Last Exit - Mirjam Mous - E-Book

Last Exit E-Book

Mirjam Mous

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Beschreibung

Kaum ist der Bus angerollt und die Schüler der 8C auf dem Weg in die Schülerfreizeit, erhalten sie eine anonyme Nachricht: Im Bus ist eine Bombe versteckt! Niemand weiß, wer dahintersteckt und was der Unbekannte überhaupt will. Aber eins steht fest: Seine Drohung ist ernst zu nehmen ist. Valentin ist sich bald sicher, dass der Täter an Bord sein muss. Ein Motiv hätten viele, denn in dieser Klasse brodelt es schon seit langem.

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Seitenzahl: 278

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Mirjam Mous

Last Exit

Das Spiel fängt gerade erst an

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Mirjam Mous, geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.

Weitere Bücher von Mirjam Mous im Arena Verlag:Boy 7 – Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst Room 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort Passwort – Zugriff für immer verweigert Crazy Games – Der perfekte Tag, der in der Hölle endete Virus – Wer aufgibt, hat verloren

1. Auflage 2017 © für die deutschsprachige Ausgabe 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »2C« bei Van Holkema & Warendorf, Houten © 2016 Van Holkema & Warendorf/Uitgeverij Unieboek/ Het Spectrum bv, Houten, The Netherlands Alle Rechte vorbehalten Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer Covergestaltung: Cornelia Niere ISBN: 978-3-401-80740-9

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Valentin Aafjes

Walter van Piere

Driss Amrani

Driss Amrani

Ben van Poppel

Valentin Aafjes

Ben van Poppel

Valentin Aafjes

Fleur Dumonceau

Valentin Aafjes

Fleur Dumonceau

Driss Amrani

Mila van Kesteren

Driss Amrani

Tygo van Dongen

Irmak Yildiz

Valentin Aafjes

Fleur Dumonceau

Driss Amrani

Driss Amrani

Valentin Aafjes

Driss Amrani

Valentin Aafjes

Fleur Dumonceau

Driss Amrani

Fleur Dumonceau

Valentin Aafjes

Fleur Dumonceau

Driss Amrani

Walter van Piere

Valentin Aafjes

Walter van Piere

Driss Amrani

Irmak Yildiz

Valentin Aafjes

Mila van Kesteren

Driss Amrani

Irmak Yildiz

Valentin Aafjes

Walter van Piere

Driss Amrani

Valentin Aafjes

Walter van Piere

Driss Amrani

Valentin Aafjes

Driss Amrani

Valentin Aafjes

Phillip de Ridder

Driss Amrani

Phillip de Ridder

Valentin Aafjes

Mila van Kesteren

Valentin Aafjes

Mila van Kesteren

Epilog

Prolog

Man gebe einem Erwachsenen ein junges Tier und er will es beschützen. Junge Kätzchen lassen mit größter Leichtigkeit Herzen schmelzen. Wird ein Welpe misshandelt, gehen alle gleich auf die Barrikaden.

In der 8c waren vierundzwanzig junge Tiere.

Ein Bus voller unschuldiger Schüler bedeutete Macht.

Und er war der König.

Nicht alle von ihnen waren im Übrigen so unschuldig, wie man glauben könnte.

Valentin Aafjes

Heute

Valentin schiebt seinen Rucksack in den Gepäckraum des Reisebusses, eines T916 Acron von Van Hool mit 462-PS-Motor. Er ist feuerrot und in glänzendem Topzustand. Fast könnte man Lust kriegen, in die Ardennen zu fahren. Fast, denn der Rest der 8c fährt leider auch mit.

»Zisch ab, Professor!«, ruft jemand hinter ihm.

Offenbar ist er nicht schnell genug zur Seite gegangen, denn er bekommt einen Stoß in den Rücken.

Driss natürlich wieder. Er hat seine Sporttasche als Boxhandschuh benutzt.

So sieht er auch aus: wie ein Boxer. Valentin hat zu seinem großen Kummer noch den Körper eines Grundschülers. Driss dagegen ist groß und muskulös. Einen Trost gibt es: Er hat nicht nur den Körper, sondern auch das Hirn eines Boxers. Wenn man viele Schläge und Stöße an den Kopf bekommt, kann man einen Hirnschaden davontragen. Mohammed Ali zum Beispiel hat sogar ein degeneratives Gehirnleiden zurückbehalten. Es würde Valentin überhaupt nicht wundern, wenn Driss auch so etwas hätte, denn warum sonst sollte er sich wie ein Gorilla aufführen?

Driss stupst ihn mit dem Ellenbogen. »Was gibt’s denn da zu grinsen?«

»Nichts«, sagt Valentin schnell, bevor er wieder eine verpasst bekommt. Zum Glück hat Driss eine Aufmerksamkeitsspanne von maximal drei Sekunden. Er hat Valentin bereits vergessen und schlendert auf den Schulhof, die Hände in den Taschen seiner Adidas-Trainingshose.

»Mach dir nichts draus«, sagt ein Mädchen mit langen blonden Haaren und einem Rollkoffer zu Valentin. »Driss meint es nicht böse.«

Jessica. Sie trägt ein eng anliegendes T-Shirt mit dem Aufdruck KEEP OUT!.

Valentin murmelt etwas Unverständliches zur Antwort. Wenn er in Mathe eine Aufgabe lösen soll, weiß er genau, wie er vorgehen muss. Jemandem erklären, wie ein Dieselmotor funktioniert? Kinderleicht! Aber bei einfachen, spontanen Gesprächen sind sein Gehirn und seine Zunge plötzlich wie eingerostet. Kann ich dir mit deinem Gepäck helfen?, übt er in Gedanken.

