgekickt – das Gitter hängt jetzt nur noch an einer einzigen Stelle am Lüftungsschacht. Ich habe mein Werkzeug schon im Anschlag, doch Mo hat eine bessere Idee. Er hebt das Gitter nicht herunter, sondern dreht es zur Seite, sodass es wie ein altersschwaches Vordach am Schacht hängen bleibt.

»Beeilung«, flüstert Lașer. »In zehn Sekunden ist mein Programm durchgelaufen und die Kameras funktionieren wieder normal.«

»Hättest du es eben was länger laufen lassen«, sage ich wütender, als ich es meine.

Für Lașer hört sich das wahrscheinlich nur dumm an, denn er seufzt. »Du kannst die Wachen, die sich diese Bilder anschauen, nicht ewig hinters Licht führen.«

Der Reißverschluss seiner Umhängetasche ist nur zur Hälfte zugezogen. Ich schubse meinen Schraubenzieher durch die schmale Öffnung hinein.

Mo sitzt schon auf dem Grasdach, die Beine im Lüftungsschacht. Er will sich gerade abstoßen, als er mich bestürzt anschaut. »Pris, dein Schlüssel.«

Meine Hand greift an meinen Hals.

Da ist keine Schnur!

Holden

Ich stehe mit der Direktorin Vera Paine im Kontaktraum des Cliffton Instituts – der einzige Ort im ganzen Gebäude, von dem aus man mit der Außenwelt kommunizieren kann. Jedenfalls, wenn diejenige, die man dringend sprechen muss, ihr Camphone nicht in irgendeinem Keller hat liegen lassen und abgehauen ist. Herzlichen Dank, Pris!

Als ich die elektronische Verbindungsassistentin bat, sie anzurufen, nahm ein unbekannter Mann das Gespräch entgegen.

»Zu spät.« Mehr sagte er nicht.

Wahrscheinlich war es die Stimme von irgendwem, irgendwann mal aufgenommen und gespeichert und danach von Sims dazu benutzt, uns eine Botschaft zu übermitteln. Die furchtbare Nachricht, dass wir zu spät sind, um das Unheil noch abzuwenden, weil Prissy und ihre Hackerfreunde …

Wie hat Sims meine Schwester bloß so weit gekriegt?

Social Interactive Monitor System.

Sozial, dass ich nicht lache. Phill Rogers hätte sein Computerprogramm lieber IMS nennen sollen: Interaktives Mordlustiges System.

Kaum denke ich an die tödlichen Methoden von Boyd Swis und der Zopffrau, spüre ich ein besorgtes Stechen in meinem Magen. Sims ist imstande, einen Menschen die schrecklichsten Sachen machen zu lassen, und Prissy kann nicht mal einen Notruf absetzen, denn sie hat nicht nur ihr Camphone, sondern auch ihr ID-Bändchen zurückgelassen. Über die Live-Verbindung können wir alles auf dem Monitor sehen: das mit Zebrafischen verzierte ID-Bändchen neben einer altmodischen Tastatur und das gelbe Medikamentendöschen, in dem Pas Computerschlüssel seit seinem Tod versteckt war. Jemand hat es ausgeschüttet und auf den Kopf gedreht hingestellt. Ich zähle acht weiße Kopfschmerztabletten und eine rosa Pille.

Ein Stillleben, würde Prissy sagen.

Warum habe ich nicht besser auf sie aufgepasst?

In dem Moment, in dem meine Augen feucht werden, findet Vera Paine ihre Sprache wieder.

»Alarmnummer anrufen«, befiehlt sie der Verbindungsassistentin.

Es geschieht nichts. Der Monitor zeigt noch immer dieselben Bilder.

Oder besser gesagt: Sims zeigt noch immer dieselben Bilder.

»Das ist eine Notsituation!« Paine legt ihre Hände auf die Rückenlehne des einzigen Stuhls im Raum. »Unterbrich die aktuelle Verbindung und nimm sofort Kontakt mit der Alarmzentrale auf.«

Die Verbindungsassistentin ist Sims nicht gewachsen.

»Error«, sagt sie.

Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Portable auf dem Boden liegen. Derselbe Portable, der mich vorhin mithilfe eines sich bewegenden Punkts hierhergeführt hat, um mit Prissy zu reden.

Vielleicht, wenn ich schnell genug bin …

Ich hebe ihn auf – zum Glück kenne ich den Zugangscode – und tippe die einzige Nummer ein, die ich auswendig kenne. Die von Ma.

Auf dem Schirm erscheint nicht ihr Gesicht, sondern ein Zeichentrickvideo, in dem mir ein Kind eine lange Nase zeigt.

Eine Welle von glühendem Hass durchströmt mich und dann flutscht mir der Portable plötzlich aus den Händen und nimmt direkten Kurs auf den Kontaktmonitor. Ein lautes Knacken und zu meiner großen Genugtuung sehe ich einen kräftigen Sprung im Glas. Das Gerät knallt vor mir auf den Boden. Ich kann mich nicht beherrschen und verpasse ihm einen wütenden Tritt.

Fuck Sims!

»Fertig?«, fragt Paine auf eine Art, die mich wie einen totalen Loser fühlen lässt.

Sie hat ja recht. Ich hätte mich von diesem blöden Video nicht provozieren lassen dürfen. Eigentlich bin ich nicht viel besser als der Pfleger Swis und die Zopf…

Auf dem großen Monitor tut sich was!

Das Stillleben im Keller verwandelt sich in ein komplettes Aufnahmestudio. Ein Mann – sein Gesicht ist wegen des Sprungs nicht gut erkennbar, aber laut Textbalken darunter heißt er Professor Lindl – sagt mit schleppender Stimme: »Ich habe leider kein Back-up wie mein Computer. Wenn mein Körper auf‌hört zu existieren, werden auch meine Gedanken und Erinnerungen für immer verschwinden. Das Gedächtnis meines Computers dagegen kann ewig weiterleben.«

Ich kapiere sofort, dass dieses Video für mich gedacht ist.

Sims will mich wissen lassen, dass meine Aktion von eben vollkommen sinnlos war. Und wenn ich Hunderttausende von Bildschirmen und Portables schrotten würde …

Künstliche Intelligenz lässt sich nicht stoppen.

Prissy

Das ganze Stück zurückrennen, den Rasensprenger finden, im umliegenden Gras nach dem Computerschlüssel suchen und mich – wenn es überhaupt gelingt, das Mistding aufzutreiben – den Hügel wieder hochkämpfen und im Lüftungsschacht verschwinden. Und das alles innerhalb von zehn Sekunden.

Nicht mal Lightgirl würde das schaf‌fen.

