11,99 €
Als ein Drohbrief von Carrie Grethen auf Kay Scarpettas Schreibtisch landet, bekommt die Gerichtsmedizinerin es mit der Angst zu tun. Jahre zuvor hatte Grethen, damals Komplizin des Serienkillers Temple Gault, alles daran gesetzt, nicht nur Scarpettas Leben, sondern auch das ihrer Nichte Lucy zu ruinieren, bevor die beiden sie hinter Gitter bringen konnten. Jetzt schwört Grethen Rache. Eigentlich ist sie in einer geschlossenen Anstalt untergebracht. Eigentlich … Dann wird Scarpetta zu einem mutmaßlichen Tatort gerufen: Das Anwesen des Medienmoguls Kenneth Sparkes ist abgebrannt, samt seiner Luxuspferde, seiner Waffen und seiner Whiskeysammlung. Ob sich Sparkes selbst oder jemand anders im Haus aufhielt, ist unklar. Scarpetta soll deshalb in den Trümmern nach Leichen suchen. Handelte es sich um einen Unfall, Versicherungsbetrug oder einen Mordversuch? Die Medien stürzen sich auf den Fall und machen Scarpetta das Leben schwer. Und die Forensikerin ahnt, dass Carrie Grethen irgendwie ihre Finger im Spiel hat …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 556
Veröffentlichungsjahr: 2025
Patricia Cornwell
Der neunte Fall für Kay Scarpetta
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Kersten
Kampa
Dein Herz und Dein Heim für alle offen,
Dein Geist unfehlbar mutig und allgegenwärtig.
Du richtetest nicht über andere,
versuchtest sie zu verstehen.
Nie sah ich Dich unfreundlich,
nie missbrauchtest Du Deine eindrucksvolle Kraft.
So wird eines jeglichen Werk offenbar werden:
der Tag wird’s klar machen.
Denn es wird durchs Feuer offenbar werden;
und welcherlei eines jeglichen Werk sei,
wird das Feuer bewähren.
1. Korinther 3,13
One Pheasant Place
Kirby, Frauentrakt
Wards Island, NY
Hey, DOC
Tick Tock
Sägte Bein, Feuer rein.
Immer noch allein
Mit FIB dem Lügenschwein?
Die Uhr macht tock, BIGDOC.
Sprüh dunkles Licht und Schrecken auf die Gleise
GKSFWFY will alle Fotos dieser Reise.
Besuchen Sie wir. Etage vier. SIE tauschen mit wir.
TICKTOCKDOC! (Hat Lucy Bock?)
LUCY-BOO in TV-Kanal Vier. Flieg durchs Fenster. Komm mit mir.
Hey, Scheißbulle, steh früh auf. Ich lach und sing. Selbes Ding.
LUCYLUCYLUCY und wir!
Wirst schon sehen!
Carrie
Benton Wesley zog sich gerade in meiner Küchedie Laufschuhe aus, als ich auf ihn zustürzte. Das Herz schlug mir vor Angst und Hass fast bis zum Hals, schreckliche Erinnerungen wurden wachgerufen. Carrie Grethens Brief hatte in einem Stapel Post und Unterlagen gelegen, den ich erst einmal ungeöffnet beiseitegeschoben hatte, bis zu jenem Augenblick, als ich beschloss, mir in der Ungestörtheit meines Hauses in Richmond, Virginia, eine Tasse Zimttee zu machen. Es war Sonntagnachmittag, der 8. Juni, siebzehn Uhr zweiunddreißig.
»Ich nehme an, sie hat ihn dir ins Büro geschickt?«
Er wirkte nicht beunruhigt, als er sich niederbeugte und sich die weißen Nike-Socken von den Füßen rollte.
»Rose liest keine Post, die als persönlich und vertraulich gekennzeichnet ist«, erwiderte ich. Er wusste das. Mir pochte das Blut in den Adern.
»Sollte sie vielleicht besser. Du scheinst eine Menge Fans da draußen zu haben.«
Ich beobachtete ihn, wie er die bleichen Füße auf den Boden setzte, die Ellbogen auf die Knie stützte und den Kopf gesenkt hielt. Schweiß rann ihm über Schultern und Arme, die wohlgeformt waren für einen Mann seines Alters, und mein Blick wanderte von den Knien zu den schlanken Fesseln hinab, an denen sich noch das Muster seiner Socken abzeichnete. Er fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte, silbergraue Haar und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Mein Gott«, murmelte er, während er sich Gesicht und Hals mit einem Handtuch abwischte. »Ich bin zu alt für diesen Mist.«
Er holte tief Luft und atmete langsam aus, mit wachsendem Unmut. Die Armbanduhr, die ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, eine Breitling Aerospace aus rostfreiem Stahl, lag auf dem Tisch. Er nahm sie und ließ sie um sein Handgelenk schnappen.
»Verdammt noch mal. Solche Leute sind schlimmer als ein Krebsgeschwür. Lass mich mal sehen«, sagte er.
Der Brief war handgeschrieben, in bizarren roten Blockbuchstaben, und am oberen Seitenrand befand sich die unbeholfene Zeichnung eines Vogels mit Schopf und langen Schwanzfedern. Darunter das lateinische Wort ergo – folglich –, mit dem ich in diesem Zusammenhang überhaupt nichts anzufangen wusste. Mit spitzen Fingern entfaltete ich das Blatt, schlichtes weißes Schreibmaschinenpapier, und legte es vor ihn auf den alten französischen Frühstückstisch aus Eichenholz. Ohne das Dokument zu berühren, das möglicherweise noch als Beweisstück dienen würde, las er aufmerksam Carrie Grethens merkwürdige Worte.
»Der Poststempel ist New York, und natürlich hat es im Zusammenhang mit ihrem Prozess dort einigen Medienwirbel gegeben«, sagte ich in dem verzweifelten Wunsch, der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen. »Vor zwei Wochen erst ist ein sensationsheischender Artikel über sie erschienen. Praktisch jeder hätte den Namen Carrie Grethen aus dieser Quelle erfahren können. Mal abgesehen davon, dass die Anschrift meiner Dienststelle jedermann zugänglich ist. Vermutlich stammt dieser Brief gar nicht von ihr. Vermutlich ist er von irgendeinem Verrückten.«
»Er ist wahrscheinlich von ihr.« Er las weiter.
»Du meinst, sie könnte so was aus der geschlossenen Abteilung einer forensischen Psychiatrie verschicken, ohne dass es jemand kontrollieren würde?«, sagte ich, während die Angst mir das Herz zuschnürte.
»Saint Elizabeth’s, Bellevue, Mid-Hudson, Kirby.« Er schaute nicht auf. »Die Carrie Grethens, die John Hinckley Juniors, die Mark David Chapmans sind Patienten, keine Häftlinge. Sie genießen die gleichen bürgerlichen Rechte wie wir, während sie in Strafvollzugsanstalten und Psychiatrien herumhocken, pädophile Foren im Internet gründen und per E-Mail Tipps für Serienkiller verkaufen. Und höhnische Briefe an Chief Medical Examiners verschicken.«
Seine Stimme klang jetzt aggressiver, seine Worte schärfer. In Bentons Augen lag Hass, als er endlich den Blick hob und mich ansah.
»Carrie Grethen macht sich über dich lustig. Über das FBI. Über mich«, fuhr er fort.
»FIB«, murmelte ich und hätte das bei anderer Gelegenheit sogar komisch gefunden.
Wesley stand auf und warf sich das Handtuch über die Schulter.
»Nehmen wir also mal an, sie war es …«
»Sie war es.« Er schloss jeden Zweifel aus.
»Na gut. Dann steckt aber mehr dahinter als ein bisschen Spott, Benton.«
»Klar. Wir sollen nicht vergessen, dass sie und Lucy ein Verhältnis hatten, etwas, worüber die Öffentlichkeit nichts weiß – noch nicht«, sagte er. »Jedenfalls beweist dieser Brief, dass Carrie Grethen nicht damit aufhören will, anderer Menschen Leben zu ruinieren.«
Es war mir unerträglich, auch nur ihren Namen zu hören, und dass sie es geschafft hatte, in mein West-End-Zuhause einzudringen, machte mich rasend. Sie hätte ebenso gut mit uns am Frühstückstisch sitzen und die Luft mit ihrer verdorbenen, bösartigen Aura verpesten können. Ich sah ihr herablassendes Lächeln und ihre merkwürdig hellen Augen vor mir und fragte mich, wie sich die fünf Jahre hinter Gittern und der ständige Umgang mit geisteskranken Verbrechern wohl auf ihr Äußeres ausgewirkt haben mochten. Carrie war nicht wahnsinnig. War es nie gewesen. Sie war ein entgleister Charakter, eine Psychopathin, ein gewalttätiges Wesen ohne jedes Gewissen.
Ich blickte hinaus auf den Zierahorn in meinem Garten, der im Wind schwankte, und auf die unvollendete Mauer, die mich nur unzureichend vor meinen Nachbarn abschirmte. Das Telefon läutete, ich zögerte abzunehmen.
»Dr. Scarpetta«, sagte ich, während ich beobachtete, wie Bentons Blick abermals jene rote Kugelschreiberschrift fixierte.
»Yo«, ertönte Pete Marinos vertraute Stimme. »Ich bin’s.«
Captain Marino war Leiter der Mordkommission beim Richmond Police Department, und ich kannte ihn gut genug, um seinen Tonfall einschätzen zu können. Schon wappnete ich mich innerlich gegen weitere schlechte Nachrichten.
»Was gibt’s?«, fragte ich ihn.