Zu spät – Ben van Poppel in seiner Tarnhose taucht auf. Ohne zu fragen, legt er Jessicas Rollkoffer in den Gepäckraum.

»Danke«, sagt sie.

Valentin flüchtet in den Bus. Der Fahrersitz ist leer. Er unterdrückt die Neigung, sich hinters Lenkrad zu klemmen und loszufahren – es ist ein Automatikgetriebe, so irre schwer kann das ja nicht sein. Irmak sitzt als Einzige schon im Bus. Ihr knallblaues Kopftuch schmerzt fast in den Augen. Sie nickt ihm kurz zu und schaut dann wieder durchs Fenster auf den Schulhof und auf das Gewimmel der Eltern und Schüler mit ihren Koffern und Taschen. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen aus der 8c macht sie nie auf hysterisch. Er schiebt sich auf den Sitz hinter ihrem und legt seine Plastiktüte neben sich. Darin sind Sachen für unterwegs. Noch bevor er sie rausholen kann, steigt ein schmaler Mann in den Bus. Wahrscheinlich der Fahrer, denn Valentin hat ihn vorher noch nie gesehen. Alles an dem Mann ist beige. Seine Kleidung, seine Gesichtszüge und sogar sein schütteres Haar. Er zögert kurz und macht dann ein paar Schritte in den Mittelgang. »Frau Vos ist noch nicht da?«

Angeblich gibt es ja keine dummen Fragen, aber die ist ja wohl ziemlich stumpfsinnig, findet Valentin. Als wäre ihre Lehrerin heimlich ins Gepäcknetz geklettert oder hätte sich hinter einem der Sitze versteckt.

»Doch«, antwortet Irmak. »Frau Vos steht dahinten.« Sie zeigt zum Schulhoftor.

»Danke schön.« Der Mann steigt wieder aus.

Valentin zieht Dunkel über Sethanon und seinen iPod aus der Tüte.

Ohrhörer rein, Musik an.

Während die Klänge seinen Kopf füllen, schaut er zu dem beigefarbenen Mann hinüber, der mit Frau Vos spricht. Das ist wie in einem Stummfilm. Valentin sieht, wie sich ihre Münder bewegen, aber er hört Hardwell. Frau Vos macht ein enttäuschtes Gesicht, der Mann nickt und verschwindet.

The End.

Valentin taucht in sein Buch ab und verschließt sich vor dem Rest der Welt. Während er Abenteuer in Krondor erlebt, füllt sich der Bus allmählich.

»Hilfe! Geht in Deckung!«

Valentin hebt verwirrt den Kopf.

Driss wieder. Was für eine Überraschung.

»Ein Buch!«, ruft er. »Hilfe, Hilfe!« Er weicht zurück, als würde er von einer Giftschlange angegriffen.

Inkie und Fleur schütten sich aus vor Lachen. Ihnen ist gar nicht klar, wie lächerlich sie in ihren fast identischen Kleidern aussehen: violettes T-Shirt und Jeans mit zerrissenen Knien. Weil Inkie ziemlich klein und Fleur sehr groß ist, sehen sie aus wie ein Komikerduo.

Ungerührt stellt Valentin die Musik ab. Nicht, dass es wirklich nötig wäre – Driss redet so laut, dass der ganze Bus seinen Spaß hat.

»Welcher Trottel nimmt denn ein Buch mit?«, ruft er.

Selber Trottel, würde Valentin am liebsten sagen. Kannst du überhaupt lesen mit deinem geprellten Hirn?

Aber da hat Driss ihm das Buch schon entrissen und lässt es durch den Bus wandern.

Bis Frau Vos es sieht und eine Hand hebt. »He, he, Jungs!«

»Ich bin aber ein Mädchen«, sagt Fleur. Trotzdem reicht sie es Frau Vos.

»Setz dich, Driss.« Frau Vos wartet, bis er tut, was sie sagt, und studiert dann das Cover. »Bestimmt spannend. Gehört das dir, Valentin?«

»Wem denn sonst?«, ruft Inkie und prustet wieder los, während sie ihre schwarze Haarlocke mit einer einstudierten Geste zur Seite schiebt. Sofort fällt sie ihr wieder ins Gesicht.

Vos gibt Valentin das Buch zurück. Er klemmt es vorläufig zwischen Klapptisch und den Sitz vor ihm. Hoffentlich lassen sie ihn in Ruhe, wenn er auf seinem Smartphone ein Spiel startet.

Herr van Piere steigt keuchend in den Bus. »Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagt er. »Meine Frau … ich musste sie noch kurz …«

»Noch kurz …« Tygo steht auf und bewegt sein Becken vielsagend vor und zurück.

»Igitt!«, ruft Fleur. »Weißt du eigentlich, wie alt der ist?«

Herr van Piere ist so blind wie ein Maulwurf, aber den Augen von Frau Vos fehlt nichts.

»Was soll das bedeuten?«, fragt sie kühl.

»Einfach ein Freudentänzchen, Frau Vos.« Tygo grinst. »Weil wir diese Woche nicht zu arbeiten brauchen.«

Vos legt die Hände auf ihren dicken Bauch. Valentin vermutet, dass da mindestens Zwillinge drin sind – oder ein Riese.

