Paradise Project - Mirjam Mous - E-Book

Paradise Project E-Book

Mirjam Mous

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mink ist entsetzt, als er bei einem Spaziergang den Journalisten Herman van Romondt tot in einem Flussbett findet. Noch am Vormittag hatte Mink ihn während seines Schulpraktikums in der Redaktion getroffen. Dabei hatte der Journalist ihm anvertraut, dass er gerade an einer richtig großen Sache dran ist. Aber was noch viel schlimmer ist: Herman ist der Lieblingsonkel von Jool, Minks bester Freundin. Wie soll er ihr das nur beibringen? Denn eins ist Mink sofort klar: Jools Onkel ist nicht einfach in den Fluss gefallen und ertrunken. Ob diese "große Sache" etwas mit seinem Tod zu tun hat?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 280

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mirjam Mous

Paradise Project

Der Schein lügt

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Mirjam Mous, geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.

Weitere Bücher von Mirjam Mous im Arena Verlag:Boy 7 – Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst Romm 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort Passwort – Zugriff für immer verweigert Crazy Games – Der perfekte Tag, der in der Hölle endete Virus – Wer aufgibt, hat verloren Last Exit – Das Spiel fängt gerade erst an

1. Auflage 2018 © für die deutschsprachige Ausgabe 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Het Eos-project« bei Van Holkema & Warendorf, Houten © 2017 Van Holkema & Warendorf / Uitgeverij Unieboek / Het Spectrum bv, Houten, The Netherlands Alle Rechte vorbehalten Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer Covergestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung von Shutterstock-Motiven ISBN: 978-3-401-80791-1

www.arena-verlag.dewww.twitter.com/arenaverlagwww.facebook.com/arenaverlagfans

TEIL 1

VERSCHWINDETRICK

Magicians disappear all the time, but as soon as a regular person does it, everyone is all scared.

»Tom’s gone!«

»Is he a magician?«

»No.«

»Then let’s print up some flyers!«

(Mitch Hedberg – amerikanischer Stand-up Comedian, 1968–2005)

Mink Bekkering

Freitag, 31. März 2017

Mink überquert den zugigen Parkplatz der Shopping Plaza. Im Glas der Eingangstüren sieht er einen bleichen Jugendlichen mit gehetztem Blick. Er hat die Kapuze seines schmuddeligen Oversize-Pullis über den Kopf gezogen, sodass nur ein paar fettige Haarsträhnen hervorlugen. Die Haut zwischen Mund und Nase glänzt vor Schweiß.

Fuck, denkt Mink. Bin ich das?

Sobald sich die automatischen Türen öffnen, wird sein Spiegelbild auseinandergerissen und die brummende Klimaanlage lenkt ihre eiskalte Luft auf ihn.

Er zögert. Auf dem Parkplatz konnte er noch in alle Richtungen flüchten, aber die Einkaufsgalerie hat nur einen Ein- und Ausgang.

Während er sich die Oberlippe mit dem Ärmel trocknet, versucht er, seine Panik wegzuschieben. Die Shopping Plaza liegt nicht in seinem Viertel, also wird er wohl kaum Bekannten begegnen. Na ja, vielleicht jemandem von der Schule, aber der oder die wird ihn vermutlich sowieso nicht erkennen – das gelingt ihm ja selbst kaum noch.

Seine Nerven lassen sich nicht beschwichtigen. Er holt tief Luft und betritt die weißen Fliesen – behutsam, als wäre es der Boden eines Verschwindeschranks, der jeden Moment unter seinen Füßen wegklappen könnte.

Der Boden ist stabil genug, aber Minks Beine sind wie schlaffe Seile. Ihm ist schwindelig vor Hunger und er kommt nur langsam voran. Rechts und links drängen sich Menschen an ihm vorbei und in der Eile prallt jemand gegen seine Schulter. Er erschrickt – Idiot, du darfst nicht auffallen! – und versucht, seinen Gang zu beschleunigen, aber es ist vor allem sein Herzschlag, der immer schneller wird.

Daans Tierspezialgeschäft. Ein Bekleidungsgeschäft namens Conny.

Mit jedem Schritt erhöht sich der Druck auf seine Brust.

Handyman. Der Goldschmied.

Bei Olala Chocola bleibt er keuchend stehen.

Er sollte lieber zurückgehen, bevor er einen Panikanfall bekommt.

In dem Moment sieht Mink in der Ferne das Logo vom Supermarkt. Sein Magen knurrt wie ein gefährlicher Hund – essen! – und es gelingt ihm, seine All Stars doch wieder in Bewegung zu setzen, Richtung Pommesbude, wo eine Gruppe Jugendlicher versucht, während des Essens den Weltrekord im WhatsApp-Schreiben zu toppen.

Shit! Micha aus seiner Klasse steht dabei! Warum isst der Trottel nicht einfach in der Schulcafeteria?

Mink ignoriert den überwältigenden Duft von Fritten und Kroketten und stolpert weiter. Zum Glück achtet Micha nicht auf ihn. Keiner der Typen übrigens. Sie sind zu sehr mit ihren Handys beschäftigt.

Vor der Drogerie steht ein Verkäufer von Obdachlosenzeitungen, ohne Telefon. Und der guckt sehr wohl! Sein breites Grinsen legt jede Menge Zahnfleisch und kaum noch Zähne frei. Mink verkrampft sich innerlich. Weiß der Mann, wer er ist? Vielleicht fängt er gleich an zu rufen und auf ihn zu zeigen und dann …

Mink starrt auf den Boden und wünscht, er wäre unsichtbar, während er sich in Gedanken zubrüllt: Lauf, lauf, lauf!