»Ein Gestüt in Warrenton ist letzte Nacht in Flammen aufgegangen. Vielleicht hast du in den Nachrichten davon gehört«, sagte er. »Ställe, an die zwanzig Spitzenpferde und das Wohnhaus. Alles niedergebrannt bis auf die Grundmauern.«
Bis jetzt ergab das alles noch keinen Sinn. »Marino, seit wann rufst du mich an, wenn es irgendwo gebrannt hat? Mal abgesehen davon, dass du in Northern Virginia gar nichts verloren hast.«
»Von nun an schon«, erwiderte er.
Der Raum um mich schien zu schrumpfen, während ich auf die Erklärung wartete.
»Das ATF hat gerade eben das NRT alarmiert«, fuhr er fort.
»Das heißt, uns.«
»Bingo. Deinen und meinen Arsch. Morgen früh.« Das National Response Team, die Spezialeinheit des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, kam zum Einsatz, wenn Kirchen oder Geschäftshäuser brannten, bei Bombenexplosionen und sonstigen Katastrophen, die in die Zuständigkeit des ATF fielen. Marino und ich gehörten zwar nicht zum ATF, es war jedoch nichts Ungewöhnliches, dass diese und andere Polizeieinheiten uns bei Bedarf um Unterstützung baten. Allein zwischen 1993 und 1996 hatte ich die Bombenattentate auf das World Trade Center und das Murrah Federal Building in Oklahoma City sowie den Absturz von TWA-Flug 800 vor Long Island zu bearbeiten gehabt. Ich musste bei der Identifizierung der Mitglieder der Davidianer-Sekte in Waco helfen und die Toten untersuchen, die auf das Konto des Unabombers gingen. Ich wusste aus leidvoller Erfahrung, dass das ATF mich nur dann zu einem Einsatz hinzuzog, wenn Menschen zu Tode gekommen waren, und falls Marino ebenfalls angefordert wurde, lag der Verdacht nahe, dass es sich um Mord handelte.
»Wie viele?« Ich griff nach meiner Schreibunterlage.
»Es geht nicht darum, wie viele, Doc. Es geht darum, wer. Der Besitzer der Farm ist nämlich Kenneth Sparkes, der Medienmogul. Und gegenwärtig sieht’s so aus, als hätt er’s nicht geschafft.«
»O Gott«, murmelte ich. »Und das wissen wir genau?«
»Na ja, er wird jedenfalls vermisst.«
»Würde es dir etwas ausmachen, mir zu erklären, warum ich das erst jetzt erfahre?«
Ich fühlte Wut in mir aufsteigen und war kurz davor, sie an ihm auszulassen, denn sämtliche unnatürlichen Tode in Virginia gehörten in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich hätte nicht erst von Marino über diesen Fall informiert werden dürfen und ärgerte mich über mein Northern-Virginia-Büro, das mich nicht zu Hause angerufen hatte.
»Nun reg dich mal nicht über deine Docs in Fairfax auf«, sagte Marino, der meine Gedanken lesen zu können schien. »Fauquier County hat das ATF gebeten, den Fall zu übernehmen, sodass das der normale Dienstweg war.«
Es gefiel mir zwar immer noch nicht, aber es war an der Zeit, zur Sache zu kommen.
»Ich darf wohl annehmen, dass man noch keine Leiche entdeckt hat«, sagte ich und schrieb schnell mit.
»Zum Teufel, nein! Damit darfst du dich amüsieren.«
Ich ließ den Kugelschreiber einen Augenblick auf dem Notizblatt ruhen. »Marino, wir haben es mit dem Brand eines einzelnen Privathauses zu tun. Selbst wenn Verdacht auf Brandstiftung besteht und der Fall exponiert ist, sehe ich nicht, wieso das ATF sich dafür interessieren sollte.«
»Whiskey, Maschinengewehre, An- und Verkauf von Rassepferden; und schon sind sie im Geschäft«, antwortete Marino.
»Na großartig«, murmelte ich.
»Das kannst du laut sagen. Die Sache ist ein verdammter Alptraum. Der Fire Marshal wird dich später noch anrufen. Pack besser gleich deinen Koffer. Der Hubschrauber erwartet uns vor Tagesanbruch. Ungünstiges Timing, wie immer. Fürchte, ihr könnt euren Urlaub abschreiben.«
Benton und ich wollten eigentlich am Abend nach Hilton Head fahren und eine Woche am Meer verbringen. Wir hatten in diesem Jahr noch keine Zeit für uns allein gehabt und waren beide ausgelaugt und mit unseren Kräften am Ende. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken, nachdem ich aufgelegt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm. »Du wirst wohl mitbekommen haben, dass da ein Riesenunglück passiert ist.«
Ich zögerte, während ich ihn beobachtete. Er wollte mich nicht ansehen und fuhr fort, Carrie Grethens Brief zu entziffern.
»Ich muss dahin. Gleich morgen früh. Vielleicht kann ich ja Mitte der Woche zu dir stoßen.«
Er wandte sich ab, weil er davon nichts hören wollte.
»Bitte, versteh doch«, sagte ich zu ihm.
Er schien mich nicht zu hören, und ich wusste, er war schrecklich enttäuscht.
»Du hast doch diese Torso-Morde bearbeitet«, sagte er, während er las. »Diese Verstümmelungen in Irland und hier. ›Abgesägtes Bein‹. Dabei phantasiert sie über Lucy und masturbiert. Kommt unter der Bettdecke jede Nacht mehrmals zum Orgasmus. Angeblich.«
Sein Blick wanderte weiter den Brief hinab, während er mit sich selbst zu sprechen schien.
»Sie sagt, sie hätten immer noch ein Verhältnis, Carrie und Lucy«, murmelte er. »Dieses Wir-Gerede ist ihr Versuch, einen Fall von Persönlichkeitsspaltung vorzutäuschen. Sie sagt, sie ist nicht anwesend, wenn sie ihre Verbrechen begeht. Jemand anders begeht sie. Verschiedene Persönlichkeiten. Ein vorhersehbares und langweiliges Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit. Ich hätte gedacht, sie wäre ein bisschen origineller.«
»Sie ist absolut zurechnungsfähig«, antwortete ich in einer erneuten Anwallung von Zorn.
»Du und ich, wir wissen das.« Er nahm einen großen Schluck Evian aus einer Plastikflasche. »Woher kommt eigentlich der Name Lucy Boo?«
Ein Tropfen Wasser rann ihm das Kinn hinab, und er wischte ihn mit dem Handrücken weg.
Ich stockte einen Augenblick. »Ein Kosename, mit dem ich Lucy angeredet habe, bis sie in den Kindergarten kam. Dann wollte sie nicht mehr so genannt werden. Manchmal rutscht er mir noch heraus.« Ich schwieg erneut, als ich mich erinnerte, wie meine Nichte damals war. »Ich vermute, dass sie Carrie von diesem Kosenamen erzählt hat.«
»Na ja, wir wissen, dass es eine Zeit gab, da Lucy Carrie ziemlich vertraut hat.« Benton stellte nur fest, was ohnehin nicht zu übersehen war. »Sie war Lucys erste Geliebte. Und wir wissen auch, dass man das erste Mal nie vergisst, egal wie lausig es war.«
»Die meisten Menschen wählen sich allerdings fürs erste Mal keinen Psychopathen aus«, sagte ich und konnte es immer noch nicht fassen, dass Lucy genau das getan hatte.
»Die Psychopathen sind mitten unter uns, Kay«, sagte er, als hätte ich diesen Vortrag noch nie gehört. »Der attraktive, intelligente Mensch, der im Flugzeug neben dir sitzt, hinter dir in der Schlange steht, dir an einem x-beliebigen Ort begegnet, über das Internet Kontakt zu dir aufnimmt. Brüder, Schwestern, Klassenkameraden, Söhne, Töchter, Liebhaber. Sehen aus wie du und ich. Lucy hatte keine Chance. Gegen eine Carrie Grethen konnte sie nicht das Geringste ausrichten.«
Auf dem Rasen hinter meinem Haus wuchs zu viel Klee, aber das Frühjahr war unnatürlich kühl und ideal für meine Rosen gewesen. Jetzt krümmten sie sich und erzitterten im stürmischen Wind, und blasse Blütenblätter sanken zu Boden. Benton Wesley, der pensionierte Chef der Profiling-Abteilung des FBI, fuhr fort, seine Gedanken zu entwickeln.
»Carrie will Fotos von Gault. Fotos vom Tatort, Autopsiefotos. Du bringst ihr die, und im Gegenzug wird sie dir Einzelheiten liefern, die die Ermittlungen betreffen, forensische Juwele, die dir vermutlich entgangen sind. Solche, die der Anklage helfen könnten, wenn der Fall nächsten Monat zur Verhandlung kommt. Sie deutet an, dass dir etwas entgangen sein könnte. Und dass es in irgendeiner Weise mit Lucy zusammenhängt.«
Seine Lesebrille lag zusammengelegt neben seinem Tischset, und er entschied sich, sie aufzusetzen.
»Carrie möchte, dass du sie besuchen kommst. In Kirby.«
Sein Gesicht war angespannt, während er mich über die Brillengläser hinweg ansah.
»Das ist sie.«
Er zeigte auf den Brief.
»Sie taucht wieder auf. Ich wusste es.« Seine Stimme klang erschöpft.
»Was meint Carrie mit dem dunklen Licht?«, fragte ich und stand auf, weil ich keinen Augenblick länger sitzen bleiben konnte.
»Blut.« Er schien sich ganz sicher zu sein. »Als du Gault in den Oberschenkel gestochen und seine Arterie getroffen hast und er verblutet ist. Oder verblutet wäre, wenn nicht der Zug den Rest erledigt hätte. Temple Gault.«
Er nahm seine Brille wieder ab, innerlich aufgewühlt.