»Das hast du dir so gedacht«, sagt sie zu Tygo. »Du darfst gleich den ersten Küchendienst übernehmen.«

Irmak klatscht. »Eins zu null für Frau Vos.«

Vos dreht sich zu Herrn van Piere um. Tygo streckt ihr hinter ihrem Rücken die Zunge raus.

»Selbst schuld«, findet Irmak.

»Dass alte Leute es machen, ist gar nicht so seltsam«, sagt Jessica. »Mein Opa und meine Oma sind zum Beispiel immer noch ganz verrückt aufeinander und …«

»Sag nichts! Sag nichts!« Fleur fuchtelt wild mit den Händen und schlägt sie dann vor ihre Augen. »Nein! Schon zu spät. Jetzt sehe ich sie die ganze Zeit vor mir.«

Valentin fragt sich, weshalb manche Mädchen so übertrieben reagieren müssen. Angelina Jolie stellt sich nicht mal so an, wenn sie schauspielert!

»Sind alle da?«, fragt Vos.

»Nein!«, ruft Jessica.

»Mila fehlt noch.« »Mila fährt leider nicht mit«, antwortet Vos. »Sie ist heute Nacht plötzlich krank geworden.«

»Ich zähle mal kurz durch.« Herr van Piere stellt seine Tasche ab. Es ist dieselbe lederne Aktentasche, mit der er jeden Tag in den Chemieunterricht kommt. Darin steckt immer eine Brotbox. Mit zwei Gummibändern über Kreuz. Unter dem Kreuz klemmt ein Apfel. Er isst ihn immer im Klassenraum auf, wenn es nach der dritten Stunde klingelt.

»Ihr Obsthäppchen?«, hat mal jemand gefragt.

Herr van Piere konnte nicht darüber lachen. Er hat noch weniger Humor als ein toter Baumstamm.

»Hallöchen alle zusammen!« Ein riesenhafter Kerl mit einem Bart kommt herein und bleibt auf der obersten Stufe stehen. Seine Leinenhose wird von roten Hosenträgern gehalten und sein Bauch sprengt fast das karierte Hemd. »Ich bin Jan, euer Busfahrer. Sind alle an Bord?«

»Vierundzwanzig Schüler«, sagt Herr van Piere.

Frau Vos nickt. »Dann sind wir komplett.«

»Okidoki«. Der Busfahrer geht wieder raus. Durch das Fenster sieht Valentin, wie er den Gepäckraum schließt. Dann klettert Jan in den Bus zurück und nimmt hinter dem Steuer Platz.

»Willkommen, alle zusammen«, sagt er durchs Mikrofon. »Wir fahren in die Ardennen und werden viel Spaß haben!«

Die Türen schließen sich mit einem Zischen und im Bus bricht Jubel aus.

Jessica winkt durch die Fensterscheibe: »Tschüs, Mama!«

Valentin hat sich heute Morgen von seiner Mutter verabschiedet. Sie ist Polizistin und musste schon früh zum Dienst.

Der Fahrer hupt und fährt die Straße hinunter. Valentin schiebt die Ohrhörer wieder rein und stellt die Musik besonders laut. So, und jetzt ungestört lesen. Er will sein Smartphone wegstecken und …

Moment – da kommt gerade eine Nachricht. Er macht die Inbox auf.

Spiel meine DVD ab!

Die mit der gelben Hülle.

Mach das in den nächsten fünf Minuten.

Sonst ist die Hölle los.

Was für ein seltsamer Text. Valentin weiß nicht, ob er erschrecken oder darüber lachen soll. Die Nummer des Absenders sagt ihm nichts und ein Profilfoto fehlt.

WTF, schreibt er zurück.

Die Antwort kommt postwendend. Das ist kein Scherz!

Valentin schaut zu Driss, der auch mit seinem Telefon zugange ist.

Plötzlich ist er vollkommen sicher. Driss hat ihm diese Nachricht geschickt! Er hofft natürlich, dass Valentin sie ernst nimmt und wirklich nach der DVD sucht. Und wenn er sie dann findet und abspielt …

Die Bilder und Geräusche purzeln nur so durch seinen Kopf: die Schimpfwörter und das Hohngelächter, die Hundescheiße mit der Papierflagge zum Geburtstag in seinem Schließfach … Driss hat bestimmt alles heimlich mit dem Handy gefilmt und auf DVD gebrannt. Die Hölle wird es für Valentin genau in dem Moment, wenn er den Auftrag wirklich durchführt. Die ganze 8c wird sich schlapplachen, während einer ganzen Woche Klassenfahrt.

Pech für Driss. Darauf fällt er echt nicht rein.

Valentin steckt sein Telefon weg und nimmt sein Buch.

Walter van Piere

Vor einem halben Jahr

Die Heizung bollerte und im Lehrerzimmer war es warm. Walter hätte gern sein Jackett ausgezogen, aber er befürchtete sichtbare Schweißflecken unter den Achseln.

»Der Fachbereich Geschichte kümmert sich wie immer um die Romreise der neunten Klassen«, sagte Meike Vos.

Walter wäre auch gern mit nach Rom gefahren. Das Kolosseum besuchen, das »Auge« in der Kuppel des Pantheon sehen und eine Münze in den Trevi-Brunnen werfen. Daraus war nie was geworden. Seine Frau verreiste nicht gern, und als er endlich genügend Mut gesammelt hatte, um dann eben allein zu fahren, hatte sie diesen schrecklichen Unfall.

»Für die 8a und die 8b haben wir uns London überlegt«, fuhr Vos fort. »Die Begleitung ist bereits gefunden. Bleibt nur noch die 8c.«

Ein leises Stöhnen ging durch den Raum. Die 8c war nicht gerade die einfachste Klasse.