»Hier.« Lașer drückt mir den Portable in die Hand. »Geht schon mal vor.«

Noch bevor wir ihn davon abhalten können, galoppiert er den Hügel hinunter. Den Blick auf den Boden geheftet, folgt er genau der Strecke des Hinwegs – natürlich in umgekehrter Richtung. Seine Umhängetasche federt bei jedem Schritt gegen seine Hüfte und wieder zurück.

Ich bewundere ihn und bin gleichzeitig stinksauer wegen dieser idiotischsten aller bisherigen Aktionen!

»Soll ich denn jetzt?«, fragt Mo, der noch immer auf dem Rand des Lüftungsschachts sitzt.

Ich nicke abwesend, während ich abwechselnd zum Portable Pad, den Kameras und dem Grasdach schaue. Lașer ist in etwa an der Stelle angekommen, wo ich über diesen blöden Sprenger gestolpert bin, und lässt sich auf die Knie fallen. Er schiebt seine Tasche auf den Rücken und tastet um sich.

Ja! Er steht auf und hält etwas hoch!

Für einen kurzen Augenblick bin ich erleichtert, bis sich die Kamera hinter ihm in seine Richtung zu drehen scheint. Wie eine Irre winke ich und gebe ihm Zeichen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Guck schon her, guck her …!

Ja, er hat mich gesehen und rennt den Hügel hoch. Nicht auf geradem Weg, sondern in Schlangenlinien, als würde er bei einem Lasergame mitspielen und versuchen, nicht ins Visier seiner Gegner zu geraten.

»Jetzt gehe ich aber wirklich«, sagt Mo. »Komm mit.«

Er verschwindet in der Tiefe, doch ich kann mich nicht dazu durchringen, ihm zu folgen. Mein Blick klebt an Lașer. Ich bin absolut sicher, dass er entdeckt wurde – da, von der Kamera – und stelle mich auf das ohrenbetäubende Alarmsignal ein, das jetzt ganz bestimmt ertönt. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Autos der Ordnungskräfte schon heranbrausen, um uns mit heulenden Sirenen ins Cliffton Institut abzuführen – den Ort, an den sie Kriminelle abschieben und Bürger gefangen setzen, die mit den neuen Führenden nicht einverstanden sind.

Menschen wie uns also.

Lașer ist nur noch etwa vier Meter von mir entfernt. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, doch noch immer ertönt kein Alarm und niemand kommt uns holen.

»Geh schon«, sagt sein Mund lautlos.

Okay. Aber wo soll ich in der Eile den Portable lassen?

In einer spontanen Anwandlung stecke ich ihn mir in den Hosenbund und ziehe meinen engen, elastischen Pulli drüber. Dann setze ich mich schnell ins Gras, rutsche auf dem Po zum Lüftungsschacht und stecke meine Füße ins Loch.

Unter mir ist alles schaurig schwarz und still. Plötzlich bin ich davon überzeugt, dass dieser Eingang zu einer tiefen, dunklen Höhle führt, in der irgendein grässliches Monster auf mich wartet.

Oder ein bewaffneter Wärter.

»Ich will nicht«, sage ich zu Lașer. »Ich hab’s mir anders überlegt.«

Aber seine Hand drückt schon gegen meinen Rücken und ab geht’s. Den Wind in den Haaren und hunderttausend Volt im Herzen sause ich durch den Lüftungsschacht. Ich stoße einen Schrei aus – oh nein, gleich hört man mich noch!–, beiße mir flugs auf die Lippen und denke an die überdachte Rutschbahn im Park Pool. Ich rutsche fast nie dort, weil ich lieber im Wettkampfbecken Bahnen schwimme, aber kleine Kinder finden es großartig. Ich versuche, mir vorzustellen, das hier wäre auch so etwas. Nicht furchtbar beklemmend, sondern superspannend und …

Am Ende des Tunnels schimmert Licht und die Silhouette eines Oberkörpers mit gespreizten Armen taucht vor mir auf.

»Au!«

»Sorry«, sagt Mo, der sich im Lüftungsschacht quer eingeklemmt hat. »Ich wusste nicht, wie ich dich anders stoppen sollte.«

Obwohl ich still sitze, wehen meine Haare immer noch. Ich beuge mich ein Stück zur Seite, sodass ich Mo über die Schulter schauen kann.

Das Licht stammt nicht vom Ende des Lüftungsschachts, sondern aus der Stirnlampe, die er aufgesetzt hat. Auch der Wind ist nicht echt. Ein riesiger Ventilator mit messerscharfen, rasend schnell kreisenden Blättern versperrt uns den Durchgang.

Wer dort durchkriecht, wird hundertprozentig zerhackt. Kein Wunder, dass kein Großalarm ausgelöst wurde. Warum auch? Wir können nicht weiter, aber es gibt auch keinen Weg mehr zurück. Der Lüftungsschacht ist zu steil, um ihn hochzuklettern. Wir stecken in einer Blechbüchse fest – wie die Sardellen, die Holden im Schutzkeller gefunden hat.

Vielleicht kann ich Lașer noch warnen!

Ich drehe meinen Kopf, um etwas nach oben zu rufen, doch es ist zu spät. Lașer saust auf mich zu und prallt gegen mich. Ich spüre, wie mir seine Rippen in den Rücken piksen, und dann fängt auch die Schürfwunde an meinem Handgelenk wieder an zu brennen. Mo sagt etwas über den Ventilator, aber es dringt kaum zu mir durch. Ich bin nur noch mit Überleben beschäftigt.

Holden

Das Bild wird schwarz, aber Paine starrt weiterhin wie gebannt auf den Schirm, während kostbare Sekunden verstreichen.

»Warum stehen Sie bloß rum?«, frage ich. »Machen Sie was!«

Früher war ich davon überzeugt, dass Erwachsene jedes Problem in den Griff bekämen. Völlig abwegige Vorstellung, wie sich wieder mal zeigt.

»Wie denn?« Paine macht eine mutlose Geste. »Solange die Verbindungsassistentin nicht funktioniert, kann ich …«

Oh, Mann!

»Diese Computer, zu denen die Schlüssel passen«, überlege ich fieberhaft. »Sie haben gesagt, die stehen an einem sicheren Ort in Paradise, aber haben Sie auch irgendeine Ahnung, wo?«

Sie nickt.

»Was machen wir dann noch hier?« Am liebsten würde ich sie gewaltsam zur Tür schleifen.

Ihr Blick wandert erneut zum Bildschirm.

»Lassen Sie nur«, schnauze ich sie an. »Ich hole Ordnungshüter Chapman.«

Das hätte mir auch früher einfallen können. Ma sagt es regelmäßig, wenn Ministerin Adams mal wieder zickt: Führungskräfte finden es nicht prickelnd, wenn sie sich von anderen übergangen fühlen.