Erst ein ganzes Stück weiter traut er sich, den Kopf zu heben.

Er hat sich völlig umsonst Sorgen gemacht. Um ihn herum schlendern Leute mit Papiertüten. Zwei Männer in dunkelblauen Anzügen und mit kurz getrimmten Bärten kommen ihm entgegen. Sie interessieren sich nicht für schmuddelig gekleidete Jugendliche.

Eine ältere Frau mit einem Cornetto lehnt sich an ein Schaufenster. Mink muss sich beherrschen, damit er ihr das Eis nicht aus den Händen reißt. Ihm ist schlecht vor Gier, aber er läuft weiter, während die Sonnenstrahlen so feindselig durch das Glasdach stechen, dass schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen.

Es ist ein Wunder, dass er den Supermarkt erreicht, ohne in Ohnmacht zu fallen.

Vor dem Eingang steht ein Spielzeugzug. Das Mädchen, das darin sitzt, schreit vor Vergnügen. Sie hat drei Zöpfchen, die wie Mini-Bonsais von ihrem Kopf abstehen. Mink macht einen großen Bogen um sie, denn ihre Mutter fotografiert sie und er hat eine Heidenangst, sie könnte ihn auf einem Foto einfangen.

Da ist die Reihe mit den Einkaufswagen! Mit zitternden Fingern steckt er eine Münze in den Schlitz und schiebt den Karren zur Schranke, die kurz für ihn aufschwenkt. Der Wagengriff gibt ihm Halt, aber im Kopf ist ihm ganz schwindelig von all den Reizen. Die bunten Verpackungen scheinen plötzlich Augen zu haben. Und hingen diese Spiegel und Kameras immer schon da?

Plötzlich ist er ganz sicher, dass er gleich im Rampenlicht steht. Dass eine muntere Stimme aus den Lautsprechern an der Decke ihm zurufen wird: »Herzlichen Glückwunsch! Sie sind der hunderttausendste Besucher und Sie dürfen ein Jahr lang kostenlos bei uns einkaufen!«

Trotz Klimaanlage fängt Mink an zu schwitzen. So schnell seine schlaffen Beine es zulassen, geht er zur Gemüseabteilung und biegt ziemlich schwungvoll um die Ecke. Sofort ertönt ein unangenehmes Quietschen.

Blöde Räder!

Bei den Paprikaschoten schaut eine Frau ihm direkt ins Gesicht. Mink wendet den Kopf ab und schnappt sich ein Büschel Bananen. Viel Eiweiß, also nahrhaft – er hat keine Ahnung, woher er diese Informationen hat –, und, auch nicht unwichtig: preiswert.

Beeilung! Eine Flasche Wasser. Erdnussbutter.

Ein Mann und ein Kind starren ihn an. Mink versucht, sich noch tiefer in seinem Hoodie zu verkriechen, und flüchtet in die Brotabteilung. Eins oder zwei? So sehr viel Bargeld hat er nicht mit und wer weiß, wie lange er noch damit auskommen muss.

Seine Augen werden feucht.

Nicht hier! Mühsam zwinkert er die Tränen weg. Er legt zwei Plastikbeutel mit geschnittenem Brot in den Wagen und im nächsten Gang wirft er auch noch eine Packung Spaghetti und ein paar Dosen mit Tomatenwürfeln dazu. Den teuren Parmesankäse, den er heiß und innig liebt, lässt er notgedrungen links liegen.

Einfach weiteratmen! Er schiebt seinen Einkauf zur Kasse – manchmal hat man ja auch Glück: keiner vor ihm – und legt die Artikel auf das Band.

Dann sieht er es.

Mink Bekkering

Freitag, 31. März 2017

Sein Gesicht.

Auf einem Plakat über der Sammelstelle für leere Batterien.

Es steht VERMISST dabei, aber Mink weiß nur zu gut, dass »gesucht« gemeint ist. Sofort bricht ihm der Angstschweiß aus allen Poren. Es ist eine Kopie des Fotos, das bei ihnen zu Hause in der Diele hängt. Darauf wirkt er eher treudoof und nicht gerade wie ein Verbrecher. Eine Telefonnummer steht dabei, damit man die Polizei benachrichtigen kann.

Das Mädchen an der Kasse erkennt ihn zum Glück nicht.

»Hallo.« Ihr Lidschatten ist knallblau und ihr Namensschild sagt, dass die Desie heißt.

Mink murmelt etwas Undeutliches zurück und hält schon mal das Geld bereit, während er versucht, sie in Gedanken zu beschwören: nicht gucken, nicht gucken.

Sie schaut ihn forschend an. »Hast du alles finden können?«

Beeil dich doch, Mensch! Er nickt.

»Möchtest du eine Tüte?«, fragt sie.

Er brummt etwas, das sich wie Ja anhört.

»Das sind dann fünfundzwanzig Cent extra.« Sie legt die Plastiktüte vor ihn.

Mink stopft die gescannten Einkäufe hinein. Seine Bewegungen fühlen sich steif an, wie bei einem Roboter. Unterdessen hört er, wie sich hinter ihm zwei Frauen unterhalten.