»Solange Carrie Grethen ihr Unwesen treibt, tut er es auch. Die bösen Zwillinge«, setzte er hinzu.
In Wirklichkeit waren sie keine Zwillinge, sondern hatten sich nur beide das Haar gebleicht und fast bis auf die Kopfhaut abrasiert. Sie waren von vorpubertärer Magerkeit und auf dieselbe geschlechtslose Weise gekleidet, als ich sie zuletzt in New York gesehen hatte. Sie hatten gemeinsam gemordet, wir hatten sie in der Bowery geschnappt, und ich hatte Temple Gault im U-Bahn-Tunnel getötet. Meine Aufgabe war es nicht, Verbrecher zu fassen oder zu töten. Doch Gault hatte es so gewollt. Er hatte es darauf angelegt, denn von meiner Hand zu sterben, hieß, mich auf ewig an ihn zu ketten. Ich kam von Temple Gault nicht los, obwohl er seit fünf Jahren tot war.
Grauenhafte Bilder quälten mich, von zerfetzten Gliedmaßen, die verstreut entlang blitzender Stahlgleise lagen, von zahllosen Ratten umgeben, die aus dem tiefen Schatten hervorhuschten, um sich über sein Blut herzumachen.
In meinen Alpträumen waren seine Augen eisblau, und die Iris war wie in Moleküle zersprungen, und ich hörte herandonnernde Züge, die Augen hatten wie Vollmonde und mich blendeten mit ihrem grellen Licht. Noch mehrere Jahre nachdem ich ihn getötet hatte, vermied ich es, Autopsien an Opfern von Zugunglücken vorzunehmen. Mir war das gesamte gerichtsmedizinische System Virginias unterstellt, sodass ich Fälle an meine Stellvertreter delegieren konnte, und genau das hatte ich auch getan. Selbst jetzt konnte ich Seziermesser mit ihrem kalten, scharfen Stahl noch nicht wieder mit dem gelassenen Blick von früher ansehen, weil Gault mich in die Situation gebracht hatte, ihm ein solches Messer ins Fleisch zu jagen. In Menschenmengen erblickte ich Männer und Frauen, die wie er aussahen, und nachts lag meine Pistole in der Nachttischschublade.
»Benton, warum duschst du nicht, und dann sprechen wir in aller Ruhe über unsere Pläne für die nächste Woche«, sagte ich und schüttelte Erinnerungen ab, die mir unerträglich waren. »Ein paar Tage für dich allein, lesen, Strandspaziergänge machen, das wäre doch genau das, was du brauchst. Und einsame Radtouren liebst du doch sowieso. Vielleicht täte es dir ganz gut, ein bisschen für dich zu sein.«
»Lucy muss Bescheid wissen.« Er stand ebenfalls auf. »Im Augenblick ist Carrie zwar eingesperrt, aber sie wird noch mehr Ärger machen, der Lucy mit hineinzieht. Genau das verspricht sie dir in ihrem Brief.«
Er verließ die Küche.
»Noch mehr Ärger kann sie wohl kaum machen!«, rief ich ihm nach und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter.
Benton blieb stehen.
»Sie kann Lucy in den Prozess hineinziehen. Ihr Privatleben öffentlich machen, überall für Schlagzeilen sorgen: New York Times, Presseagenturen, Hard Copy, Entertainment Tonight. Rund um die Welt: FBI-Agentin war lesbische Geliebte von geisteskranker Serienmörderin …«
»Lucy hat das FBI, mit all seinen Vorurteilen und Lügen und seiner ewigen Sorge, nach außen als das mächtige Bureau gut dazustehen, doch längst verlassen.« Tränen schossen mir in die Augen. »Da ist nichts mehr. Nichts, was sie noch tun könnten, um sie seelisch fertigzumachen.«
»Kay, hier geht es um weit mehr als nur um das FBI«, sagte er und klang resigniert.
»Benton, fang nicht wieder an …« Ich konnte nicht zu Ende sprechen.
Er lehnte in der Tür, die zu meinem Wohnzimmer führte, dem großen Zimmer, in dem ein Feuer im Kamin brannte, denn es war an diesem Tag nicht wärmer als sechzehn Grad geworden. Sein Blick wirkte gequält. Er mochte es nicht, wenn ich so mit ihm redete, und es drängte ihn nicht, in die Abgründe seiner eigenen Seele zu blicken. Es widerstrebte ihm, sich auszumalen, zu welchen Bösartigkeiten Carrie imstande wäre, und selbstverständlich sorgte er sich auch um mich. Ich würde in Carries Prozess als Zeugin vorgeladen werden. Ich war Lucys Tante. Vermutlich würde meine Glaubwürdigkeit als Zeugin angezweifelt, meine Aussage wertlos und mein Ruf ruiniert sein.
»Lass uns heute Abend essen gehen«, schlug Benton in freundlicherem Ton vor. »Wo möchtest du hingehen? Ins La Petite? Oder Bier und Barbecue bei Benny’s?«
»Ich mach uns etwas aus der Tiefkühltruhe warm.« Ich wischte mir die Augen. Die Stimme versagte mir. »Ich bin nicht sehr hungrig. Du?«
»Komm mal her«, sagte er liebevoll.
Ich fiel in seine Arme, und er drückte mich an seine Brust. Er schmeckte salzig, als wir uns küssten, und wie immer überraschte mich die geschmeidige Festigkeit seines Körpers. Ich lehnte den Kopf an seine Brust, und mein Haar verhakte sich in seinen Bartstoppeln, die so weiß waren wie der Strand, den ich diese Woche nicht sehen würde. Keine langen Spaziergänge im nassen Sand und keine langen Gespräche beim Abendessen im La Polla oder Charlie’s.
»Ich glaube, ich sollte hinfahren und mir anhören, was sie will«, murmelte ich schließlich in seinen warmen, feuchten Hals.
»Kommt überhaupt nicht infrage.«
»New York hat die Autopsie von Gault gemacht. Die Fotos davon habe ich nicht.«
»Carrie weiß verdammt genau, welcher Rechtsmediziner Gaults Autopsie gemacht hat.«
»Weshalb fragt sie mich dann, wenn sie es weiß?«, murmelte ich. Ich hielt die Augen geschlossen, während ich an ihn gelehnt stand. Er schwieg einen Augenblick, küsste wieder meinen Kopf und strich mir übers Haar.
»Du weißt doch, weshalb«, sagte er. »Sie will dich manipulieren, dich nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Was Menschen wie sie am besten können. Sie will, dass du ihr die Fotos besorgst. Damit sie sehen kann, wie aus Gault Hackfleisch gemacht wurde, damit sie sich an ihren Phantasien aufgeilen kann. Irgendwas hat sie vor, und das Verkehrteste, was du tun könntest, wäre, in irgendeiner Weise auf sie einzugehen.«
»Und dieses GKSWF – wofür mag das stehen?«
»Weiß ich nicht.«
»Und One Pheasant Place – Fasanenplatz Nr. 1?«
»Keine Ahnung.«
Wir standen lange im Eingang dieses Hauses, das ich immer noch ohne jede Einschränkung als meines betrachtete. Benton parkte sein Leben bei mir, wenn er nicht in diesem oder einem anderen Land als Berater in komplizierten, abartigen Fällen unterwegs war. Ich wusste, es störte ihn, dass ich ständig ich und meins sagte, obwohl wir nicht verheiratet waren und nichts von all dem, was wir besaßen, uns gemeinsam gehörte. Ich hatte die Lebensmitte hinter mir und war nicht bereit, mein Einkommen mit irgendjemandem zu teilen, Liebhaber und Familie eingeschlossen. Das klang selbstsüchtig, und vielleicht war es das auch.
»Was soll ich denn morgen machen, wenn du nicht da bist?«, kam Benton auf das leidige Thema zurück.
»Nach Hilton Head fahren und Lebensmittel einkaufen«, antwortete ich. »Dafür sorgen, dass jede Menge Bushmills Black Bush und Scotch da sind. Mehr als gewöhnlich. Und Sonnencreme mit Schutzfaktor 35 und 50 und Pecannüsse aus South Carolina, Tomaten und Vidalia-Zwiebeln.«
Mir standen wieder Tränen in den Augen, und ich räusperte mich.
»Sobald ich kann, nehme ich die nächste Maschine und komme nach, aber ich habe keine Ahnung, welche Ausmaße dieser Fall in Warrenton noch annehmen wird. Wir haben das doch alles schon tausendmal durchgemacht. Es ist doch nichts Neues. Die Hälfte der Zeit kannst du nicht weg, die restliche Zeit ich nicht.«
»Kann es sein, dass wir was falsch machen«, flüsterte er mir ins Ohr.
»Irgendwie scheinen wir es nicht anders zu wollen«, erwiderte ich und empfand vor allem ein überwältigendes Schlafbedürfnis.
»Vielleicht.«
Er beugte sich zu meinen Lippen hinab und ließ seine Hände zu bevorzugten Stellen meines Körpers gleiten.
»Vor der Suppe könnten wir doch ins Bett gehen.«
»Irgendetwas sehr Böses wird während dieses Prozesses geschehen«, sagte ich. Ich hätte mich ihm gern hingegeben, hatte jedoch nicht den Eindruck, dass ich dazu imstande war.