Noch bevor ich einmal zwinkern kann, öffnet die Direktorin den Kontaktraum und schlüpft auf den Gang.

Ich folge ihr schleunigst. »Gehen Sie …«

Sie antwortet, bevor ich zu Ende gesprochen habe. »Es dauert zu lange, Ordnungshüter Chapman aufzuspüren und zu informieren. Ich fahre lieber selbst.«

Paine ist immer schnell unterwegs, aber heute bricht sie alle Rekorde. Im Nu sind wir am gläsernen Lift.

»Du wartest hier«, kommandiert sie. »Ich schicke jemanden, der dich nach oben bringt.«

Die spinnt wohl! Glaubt sie wirklich, ich setze mich jetzt auf meine Unit und drehe Däumchen?

»Ich begleite Sie«, sage ich.

»Vergiss es. Du unterliegst meiner Verantwortung, wenn dir also was passiert …«

Ich laufe einfach weiter mit ihr mit. »Und wenn Sims mithilfe dieser Schlüssel zu einer Supermacht wird, kann mir vermutlich nichts passieren, oder?«

Yes! Die Direktorin verlangsamt ihren Schritt.

Um sofort wieder loszudüsen.

»Außerdem«, sage ich, während ich hinter ihr herrenne, »vertraut Prissy Ihnen nicht. Mir schon. Wenn jemand sie überzeugen kann, diesen Computerschlüssel zurückzugeben …«

»Holden, bitte.« Paine wedelt mit der Hand, als wäre ich eine lästige Fliege, die sie verjagen will. »Das kommt wirklich nicht infrage.«

Ihre Ungerechtigkeit macht mich stinkwütend und ich hebe die Stimme: »Das sieht ja fast so aus, als wollten Sie Sims gar nicht besiegen!«

Und da, endlich, bleibt sie stehen. »Jetzt werd mal nicht komisch.«

»Sie sind komisch«, sage ich immer noch ziemlich laut.

Paine stößt einen verärgerten Seufzer aus und schaut sich um.

Trotz meines Gebrülls ist der Gang noch immer leer. Keine Wärter oder Pfleger, die mich zur Unit bringen sollen. Dass ich nicht allein mit dem gläsernen Lift fahren kann, ist mein Glück.

»Na gut«, gibt sie nach. »Du darfst mit. Aber denk dran: Du machst, was ich dir sage!«

Prissy

Ich versuche, an etwas Schönes zu denken. Daran, wie wir vor sehr langer Zeit Zug spielten – Papa, Holden und ich. Wir setzten uns hintereinander auf Stühle und Mama schaltete den Projektor ein. Virtuelles Reisen durch Berg und Tal war mein Favorit. Mit den Bildern und Geräuschen wirkte es, als würden wir wirklich irgendwohin fahren.

Es funktioniert nicht. Der Horrorzug, in dem ich jetzt sitze, steht auf einem toten Gleis. Ich habe einen Puls von mindestens hundertachtzig und …

Der Portable! Wir haben unsere Camphones im Wormhole gelassen, doch der Portable ist noch da. Ich zerre meinen Pulli hoch, ziehe den Portable mit einem Ruck aus meinem Hosenbund und prüfe die Empfangsstriche.

»Was machst du da?«, fragt Lașer.

»Wir müssen einen Notruf losschicken.«

»Idiotin.« Seine Hand ist schon unter meinem Arm durchgeschlüpft und schnappt sich den Portable. »Gleich bringst du noch unseren ganzen Plan durcheinander.«

»Immer mit der Ruhe, Lașer«, sagt Mo.

Als könnte ich nicht für mich selbst sprechen. Meine Angst schlägt in Giftigkeit um.

»Und berücksichtigt dieser fantastische Plan auch feindliche Ventilatoren?«

Ich meine es sarkastisch, aber Lașer hat einen blinden Fleck für jede Form von Kritik an seine Adresse.

»Selbstverständlich«, sagt er. »Ein Ventilator muss gewartet werden und kann kaputtgehen. Um an ihn dran zu kommen, haben sie hier oben eine Klappe eingebaut.«

Als Mo seinen Kopf in den Nacken legt und mit seiner Lampe die Decke beleuchtet, sehe ich tatsächlich etliche Nähte in der ansonsten glatten Wand.

»Unser Notausgang«, sagt er.

»Und der geht auch auf?« Immerhin blockierte der von der Downtown-Wache neulich und deshalb habe ich null Vertrauen in Notausgänge.

Als Mo nickt, bewegt sich der Lichtstrahl seiner Stirnlampe mit. »Und man braucht nicht mal einen Code oder ein ID-Bändchen. Es ist eine Klappe, die auch ohne Elektrizität bedienbar ist. Wenn man den Ventilator reparieren oder austauschen will, muss der Strom natürlich abgeschaltet werden und …«

»Jaja, jetzt wissen wir es ja«, sagt Lașer und gibt mir einen leichten Schubs gegen die Schulter. »Na los. Du sitzt am günstigsten.«

Ich winde mich zwischen den Jungs raus, damit ich mich hinhocken kann. Mein Handgelenk brennt immer noch, aber das Ziehen im Knie ist wundersamerweise verschwunden. Ich strecke die Arme, berühre die Klappe mit den Fingerspitzen und drücke mit aller Kraft.

Ja! Mit einem leisen schabenden Geräusch schiebt sie sich auf.

Ein klein wenig Licht fällt herein. Von einer Lampe, nehme ich an, denn das Grasdach hatte keine Fenster. Der kleine Strich wird zum Streifen und schließlich zu einem Viereck.

»Ho, langsam«, sagt Mo, »sonst kommen wir dem Ventilator zu nahe.«

Raus hier! Mit den Händen auf den Oberschenkeln drücke ich mich hoch.

Um fast augenblicklich am Hosenbund wieder runtergezogen zu werden.

»Nicht so schnell«, sagt Lașer. »Wir müssen die Klappe erst fixieren. Wenn das Ding weiter aufgeht, während du aus dem Lüftungsschacht kletterst, und du mit den Füßen in den Ventilatorblättern landest …«

Ich habe plötzlich einen metallischen Geschmack im Mund.

Mo zaubert eine Tube hervor und spritzt etwas Weißes in die Nähte. Anschließend zählt er leise bis zehn und fühlt an der Klappe. »Hält.«

»Okay«, sagt Lașer mir ins Ohr. »Du kannst.«

Sobald sich mein Kopf aus der Öffnung schiebt, stoße ich einen Schrei aus. Es ist, als würde ich auf dem fünf Meter hohen Aussichtsturm im großen Labyrinth von Funworld stehen. Nur werden die Wege hier nicht von hohen Hecken voneinander abgeschirmt, sondern von hohen Regalen mit Metallbehältern. Akkus, genauer gesagt. Ich erkenne sie von dem Film über Riesenbatterien, den man uns zu unserem Energieprojekt gezeigt hat.