»Sie glauben nicht, dass sie es schafft«, sagt die eine. »Das sagt zumindest meine Tochter, die in ihre Klasse geht.«

»Wie schlimm«, sagt die andere. »Ein so junges Mädchen.«

Als Desie den Kopf schüttelt, bewegen sich ihre langen Ohrringe aus blau gefärbten Federn. »Anscheinend kannte sie den Täter. Er soll sogar ein guter Freund von ihr gewesen sein.«

Ein Schauder überläuft Mink. Sie spricht von ihm!

Er gibt sich große Mühe, ruhig zu bleiben, und konzentriert sich auf die Tüte, die immer schwerer wird, die Griffe, die in sein Handgelenk schneiden.

Nur die Erdnussbutter muss noch gescannt werden.

»Solche Freunde braucht man.« Desie zeigt mit einem Kopfnicken zu dem Plakat hinüber. »Das ist er übrigens. Sie haben überall welche aufgehängt, aber sie haben ihn noch nicht gefunden.«

Der Laden beginnt sich zu drehen. Mink klammert sich an die hochstehende Kante des Warenbands.

»Alles in Ordnung?«, fragt Desie. Sogar ihr blauer Lidschatten wirkt besorgt.

»Ja, ja, danke.« Seine Stimme klingt seltsam.

»Das macht dann neun Euro fünfundneunzig«, sagt sie.

Er will ihr den Zehner geben, aber der Schein bleibt an seinen feuchten Fingern kleben. Sie schaut auf seine Hand und dann zu ihm und dann – NEIN! – ihr Gesicht wendet sich seinem Foto auf dem Plakat zu.

Sie kneift die Augen zusammen. »Eigentlich siehst du ihm ziemlich …«

Den Rest ihres Satzes wartet er nicht ab, lässt den zerknüllten Geldschein auf das Band fallen und sprintet los. Wie es möglich ist, weiß er nicht, aber plötzlich hat er Flügel.

»Haltet ihn!«, ruft Desie.

Ein Wachmann taucht vor ihm auf. Er sieht aus wie im neunten Monat und schwitzt noch schlimmer als Mink, der dem Mann in einem Reflex die Tüte vors Knie schlägt.

Ein Hoch auf die knüppelharten Tomatendosen. Der Wachmann krümmt sich und ist für ein paar Sekunden ausgeschaltet.

Rennen!

Mink zerrt einen verirrten Einkaufswagen zu sich und schubst ihn, so fest er kann, auf den Bewacher zu. Dann flüchtet er in die Galerie, läuft an den Läden entlang, schiebt – Sorry! Sorry! – ein paar Leute zur Seite und donnert fast durch die träge Schiebetür aus Glas. Parkplatz überqueren!

»Stehen bleiben!«, hört er jemanden rufen.

Bestimmt nicht! Er fliegt durch Straßen und Brandgassen, über den Pfad beim Spielplatz. Die Tüte knallt ihm wieder und wieder gegen die Beine und sein Herz hämmert so fest gegen die Rippen, dass Mink fürchtet, sie könnten brechen. Der Gedanke an Jools ist wie Kerosin. Wenn sie ihn fassen, ist alles verloren. Sein Versteck ist nur noch ein paar Minuten von hier entfernt.

Er schaut über die Schulter. Keiner da. Er wird langsamer und nimmt sich kurz Zeit zum Verschnaufen. Jetzt erst merkt er, wie erschöpft er ist. Seine Lunge rasselt, er hat Puddingknie und … Wieso starrt ihn der Mann auf der anderen Seite so an?

Minks Sinne sind plötzlich wieder geschärft. Weg hier!

Er biegt links ab, dann nach rechts.

Endlich! Dort ist das leer stehende Gebäude, in dem er sich die letzten Tage versteckt hat. An der Vorderseite ist alles fest vernagelt, aber an der Seite befindet sich ein geheimer Eingang. Die Platte, die eigentlich die Türöffnung verschließen soll, ist in Wirklichkeit lose und man kann sie einfach zur Seite ziehen.

Mink späht um die Ecke und dann läuten in seinem Kopf Hunderte von Alarmglocken.

Er ist ganz sicher, dass er die Platte auf ihren Platz zurückgestellt hat, bevor er zur Shopping Plaza gegangen ist. Dass er den geheimen Eingang sehr sorgfältig verschlossen hat, wie Lena ihm aufgetragen hatte. Mit derselben Holzplatte, die jetzt im Gras liegt!

Mink starrt auf das Loch ohne Tür und denkt an die Gasflasche, die dadrinnen liegt. Gekochte Spaghetti kann er vorläufig abschreiben.

Was jetzt? Er traut sich nicht, das Gebäude zu betreten.

Das einzige Wort, das ihm einfällt, ist Zonneheuvel.

TEIL 2

PAMELA ANDERSON

Magic is all about directing attention.

(Keith Barry – irischer Mentalist, Hypnotiseur und Illusionist)

Mink Bekkering

Samstag, 2. Mai 2015

Mink war vierzehn, als er Jools zum ersten Mal sah. Oder besser gesagt: hörte.

Opa wohnte noch in seinem Ferienhäuschen auf Zonneheuvel und hatte Mink zum Gartengemeinschaftsschuppen geschickt, um eine Gießkanne zu holen. Mink ging hinein und wollte Licht anmachen, als die Tür mit einem Knall hinter ihm zuschlug. Zum Glück hatte der Lichtschalter auch eine Kontrollleuchte, sodass er im Dunkeln zu finden war.

»Nicht anmachen!«, erklang es.

Reflexartig zog Mink den Finger zurück. Danach dachte er: Hallo, wieso das denn? Aber dann hörte er ein leises Schluchzen, so schien es zumindest, also ließ er die Hand sinken und blieb eine Weile lauschend im Dunkeln stehen.