Sie war sogar eine ganz beschissene Klasse, fand Walter. Die Schüler nannten ihn »Vampir«, wenn sie glaubten, er würde es nicht hören, und hatten keinerlei Respekt.

»Ich glaube nicht, dass wir mit der 8c etwas Kulturelles unternehmen können«, sagte Vos. »Das haben wir letztes Jahr schon versucht und die Museen waren nicht besonders glücklich über unsere Schüler. Deswegen haben wir uns dieses Mal für eine aktive Klassenfahrt in die Ardennen entschieden. Die 8c wird klettern, Flöße bauen, Wildwasser-Kanu fahren, mountainbiken und solche Sachen. Also …« Vos schaute ihre Kollegen munter an. »Wer fährt als Begleitung mit?«

Alle starrten aus dem Fenster oder spähten auf ihr Telefon.

»Na los, Leute, ein bisschen mehr Begeisterung bitte«, sagte Vos. Das rote Fuchsschwanztattoo auf ihrem Arm lugte unter ihrem kurzen Ärmel hervor. Es war Walter ein Rätsel, weshalb so viele Frauen heutzutage so gern auf raue Seebären machten.

»Und wie steht’s mit dir selbst, Meike?«, erklang es von hinten. »Du hast wenigstens einen Draht zu ihnen.«

Vos errötete leicht und strich sich über den Bauch. »Eigentlich wollte ich es noch eine Weile für mich behalten, aber …«

»Du bist schwanger!«, riet jemand.

Vos nickte und Glückwünsche wurden gemurmelt. Einige Frauen sprangen auf, um sie zu umarmen. Walter schielte auf seine Uhr.

»Im Juni bin ich fast im siebten Monat«, sagte Vos, als alle wieder saßen. »Ihr wollt doch nicht, dass ich mich mit so einem Bauch …« Mit den Armen gab sie die Ausmaße eines gewaltigen Strandballs an. »… an einem Berg abseile?«

Alle grinsten.

»Also wiederhole ich meine Frage: Wer will die 8c begleiten?«

Walter drehte sich der Magen um allein schon bei der Vorstellung.

»Ohne mich«, sagte ein Kollege. »Ich kann dir jetzt schon sagen, dass es eine Katastrophe wird.«

Das ganze Leben ist eine Katastrophe, dachte Walter.

»Nicht so pessimistisch.« Vos stemmte die Hände in die Hüften. »Gerade für diese Klasse kann eine Survival-Woche besonders lehrreich sein. Die Schüler werden Grenzen überschreiten müssen …«

Ein spöttisches Lachen der Biologielehrerin. »Wenn es etwas gibt, das sie nicht erst lernen müssen, dann das!«

»Ihre eigenen Grenzen«, fuhr Vos stoisch fort. »Die positiven Erfahrungen, die sie machen, werden ihr Selbstvertrauen stärken. Ganz zu schweigen vom Gruppenzusammenhalt …«

Walter unterdrückte ein Gähnen.

»Meiner Ansicht nach sollten sie einfach zu Hause bleiben«, beharrte die Biologielehrerin.

Vos konnte ihren Ärger nicht mehr verbergen. »Alle Schüler dieser Schule haben ein Recht auf eine Klassenfahrt. Auch die 8c.«

Aber noch immer meldete sich kein Freiwilliger.

»Gut«, sagte Vos grimmig. »Dann übernehme ich das. Auch wenn ich schwanger bin. Aber es muss trotzdem noch einer zusätzlich mit.«

Es wurde unheimlich still im Lehrerzimmer. Bis Walters Telefon klingelte.

»Verzeihung.« Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. »Meine Frau. Ich muss kurz drangehen.« Er eilte Richtung Flur und zog die Tür hinter sich zu.

»Wo bleibst du?«, fragte seine Frau mit ihrer brüchigen Stimme.

Er schlüpfte in den Toilettenraum. »Du weißt doch, dass ich eine Besprechung habe?«

»Aber die Hilfe ist schon weg. Kannst du nicht etwas früher nach Hause kommen?«

»Sobald wir hier fertig sind, in Ordnung? Ich komme so schnell wie möglich, Liebling.« Er steckte das Telefon in die Brusttasche seines Jacketts und kühlte sich Stirn und Handgelenke mit Wasser aus dem Hahn. Widerwillig ging er ins Lehrerzimmer zurück.

Warum hörten alle auf zu reden, als er den Raum betrat?

»Verzeihung«, entschuldigte er sich erneut. »Habt ihr schon eine Lösung gefunden?«

»Wir haben abgestimmt«, sagte der Kollege neben ihm. »Und zwar einstimmig. Du fährst mit Meike und der 8c in die Ardennen.«

»Aber meine Frau …«, setzte van Piere an.

Niemand hörte ihm mehr zu. Alle wollten nach Hause oder eine rauchen.

»Es wird bestimmt nett«, sagte Vos und schenkte Walter ein Lächeln.

Er stellte sich vor, wie er ein Maschinengewehr aus seiner Aktentasche nehmen und alle niedermähen würde.

Driss Amrani

Heute

Sie haben das Ende der Straße kaum erreicht, als der Bus schon wieder anhalten muss. Ein Jeep mit Anhänger ist so ungeschickt geparkt, dass sie unmöglich an ihm vorbeikommen. Der Busfahrer hupt.

»Rätselfrage!«, ruft er dann. »Welcher Bus kann nicht fahren?«

»Deiner«, antwortet Inkie.