Ist Schule also doch mal für was gut.

»Und?«, höre ich Lașer fragen.

Mein Blick scannt die Umgebung.

Der Lüftungsschacht wird uns nicht viel weiterhelfen. Er verläuft quer durch die Wand in den nächsten Raum. Unser einziger Ausweg sind die Türen – eine links und eine rechts – im Erdgeschoss, wir werden also runtersteigen müssen.

Leider hat dieser Ausguck nicht so eine praktische Wendeltreppe wie der Turm von Funworld. Ich sehe jedoch etwas Ähnliches wie eine superlange Schwimmbadleiter. Sie hängt an der Wand, neben dem Lüftungsschacht – leider an einer unglaublich unpraktischen Stelle, denn man muss schon eine Art Zirkusartist sein, um da dran zu kommen.

»Wir hängen über einer Riesenbatterie«, sage ich. »Die Aussicht ist fantastisch, aber es wird eine ziemliche Herausforderung werden, nach unten zu steigen.«

Zum Glück leide ich nicht unter Höhenangst.

Ich umfasse die Metallecken des Lüftungsschachts an beiden Seiten und nutze meine Hände als Enterhaken. Meine Armmuskeln sind stark und durchtrainiert vom vielen Schwimmen, sodass ich mich leicht aus der Öffnung hochziehen kann. Ich knie mich hin, gönne mir ein paar Sekunden, um mich an die Höhe zu gewöhnen, und richte mich dann langsam auf dem Schachtrohr auf.

Keine Panik, rede ich mir gut zu. Der rote Läufer am Eingang zu Cinema Starfilm ist nicht viel breiter als der Lüftungsschacht und von dem bin ich auch noch nie runtergefallen.

Vorsichtig drehe ich mich um, um zu sehen, wo die Jungs bleiben. Mos Kopf taucht aus dem Loch auf wie ein U-Boot mit nur einem Scheinwerfer.

Sein Gesicht erstarrt.

Der nörgelt bestimmt gleich wieder, ich soll nicht so gefährliche Sachen machen, denke ich.

Aber Mo sagt überhaupt nichts. Er nickt nur, mit einer Grimasse, die mich an das blaue Emoji erinnert: worried face.

»Hast du Angst?«, frage ich.

»Natürlich nicht.«

Und ob.

Ich setze mich im Schneidersitz auf die Klappe, rutsche auf dem Hintern zur Öffnung und strecke die Arme aus. »Komm, dann helfe ich dir.«

»Ich kann das schon selbst«, murmelt Mo, ohne ein Glied zu rühren.

Was ist das bloß bei den Jungs? Sie leben in einer vollkommen genderneutralen Gesellschaft und noch immer denken sie nicht daran, sich von einem Mädchen helfen zu lassen. Als würde das ihre Ehre ankratzen, oder was?

»Dann beeil dich«, erklingt Lașers hohle Stimme.

Auf ihn hört Mo. Mit Schweiß auf der Stirn kriecht er aus dem Lüftungsschacht. Ich rutsche ein Stück zurück, um ihm Platz zu machen und …

Ein Schock durchfährt mich. Irgendwo verschiebt sich was!

Für einen kurzen Augenblick glaube ich, dass sich die Klappe trotz des Klebers unter Mos Gewicht gelöst hat, bis mir klar wird, dass das Geräusch von unten kommt.

Eine der Türen geht auf!

Holden

Wir nehmen den Lift in die Tiefgarage. Paine hat einen privaten Stellplatz, auf dem zu meinem Erstaunen ein zartgelb glänzender Rennwagen mit runden Formen parkt. THERESA 3 steht auf dem Nummernschild.

Die Türen öffnen sich nicht nach vorn, sondern falten sich wie Flügel auf.

Ich habe das Gefühl, in ein Raumschiff zu steigen. Das Innere riecht noch neu und mein Sitz scheint zu leben. Kaum hat er meine Größe und mein Gewicht gemessen, bewegt sich meine Rückenlehne von selbst leicht nach hinten und alles rundet sich oder wird an genau den richtigen Stellen flacher, bis Form und Härtegrad perfekt sind.

»Sitzt du gut?«, fragt Paine.

Ich nehme an, sie macht einen Witz, aber sie klingt krass ernst.

»Willkommen«, sagt eine warme Stimme, die aus den Lautsprechern wabert. »Wohin kann ich Sie bringen?«

»Paradise.« Paine hält ihr ID-Bändchen an das Dashboard. »Geheime Location Red Zone.«

Ich spüre das Adrenalin in meinen Adern.

»Und zwar ein bisschen zackig«, füge ich hinzu.

Die Türen schließen sich und die Lautsprecherstimme wünscht uns eine angenehme Reise.

Geschmeidig gleiten wir zum Ausgang, wo uns ein Wärter in einer dunkelvioletten Uniform erwartet. Auf Bauchhöhe hält er so eine Metalldose, in der Cliffton-Besucher ihr Camphone deponieren müssen.

Bei der Abfahrt bekommt man es demnach wieder!

Die Fenster des Wagens funktionieren über Sprachsteuerung.

Paine lässt ihres hinuntersurren, streckt den Arm hinaus und nimmt ihr Camphone aus der Dose. »Fenster schließen.«

Verblüfft sehe ich, wie sie das Gerät in ihre Westentasche steckt, ohne auch nur einen Blick auf das Display zu werfen.

»Warum warnen Sie die Computerzentrale nicht?«, frage ich. »Oder wählen den Notruf?«

Paine sieht mich kopfschüttelnd an. »Und du glaubst, dass Sims das jetzt einfach so zulässt? Gerade im Kontaktraum …«

»Okay, okay.« Ich kann es nicht leiden, dass sie natürlich recht hat. »Können wir dann wenigstens ein wenig schneller fahren?«

Aufreizend langsam verlassen wir das Gelände und biegen auf die Straße ein.

»Bitte«, flehe ich.

»Ich will keinen Unfall bauen.«

»Das ist ein Sportwagen!«

»Mit einem Bordcomputer, der weiß, was sicher ist«, sagt Paine.

Warum wollen Erwachsene nie auf einen hören? Die Unruhe jagt durch meinen Körper – schneller als jegliches Auto. »In diesem Tempo schaf‌fen wir es nie!«, rufe ich verzweifelt.