Ganz bestimmt, hinten im Schuppen hockte jemand und weinte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mink.

»Lass mich in Ruhe.« Eine Mädchenstimme.

»Vielleicht hilft es, darüber zu reden.«

»Geh weg.«

»Ich lasse auch das Licht aus«, versprach er.

»Bist du taub?«, schnauzte sie. »Gönn mir mal ein wenig Privacy, ja?«

Mink dachte an einen Satz aus seinem Zaubertrickbuch: Ablenkung ist das Schlüsselwort.

Vielleicht funktionierte es ja auch bei weinenden Mädchen.

»Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen«, sagte er. »Ich weine oft.«

»Ja, sicher.«

»Kennst du die Geschichte von Hachi dem Hund, der neun Jahre lang auf sein verstorbenes Herrchen wartet? Das ist der traurigste Film, den ich je gesehen habe. Ich habe eine ganze Packung Kleenex verbraucht.«

Sie konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.

»Nicht weitererzählen, okay?«, sagte Mink.

»Und mir sagen, ich bräuchte mich nicht zu schämen.«

Ihre Stimme war heiser, was nicht gut zu ihrem Dialekt passte – als hätte sie eine heiße Kartoffel im Mund. Mink versuchte, sich eine Vorstellung von ihr zu machen. Blonde Haare bis auf die Schultern – leicht gewellt, kein Pony. Einen auffallend großen Mund in einem schmalen Gesicht. Sommersprossen vielleicht.

»Darum geht es nicht«, sagte er in einem Versuch, sich herauszureden. »Ich habe nur keine Lust auf Generve. Wenn Sebas dahinterkommt, muss ich mir das noch wochenlang anhören.«

»Sebas?«

»Mein bester Freund. Der heult echt nie und deswegen schaue ich mir mit ihm immer nur Actionfilme an. Na ja, außer im Kino. Solange ich lautlos weine, merkt er nichts.«

Jetzt lachte sie laut heraus. »Bis das Licht angeht.«

»Ja, das ist tatsächlich ein Nachteil beim Kino.«

Sie war einen Moment still. Mink hörte nur ihren Atem.

Die Dunkelheit war wie eine Sicherheitsjacke, sie hatte etwas Intimes und zugleich Anonymes, weswegen er sich traute: »Was ist denn passiert?«

»Geht dich nichts an.« Aber sie klang nicht mehr so abweisend wie anfangs.

»Das liegt an diesem blind date, was? Darauf hast du natürlich gar keine Lust.«

Sie lachte schon wieder.

»Du hast recht«, sagte er. »Dieser Ort ist auch wirklich zum Heulen. Hier gibt’s nicht mal Eis oder Cola. Außer einer Rosenschere kann ich dir nur wenig anbieten. Oder hättest du lieber eine Schaufel?«

»Lieber einen Rechen.«

»Bisschen schwierig zu finden. Soll ich vielleicht doch lieber Licht machen?«

»Du hast versprochen, es auszulassen!«

»Auch gut. Dann bleiben wir eben gemütlich im Dunkeln.«

Sie schnäuzte die Nase und sagte nichts mehr. Die Stille baute eine Mauer zwischen ihnen. Mit jeder Sekunde wurde Mink unsicherer und die Dunkelheit war plötzlich nur noch unpraktisch. Was ging in ihr vor? Wenn er nur mal kurz ihr Gesicht sehen könnte …

Er wollte etwas Schlagfertiges sagen, damit sie wieder lachte, aber mehr als Small Talk fiel ihm nicht ein: »Vom Klang her bist du nicht aus dieser Gegend.«

Na ja, wenigstens reagierte sie. »Groningen.«

»Machst du hier Urlaub?«, fragte er.

Es ging also noch abgedroschener.

»Schön wär’s«, murmelte sie.

»Entschuldigung, aber ich kann dir gerade nicht ganz folg…«

»Meine Eltern haben sich getrennt, wenn du es unbedingt wissen willst!«

Mink erschrak vor ihrem heftigen Ausbruch und wollte ihr sagen, dass es ihm leidtäte, aber das Mädchen war so wenig zu stoppen wie ein Fahrrad, das mit kaputten Bremsen einen Berg runterrollt.

»Mama wollte unbedingt in ihren Geburtsort umziehen«, ratterte sie. »Hieteren also. Oder: der langweiligste Ort der Welt. Das fand Mama früher auch, aber ihre Familie wohnt immer noch dort und die ist anscheinend mit einem Schlag wichtig, wenn man sich scheiden lässt. Wir haben nicht mal eine eigene Wohnung, sondern schlafen vorläufig bei Tante Susanne.« Ihre Stimme war plötzlich wieder voller Tränen. »Also wohne ich jetzt meistens in Hieteren und hin und wieder hier. Papa hat ein Ferienhaus gekauft, damit ich an den Tagen, an denen ich bei ihm bin, nicht jedes Mal nach Groningen fahren muss. Stattdessen kommt er nach Zonneheuvel.« Sie stieß einen Seufzer aus, der klang, als käme er von tief unten aus ihren Zehen.

»Hieteren ist eigentlich ganz okay«, meinte Mink vorsichtig. »Ich wohne auch dort.«

»Es ist überhaupt nicht okay. Ich vermisse unser altes Haus und meine Freunde und dann muss ich auch noch auf dieses blöde Sint Maartencollege, wo ich niemanden kenne.«

»Du kennst mich doch? Ich bin auch auf dem Sint Maarten.«

Sie weinte mit lang gezogenem Schluchzen, als würden seine Worte es noch schlimmer machen.