»Wir alle wieder in New York. Das FBI, du und Lucy, vereint bei Carries Prozess. Ich bin sicher, dass sie während der vergangenen fünf Jahre an nichts anderes gedacht hat und Ärger machen wird, soviel sie kann.«
Ich löste mich von ihm, als Carries spitzes, verzerrtes Gesicht plötzlich aus einem dunklen Winkel meines Bewusstseins hervorsprang. Ich erinnerte mich an die Zeit, als sie umwerfend hübsch war und mit Lucy nachts auf einem Picknicktisch in der Nähe des Schießstandes der FBI Academy in Quantico saß und rauchte. Immer noch hatte ich im Ohr, wie sie einander mit leisen, neckenden Stimmen aufzogen, und sah ihre erotischen Küsse vor mir, lange leidenschaftliche Küsse, und Hände, die sich in Haare verkrallten. Ich wusste noch, mit welch eigenartigem Gefühl im Bauch ich lautlos davoneilte, ohne dass sie ahnten, was ich gesehen hatte. Carrie hatte mit ihrem Werk begonnen, das Leben meiner einzigen Nichte zu ruinieren, und nun kam das groteske Finale.
»Benton«, sagte ich, »ich muss mich um meine Sachen kümmern.«
»Wie wär’s, wenn ich mich um deine Sachen kümmere.«
In dem hungrigen Verlangen nach nackter Haut hatte er Schicht für Schicht meine Kleidung beiseitegeschoben. Er begehrte mich immer umso mehr, je weniger harmonisch es zwischen uns war.
»Ich kann dich jetzt nicht beruhigen«, flüsterte ich. »Ich kann dir nicht versichern, dass alles gut wird, denn das wird nicht der Fall sein. Anwälte und Medien werden über Lucy und mich herfallen. Sie werden Kleinholz aus uns machen, und Carrie wird vielleicht ungeschoren davonkommen. So sieht’s aus!«
Ich umfasste sein Gesicht.
»Wahrheit und Gerechtigkeit. Auf die amerikanische Art«, schloss ich.
»Hör auf.«
Er erstarrte und sah mich durchdringend an.
»Fang nicht wieder damit an«, sagte er. »Früher warst du nicht so zynisch.«
»Ich bin nicht zynisch, und ich bin auch nicht diejenige, die mit irgendetwas angefangen hat!« Ich wurde immer wütender. »Ich habe nicht einem dreizehnjährigen Jungen Fleischstücke aus dem Oberschenkel geschnitten und ihn dann nackt mit einer Kugel im Kopf neben einem Müllcontainer liegen lassen. Und dann einen Sheriff und einen Gefängniswärter getötet. Und Jayne – Gaults eigene Zwillingsschwester. Erinnerst du dich, Benton? Erinnerst du dich? Central Park am Weihnachtsabend. Abdrücke nackter Füße im Schnee und ihr Blut, das aus einem Brunnen tropfte!«
»Natürlich erinnere ich mich. Ich war ja dort. Ich kenne die Einzelheiten genauso gut wie du.«
»Nein, kennst du nicht.«
Wütend entzog ich mich ihm und brachte meine Kleidung in Ordnung.
»Du musst deine Hände nicht in ihre zerstörten Körper stecken, sie berühren und ihre Wunden vermessen«, sagte ich. »Du hörst sie nicht sprechen, wenn sie tot sind. Du siehst nicht die Gesichter der Menschen, von denen sie geliebt wurden und die nun in meinem armseligen, ungemütlichen Wartezimmer sitzen, um sich grausame, unaussprechliche Wahrheiten anzuhören. Du siehst nicht, was ich sehe. O nein, du nicht, Benton Wesley. Du siehst nur säuberliche Akten, Hochglanzfotos und verlassene Tatorte. Du verbringst mehr Zeit mit den Mördern als mit denen, die durch sie ihr Leben verloren haben. Und vielleicht schläfst du ja auch besser als ich. Vielleicht träumst du noch, weil du keine Angst davor haben musst.«
Wortlos verließ er mein Haus, weil ich zu weit gegangen war. Ich war unfair und gemein gewesen, und was ich gesagt hatte, traf nicht einmal die Wahrheit. Benton kannte nichts anderes als unruhigen Schlaf. Er warf sich hin und her, murmelte vor sich hin und tränkte die Laken mit kaltem Schweiß. Er träumte nur selten, oder zumindest hatte er gelernt, sich nicht daran zu erinnern. Ich stellte Salz- und Pfefferstreuer auf die Ecken von Carrie Grethens Brief, damit er sich nicht wieder zusammenfaltete. Ihre spöttischen Worte, die mir so sehr zugesetzt hatten, waren von nun an Beweismittel und durften weder angefasst noch sonst einer Einwirkung ausgesetzt werden.
Magnesiumpulver oder Luma Lite würden vielleicht ihre Fingerabdrücke auf dem billigen weißen Papier zum Vorschein bringen, Proben ihrer Handschrift könnten Übereinstimmungen mit ihrer gekritzelten Botschaft ergeben. Das wäre der Beweis, dass sie diese verdrehte Botschaft kurz vor ihrem Mordprozess am Obersten Gerichtshof von New York City verfasst hatte. Die Geschworenen würden erkennen, dass sie sich nach fünf Jahren psychiatrischer Behandlung auf Kosten Steuern zahlender Bürger nicht geändert hatte. Dass sie keine Reue empfand. Dass sie sich noch immer an ihren Untaten weidete.
Ich war überzeugt, dass Benton irgendwo in der Nähe war, denn ich hatte seinen BMW nicht wegfahren hören. Ich rannte die frisch asphaltierten Straßen entlang, vorbei an großen stuckverzierten Villen aus rotem Klinker, bis ich ihn unter einem Baum entdeckte, von wo aus er reglos auf einen felsigen Abschnitt des James River hinausstarrte. Das Wasser sah frostig aus wie Glas, und Zirruswolken bildeten verwischte kalkige Streifen am verblassenden Himmel.
»Sobald ich wieder beim Haus bin, breche ich nach South Carolina auf. Ich bringe die Wohnung in Ordnung und besorge dir deinen Scotch«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Und den Black Bush.«
»Du brauchst doch heute Abend noch nicht zu fahren«, sagte ich und traute mich nicht, näher zu ihm hinzugehen, als das schräg einfallende Licht sein vom Wind bewegtes Haar beleuchtete. »Ich muss morgen früh aufstehen. Du kannst doch mit mir zusammen aufbrechen.«
Er schwieg und starrte zu einem Weißkopfadler hinauf, der mir gefolgt war, seit ich das Haus verlassen hatte. Benton hatte sich zwar eine rote Windjacke übergezogen, doch wie er dort stand in seinen klammen Laufshorts, die untergeschlagenen Arme an die Brust gepresst, sah er aus, als ob er frieren würde. Sein Adamsapfel bewegte sich, als er schluckte, und sein Schmerz strahlte von einem verborgenen Punkt, den wohl nur ich sehen durfte. In Augenblicken wie diesen wusste ich nicht, weshalb er es mit mir aushielt.
»Glaub nicht von mir, dass ich eine Maschine bin, Benton«, sagte ich leise.
Immer noch antwortete er nicht. Das Wasser plätscherte träge dahin, während es sich auf das Getöse der Staustufen zubewegte.
»Ich schlucke so viel, wie ich kann«, erklärte ich. »Ich schlucke mehr, als die meisten Menschen verkraften können. Erwarte nicht zu viel von mir, Benton.«
Der Adler kreiste über den Wipfeln der hohen Bäume, und Benton klang versöhnlicher, als er endlich sprach.
»Auch ich schlucke mehr, als die meisten Menschen verkraften können«, sagte er. »Teilweise, weil du es tust.«
»Ja, das stimmt für uns beide.«
Ich trat ganz nah hinter ihn und schob meine Arme um das glatte rote Nylon über seinen Hüften.
»Das weißt du auch verdammt genau.«
Ich schlang die Arme fest um ihn und grub mein Kinn in seinen Rücken.
»Einer deiner Nachbarn beobachtet uns«, sagte er. »Ich kann ihn hinter seiner Terrassentür sehen. Wusstest du schon, dass du in deiner piekfeinen Wohngegend einen Spanner hast?«
Er legte seine Hände über meine und spielte gedankenverloren mit meinen Fingern.
»Klar, wenn ich in deiner Nähe wohnte, würde ich auch zum Spanner«, setzte er hinzu, und sein Tonfall verriet mir, dass er lächelte.
»Du wohnst doch hier.«
»Hm. Ich schlafe hier bloß.«
»Lass uns über morgen sprechen. Wie immer werden sie mich so um fünf am Eye Institute aufgabeln«, erklärte ich ihm. »Ich denke, wenn ich um vier aufstehe …« Ich seufzte und fragte mich, ob das Leben immer so sein würde. »Du solltest über Nacht bleiben.«
»Ich stehe sicher nicht um vier auf.«
Der Morgen erwachte unerfreulicherweise auf einemflachen Feld, das sich im ersten Licht blau zu färben begann. Ich war um vier Uhr aufgestanden und Benton ebenfalls, weil er spontan beschlossen hatte, dass er doch lieber mit mir zusammen aufbrach. Wir hatten uns flüchtig geküsst und einander kaum angesehen, als wir zu unseren Wagen gingen, denn ein kurzer Abschied fiel immer leichter als einer, der sich dahinzog. Als ich jedoch die West Cary Street in Richtung Huguenot Bridge entlangfuhr, schien eine bleierne Schwere von meinem Körper Besitz zu ergreifen, und ich fühlte mich auf einmal ausgelaugt und traurig.
Wie ich aus Erfahrung wusste, war es unwahrscheinlich, dass ich Benton diese Woche sehen würde, und so würde es auch keine Erholungspause und keine Bücher und kein langes Ausschlafen geben. Brandschauplätze waren immer eine knifflige Angelegenheit, und darüber hinaus würde ein Fall, in den eine wichtige Persönlichkeit aus einem Nobelvorort von Washington verwickelt war, mir zusätzlich politische Scherereien und einen Haufen Papierkram eintragen. Je mehr Aufsehen ein Todesfall verursachte, desto mehr öffentlichen Druck konnte ich erwarten.