Paine macht eine Kopfbewegung zum Abgrund. »Und wenn wir abstürzen, sind wir noch weiter von unserem Ziel entfernt.«

»Aber dann haben wir es wenigstens versucht!«

»Immer mit der Ruhe«, sagt Paine. »Solange Theresa auf meine Kommandos reagiert, ist es noch nicht zu spät.«

Wahrscheinlich hat sie schon wieder recht, aber mein hektisches Gefühl ist wie ein Wolf, der sich nicht zähmen lässt. Ich versuche, den Zeiger des Tachos mit meinem Blick hochzudrücken, und brumme lautlos.

Theresa, das lahmste Sportauto aller Zeiten.

Die Straße macht eine Biegung und führt nach unten.

Ich behalte die geplante Route ängstlich im Auge. Weichen wir nicht zu sehr ab? Was, wenn die Computerhirne doch schon die Macht ergriffen haben und uns heimlich in die falsche Richtung schicken? Oder würden wir dann einfach angehalten?

Ich kriege den Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf. Immer, wenn wir kurzfristig langsamer werden, glaube ich, dass Sims dahintersteckt. Dass dies der unumkehrbare Moment ist, in dem nicht nur unsere Kameras, sondern auch alle anderen Geräte übernommen wurden. Geräte wie das Rennauto von Paine und alle anderen computergesteuerten Fahrzeuge.

Und alle Food-Printer.

Dann können wir uns echt abschreiben!

Zum Glück, da ist schon der Wald mit seinen silberfarbenen Stämmen und der kamerafreien Zone, in der Ordnungshüter Chapman vor drei Tagen meine Jeecker aus dem Autofenster warf. Stinksauer war ich. Jetzt kommt es mir nur noch lächerlich vor. Ich nehme mir vor, mir nie wieder einen Kopf über so etwas Unwichtiges wie ein Paar Schuhe zu machen. Jetzt zählt nur noch eins …

Glaubst du das wirklich?, nölt meine innere Stimme. Ein Siebzehnjähriger, der die Welt rettet?

Ein fast Achtzehnjähriger, korrigiere ich sie.

Es hilft nichts. Plötzlich bin ich ganz sicher, dass die Stimme recht hat. Solche Heldentaten passieren nur in schwachsinnigen Geschichten. Die denken sich Schriftsteller aus, die den ganzen Tag rumfantasieren, weil sie zu viel Schiss haben, um selbst loszuziehen und echte Abenteuer zu erleben.

Ein meterhoher Zaun taucht vor uns auf.

Sobald wir am Torpfosten angehalten haben, hebt Paine kurz ihre Hand mit dem ID-Bändchen. Offenbar hat sie ein E-Visum, denn der Leser akzeptiert es ohne Zögern. Der Zaun schiebt sich auf und dann tauchen wir in den dunklen Tunnel, aus dem wir ein paar Minuten später wieder nach oben kommen.

WILLKOMMEN IN PARADISE, sagt ein Schild am Straßenrand. Der Text ist mit Sonnen, Blumen und Schmetterlingen verziert.

Theresa fährt unermüdlich weiter. Ich spähe auf die Instrumentenanzeige. Laut Routenplaner dauert unsere Fahrt noch vier Minuten und einunddreißig Sekunden. Ein kleiner Funken Hoffnung steigt in mir auf. Vielleicht sind wir doch rechtzeitig da.

Das Auto biegt in eine Seitenstraße ein und schon bald gelangen wir in ein grünes Viertel mit Straßen ohne Bürgersteige und Firmengebäuden statt Wohnhäusern.

Das muss Produktionsviertel 3 sein – ich erkenne eine auf‌fällig gelbe Betonburg, an der wir vorbeifahren. Pas alter Arbeitsplatz ist hier ganz in der Nähe. Die verdammte Scheißfabrik, in der sie Calmexin in unser Vita mischen, damit wir uns in zahme Schafe verwandeln.

Wo Pa Calmexin in unser Vita gemischt hat.

Der dreckige Verräter!

Um meine Wut abzuleiten, presse ich meine Fingernägel in meine Handflächen und hole tief Luft.

»Produktionsviertel 2«, sagt Paine. »Wir sind fast da.«

Ich verbanne Pa aus meinen Gedanken und checke den Routenplaner, der behauptet, in sechzehn Sekunden die geheime Location Red Zone zu erreichen.

Unmöglich. Wenn ich mich umschaue, kann ich nirgends ein schwer bewachtes Gebäude entdecken. Ich sehe nur ein riesiges Golfgelände, das bei näherem Hinschauen doch kein Golfgelände ist, denn die Fähnchen, Spieler und Golfkarren fehl…

Shit! Theresa kommt völlig unerwartet von der Straße ab und rast auf ein paar Büsche zu. Ich klammere mich ans Armaturenbrett und stemme mich dagegen.

Wir sind zu spät! Sims ist an der Macht und jetzt bringt das System Theresa dazu, sich totzufahren … mit uns an Bord!

Prissy

Mo bleibt wie ein angespülter Ertrunkener auf dem Lüftungsschacht liegen. Ein Ertrunkener ohne Beine, denn die baumeln noch im Loch. Ich sehe es im Bruchteil einer Sekunde, während ich mich – noch immer im Schneidersitz –, so schnell und leise es geht, auf den Rücken lege. Um danach sofort zu merken, dass jetzt meine Knie an beiden Seiten über den Lüftungsschacht hinausragen.

Sei’s drum. Ich traue mich nicht, mich noch einmal zu bewegen. Ich traue mich ja kaum zu atmen!

Das Schiebegeräusch ist weg, vielleicht weil die Tür zugegangen ist? Doch als ich die Ohren spitze, höre ich immer noch ein flüsterleises Summen. Ich weiß nicht, von wem oder was es stammt, nur dass es hin und her zu gehen scheint wie ein Rasenmäher auf einem Fußballfeld.

»All clear«, sagt ein Mann.

Eine Computerstimme klingt anders, also muss das hier ein Wärter aus Fleisch und Blut sein. Wahrscheinlich hat er gerade die Wege zwischen den Regalen inspiziert.

Ich schieße sofort eine ganze Salve an Gedankenstrahlen auf ihn ab: Bitte nicht hochschauen! Bitte bloß nicht hochschauen!

Das Piepen kommt plötzlich. Ein hohes Piepen, wodurch ich so erschrecke, dass ich in einem Reflex den Kopf hebe – und dann höre ich ihn nicht nur, sondern sehe ihn auch: einen großen Mann auf einem kleinen Roller. Er trägt ein Headset und einen blauen Sweater. Security steht in orangefarbenen Buchstaben auf seinem Rücken. Er fährt auf die linke Tür zu und dann ertönt wieder so ein Schiebegeräusch wie eben.