Aber es konnte natürlich auch sein, dass sie ihn einfach nicht verstanden hatte.

»He«, sagte Mink etwas lauter. »Ich verstehe ja, dass es dir stinkt, aber vielleicht gefällt es dir ja nach einer Weile auch.«

»Du kapierst echt überhaupt nichts! Geh weg!«

Mink spürte einen leichten Luftzug. Dicht neben ihm fiel etwas zu Boden. Hatte sie ihm etwa was an den Kopf werfen wollen?

»Jetzt reiß dich mal zusammen!«, rief er empört.

»Selbst schuld«, sagte sie. »Ich habe gesagt, du sollst gehen.«

Als würde der Schuppen ihr allein gehören. Mink wollte schon fast das Licht anknipsen, als ihm Sebas einfiel. Der hatte am Tag, als seine Mutter starb, alle Laternen am Bremzenpfad kaputt geschlagen. Kummer machte manchmal seltsame Sachen mit einem und bei all den gefährlichen Werkzeugen hier …

»Immer mit der Ruhe«, sagte Mink. »Ich gehe ja schon.«

Sobald er die Tür öffnete, wurde es heller im Schuppen. Sein Blick suchte das Mädchen und fand sie ganz hinten. Ein großes Gartengerät – ein Rasenmäher? – verdeckte sie, sodass Mink nur ihre Beine sehen konnte.

Mit leisem Bedauern schloss er die Tür hinter sich.

Dumm, dumm, dumm. Wenn er ihr demnächst in der Schule begegnete, würde er nicht einmal wissen, dass sie es war. Hätte er sie doch nur nach ihrem Namen gefragt!

Er konnte natürlich auch auf sie warten. Hier, beim Schuppen.

Der Gedanke verschwand noch schneller, als er gekommen war. Sie würde bestimmt wieder Streit anfangen. Oder noch schlimmer: Sie könnte denken, er fände sie nett.

Die Sonne blendete ihn und auf dem Weg zum Gemüsegarten kniff er die Augen zusammen. Opa hockte auf einer Kiste neben dem Spinat.

»Ich kann die Gießkanne nicht holen«, sagte Mink. »Im Schuppen sitzt ein Mädchen und weint.«

Opa beugte sich vor, zupfte ein wenig Unkraut und ja, klar – da kam wieder einer seiner weisen Sprüche: »Halt dich von weinenden Frauen fern, sie geben dir sonst die Schuld sehr gern.«

Mink grinste pflichtgemäß und starrte auf die zig weißen Häuschen, die aussahen, als hätte man sie wie Kaugummis über den grünen Hügel gestreut.

Eigentlich hatte Opa ja auch recht. Die meisten Mädchen waren hysterisch und nervten total. Der lebende Beweis saß in großer Zahl in seiner Klasse. Deswegen wollte Mink das Mädchen aus dem Schuppen so schnell wie möglich vergessen.

Mink Bekkering

Sonntag, 3. Mai 2015

Opa rief an. »Könntest du noch mal nach Zonneheuvel kommen?«

»Um dir im Garten zu helfen?«, fragte Mink und seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

»Nein, es geht um etwas anderes. Meine Nachbarin sucht einen Zauberer für das Kinderfest ihres Enkels Luuk.«

Es dauerte einen Augenblick, bevor das bei Mink angekommen war. »Du meinst …«

»Magic Mink! Das klingt doch großartig?«

Mink konnte geradezu hören, wie Opa ins Telefon lächelte.

»Aber ich bin doch noch nie vor echtem Publikum aufgetreten.« Er zögerte.

»Oh, und was bin ich dann?«, fragte Opa. »Eine Schaufensterpuppe? Und deine Eltern und Tante Helga …«

»Familie zählt nicht.«

»Du bekommst fünfundzwanzig Euro dafür«, sagte Opa.

Mink vergaß einen Moment zu atmen. Das war mehr als sein Taschengeld für einen ganzen Monat!

»Hallo?«, fragte Opa. »Bist du noch dran?«

Er könnte ja immer noch so tun, als wäre er eine Reinkarnation von Tommy Cooper. Der ließ seine Tricks absichtlich schiefgehen und war damit weltberühmt geworden.

»Ich mach’s«, sagte Mink.

Am Wochenende danach stand er im Haus von Opas Nachbarin und zog seine präparierte Zauberjacke an. Er war völlig fertig mit den Nerven. Was, wenn dieser Luuk ein verwöhnter Bengel war – so ein Ekelpaket, das sich sogar bei einer Show von Hans Klok zu Tode langweilen würde?

»Fertig?«, fragte Opa. »Sie warten auf dich.«

Mick kam durch die Verandatür, schob die gelben Vorhänge zur Seite …

Eine ganze Wiese voller Kinder. Erwachsene auf Stühlen und Hockern und – Hilfe! – ein paar Jungen und Mädchen in seinem Alter, die auf einer Gartenbank hingen und völliges Desinteresse zur Schau stellten. Er wusste auf einmal, wie sich ihr Mathelehrer Melkers jeden Tag fühlen musste.

Ein zögernder Applaus erklang, als Mink den Garten betrat.