Das Eye Institute war unbeleuchtet. Es war nicht etwa eine medizinische Forschungsstätte und auch nicht zu Ehren irgendeines Wohltäters oder einer bedeutenden Persönlichkeit namens Eye benannt. Mehrmals im Jahr kam ich hierher, um meine Brillengläser anpassen oder einen Sehtest machen zu lassen, und es war jedes Mal seltsam, in unmittelbarer Nähe des Flugfelds zu parken, von dem aus ich oft in die Lüfte abhob, dem Chaos entgegen. Ich öffnete meine Wagentür, als das vertraute, ferne Geräusch des Hubschraubers sich über dunkles Wipfelgewoge heranbewegte, und stellte mir verbrannte Knochen und Zähne vor, die in geschwärztem, durchweichtem Schutt herumlagen. Ich stellte mir Sparkes’ elegante Anzüge und sein markantes Gesicht vor, und mich packte kaltes Entsetzen.
Die Kaulquappensilhouette flog unter einem abnehmenden Mond heran, während ich die wasserdichten Reisetaschen und den verschrammten Halliburton-Flugzeugkoffer aus Aluminium herausholte. Er enthielt meine gesamten gerichtsmedizinischen Instrumente und Hilfsmittel inklusive der Fotoausrüstung. Zwei Personen- und ein Lieferwagen verlangsamten ihre Fahrt auf der Huguenot Road – Vorboten des morgendlichen Stadtverkehrs, deren Fahrer einem tief fliegenden Hubschrauber vor der Landung einfach nicht widerstehen konnten. Die Neugierigen bogen auf den Parkplatz ein und stiegen aus, um auf den Helikopter zu starren, der in einem weichen Bogen die Luft durchschnitt, um Stromleitungen auszuweichen und Wasserlöcher, Unrat und allzu sandigen Boden zu vermeiden.
»Wird wohl Sparkes sein, den sie bringen«, sagte ein alter Mann, der in einem rostigen Plymouth unterwegs war.
»Könnte auch ein Organ sein, das sie herfliegen«, meinte der Fahrer des Lieferwagens, während er mir flüchtig den Blick zuwandte.
Ihre Worte wurden davongetragen wie dürres Laub, als der schwarze Bell LongRanger in geneigtem Winkel herandonnerte und unter präzisen Leuchtsignalen zur Landung ansetzte. Meine Nichte Lucy, die Pilotin, schwebte kurz in einem Wirbelwind von frisch gemähtem Gras, das in weißes Landelicht getaucht war, und setzte sanft auf. Ich griff nach meinen Habseligkeiten und stapfte in den Wind, der mir um die Ohren schlug. Das Plexiglas war so dunkel gefärbt, dass ich nicht hindurchsehen konnte, als ich die hintere Tür öffnete, doch ich erkannte den dicken Arm, der hinunterlangte, um mein Gepäck zu greifen. Ich kletterte hinauf, während weitere Autofahrer ihre Fahrt verlangsamten, um die Aliens zu beobachten, und Goldfäden sich durch die Wipfel zu weben begannen.
»Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst«, schrie ich fast, um das Knattern der Rotoren zu übertönen, während ich meine Tür verriegelte.
»Ich bin am Flughafen zugestiegen«, antwortete Pete Marino, als ich mich neben ihn setzte. »Das ist näher.«
»Ist es nicht.«
»Auf jeden Fall haben sie da Kaffee und ’n Klo«, sagte er, und ich wusste, die Reihenfolge ging anders. »Ich nehme an, Benton ist ohne dich in Urlaub gefahren«, setzte er hinzu, um abzulenken.
Lucy gab Gas, und die Blätter drehten sich schneller.
»Ich kann dir gleich sagen, ich hab ein ungutes Gefühl«, ließ er mich in seinem griesgrämigen Ton wissen, als der Hubschrauber leicht wurde und zu steigen begann. »Wir dürfen uns auf einiges gefasst machen.«
Marino war als Beamter der Mordkommission auf den Tod spezialisiert, konnte aber mit der Möglichkeit seines eigenen Ablebens überhaupt nicht umgehen. Er befand sich nicht gern in der Luft, schon gar nicht in einem Ding, das weder Flugbegleiter noch Flügel hatte. Die Richmond Times Dispatch lag in wirrem Durcheinander in seinem Schoß, und er weigerte sich, auf die rasch zurückweichende Erde und die ferne Silhouette der Stadt zu schauen, die sich langsam vor dem Horizont wie ein aufstehender Riese erhob.
Auf der Titelseite war der groß aufgemachte Bericht über das Feuer, zu dem auch eine aus großer Höhe aufgenommene AP-Luftaufnahme von Ruinen gehörte, die in der Dunkelheit schwelten. Ich las den Bericht Zeile für Zeile, erfuhr jedoch nichts Neues, denn die Titelgeschichte bestand überwiegend aus aufgewärmten Mutmaßungen, über Sparkes’ angeblichen Tod, über seine Macht und seinen verschwenderischen Lebensstil in Warrington. Ich hatte zwar nichts von seinen Pferden gewusst und folglich auch nicht, dass eines mit dem Namen Wind einmal als Letztes beim Kentucky Derby eingelaufen war und eine Million Dollar wert sein sollte. Ich war jedoch nicht überrascht. Sparkes war immer schon unternehmungslustig gewesen, sein Ego so gigantisch wie sein Stolz. Ich legte die Zeitung auf den Sitz gegenüber und stellte fest, dass Marinos Sicherheitsgurt geöffnet war und auf dem Boden lag.
»Was passiert, wenn wir plötzlich in schwere Turbulenzen geraten und du gerade nicht angeschnallt bist?« Ich sprach laut, um die Turbine zu übertönen.
»Dann verschütte ich meinen Kaffee.« Er rückte die Pistole an seiner Hüfte zurecht. Sein Khakianzug spannte an ihm wie eine Wurstpelle kurz vorm Platzen. »Falls du es nach all den Leichen, die du aufgeschnitten hast, noch nicht gemerkt haben solltest, Doc, wenn dieser Vogel abschmiert, wird dich ein Sicherheitsgurt auch nicht retten. Und Airbags ebenfalls nicht – selbst wenn es welche gäbe.«
In Wahrheit hasste er alles, was seine Körpermitte einschnürte, und er hatte sich angewöhnt, seine Hosen so tief zu tragen, dass ich mich wunderte, wie seine Hüften sie halten konnten. Papier knisterte, als er zwei Doughnuts aus einer Tüte fischte, die grau war vor Fett. Eine Zigarettenschachtel wölbte seine Hemdtasche, und sein Gesicht hatte die charakteristische Röte von erhöhtem Blutdruck. Als ich von meiner Heimatstadt Miami nach Virginia gezogen war, war er Inspector bei der Mordkommission gewesen, ein Mann so unerträglich wie begabt. Ich erinnerte mich an unsere ersten Begegnungen in der Leichenhalle, als er mich mit Mrs. Scarpetta ansprach, meine Mitarbeiter tyrannisierte und sich bei den Beweisstücken bediente, wie es ihm gerade passte. Er hatte Kugeln an sich genommen, noch ehe ich sie etikettieren konnte, bloß um mich wütend zu machen. Er hatte mit blutigen Handschuhen Zigaretten geraucht und Witze über Leichen gerissen, die einmal lebendige Menschen gewesen waren.
Ich schaute aus meinem Fenster auf die vorbeigleitenden Wolken. Wie rasch die Zeit vergangen war. Marino war fast fünfundfünfzig, ich konnte es nicht glauben. Mehr als elf Jahre hatten wir fast täglich zusammengearbeitet und uns gegenseitig geärgert.
»Auch einen?« Er hielt einen Doughnut in einem Stück Wachspapier in die Höhe.
»Ich will ihn nicht einmal ansehen«, sagte ich uncharmant.
Pete Marino wusste, wie sehr seine gesundheitsschädlichen Laster mich beunruhigten, er versuchte einfach nur, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Vorsichtig verrührte er noch mehr Zucker in seinem Kaffee.
»Wie steht’s mit Kaffee?«, fragte er mich. »Ich hab noch welchen.«
»Nein, danke. Wie wär’s mit einem Update?«, kam ich zur Sache, denn meine Anspannung wuchs. »Wissen wir seit gestern Abend schon mehr?«
»Das Feuer schwelt noch an manchen Stellen. Vor allem in den Ställen«, sagte er. »Viel mehr Pferde, als wir dachten. Müssen zwanzig gewesen sein, die da draußen zu Tode geschmort sind, Vollblüter, Reitpferde und zwei Fohlen mit Rennpferdstammbäumen. Und natürlich haben Sie von dem einen gehört, das beim Derby gelaufen ist. Allein die Versicherungssumme! Ein sogenannter Zeuge hat behauptet, sie hätten geschrien wie Menschen.«
»Was denn für ein Zeuge?« Zum ersten Mal hörte ich davon.
»Da haben sich alle möglichen Wichtigtuer gemeldet und behauptet, sie hätten dies gesehen und wüssten das. Immer derselbe Scheiß, wenn ein Fall ’ne Menge Aufsehen erregt. Und man braucht ja wohl kein Augenzeuge zu sein, um zu wissen, dass die Pferde geschrien und die Stalltüren einzutreten versucht haben.« Seine Stimme wurde granithart. »Den Hurensohn kriegen wir, der das gemacht hat. Wollen wir doch mal sehen, wie er das findet, wenn ihm der Arsch in Flammen steht.«
»Wir wissen doch noch gar nicht, ob es da einen Hurensohn gibt, jedenfalls ist es nicht erwiesen«, erinnerte ich ihn. »Bis jetzt hat noch niemand gesagt, dass es Brandstiftung war, obwohl ich mir natürlich denken kann, dass man dich und mich nicht gerufen hat, damit wir mal an die frische Luft kommen.«
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Aussicht vor seinem Fenster.