»Kolumbus!« Jan schaut sich um und grinst wie ein zufriedenes Baby.

Glaubt der Trottel etwa, er wäre mit ein paar Kleinkindern unterwegs? Driss will es schon fast laut sagen, als er fühlt, wie sein Telefon vibriert. Seine Mutter, wetten? Sie wollte ihn heute Morgen zur Schule bringen, damit sie ihm zum Abschied winken konnte. Ja, hallo, er hatte es schon genau vor sich gesehen – bei solchen Gelegenheiten küsst sie ihn immer oder kneift ihn in die Wange, als wäre er gerade mal fünf. Und sie hätte ihn bestimmt Engelchen oder (noch schlimmer!) Spätzchen genannt statt einfach Driss. Wenn das jemand gehört hätte, wäre sein sorgfältig aufgebauter Ruf binnen drei Sekunden ruiniert gewesen. »Ich bin deine Mama«, sagt sie, wenn Driss sich darüber beklagt. »Ohne mich gäbe es dich nicht einmal, also nenne ich dich, wie ich will!«

Zu Hause kann Driss das wegstecken, aber auf dem Schulhof lässt er sich bestimmt nicht in aller Öffentlichkeit lächerlich machen. Also hat er heute Morgen mit seiner Mutter gestritten und ist gereizt (aber immerhin allein!) zur Tür raus. Wahrscheinlich versucht sie jetzt, ihm über WhatsApp die Meinung zu geigen.

Er schaut auf das Display.

Das ist nicht die Nummer seiner Mutter.

Spiel meine DVD ab!

Die mit der gelben Hülle.

Mach das in den nächsten fünf Minuten.

Sonst ist die Hölle los.

Was für ein seltsamer Text. Driss schaut sich um. Sein Blick bleibt an Valentin hängen, der auf der anderen Seite des Mittelgangs an seinem Telefon rumspielt.

Hat er die Nachricht geschickt? Soll das ein Witz sein? Will er mir eins auswischen wegen vorhin mit seinem Buch? Nein, dafür hat er viel zu viel Schiss.

Der Fahrer des Jeeps ist aufgetaucht, um den Anhänger wegzuschieben. Weiter hinten macht ein Telefon »Ping«. Da kriegt also noch jemand eine WhatsApp!

Moment, Driss’ Handy vibriert auch schon wieder. Eine zweite Nachricht. Das ist kein Scherz!

Jessica setzt sich auf die Armlehne ihres Sitzes. »Habt ihr auch so eine seltsame Nachricht bekommen?«

Immer, wenn er sie sieht, passiert etwas Seltsames mit Driss. Dann will er plötzlich so ein Indiana-Jones-Typ werden, der Frauen aus Schlangengruben rettet.

Ein paar Schüler nicken. Der Bus fährt wieder an.

»Oh, nein«, sagt Vampir, der seine Taschen abtastet. »Ich habe mein Telefon vergessen. Es liegt noch zu Hause.«

»Hier, Walter. Nimm meins, dann kannst du deiner Frau meine Nummer durchgeben.« Vos reicht ihm ihr Handy. »Und jetzt zu euch. Was ist los?«

»Jemand schickt uns Nachrichten über WhatsApp«, sagt Driss.

Vos zieht die rechte Augenbraue hoch. »Sag bloß.«

»Ich würde es sofort der Zeitung melden!«, ruft der Busfahrer und lässt ein donnerndes Lachen hören.

Keiner lacht mit.

»Es klingt wie ein Drohbrief«, sagt Jessica und liest die Nachricht vor.

Vos schweigt einen Moment. Dann verschränkt sie die Arme und sagt: »Ich schlage vor, dass sich der Witzbold augenblicklich meldet. Sonst ist wirklich die Hölle los.«

»Und wenn es kein Witz ist?«, fragt Jessica.

»Dann haben wir noch vier Minuten und drei Sekunden«, sagt Ben. Er hat eine Uhr mit eingebautem Kompass. Außer der Zeit und der Himmelsrichtung zeigt sie auch noch die Temperatur an. Das Ding wiegt fast ein Kilo, aber sollte die Welt je untergehen, kann Ben haargenau sagen, wie warm und wie spät es war.

»Dort liegen die DVDs.« Der Busfahrer zeigt zum Armaturenbrett. »Ice Age, Boy 7 und 22 Jump Street. Aber ich glaube nicht, dass eine von denen eine gelbe Hülle hat.«

»Ich schaue sie mal durch.« Driss geht nach vorn.

»Achtung, Comedy-Falle«, warnt Fleur.

»Das ist es!«, ruft Inkie ausgelassen. »Der Fahrer ist in Wirklichkeit Kai Pflaume. Darum auch der Bart!«

»Welcher Bart wird nie gestutzt?«, fragt Jan.

»Der künstliche Bart. Den hat man ja nur zur Tarnung«, sagt Inkie.

»Falsch!« Jan feixt. »Der Schlüsselbart.«

»Siehst du!«, ruft Inkie. »Nur Kai Pflaume macht so fade Witze! Zieh mal an seinem Bart, Driss! Wetten, dass der falsch ist?«

»Untersteh dich!« Jan schaut Driss gespielt drohend an. »Oder ich werfe dich aus dem Bus.«

Der Fahrer ist zu groß und zu kräftig, um Kai Pflaume sein zu können, und Bärte interessieren Driss nicht die Bohne. Er starrt auf die DVDs, die Jan meinte. Es sind nicht drei, sondern vier. Eine hat eine gelbe Hülle, auf der in roten Buchstaben steht: SPIEL MICH AB.