»Ich habe gehört, hier hat jemand Geburtstag?«, rief er. »Aber wer, oh wer?«

Er zauberte eine Girlande aus seiner Innentasche und hängte sie dem Geburtstagskind um den Hals. »Herzlichen Glückwunsch!«

Luuk machte ein völlig verblüfftes Gesicht. »Woher weißt du das denn?«

Der Junge trug eine Krone mit einer Sieben auf dem Kopf! Schlagartig fiel alle Nervosität von Mink ab.

»Magic Mink weiß alles«, sagte er. »Genau wie der Nikolaus.«

Sogar von der Gartenbank kam ein Kichern.

Die Show lief wie geschmiert. Er zauberte Münzen hinter den Ohren des Geburtstagskinds hervor, knotete Ballonhunde und zeigte Tricks mit Softbällen und Karten.

»Könnt ihr ein Geheimnis bewahren?«, fragte er dann.

Alle nickten.

»Eigentlich bin ich kein Zauberkünstler, sondern ein gefährlicher Ninja.«

Er zog eine Spielkarte aus einer Innentasche. »Und das ist meine Geheimwaffe.«

Ein großes, dünnes Mädchen auf der Gartenbank hielt sich die schlaksigen Arme schützend vor ihr Gesicht. »Uh! Passt bloß auf, Leute!«

Das Publikum lachte. Mink starrte sie an. Diese heisere Stimme!

»Würdest du mir assistieren?«, fragte er.

»Von mir aus.« Das Mädchen zwängte sich nach vorn und stellte sich neben ihn.

Sie sah total anders aus, als Mink sie sich im Dunkeln vorgestellt hatte. Ihre kurzen schwarzen Haare waren glatt und wirkten so samtweich, dass er sich zwingen musste, sie nicht kurz zu berühren. Ein eher schmaler als breiter Mund mit nach oben zeigenden Mundwinkeln, der aussah, als würde sie nonstop lächeln.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Jools«, sagte sie.

Mink glaubte nicht, dass sie seine Stimme erkannt hatte. Und wenn doch, hatte sie ein gutes Pokerface.

»Okay, Jools. Hier hast du die Karte und einen Bleistift. Würdest du bitte überprüfen, ob sie irgendwie bearbeitet worden sind?«

Sie kontrollierte die Gegenstände gewissenhaft.

»Nein, da wurde nicht geschummelt«, sagte sie feierlich zu den Kindern.

Er ließ sie den Bleistift an beiden Enden festhalten.

»Seid ihr bereit?«

»Ja!«, riefen die Kinder.

Mink stieß einen Karateschrei aus. Dann zerschlug er den Bleistift mit der Karte.

Na ja, jedenfalls sah es so aus. In Wirklichkeit hatte er hinter der Karte heimlich seinen Zeigefinger ausgestreckt und nach dem Karateschlag blitzschnell wieder zurückgezogen.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Jools erstaunt.

»Ich habe doch gesagt, das ist eine Geheimwaffe.«

»Haha.«

Mink dachte an die zusammengeknoteten Taschentücher in seinem Ärmel – ein endlos scheinendes Band, das eigentlich für das große Finale gedacht war – und zog sie in einer Anwandlung heraus.

»Hier, für den Fall, dass du dir Hachi noch einmal anschaust.«

Ihr Gesicht verwandelte sich in ein einziges Fragezeichen.

»Den Film.«

»Wie bitte?« Sie gab ihm die beiden Bleistifthälften zurück.

»Schon gut.« Offensichtlich hatte er sie damals im Schuppen nicht besonders beeindruckt und er musste zugeben, dass ihn das ziemlich wurmte. »Einen großen Applaus für Jools!«

Mit gerunzelten Augenbrauen mischte sie sich wieder unters Publikum und Mink zeigte noch einen Trick mit einem Plüschkaninchen. Anschließend bekam er seine fünfundzwanzig Euro und alle waren zufrieden. Er sammelte seine Zaubersachen ein und stopfte sie hastig in seine Schultertasche. Wenn er sich ein wenig beeilte, konnte er den nächsten Bus noch kriegen.

Während er zur Haltestelle unterhalb von Zonneheuvel lief, tauchte Jools neben ihm auf.

»Ich weiß es«, sagte sie. »Du bist der Junge vom Schuppen.«

»Und du der Aggressivling, der mich totwerfen wollte.«

»Das tut mir leid.« Sie gab sich große Mühe, schuldbewusst auszusehen. »Ich hätte mich nicht an dir abreagieren sollen.«

»Wohl wahr.«

Ihre Augen leuchteten auf. »Aber du übertreibst schon ein bisschen. Das war mein Schuh, keine elektrische Heckenschere.«

Mink nickte zu ihren Füßen hinunter. »Größe dreiundvierzig kann auch Schaden anrichten.«

»Zweiundvierzigeinhalb«, sagte sie gespielt empört.

»Immer noch Ruderbootgröße. Bist du eigentlich nicht schon viel zu alt für Kinderfeste?«

»Ich war zum Helfen da. Luuks Mutter ist mit Tante Susanne befreundet und hat mich darum gebeten.«

»Musst du dann nicht zurück?«

»Sie können ruhig mal einen Moment auf mich verzichten.«

Vom anderen Ende der Straße kam der Bus.

»Das ist meiner«, sagte Mink.

Jools lief einfach neben ihm weiter. »Von wem hast du so gut zaubern gelernt?«

»Die meisten Tricks hole ich mir aus dem Internet. Aber ich habe auch Bücher und DVDs.«

»Könnte ich das auch lernen?«

»Wenn du jeden Tag übst, vielleicht.« Er dachte an Sebas mit seinen ungeschickten, steifen Fingern. »Manche lernen es nie.«

Mink überquerte die Straße. Jools folgte ihm wie sein Schatten.