»Ich hasse es, wenn Tiere leiden müssen.« Er verschüttete Kaffee auf sein Knie. »Mist.« Wütend starrte er mich an, als ob mich irgendeine Schuld träfe. »Tiere und Kinder. Schon der Gedanke lässt mich kotzen.«
Der prominente Mann, der vielleicht im Feuer umgekommen war, schien ihn nicht weiter zu kümmern, doch ich kannte Marino gut genug, um zu wissen, dass er seine Gefühle immer so ausrichtete, wie er sie am besten ertragen konnte. Er verabscheute Menschen nicht halb so sehr, wie er andere glauben machen wollte, und als ich mir konkret vorstellte, was er gerade eben geschildert hatte, sah ich Vollblüter und Fohlen, denen die nackte Angst in den Augen stand.
Ich fand es unerträglich, mir Schreie vorzustellen, panisches Hufeschlagen und splitterndes Holz. Flammen waren wie Lava über die Farm in Warrenton mit dem herrschaftlichen Haus, den Ställen, dem fassgereiften Whiskey und der Waffensammlung hinweggewalzt. Das Feuer hatte nichts übrig gelassen als die nackten Mauern.
Ich blickte an Marino vorbei ins Cockpit, wo Lucy ins Funkgerät sprach und Kommentare an ihren ATF-Co-Piloten abgab, während beide mit einem Kopfnicken auf einen Chinook-Hubschrauber unterhalb des Horizonts und ein Flugzeug wiesen, das so weit weg war, dass es aussah wie ein Glassplitter. Die Sonne stieg langsam höher, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, während ich meine Nichte beobachtete und der alte Schmerz zurückkehrte.
Sie hatte das FBI verlassen, weil es das FBI so wollte. Sie hatte ihr selbst entwickeltes Computersystem, das mit künstlicher Intelligenz arbeitete, aufgegeben, und die Roboter, die sie programmiert hatte, und die Hubschrauber, die sie für ihr geliebtes Bureau zu fliegen gelernt hatte. Lucy hatte sich von ihrem eigenen Herzen getrennt und war für mich seither nicht mehr erreichbar gewesen. Mir war nicht danach, mit ihr über Carrie zu sprechen.
Stumm lehnte ich mich zurück und begann, meine Notizen zum Warrenton-Fall durchzusehen. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, mich ohne Rücksicht auf meine Sorgen oder Stimmungen auf einen Punkt zu konzentrieren. Ich spürte, wie Marino wieder zu mir rüberstarrte, während er die Zigarettenschachtel in seiner Hemdtasche berührte, um sich zu vergewissern, dass er nicht ohne sein Suchtmittel war. Das Knattern und Flattern der Rotorblätter wurde laut, als er sein Fenster aufschob und eine Zigarette aus der Schachtel klopfte.
»Lass es«, sagte ich, während ich umblätterte, »denk nicht mal dran.«
»Ich sehe kein Rauchverbotsschild«, sagte er und schob sich eine Marlboro in den Mund.
»Das siehst du doch nie, und wenn alles damit vollgepflastert ist.« Ich widmete mich weiter meinen Notizen und stutzte bei einer Äußerung, die der Fire Marshal gestern am Telefon gemacht hatte.
»Brandstiftung zum eigenen Vorteil?« Ich blickte auf. »Soll das heißen, der Besitzer, Kenneth Sparkes, wäre vielleicht aus Versehen von seinem selbst gelegten Feuer überrascht worden? Worauf stützt sich diese Behauptung?«
»Sparkes – Funken – wenn so kein Brandstifter heißt?«, sagte Marino. »Er muss der Schuldige sein.« Lustvoll inhalierte er den Rauch. »Und wenn er es ist, hat er bekommen, was er verdient. Du weißt doch, man kriegt sie zwar von der Straße runter, die Straße aber nicht aus ihren Köpfen raus.«
»Sparkes ist nicht auf der Straße aufgewachsen, und übrigens war er Rhodes-Stipendiat.«
Marino ignorierte meine Antwort. »Ich weiß noch, wie dieser Scheißkerl nichts Besseres zu tun hatte, als durch sein Presse-Imperium die Polizei runterputzen zu lassen. Jeder wusste, dass er in Kokain und Frauen machte. Nur dass wir es nicht beweisen konnten, weil keiner gewagt hat, das Schweigen zu brechen.«
»Ganz richtig, keiner konnte es beweisen«, sagte ich. »Und du kannst doch nicht jemanden bloß wegen seines Namens oder seiner Verlagspolitik der Brandstiftung verdächtigen.«
»Zufällig hast du’s hier aber mit einem Experten in Sachen komische Typen und deren Namen zu tun. Sag mir, wie du heißt, und ich sage dir, welchen Hau du hast.« Marino schenkte sich Kaffee nach und nahm einen tiefen Zug. »Butcher der Serienkiller. Childs der Pädophile. Mr. Bury, der seine Opfer auf Friedhöfen verbuddelte. Und dann Dr. Gay – hat fünf Schwule ermordet.« Er sah mich an. »Hat denen die Augen ausgestochen.«
Ich wollte mir das alles so früh am Morgen nicht anhören und griff nach meinem Kopfhörer, damit ich Marino ausblenden und stattdessen mithören konnte, was im Cockpit geredet wurde.
Er schenkte sich noch einen Kaffee ein, als hätte er keine Probleme mit Prostata und Blase.
»Ich hab die ganzen Jahre eine Liste geführt. Hab ich nie jemandem erzählt. Nicht mal dir, Doc. Man schreibt solchen Scheiß nicht auf, nur um ihn wieder zu vergessen.« Er nippte an seiner Tasse. »Ich glaube, dass es dafür einen Markt gibt. Könnte vielleicht eins von diesen Büchlein werden, die es an der Supermarktkasse zu kaufen gibt.«
Ich setzte die Kopfhörer auf, blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Felder und ländliche Anwesen langsam in Häuser mit großen Scheunen und langen, geteerten Zufahrten übergingen. Kühe und Kälber bildeten schwarze Flecken auf eingezäunten Grasflächen, und ein Schlepper wirbelte Staub auf, während er langsam an heubedeckten Feldern vorüberfuhr.
Langsam verwandelte sich die Landschaft zum wohlhabenden Warrenton, wo die Kriminalitätsrate niedrig war und zu den herrschaftlichen Häusern nicht nur Hunderte von Morgen Land, sondern auch Gästehäuser, Tennisplätze, Schwimmbäder und edle Reitställe gehörten. Wir flogen flach über private Landebahnen und Seen mit Enten und Gänsen. Selbst Marino schaute aus dem Fenster.
Unsere Piloten schwiegen eine Zeit lang, während sie darauf warteten, in den Sendebereich des Bodenfunks zu kommen. Dann hörte ich Lucys Stimme. Sie wechselte die Frequenz und begann zu sprechen.
»Echo eins, hier Helikopter 9-1-9 Delta Alpha. Teun, hören Sie mich?«
»Bestätigt, 9-1-9 Delta Alpha«, ertönte die Stimme von T.N. McGovern, der Einsatzleiterin.
»Wir befinden uns zehn Meilen südlich, fliegen ein, um zu landen. Passagiere an Bord«, sagte Lucy, »geschätzte Landezeit etwa acht Uhr.«
»Verstanden. Hier oben fühlt sich’s an wie Winter und wird überhaupt nicht wärmer.«
Lucy wechselte auf die Frequenz des Automated Weather Observation Service, kurz AWOS, und ich hörte eine lange automatische Ansage: die aktuellsten Daten wie Windrichtung, Sichtverhältnisse, Bewölkung, Temperatur, Taupunkt und Luftdruckverhältnisse. Ich war nicht gerade begeistert zu hören, dass die Temperatur um fünf Grad Celsius gefallen war, seit wir von zu Hause aufgebrochen waren, und stellte mir vor, dass sich Benton jetzt auf dem Weg in den Süden befand.
»Dort drüben regnet es«, sagte Lucys Co-Pilot in sein Mikrophon.
»Das ist mindestens zwanzig Meilen westlich, und der Wind kommt aus Ost«, sagte Lucy. »Tolles Juniwetter.«
»Sieht so aus, als käme da wieder ein Chinook in unsere Richtung, unterhalb des Horizonts.«
»Dann machen wir uns mal besser bemerkbar«, sagte Lucy und wechselte wieder die Frequenz. »Chinook über Warrenton, hier Heli 9-1-9 Delta Alpha, sind Sie auf dieser Frequenz? Wir sind in Richtung drei Uhr von Ihnen, zwei Meilen nördlich, tausend Fuß Höhe.«
»Wir sehen Sie, Delta Alpha«, antwortete der Doppelrotor-Hubschrauber der Army. »Guten Flug noch.«
Meine Nichte drückte zweimal kurz den Sendeknopf. Ihre ruhige, tiefe Stimme, die durch den Äther schnitt, klang fremd in meinen Ohren. Ich hörte weiter mit und schaltete mich ein, sobald es ging.
»Was höre ich da von Wind und Kälte?«, fragte ich und starrte auf Lucys Hinterkopf.
»Zwanzig, in Böen fünfundzwanzig aus Ost«, hörte ich sie in meinem Kopfhörer sagen. »Wird noch schlimmer. Seid ihr okay dahinten?«
»Uns geht’s prima«, sagte ich und musste wieder an Carries wahnsinnigen Brief denken.