»Gefunden.« Er hält sie hoch.

Ben kichert leise. »Ich hab Sie durchschaut, Frau Vos. Das gehört natürlich zur Klassenfahrt. Bei den Pfadfindern haben wir auch einmal ein Mystery-Spiel gemacht mit lauter Aufträgen, die wir erfüllen mussten.«

»Ich liebe Spiele!«, ruft Irmak.

»Es gibt kein Spiel.« Vampir gibt Vos das Telefon zurück. »Es sei denn, jemand von euch hat sich eins ausgedacht.«

Ben kichert nicht mehr. Alle schauen sich forschend an.

»Noch drei Minuten«, sagt Ben dann.

Driss nimmt die DVD aus der gelben Hülle und reicht sie dem Fahrer. Der steckt sie ins Gerät. Die Bildschirme klappen von der Decke runter und springen an …

Driss Amrani

Heute

Auf allen Bildschirmen erscheint derselbe Film. Jemand hält ein Blatt Papier in die Kamera. Das Gesicht ist nicht im Bild, Driss sieht nur Arme in schwarzen Ärmeln, Hände in schwarzen Handschuhen und ein Stück Pullover, ebenfalls schwarz.

Auf dem Papier steht: Habt keine Angst.

»Warum sollten wir?«, fragt Driss abfällig und schielt zu Jessica hinüber.

Die Person in Schwarz lässt das Blatt zu Boden fallen. Ein zweites kommt zum Vorschein: Die Fahrt in die Ardennen findet nicht statt.

»Wie, sollen wir etwa zu Fuß gehen?«, fragt der Busfahrer. »Wir haben doch vier gesunde Reifen.«

Keiner reagiert. Nur Inkie lacht mit. Wahrscheinlich aus Nervosität.

Auch dieses Blatt landet auf dem Boden.

An Bord ist eine Bombe, steht auf dem dritten Blatt.

Jemand stößt einen Schrei aus.

Papier Nummer vier: Sie geht hoch, sobald jemand versucht, den Bus zu verlassen oder zu betreten.

Driss spürt, wie das Adrenalin durch seinen Körper jagt. Das ist wie eine Szene aus einem Actionfilm. Zu unwirklich, um wahr zu sein.

Solange ihr macht, was ich sage, seid ihr nicht in Gefahr.

Das letzte Blatt fällt zu Boden. Die DVD ist zu Ende und für einen Moment herrscht Totenstille im Bus, bis auf das Geräusch der Motoren.

»Das ist so ein Moslemterrorist«, sagt Tygo dann. »Ganz bestimmt.«

Driss ballt eine Faust. »Was jetzt?«

»Das sind fast immer Moslems. Die Twin Towers, Charlie Hebdo …«

»Quatsch nicht über Sachen, von denen du keine Ahnung hast«, schnauzt Driss. »Du weißt doch gar nichts vom Islam.«

»Jeder weiß, dass Moslems Schwule hassen und Frauen unterdrücken. Das gehört zu ihrer Kultur.«

Driss denkt an seine Mutter und seine Schwestern. Wenn zu Hause einer unterdrückt wird, dann er!

Tygo sieht ihn herausfordernd an. »Darum dürfen sie von mir aus gern alle zurück in ihr eigenes Land.«

»He, he«, sagt Vos. »Geht’s auch ein bisschen sachter?«

Irmak zupft aufgebracht an ihrem Kopftuch. »Genau, Tygo.«

»Wieso?«, fragt er. »In meinem Land darf man sagen, was man denkt.«

»Ich bin in Breda geboren, du Idiot!«, ruft Driss. »Also bin ich genauso Niederländer wie du.«

»Und Moslem«, beharrt Tygo.

»Und Moslem, ja. Aber kein Irrer, der Leute umbringen will.« Obwohl Driss Tygo gerade liebend gern den Hals umdrehen würde.

»Hört doch bitte auf.« Jessica ist kurz vorm Weinen. »Es ist schon ohne eure Streitereien schlimm genug.«

»Tygo hat angefangen.« Aber Driss geht doch zurück an seinen Platz.

»Ich wähle den Notruf.« Vos nickt dem Fahrer zu. »Am besten suchen Sie erst mal einen Parkplatz.«

»Okidoki.« Er tippt sich an eine imaginäre Kappe.

Der tut ziemlich munter, findet Driss. Vielleicht hat er die DVD ja selbst zu den anderen gelegt und das gehört doch zur Klassenfahrt? In dem Fall wäre Vos echt eine geniale Schauspielerin!

»Können Sie die DVD noch mal abspielen?«, bittet sie den Busfahrer. Sie hält ihr Telefon vor den nächstgelegenen Bildschirm und nimmt den Film auf. Clever! Unterdessen biegt der Bus in eine Nebenstraße ab und parkt auf dem Seitenstreifen.

Driss’ Telefon vibriert wieder. Jetzt ist es wirklich seine Mutter.

Dann eben so. Sie hat ihm ein Foto von sich geschickt, auf dem sie die Lippen spitzt, als würde sie ihm einen Kuss geben. Schöne Klassenfahrt und denk dran: Benimm dich!

Er klickt die Nachricht schnell weg, bevor jemand auf sein Display schauen kann.

Vos spricht inzwischen mit jemandem von der Notrufzentrale oder so. »Ja, hallo. Hier spricht Meike Vos vom Mencia …«

Valentin muss man echt gesehen haben – der hockt da mit seinem Buch und seinen Ohrhörern. Wahrscheinlich hat der Vollpfosten noch keine Ahnung. Driss kann es nicht lassen, ihm einen Klaps auf den Kopf zu verpassen.