Ich wage es und setze mich auf, damit ich sehen kann, wo er ist. Rollermann saust in einen ähnlichen angrenzenden Raum und die Tür schließt sich hinter ihm.

»Der ist weg«, flüstere ich.

Mo kichert nervös – das erinnert mich an Flow und mich durchfährt ein Stich. Sie fehlt mir. Dabei weiß ich gar nicht mehr, ob wir noch BFFs sind. Manchmal clicken wir noch, aber es fühlt sich anders an als noch vor einer Woche. Als wäre ich in ein anderes Land umgezogen und gehörte nicht mehr in ihr Leben.

»Beeil dich«, sagt Lașer, während er versucht, Mo an den Fußknöcheln auf den Lüftungsschacht zu schubsen. »Ich will hier weg sein, bevor der nächste Wärter kommt.«

Und ich erst!

Zum zweiten Mal stelle ich mich hin und gehe, so schnell ich mich traue, zu der Wand, an der die Leiter hängt. Mo hat sich hingekniet und krabbelt wie ein Baby hinter mir her. Lașer folgt ihm mit der Lässigkeit eines Gleichgewichtskünstlers, wobei er Mo abwechselnd anfeuert und beschimpft, damit er sich beeilt.

Sobald ich bei der Leiter bin, schaue ich hinunter.

Die Luft scheint rein zu sein, aber wie lange noch?

Ich fasse die oberste Sprosse, mache einen Schritt hinüber und klettere hinunter, so schnell es geht. Während ich mir Mühe gebe, meine flatternden Nerven unter Kontrolle zu halten, suche ich hinter einem Regal Deckung.

Geschafft!

Jetzt noch Mo und Lașer.

Ich schaue hoch, wo Mo kurz vor einem Panikanfall steht, weil er zusehen muss, wie er vom Lüftungsschacht auf die Leiter kommt. Lașer murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann, schraubt seine Finger um Mos Handgelenk und dirigiert Mos Hand in Richtung einer der Sprossen. Dann stellt er sich hinter Mo und redet erneut auf ihn ein.

Ich kaue an den Fingernägeln und spähe an den Regalen vorbei zu den Türen.

Wenn jetzt ein Wärter auf‌taucht, sind sie dran.

Wie kommen wir überhaupt in den nächsten Raum? Die Türen haben keine Klinke oder ein Display, auf dem man einen Zahlencode eingeben könnte. Wahrscheinlich reagieren sie nur auf bestimmte ID-Bändchen, wie die vom Personal.

Ich lege meinen Kopf an einen Akkubehälter. Das können wir vergessen. Ich will einen Verband um mein Handgelenk und Schmerztabletten und …

Mein Blick fällt auf die beiden Roller, die an einer Auf‌ladewand lehnen. Sehe ich das jetzt richtig?

Ich riskiere es und verlasse mein Versteck, um sie mir näher anzuschauen.

Und tatsächlich! An beiden Lenkern befindet sich ein Schlüsselsender!

Es fühlt sich an wie ein Geburtstagsgeschenk, bloß dass ich noch eine Ewigkeit warten muss, bevor ich es auspacken darf. Mo mag zwar endlich auf die Leiter geklettert sein, aber das Tempo, in dem er hinuntersteigt …

»Bitte«, sage ich. »Da ist ja meine Oma schneller als du.«

Ich kann flehen, wie ich will. Erst als ich vor lauter Nervosität meinen Daumennagel abgebissen habe, erreicht er den Boden. Lașer dagegen ist superschnell und landet fast auf Mo.

»Da entlang. Let’s go.«

Ich stehe schon bereit mit einem Roller.

Mo tut plötzlich aufreizend cool, als müsste er sein Verhalten von eben gutmachen, und reißt mir den Lenker aus der Hand. »Steig hinten auf.«

»Steig doch selbst hinten auf«, schnauze ich.

»Nimm den.« Lașer reicht mir seinen Roller. »Du fährst. Ich übernehme die Navigation.«

Wie kann er nur so ruhig und gelassen bleiben?

Ich schäme mich ein wenig. Bestimmt hält er mich für kindisch. Den Blick von ihm abgewandt, steige ich schnell auf den Roller.

Sobald ich auf einen kleinen Hebel drücke, fangen die Räder an, sich zu drehen.

»Eins, zwei …«, höre ich Lașer sagen.

Bei »drei« springt er auf das Trittbrett und wir kippen fast nach hinten. Schnell verlagere ich mein Gewicht nach vorn und beuge mich über den Lenker. Mo lacht – ziemlich falsch, würde ich sagen– und ich spüre, wie Lașer sich leicht gebeugt hinter mich stellt und die Hände auf meine Schultern legt.

Um sein Gleichgewicht zu wahren, sage ich mir.

Zwei Pieptöne erklingen und die Schlüsselsender machen, was sie sollen. Mein Bauch verkrampft sich – bitte lass auf der anderen Seite der Tür keine Wachen stehen! – und dann schwirren wir in den nächsten Raum mit wiederum langen Regalreihen. Zum Glück ist der Mann mit dem Roller auch hier schon wieder weg; ungestört erreichen wir die nächste Tür.

Sesam öffne dich.

Wir kommen in einen langen Gang, der so unglaublich schmal ist, dass unsere Lenker sich berühren. Mo bremst schnell ab, fährt hinter uns. Ich umklammere die Griffe. Die LED-Lämpchen an der Decke färben Hände und Arme blau, als wäre ich Schlumpfine.

»Nur die Ruhe«, sagt Lașer. »Gleich müssen wir nach rechts abbiegen, in einen Seitengang.«

Ich drossele die Geschwindigkeit und lenke den Roller um die Ecke. Keine zehn Meter von uns entfernt taucht eine Stahltür auf, über der eine digitale Anzeige hängt. Die entlangziehenden Texte sind nicht wirklich beruhigend: ENDE SCHLÜSSELSENDERZONE – ZUTRITTFÜR UNBEFUGTE VERBOTEN – DAUERÜBEWACHUNG – CODE EINGEBEN – 03:46 …

Eine Uhr, die falsch geht?

Ich spüre ein Zwicken in der Schulter.

»Bis hier«, sagt Lașer.

Ich stelle den Hebel auf »Aus«. Die Sätze der Anzeige starten in die zweite Runde. Als Mo und ich unsere Roller an die Wand gelehnt haben, kommen die Ziffern wieder ins Bild.

03:43 …

Und dann kapiere ich es. »Die zählt rückwärts wie ein Countdown!«

Lașer nickt und fängt an, die Wand neben der Tür zu streicheln, als wäre es eine Kuschelwand.