»Mir kommt da plötzlich eine großartige Idee«, sagte sie. »Stell dir vor, ich hätte Talent …«

Der Bus stoppte an der Haltestelle.

»Sorry, ich muss los!« Mink begann zu rennen, während er wild die Arme schwenkte, um die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich zu lenken.

Ja, der Bus blieb stehen! Keuchend stieg er ein und setzte sich.

Kaum waren die Türen zu, bollerte Jools an die Scheibe.

Der Fahrer ließ sie rein. »Fast zu spät, Fräulein.«

»Ich muss nur schnell was abgeben.« Sie ließ den Blick schweifen, bis sie Mink sah. »Aus deiner Tasche gefallen.«

Sein Plüschkaninchen! Sobald sie es hochhielt, brachen alle Fahrgäste in Lachen aus. Mink wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Danke!«, sagte er mit zusammengepressten Kiefern und riss ihr das Ding aus der Hand.

»Guck nur, wie er sich über sein Kuscheltier freut«, sagte ein Junge mit einer Berglandschaft aus Pickeln. »Kann er heute Nacht wieder gut schlafen.«

Mink hätte ihn würgen können – und Jools dazu. Mit knallrotem Kopf begrub er das Kaninchen, so tief es ging, in seiner Tasche.

Jools bedankte sich beim Fahrer fürs Warten und rief dann zu Mink hinüber: »Ich schreib dir über WhatsApp!«

Berglandschaft gab ein Grölen von sich.

Jools sah ihn mitleidig an. »Das Kuscheltier ist übrigens ein Zauberkaninchen, Idiot.«

Sie stieg aus.

»Skelettbitch«, murmelte Berglandschaft.

»Du meinst wohl, die hat Feuer«, sagte der Fahrer.

Als Mink ein paar Stunden später bei Sebas im Zimmer saß, bekam er eine Nachricht.

Hab in der Cafeteria von Zonneheuvel einen Zettel ausgehängt.

Zauberer mit Assistentin für Kinderfeste.

Schon zwei Anmeldungen!

Also, Hans Klok …

Wann üben wir?

Pamela Anderson

Wie kam sie an seine Nummer?

Über Opa wahrscheinlich.

Sebas hatte mitgelesen und sah Mink neugierig an. »Wie heißt sie wirklich?«

»Jools.«

»Sieht sie wenigstens ein bisschen aus wie Pamela Anderson?« Sebas’ Hände vor seinem Oberkörper formten Megabrüste.

»Ob sie blond ist, meinst du?«, fragte Mink.

Er bekam einen Stoß.

Mink dachte an Jools’ Ausbruch im Schuppen. Daran, wie sie ihn im Bus lächerlich gemacht hatte. No way, dass sie seine Assistentin werden würde!

Dann dachte er an alle Tricks, die er niemals allein würde durchführen können, aber zusammen mit Jools schon.

Morgen um 14:00 Uhr Kapelstraat 6, schrieb er zurück.

Mink Bekkering

Montag, 18. Mai 2015

Es war Jools’ erster Schultag. Sie standen auf dem Hof.

»Meine neue Assistentin«, sagte Mink. »Jools, das ist Sebas.«

Sie musterte beide wie ein Such-die-zehn-Unterschiede-Bildchen. »Ihr könntet durchaus als Brüder durchgehen.«

»Schade, dass du nicht die Schwester von Pamela Anderson bist.« Sebas warf einen Blick auf ihre Brüste vom Format halber Mandarinen. »Wenn du verstehst, was ich meine.«

Sie stieß ihm einen spitzen Ellenbogen in die Rippen. »Sexist.«

»Au!«, rief er. »War doch nur ein Witz.«

»Du hast noch Glück«, meinte Mink, »dass sie dir nichts an den Kopf wirft.«

»Macht ihr immer so blöde Witze?«, fragte Jools. »Dann nehme ich demnächst Lachgas mit.«

Es läutete.

»Mathearbeit.« Sebas seufzte tief. »Wenn ich die noch mal verhaue, bekomme ich die ganzen Ferien über Nachhilfe.«

Eine Stunde später verließen sie den Klassenraum wieder.

»Und?«, fragte Mink. »War doch ganz okay, oder?«

Als Antwort kickte Sebas seinen Rucksack so fest durch den Korridor, dass der fast einen Unterstufenschüler zu Fall brachte.

»Geht’s noch?«, fragte Jools.

»Du hast leicht reden«, murrte Sebas.

Während der Rest der Klasse über der Arbeit schwitzte, hatte Jools in einem Mathebuch ankreuzen dürfen, welcher Lehrstoff in ihrer vorigen Schule schon behandelt worden war.

»Das war meine letzte Chance, hat Melkers gesagt. Ich bleibe ganz bestimmt sitzen.«

»Wirklich?« Jools sah Mink durchdringend an. »Du bist doch hier der Zauberkünstler. Kannst du dir keinen Trick ausdenken?«

Mink wollte nichts lieber als das. Ohne Sebas würde er im Unterricht vor Langeweile umkommen.

Er zermarterte sich das Hirn. Die meisten Lehrer nahmen die Klassenarbeiten zur Korrektur mit nach Hause, aber Melkers machte sich einen Sport daraus, alles noch am selben Tag nachzusehen. Das machte er während seiner Mittagspause. Mink sah ihn immer allein im Matheraum sitzen, bewaffnet mit einer Butterbrottüte, einer Tasse Kaffee und einem Rotstift.