»Hey, was soll das?«, fragt Valentin.

»Wir haben vielleicht eine Bombe an Bord und du liest einfach weiter, als wäre nichts«, sagt Driss.

Valentin nimmt die Ohrhörer raus. »Hä?«

Und das soll der klügste Schüler der Klasse sein? Driss kann seine Verachtung nicht verbergen. »Wenn wir nicht tun, was sie sagen, fliegen wir in die Luft, Mann!«

Valentin legt sein Buch beiseite und schaut zu den anderen, als könnte er es immer noch nicht glauben.

»Spiel’s noch mal!«, ruft Driss dem Fahrer zu. »Hier hat einer nicht aufgepasst.«

»Geht das im Unterricht auch so?«, fragt Jan Frau Vos. »Dass Sie alles zweimal erklären müssen?«

Sie bedeutet ihm, dass sie am Telefon ist, und der Fahrer lässt den Film noch einmal laufen.

Valentin starrt auf den Bildschirm und runzelt die Stirn. »Ist das die DVD? Dazu hatte ich eine Nachricht.«

»Die haben fast alle bekommen, du Vollpfosten.« Driss schüttelt mitleidig den Kopf.

»Habt ihr auch schon überprüft, ob es stimmt?«, fragt Valentin.

Fuck! Driss versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie dumm er sich fühlt. Daran hätte er denken müssen!

»Das wollte ich gerade vorschlagen«, sagt er schnell.

Alle helfen suchen. Ben klettert auf seinen Sitz und überprüft die Gepäckablage. Jessica schaut hinter den Vorhängen nach. Tygo kniet sich hin, damit er unter die Sitze schauen kann, und Driss tigert durch den Mittelgang.

»Wie erkennt man eigentlich eine Bombe?«, fragt Fleur.

»Zum Beispiel an einem leuchtenden Lämpchen.« Valentin späht in den Bordkühlschrank. »Oder man hört ein Ticken.«

»Ich hab sie!«, ruft Inkie.

Der ganze Bus schaut sie mit erschrocken aufgerissenen Augen an. »Oh nee, doch nicht«, sagt sie. »Das ist Bens Uhr.«

Ein Seufzer der Erleichterung ist zu hören und alle suchen weiter. Irmak kontrolliert die Toilettenkabine und der Busfahrer das Armaturenbrett. Alles wird betastet, abgeklopft und unter die Lupe genommen, aber keiner findet eine Bombe.

»Das ist bestimmt ein Scherz«, sagt Driss.

Jessica nickt voller Hoffnung.

»Oder auch nicht«, muss Valentin unbedingt von sich geben. »Wir wissen nur eins wirklich sicher: Der Witzbold kennt unsere Handynummern.«

»Ja, und?«, fragt Driss.

»Das bedeutet, er oder sie ist in unserer Klasse. Oder es ist ein Bekannter von jemandem aus unserer Klasse, jemand, der Zugang zur Adressenliste hatte. Außerdem weiß er, dass wir heute in die Ardennen fahren, und sogar, dass wir diesen Reisebus nehmen würden. Sonst läge die DVD nicht hier.«

Jessica bewundert ihn mit offenem Mund. Wie kann sie diesen Nerd nur so anschauen?

»Vielleicht hast du die Bombe ja selbst versteckt«, sagt Driss zu Valentin. »Wenn du das alles so genau weißt.«

Ben van Poppel

Vor 114 Tagen

Überschwemmungen, schmelzende Eiskappen, Dürreperioden …«

Ben knallte sein Glas auf den Tisch. »Alles Vorzeichen!«

Sein Cousin stöhnte. »Da ist er wieder, der Greenpeace-Prediger!«

»Wer?«, fragte Oma. Sie hatte so einen lächerlichen Partyhut auf dem Kopf, als hätte sie nicht nur Geburtstag, sondern wäre auch noch im Kindergartenalter.

»Es muss sich was ändern, sonst geht der ganze Planet drauf!«, fuhr Ben unbeirrt fort. »Aber nein, es werden immer noch neue Kohlekraftwerke gebaut und …«

»Das passt jetzt gerade nicht, Schatz.« Seine Mutter zwickte ihn in den Nacken. »Wir sind hier, um Omas Geburtstag zu feiern.«

Ben seufzte. Er hatte Segelohren und Sommersprossen, wie alle van Poppels. Trotzdem hoffte er immer noch, sie würden ihm eines Tages erzählen, er sei adoptiert worden, denn sonst … Ein Piranha und ein Kaninchen hatten mehr Ähnlichkeit miteinander als er mit seiner Familie!

Er nahm sich ein paar Erdnüsse und versuchte, an etwas anderes zu denken, was so lange klappte, bis ihm der Aufdruck auf dem neuen Sweatshirt seines jüngsten Cousins auffiel: ein Fahrrad fahrender Gorilla.

»Weißt du, dass Gorillas vom Aussterben bedroht sind?«, fragte Ben. »Weil wir ihren Lebensraum vernichten. Jede Minute verschwindet ein Stück Regenwald in der Größe von gut fünfzig Fußballfeldern. Das ist doch schrecklich!«

»Der Dodo ist auch ausgestorben«, sagte seine Schwester. »Das stört echt keinen. Manche Tiere verschwinden und neue Tierarten kommen dazu. So ist das eben in der Natur.«

»Natur?«, höhnte Ben. »Die gibt’s bald nicht mehr!«

»In den Beeker Bergen haben sie noch Gorillas.« Der Cousin mit dem Sweatshirt hüpfte wie ein Jojo auf und ab und versuchte, die Girlanden an der Decke zu erwischen. »Da war ich gerade erst.«

»Ja, das war schön, was?«, sagte Oma.