»Der Zugangscode ändert sich alle halbe Stunde«, erklärt er. »Die Ziffern geben an, wie viele Minuten und Sekunden der aktuelle Code noch gilt.«

Seine unerschütterliche Ruhe finde ich plötzlich gar nicht mehr so cool. Ich meine: weniger als vier Minuten. Das ist doch superkurz!

Mo tastet unterdessen die Wand auf der anderen Seite der Tür ab.

»Was macht ihr denn da?«, frage ich.

»Irgendwo hier muss ein Bedien-Panel versteckt sein«, sagt Lașer. »Deswegen suchen wir nach Unebenheiten. Einen Schlitz, der auf eine Luke hindeutet. Ein Knöpfchen, das man eindrücken kann.«

Die Tür hat weder eine Taste noch eine Klinke, ist jedoch mit neun Stahlplatten verstärkt, was ich für unglaublich übertrieben halte, denn sie wirkt an sich schon dick und stark genug. Die Platten sind viereckig und hängen in Dreierreihen untereinander – ein Muster, das mich an die Startbildschirme unserer Schul-Portables erinnert. Nur stehen da Ziffern in den Vierecken, sodass man einen Code eingeben und sich einloggen kann.

Ich spüre das Blut in meinem Schädel. Was wäre, wenn …

Mit der Faust drücke ich auf das mittlere Viereck – im Stahl leuchtet ein Kreis mit einer Fünf auf. »Wieso versteckt?«

Lașer und Mo starren mich an, als wäre ich ein bislang unentdecktes Kunstwerk von Vincent van Gogh. Ich schaue zur Lichtschrift hinüber.

00:17.

»Der Code?«, rufe ich. »Wie ist der Code?«

Sekundenlang bleibt es beängstigend still.

»Na?«

»Den kennen wir nicht«, gibt Mo dann zu.

Der Gang schrumpft zu einer Felsspalte und der leuchtende Kreis ist jetzt ein böses Auge.

Ein Auge, das wieder erlischt.

»Ich hatte mit einem normalen Bedienpanel gerechnet«, sagt Lașer. »So wie heute Mittag bei der Downtown-Wache. Ein Schloss, das ich mit einem Dongel auslesen kann.«

»Und jetzt?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Raten hat keinen Sinn. Die Anzahl der Ziffernkombinationen ist unendlich.«

Ich könnte losheulen! »Und was ist mit Bit’s a Mystery? Könnten sie uns nicht helfen?«

»Nein.« Mo fummelt am Computerschlüssel an seinem Handgelenk. »Weil sich der Code immer wieder ändert …«

Es ist, als würde ich einen Stummfilm anschauen. Mos Worte erreichen mich nicht mehr. Ich werde aufgesogen vom Bild des Computerschlüssels zwischen seinen Fingern. Eine dicke runde Scheibe mit mysteriösen Zeichen – und meiner Ansicht nach genauso groß wie der auf‌leuchtende Kreis eben.

»Gib mir mal Papas Computerschlüssel«, sage ich zu Lașer.

Er nimmt ihn aus seiner Hosentasche und sieht mich fragend an.

»Wenn es wirklich stimmt, dass wir mit unseren Schlüsseln die Computer der neuen Führenden knacken können – warum sollten sie dann nicht schon am Eingang funktionieren?«

Sieben ist meine Glückszahl. Ich drücke auf die dazugehörende Stahlplatte und lege meinen Anhänger auf den auf‌leuchtenden Kreis.

Er passt genau!

Bloß … Warum passiert da nichts?

Lașer reißt sich seine Kette vom Hals. »Vielleicht müssen wir wie bei Jungle Labyrint zusammenarbeiten.«

»Jungle Labyrint?«, kann ich ihm nur nachblöken.

»Ein Game, bei dem man versuchen muss, einen mit Edelsteinen verzierten Schädel zu finden. Er liegt in einer Höhle, aber er erweist sich als eine Art Sprengfalle – wenn ihn jemand hochhebt, werden alle Gamer eingesperrt. Beim Versuch, allein zu entkommen, scheitert man.«

Mo hält seinen Arm mit dem Computerschlüssel hoch. »Aber wenn man zusammenarbeitet …«

Die Sieben ist mittlerweile erloschen. Ich erwecke sie wieder zum Leben, indem ich meine Hand auf‌lege. Lașer entscheidet sich für die dritte Platte und Mo drückt auf Nummer fünf.

Dreierreihe, denke ich.

Wir halten unsere Schlüssel bereit und Lașer zählt ab.

»Jetzt!«

Ich drücke die Daumen und schicke ein Stoßgebet los, während wir unsere Schlüssel exakt gleichzeitig an die leuchtenden Kreise drücken.

Ein lautes Seufzen ertönt.

Dann dreht sich die Tür von uns weg und öffnet sich.

Holden

Der erwartete Crash bleibt aus. Bevor wir im Gebüsch landen, taucht das Auto plötzlich ab und dieselben Büsche wachsen auf einer Brücke, unter der wir durchfahren.

Mir entschlüpft ein kleiner Laut. Meine Eingeweide müssen sich erst mal wieder sortieren.

»Du dachtest …« Paine kann ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich habe doch gesagt, es ist eine geheime Location. Der Eingang ist von der Hauptstraße aus nicht zu sehen.«

Und mich warnen? Ist wohl nicht drin.

Ich lasse das Armaturenbrett los und lehne mich möglichst lässig wieder im Sitz zurück, während Theresa weiter über die in die Landschaft eingebettete Straße gleitet. Gebäude sind vorläufig noch keine zu entdecken, wohl aber sechs Menschen, die in Kaki-Uniformen vor der unbegrünten Seite eines Grashügels hin und her schlendern.

»Was sind das für Leute?«, frage ich.

»Soldaten«, sagt Paine.

Jetzt erst sehe ich es. Die kahle Seite ist keine natürliche Wand, sondern die Vorderseite eines Gebäudes mit Grasdach. Eine Art vergrößerte Tresortür bildet den Eingang. Er hat exakt die gleiche Farbe wie die Wand, wodurch er kaum auf‌fällt.

Die Soldaten gehen jetzt nicht mehr hin und her, sondern stellen sich in einer Reihe auf, als wollten sie einen Line Dance auf‌führen.

Mir stockt der Atem.

Sie haben Waffen! Keine Taser oder Gummiknüppel, wie Ordnungshüter sie manchmal tragen, sondern Feuerwaffen wie die, mit denen Soldaten ihre Feinde erschossen, als es noch Kriege gab. Verbotene Waffen, die früher von Terroristen und gestörten Amokläufern benutzt wurden, um Festivalbesucher, Schüler und allerlei sonstige Unschuldige zu ermorden. Im Internet schwirren noch Horrorvideos davon herum.