Mit ein wenig Magie und den richtigen Zauberutensilien …

Das Schreibmaterial war kein Problem. Sie hatten alle einen eigenen Block für Klassenarbeiten, Sebas könnte also einfach ein neues Blatt abreißen. Bloß …

»Wisst ihr die Fragen noch auswendig?«, fragte Mink.

Das Aufgabenblatt mussten sie immer zusammen mit den Antworten abgeben.

»Ich habe sie sogar auf Papier«, sagte Jools. »Der Test lag auch auf meinem Platz, und weil ich niemanden stören wollte, habe ich ihn einfach eingesteckt.«

Mink lächelte zufrieden. »Bist du bereit für deinen ersten Auftritt?«

Sobald es zur Mittagspause läutete, gingen Mink und Jools zum Matheraum. Sie sahen, dass Melkers auf der anderen Seite des Fensters seine Tasche auf das Pult stellte und auspackte. Brote. Seinen Stift.

Auf demselben Pult lag auch ein Stapel Papier. Das waren bestimmt ihre Tests.

Mink klopfte an der Tür.

»Ja?«, fragte Melkers irritiert.

In dem Moment, in dem sie eintraten, wurde Mink klar, was er übersehen hatte. Der Schreibtisch stand auf der anderen Seite des Raums. Um auch nur in die Nähe der Tests zu kommen, müsste er fünf Meter überbrücken.

Was jetzt? Es würde merkwürdig wirken, wenn er erst zu Melkers hinginge, um dort dann zu antworten.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Mink, um Zeit zu gewinnen.

Er musste sich etwas ausdenken. Etwas, das keinen Argwohn wecken würde.

»Jools hat Sie gesucht.« Er sprach möglichst langsam und dehnte die Worte wie Gummi. »Und ich weiß, dass Sie immer hier sitzen, daher …«

Suggestion. Mehr fiel ihm so schnell nicht ein.

»Danke, Mink, du kannst gehen.« Melkers Aufmerksamkeit wandte sich Jools zu. »Wie kann ich dir helfen?«

»Also …« Sie schluckte übertrieben mühsam.

»Alles in Ordnung?« Er machte ein paar Schritte auf sie zu.

Perfekt. Das Pult befand sich jetzt in seinem toten Winkel.

»Nicht wirklich. Meine Eltern haben sich getrennt und …« Jools schlug die Hände vor die Augen und ließ die Schultern hängen.

»Aber, Mädchen.« Melkers hatte Mink komplett vergessen.

Das war der ersehnte Moment!

Schnell huschte Mink zum Pult, schob den Stapel Papier auf den Boden und machte gleichzeitig ein Geräusch, von dem er dachte, dass jemand es machen würde, wenn er etwas fallen sieht und es aufzufangen versucht. Sofort drehte Melkers sich um.

Aber da hielt Mink die Tasche schon wie eine Trophäe in den Armen.

»Gerettet, dank meines fantastischen Reaktionsvermögens.«

Melkers schaute auf die abgestürzten Tests, die über den Boden verstreut lagen.

»Ich hebe sie gerne für Sie auf«, sagte Mink.

Melkers schaute zu Jools. »Nun …«

»Macht mir nichts aus«, sagte sie, »Mink kennt die Geschichte schon, denn er hat mir bei meinem Auftrag geholfen.«

»Was für ein Auftrag?«, fragte Melkers.

Jools begann zu erzählen. Dass sie nicht gut mit der Scheidung ihrer Eltern umgehen konnte und den Umzug nach Hieteren sehr schwierig fand. Aber dass sie jetzt Hilfe von einer Therapeutin bekäme, die ihr manchmal Aufträge erteilte.

Inzwischen checkte Mink die Namen auf den Tests. Kelly, Inge, Wouter, Lukas …

»Ich soll mich auf positive Dinge konzentrieren«, sagte Jools. »Darum fotografiere ich alle schönen Sachen in meinem neuen Leben.«

Tess, Jonathan …

Ja, da war er endlich: Sebas’ Test!

Mink kroch fast unters Pult und ließ das Blatt mit Lichtgeschwindigkeit in seiner Tasche verschwinden. Die anderen legte er auf einen Stapel.

»Und aus diesen Fotos soll ich dann wieder eine Collage machen«, sagte Jools.

Mink stand auf und nickte ihr zu.

»Ich habe mich nicht getraut zu fragen, als der Rest der Klasse dabei war.«

Jools gestikulierte mit ihrem Telefon. »Aber darf ich vielleicht ein Selfie mit Ihnen machen? Mathe ist nämlich mein Lieblingsfach.«

»Klar.« Melkers freute sich wie ein Kind im Süßwarenladen.

Mink legte die Mathetests auf das Pult. Der erste Teil des Tricks hatte geklappt.

Während Jools fotografierte, lief Mink zu den Schließfächern, wo Sebas wartete.

»Hier.« Er gab ihm seinen Test. »Du bekommst eine zweite Chance. Bau aber absichtlich ein paar Fehler rein. Sonst kommt es doch noch raus.«

»Mach ich.« Sebas steckte die Arbeit ein und grinste. »Danke dir, Mann.«

»Bedank dich bei Jools. Sie war große Klasse.«

Sebas seufzte – ganz leise, aber Mink hörte es doch.

»Wann kommst du denn mal wieder mit Billard spielen oder zum Gamen? Ihr habt so ziemlich die ganzen Ferien über geübt.«

»Nach der Schule«, versprach Mink.