Man könnte genauso gut gegen eine Wand reden.

»Interessiert euch denn überhaupt nichts?«, rief Ben verzweifelt.

»Na komm, Junge. Lass gut sein, ist doch gerade so gemütlich hier.« Onkel Karel schenkte sich noch ein Bier ein. »Warum die ganze Aufregung über Sachen, die man doch nicht ändern kann? Lieber das Leben genießen, solange es geht.«

Frusttränen drückten von hinten gegen Bens Augen. Was für ein Haufen Idioten! Sie hätten es verdient, wenn die Welt unterginge.

Sofort schämte er sich in Grund und Boden. Dass er so etwas auch nur denken konnte!

Aber warum hörten sie denn auch nicht zu?

Ein kleiner Stupser an seinem Knie. Dann spürte er, wie sich eine kalte, nasse Nase in seine Handfläche nestelte. Wolfie natürlich, Omas Border Collie. Einen besseren Tröster gab es nicht. Ben streichelte das weiche Fell und flüsterte: »Wir hauen zusammen ab. Weg von diesen Losern.«

Wolfie leckte seine Hand und wedelte mit dem Schwanz. Sie liefen über den Radweg an der Mark entlang. Es war so kalt, dass ihr Atem Wölkchen hinterließ. Ben zog seine Mütze tiefer über die Ohren und schaute zu den Büschen und Booten auf der anderen Flussseite hinüber. Er hoffte, einen Eisvogel zu entdecken. Meistens versteckten sie sich zwischen den Blättern, aber manchmal hatte er Glück und einer hockte auf einem herunterhängenden Ast und lauerte auf einen Fisch. Die knallblauen Federn und der orangefarbene Bauch eines Eisvogels waren einfach unglaublich schön. Als wären sie mit Metalllack überzogen, fand Ben.

Wolfie war an Vögeln nicht interessiert. Er hatte einen verirrten Tennisball gefunden, legte ihn Ben zu Füßen und schaute ihn mit schräg gelegtem Kopf an. Flehenden Hundeaugen konnte Ben einfach nicht widerstehen. Er warf den Ball und Wolfie jagte mit wehenden Ohren hinterher. Sie spielten, bis sie die kleine Brücke zu den Tennisplätzen erreichten. Links am Weg saß ein Junge auf einer Bank, tief in seiner Jacke verkrochen.

Ben kniff die Augen zusammen – das war doch Valentin Aafjes, oder?

Der Junge hatte die Beine angezogen und einen Schal um seine Füße gewickelt. Er schaute kurz auf, als Wolfie an der Bank vorbeirannte.

Stimmt, das war Valentin.

»He!«, rief Ben und rannte zu ihm. »Was machst du denn hier?«

Valentin starrte schweigend auf seinen Schal.

Dann eben nicht, dachte Ben und wollte schon weitergehen.

»Ich breche gerade den Aschenputtel-Weltrekord«, sagte Valentin, ohne ihn anzusehen.

»Aschenputtel?«

»Das Mädchen, das aus dem Ballsaal rannte und auf der Palasttreppe einen Schuh verloren hat.«

»Ach, die.« Aber Ben kapierte ehrlich gesagt immer weniger.

»Ich habe es schon geschafft.« Valentin hob den Schal ein Stückchen an. »Ich führe 2 zu 1.«

Schon ein komischer Typ – er trug nur Socken! Bei dem Wetter!

»Wo sind deine Schuhe?«, fragte Ben.

Valentin zeigte in die Eiche hinter ihm. Ganz oben in der Krone baumelten ein paar Timberlands. Die Schnürsenkel waren zusammengeknotet und dienten jetzt als Schlaufe.

Ben pfiff durch die Zähne. »Wie kommen die dahin?«

»Wie kommen die da wieder runter?«, fragte Valentin. »Das scheint mir eine bedeutendere Frage.«

In der Schule verwendete er auch manchmal so feierliche Worte. Als wäre er steinalt oder Minister.

»Ich kann versuchen, sie runterzuschlagen.« Ben nahm die Hundeleine, die er die ganze Zeit über um den Hals getragen hatte. »Vielleicht ist sie lang genug.«

»Klappt nie im Leben«, sagte Valentin. »Ich habe auch schon mit allem Möglichen geworfen. Äste, Steine … Vermutlich sind die Schnürsenkel verdreht.« Er schauderte vor Kälte und seine Lippen waren blau.

»Wie lange sitzt du eigentlich schon hier?«, fragte Ben.

»’ne Stunde oder so. Ich traue mich nicht, nach Hause zu laufen, weil ich Angst vor Gangrän habe.«

»Gangrän?«

»Dass meine Zehen erfrieren, schwarz werden und abfallen.«

»Oh.« Ben bekam einen metallischen Geschmack im Mund. »Und du hast die ganze Zeit niemanden benachrichtigen können?«

Valentin zuckte die Schultern. »Ich habe meiner Mutter auf die Voicemail gesprochen, aber sie arbeitet und dann kann sie die nicht abhören.«

Wie konnte er nur so gelassen sein? Am liebsten hätte Ben ihn durchgeschüttelt … »Dann rufst du eben jemand anderes an? Einen Freund oder so?«