Theresa wird langsamer und hält an. »Ziel erreicht.«

Die Türen schweben nach oben. Ein Soldat mit der Nase einer Spitzmaus schießt sofort in die Luft und richtet anschließend seine Waffe auf uns.

»Vielleicht sollten wir lieber nicht aussteigen«, sage ich beklommen.

»Was hattest du denn erwartet?«, fragt Paine. »Dass die Führenden ihre Computerzentrale mit roten Rosen schützen?«

Ich fühle mich feige und dumm und versuche, nur noch an Sims zu denken. Wenn wir das System nicht auf‌halten …

Mit einem Betonblock im Magen steige ich aus und folge Paine zum Eingang des Gebäudes.

Sie zeigt der Soldatin mit den meisten Streifen am Ärmel ihr ID-Bändchen. »Vera Paine, Direktorin vom Cliffton Institut und in Besitz einer Zutrittserlaubnis Level zwei.«

»Das tut mir leid.« Streifenärmel nickt Spitzmaus zu, wonach der zum Glück seine Waffe senkt. »Die Sicherheitsbestimmungen wurden bis auf Weiteres hochgeschraubt. Ich darf nur noch Besucher mit Level eins zulassen.«

»Auf meine Bitte hin«, sagt Paine. »Ich bin voll und ganz auf dem Laufenden. Vielleicht nehmen Sie einfach kurz Kontakt mit Frau Adams auf.«

»Das scheint mir nicht notwendig. Die Anweisungen der Ministerin waren überdeutlich.«

Paine seufzt. »Dann rufe ich sie eben selbst an.« Sie bringt ihr Camphone zum Vorschein. Und steckt es wieder weg.

»Sims?«, frage ich.

Ihr Nicken ist wie ein Schlag in mein Gesicht. Es kann nicht sein, dass wir doch noch verlieren. Nicht jetzt, wo wir es bis hierhin geschafft haben!

»Hören Sie«, sage ich zu der Soldatenreihe. »Es gibt Leute, die in das Gebäude eindringen wollen. Sie haben spezielle Computerschlüssel bei sich, mit denen sie alle Computer miteinander verbinden können, und wenn das passiert …«

Ein junger Soldat mit einem so freundlichen Gesicht, dass ich ihn stillschweigend Mr Nice nenne, schüttelt den Kopf.

»Eindringlinge haben keinerlei Chance. Überall hängen Kameras und alle Bilder werden ständig überprüft.«

»Das ist ja gerade das Problem!«, rufe ich aus. »Sims kann die Bilder manipulieren und bestimmen, was auf dem Monitor zu sehen ist und was nicht! So können sie die Wärter zum Narren halten und ganz unbemerkt vorgehen.«

»Sims?«, fragt Streifenärmel.

»Ein irre cleveres Computerprogramm, das die Macht übernehmen will«, sage ich.

»Künstliche Intelligenz verübt Putsch.« Spitzmaus lacht. »Du hast wohl zu viele Science-Fiction-Filme gesehen.«

Ich stelle mir vor, wie er von einem außerirdischen Wesen mit hammermäßig stinkendem Atem verschlungen wird.

Ohne etwas zu sagen, hat sich Streifenärmel ein Stück von mir entfernt und spricht in eine vereinfachte Version eines Camphones. Das funktioniert wenigstens, während Paine es definitiv aufgegeben und ihr Gerät endgültig in ihrer Westentasche versenkt hat – mitsamt ihren Händen. Mr Nice nutzt mir auch nicht die Bohne. Der will mich nur trösten.

»Wirklich.« Er legt seine Hand für einen Moment bedeutungsvoll auf meine Schulter. »Du machst dir völlig umsonst Sorgen. Ich kann dir versichern: In den letzten sechs Stunden ist hier keiner reingegangen!«

»Nicht durch die Tür vielleicht«, sage ich. »Aber bestimmt gibt es noch irgendwo ein Fensterchen oder …«

Er schüttelt mitleidig den Kopf.

Streifenärmel hat ihr Gespräch beendet und bequemt sich wieder zu uns. »Ich habe gerade Kontakt mit der Security gehabt. Das Wachpersonal hat weder im noch rund um das Gebäude verdächtige Aktivitäten festgestellt und auch die Kameras melden, dass alles sicher ist.«

Ich werfe die Arme in die Luft und lasse sie todmüde wieder fallen. »Kameras, die Sims bearbeiten oder ausschalten kann, sag ich doch!«

Die Stille ist fast greif‌bar.

»Der Lüftungsschacht?«, fragt Mr Nice vorsichtig.

»Unmöglich«, sagt Spitzmaus. »Das Grasdach wird zu absolut hundert Prozent von Kameras abgedeckt.«

»Aber der Junge sagt gerade …«

Streifenärmel hebt kurz die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann schaut sie mich prüfend an, sodass ich das Gefühl bekomme, ihr Blick kriecht ganz tief in mein Hirn.

»Gut«, beschließt sie. »Wir werden den Lüftungsschacht inspizieren. Sehen wir nichts Verdächtiges, zieht ihr ohne weiteres Auf‌hebens ab. Einverstanden?«

»Einverstanden«, wiederholt Paine.

»Dann Beeilung«, sage ich, ohne auch nur etwas zu versprechen.

Mr Nice und Spitzmaus werden von Streifenärmel aufs Dach geschickt. Unterdessen kann ich nichts anderes tun, als unendlich lang auf ihre Rückkehr zu warten, wie ein brütender Kaiserpinguin auf seine Frau. Ich bin kurz davor, vor lauter Ungeduld zu zerspringen, als in der Ferne ein Schrei ertönt, und Mr Nice wenig später vom Grasdach hinunterschlittert.

»Das Gitter wurde abgeschraubt!«

»Und das sagst du jetzt erst«, raunzt Streifenärmel.

»Der Kontakter funktioniert nicht.« Spitzmaus ist ebenfalls vom Dach gekommen und schwenkt sein vereinfachtes Camphone. »Das Display blieb schwarz.«

»Sims«, sage ich.

Und dann ist Streifenärmel endlich überzeugt. Sie erteilt zwei Soldaten den Auftrag, alle Akkuräume und Gänge im Gebäude zu kontrollieren. Mr Nice und eine blonde Kollegin werden aufgefordert, hier draußen den Eingang zu bewachen, und dann ist nur noch Spitzmaus übrig.

»Du kommst mit mir«, sagt Streifenärmel.

Die schwer aussehende Tür erweist sich als ein wunderbares Beispiel moderner Technik und ist dreifach gesichert. Trotz des eingebauten Iris- und Handscanners öffnet sie sich erst, als Streifenärmel auch noch den richtigen Code eingegeben hat.