Lucy flog im blauen ATF-Drillichanzug, eine Cébé-Sonnenbrille verdunkelte ihre Augen. Sie hatte sich das Haar wachsen lassen, das anmutig in Locken bis auf ihre Schultern fiel. Mit seinem exotischen Glanz erinnerte es mich an rotes Jarrah-Holz und glich so gar nicht meinen eigenen silberblonden Strähnen. Ich stellte mir den leichten Druck ihrer Hand auf den Steuerknüppel vor, während sie die Pedale betätigte, um den Hubschrauber in der Geraden zu halten.
Sie hatte das Fliegen so leicht gelernt wie alles andere, das sie je versucht hatte. Ihre Flugscheine für den privaten und den gewerblichen Flugverkehr hatte sie mit der Mindestzahl der geforderten Flugstunden gemacht und als Nächstes die Fluglehrerprüfung abgelegt, weil es ihr Vergnügen bereitete, andere von ihren Talenten profitieren zu lassen.
Ich brauchte keine Ankündigung mehr, dass wir das Ziel unserer Reise bald erreicht hätten, als wir Wald überflogen, in dem gefällte Bäume kreuz und quer umherlagen wie aufs Geratewohl hingeworfene Teile eines Holzbaukastens. Feldwege und schmale Straßen wanden sich durch die Landschaft, und hinter sanften Hügeln verwandelten graue Wolken sich in undeutliche Säulen müden Rauchs, die ein todbringendes Inferno zurückgelassen hatten. Kenneth Sparkes’ Farm war eine erschreckende schwarze Grube, die verbrannte Erde einer immer noch schwelenden Schlächterei.
Das Feuer hatte eine mörderische Spur gezogen, und aus der Luft folgte mein Blick den Verwüstungen, die aus prächtigen Steingebäuden, Ställen und Scheunen verkohlte Mauern gemacht und das ganze Gelände entblößt hatten. Löschwagen waren an mehreren Stellen über den weißen Zaun hinweggerollt, der das Anwesen umgab, und hatten ganze Morgen sorgfältig gepflegten Rasens aufgewühlt. Meilenweit zogen sich Weideland und eine schmale öffentliche Asphaltstraße dahin, dann kam ein Tochterwerk der Virginia Power und noch weiter hinten andere prächtige Wohnhäuser.
Um kurz vor acht hatten wir Sparkes’ privilegierten Wohnsitz in Virginia erreicht und landeten weit genug von den Ruinen entfernt, dass der Wind unserer Rotorblätter sie unbehelligt ließ. Marino stieg aus und ging ohne mich weiter. Ich wartete darauf, dass unsere Piloten den Hauptrotor abstellten.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich zu Special Agent Jim Mowery, der heute neben Lucy gesessen hatte.
»Sie ist geflogen.«
Er ließ die Gepäckklappe aufspringen.
»Ich bind ihn fest, falls ihr gleich losziehen wollt«, sagte er zu meiner Nichte.
»Sieht so aus, als bekämst du das Ding allmählich in den Griff«, zog ich Lucy auf, während wir losgingen.
»Ich komm schon klar«, meinte sie. »Bitte lass mich eine der Taschen tragen.«
Sie nahm mir meinen Aluminiumkoffer ab, der in ihrer festen Hand nicht viel zu wiegen schien. Wir gingen nebeneinander her, gleich gekleidet, wenn ich auch weder Pistole noch Funkgerät bei mir hatte, beide in stahlkappenverstärkten Stiefeln, die schon ziemlich abgenutzt waren. Schwarzer Matsch saugte sich an unseren Sohlen fest, als wir uns der kleinen grauen Traglufthalle näherten, die während der nächsten paar Tage unsere Kommandozentrale sein würde. Daneben geparkt stand der große weiße Pierce-Truck mit dem Siegel des Department of the Treasury, den Rundumleuchten und der leuchtend blauen Aufschrift ATF Explosives Investi-gation.
Lucy lief einen Schritt vor mir her, ihr Gesicht im Schatten einer dunkelblauen Schirmmütze. Sie war nach Philadelphia versetzt worden und würde bald aus Washington wegziehen, und allein bei dem Gedanken fühlte ich mich alt und verbraucht. Sie war erwachsen. Sie war genauso erwachsen geworden, wie ich es in ihrem Alter gewesen war, und ich wollte nicht, dass sie noch weiter wegzog. Doch das hätte ich ihr nicht gesagt.
»Das hier sieht ziemlich übel aus«, sagte sie. »Zumindest ist der Keller nicht tief, aber es gibt nur eine Öffnung. Also steht das meiste Löschwasser da unten drin wie in einem Teich. Wir haben bereits einen Lastwagen mit Pumpen angefordert.«
»Wie tief?«
Ich dachte an die Tausende Liter Wasser aus den Löschschläuchen und stellte mir eine kalte schwarze Brühe vor, in der es von bedrohlichem Treibgut nur so wimmelte.
»Kommt drauf an, wo du den Fuß hinsetzt. Wenn ich du wäre, hätte ich diesen Einsatz nicht angenommen«, sagte sie auf eine Weise, dass ich mich unerwünscht fühlte.
»Doch, hättest du«, sagte ich gekränkt.
Lucy hatte noch nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig sie davon hielt, mit mir gemeinsam einen Fall zu bearbeiten. Sie war nicht unhöflich, tat jedoch oft so, als kenne sie mich kaum, wenn sie mit ihren Kollegen zusammen war. Ich erinnerte mich noch an frühere Jahre, als ich sie an der Uni besuchte und sie nicht wollte, dass andere Studenten uns zusammen sahen. Ich wusste, dass sie sich meiner zwar nicht schämte, mich aber als einen überwältigenden Schatten empfand, der auf ihr Leben fiel, obwohl ich mich sehr angestrengt hatte, ebendies zu vermeiden.
»Hast du schon fertig gepackt?«, fragte ich sie mit einer Ungezwungenheit, die unecht war.
»Erinnere mich bloß nicht daran«, sagte sie.
»Aber du willst immer noch hin?«
»Na klar. Es ist eine großartige Chance.«
»Ja, das ist wahr, und ich freue mich sehr für dich«, sagte ich.
»Wie geht es Janet? Ich weiß, das muss schwer für sie sein …«
»Es ist ja nun nicht so, dass wir in verschiedenen Hemisphären sein werden«, schnitt mir Lucy das Wort ab.
Ich wusste es besser und sie auch. Janet war FBI-Beamtin. Die beiden waren seit Beginn ihrer Ausbildung in Quantico ein Paar. Mittlerweile arbeiteten sie für verschiedene Polizeieinheiten und würden nun bald auch in verschiedenen Städten wohnen. Es war durchaus möglich, dass der Verlauf ihrer Karriere ihre Beziehung für alle Zeit beenden würde.
»Meinst du, wir können uns heute irgendwo eine Minute stehlen, um miteinander zu reden?«, fragte ich nach einer Weile, während wir uns einen Weg zwischen den Pfützen hindurch suchten.
»Bestimmt. Wenn wir hier fertig sind, trinken wir zusammen ein Bier, falls wir in dieser Pampa eine offene Bar finden«, antwortete sie gegen den stärker werdenden Wind.
»Mir ist es gleich, wenn’s spät wird«, setzte ich hinzu.
»Da wären wir«, murmelte Lucy mit einem Seufzer, als wir uns dem Zelt näherten. »He, Leute«, rief sie, »wo geht’s denn hier zur Party?«
»Du bist schon mittendrin.«
»Doc, machen Sie neuerdings auch Hausbesuche?«
»Ach was, sie ist nur der Babysitter von Lucy.«
Außer Marino und mir war das NRT bei diesem Einsatz mit neun Männern und zwei Frauen vertreten, die Einsatzleiterin McGovern inbegriffen. Wir trugen alle die gleichen vertrauten dunkelblauen Drillichanzüge, die verschlissen und geflickt und so abgetragen wie unsere Stiefel waren. Einige der Beamten waren laut schwatzend um die hintere Ladeklappe des Trucks versammelt. Sein Inneres war mit blankem Aluminium verkleidet. Es gab Regale und Klappsitze, die Fächer außen waren mit Rollen von gelbem Absperrband, Kehrschaufeln, Spitzhacken, Scheinwerfern, Reisigbesen, Brechstangen und einer Motorsäge bepackt.
Abgesehen von Computer, Kopierer und Faxgerät, war unser mobiles Hauptquartier mit hydraulischem Streu- und Spritzgerät, Ramme, Schlagbohrer und Seitenschneider ausgerüstet, kurz, mit allem, was dazu dienen konnte, Hindernisse zu beseitigen oder menschliches Leben zu retten. Tatsächlich fiel mir kaum etwas ein, das der Truck nicht hatte, außer vielleicht einer Kombüse und, wichtiger noch, einer Toilette.
Ein paar Beamte hatten damit begonnen, Stiefel, Harken und Schaufeln in Plastikwannen mit seifigem Wasser zu reinigen. Das war ein nicht enden wollendes Unterfangen, und bei kaltem Wetter wurden Hände und Füße nie trocken oder warm. Damit bei Gerichtsverhandlungen bezüglich der Spuren von Brandbeschleunigern keine falschen Schlüsse gezogen werden konnten, wurden sogar die Auspuffrohre der Lastwagen gewaschen, um Ölreste zu entfernen. Sämtliche anderen Geräte wurden statt mit Benzin durch Strom oder per Hydraulik angetrieben.
McGovern saß an einem Tisch im Innern des Zeltes. Sie hatte die Reißverschlüsse ihrer Stiefel geöffnet und hielt eine Schreibunterlage auf den Knien.
»Also dann«, wandte sie sich an ihr Team. »Das meiste haben wir ja schon auf der Feuerwache besprochen, wo ihr leider ohne anständigen Kaffee und Doughnuts auskommen musstet«, und sie setzte mit Rücksicht auf die gerade erst Eingetroffenen hinzu: »Doch gehen wir das Ganze noch einmal durch. Was wir bis jetzt wissen, ist, dass das Feuer vermutlich vorgestern Abend, am Siebten, um zwanzig Uhr ausgebrochen ist.«
McGovern war ungefähr in meinem Alter und in der Außenstelle von Philadelphia stationiert. Ich sah sie an, erkannte in ihr Lucys neue Mentorin und spürte, wie ich mich verkrampfte.
»Jedenfalls ist das die Zeit, als im Haus der Feueralarm losging«, fuhr McGovern fort. »Als die Feuerwehr eintraf, stand das Haus bereits in Flammen. Die Ställe brannten. Die Löschwagen konnten letztlich nicht nah genug heranfahren, um irgendetwas zu unternehmen, sondern sich nur ringsum aufstellen und die Flammen ersäufen. Oder es jedenfalls versuchen. Schätzungsweise befinden sich ungefähr hundertdreißigtausend Liter Wasser im Untergeschoss. Das heißt etwa sechs Stunden, um es vollständig herauszupumpen, wenn alle vier Pumpen arbeiten und wir nicht alle naselang eine Verstopfung haben. Und nebenbei gesagt, Strom gibt es keinen, aber die lokale Feuerwehr ist so freundlich, im Innern des Hauses Lichter aufzustellen.«
»Wie lang war denn die Zeit zwischen Alarm und Eintreffen der Löschwagen?«, fragte Marino.
»Siebzehn Minuten«, antwortete sie. »Sie mussten erst mal die Leute zusammentrommeln. Das läuft hier alles auf freiwilliger Basis.«
Jemand stöhnte laut.
»Nun seid mal nicht so streng mit ihnen. Sie haben jeden Tankwagen in der Gegend genutzt, um Wasser herzubringen, das war also nicht das Problem«, wies McGovern ihre Mannschaft zurecht. »Das Ding ging hoch wie ein Heuschober, und es war zu windig für Schaum, obwohl der, wie ich glaube, sowieso nichts genützt hätte.« Sie stand auf und ging auf den Pierce-Truck zu. »Ausschlaggebend ist, dass es sich um ein schnelles, heißes Feuer gehandelt hat. Das können wir mit Bestimmtheit sagen.«
Sie öffnete eine rot getäfelte Tür und begann, Harken und Schaufeln zu verteilen.
»Was hingegen den Brandherd oder die Brandursache betrifft, tappen wir völlig im Dunkeln«, fuhr sie fort. »Es wird jedoch angenommen, dass Kenneth Sparkes, der Zeitungstycoon, im Haus war und es nicht nach draußen geschafft hat. Weshalb wir ja auch den Doc hergeholt haben.«
McGovern sah mich direkt an. Ihr Blick war so durchdringend, dass ihm schwerlich etwas entgehen konnte.
»Weshalb nehmen wir an, dass er zu der Zeit im Haus war?«, fragte ich.
»Erstens wird er vermisst. Und dann steht hinterm Haus ein ausgebrannter Mercedes. Wir haben die Fahrgestellnummer noch nicht überprüft, nehmen jedoch an, dass es seiner ist«, antwortete einer der Brandermittler.
»Und der Hufschmied, der seine Pferde beschlägt, war zwei Tage vor dem Feuer gerade erst hier gewesen, am Donnerstag, dem Fünften, und da war Sparkes zu Hause, und nichts deutete darauf hin, dass er irgendwohin wollte.«
»Wer hat sich denn um seine Pferde gekümmert, wenn er unterwegs war?«, fragte ich.
»Das wissen wir nicht«, sagte McGovern.
»Ich hätte gern den Namen und die Telefonnummer des Hufschmieds«, sagte ich.
»Kein Problem. Kurt?«, sagte sie zu einem ihrer Beamten.
»Ich hab sie.« Er blätterte in einem Spiralblock. Seine jungen Hände waren grob und rau von der jahrelangen Arbeit.
McGovern holte hellblaue Helme aus einem anderen Fach und warf sie den Leuten zu, während sie jedem Einzelnen seine Aufgabe zuteilte.
»Lucy, Robby, Frank, Jennifer, ihr seid mit mir zusammen in dem Loch. Bill, Sie halten sich zur allgemeinen Verfügung, und Mick wird ihm helfen, da das heute Bills erster NRT-Einsatz ist.«
»Der Glückliche.«
»Oje, eine Jungfrau.«
»Lasst den Scheiß, Leute«, sagte Bill. »Meine Frau hat heute ihren Vierzigsten. Sie wird nie wieder ein Wort mit mir reden.«
»Rusty hat die Verantwortung für den Truck«, fuhr McGovern fort. »Marino und Doc Scarpetta kommen zum Einsatz, wie sie gebraucht werden.«
»Hatte Sparkes irgendwelche Drohungen erhalten?«, fragte Marino, weil es sein Job war, von Mord auszugehen.
»In dem Punkt wissen wir auch nicht mehr als Sie«, sagte Brandermittler Robby.
»Und was hat es mit diesem angeblichen Zeugen auf sich?«
»Der hat sich telefonisch gemeldet«, erklärte er. »Ein Mann, er wollte seinen Namen nicht nennen, und der Anruf kam von auswärts, sodass wir keinen Anhaltspunkt haben. Keine Ahnung, ob das ernst zu nehmen ist.«
»Aber er hat doch gesagt, er hätte die Pferde gehört, als sie starben«, hakte ich nach.
»Ja. Hätten geschrien wie Menschen.«
»Hat er denn erklärt, wie er so nah dran sein konnte, um das zu hören?« Ich begann wieder, mich aufzuregen.
»Er hat behauptet, er hätte das Feuer von Weitem gesehen und sei rangefahren, um es aus der Nähe zu beobachten. Behauptet, er hätte fünfzehn Minuten zugeschaut und sich dann schleunigst aus dem Staub gemacht, als er die Feuerwehr anrücken hörte.«
»Das ist mir neu, und es gefällt mir gar nicht«, sagte Marino düster. »Was er sagt, deckt sich mit der Zeit zwischen Alarm und Eintreffen der Feuerwehr. Und wir wissen ja, wie gern diese Brandstifter noch am Tatort herumlungern, um ihre Feuer brennen zu sehen. Haben Sie ’ne Ahnung, welche Hautfarbe?«
»Ich habe nicht länger als dreißig Sekunden mit ihm gesprochen«, antwortete Robby. »Er hatte jedoch keinen auffälligen Akzent. Sprach leise und sehr ruhig.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, denn die Enttäuschung, nicht zu wissen, wer dieser Zeuge war und ob es ihn wirklich gab, war groß. McGovern kehrte zu ihrem Dienstplan für den Tag zurück.
»Johnny Kostylo, unser geschätzter Öffentlichkeitsreferent in Philadelphia, wird sich um die Medien und die lokalen Größen kümmern, etwa um den Bürgermeister von Warrenton, der schon aufgekreuzt ist, weil er nicht will, dass seine Stadt in ein schiefes Licht gerät.«
Sie blickte von ihrem Klemmbrett auf und musterte unsere Gesichter.
»Einer unserer Versicherungsspezialisten ist unterwegs«, fuhr sie fort, »und Pepper wird in Kürze eintreffen, um uns zu helfen.«
Mehrere Beamte quittierten die Mitteilung mit anerkennenden Pfiffen für Pepper, den Brandermittlungshund.
»Und Gott sei Dank hat Pepper mit Alkohol nichts am Hut.«
McGovern setzte ihren eigenen Helm auf. »Da drin gibt’s nämlich etwa fünftausend Liter Bourbon.«
»Wissen wir darüber schon mehr?«, fragte Marino. »Wissen wir, ob Sparkes das Zeug vielleicht selbst hergestellt und verkauft hat? Ich meine, das ist ’ne Wahnsinnsmenge Alk für einen einzigen Kerl.«
»Allem Anschein nach hat Sparkes so ziemlich alles gesammelt, was im Leben gut und teuer ist.« McGovern sprach, als sei Sparkes mit Sicherheit tot. »Bourbon, Zigarren, automatische Waffen, teure Pferde. Wir wissen nicht, inwieweit das alles legal war, was einer der Gründe ist, weshalb ihr beide hier seid und nicht die vom FBI.«
»Tut mir ja leid, dass ich das sagen muss, aber die Feebs schnüffeln hier bereits herum. Wollen wissen, wie sie sich nützlich machen können.«
»Wie lieb von ihnen.«
»Vielleicht können sie uns ja zeigen, wo’s langgeht.«
»Wo sind sie?«, fragte McGovern.
»In einem weißen Suburban etwa anderthalb Kilometer die Straße runter. Es sind drei. Sie drücken sich da in ihren FBI-Jacken herum und sprechen bereits mit den Medien.«
»Mist. Immer da, wo die Kameras sind.«
Gestöhne und abfälliges Gelächter über die Feebs, wie das ATF die FBI-Beamten abfällig nannte. Es war kein Geheimnis, dass die beiden Einheiten der Bundespolizei einander nicht grün waren und das FBI sich gewohnheitsmäßig alle Federn an den Hut steckte, wenn sie ihm auch nicht immer zustanden.
»Wo wir gerade von Nervensägen sprechen«, meldete sich ein anderer zu Wort, »das Budget Motel nimmt keine American-Express-Karten. Wir haben uns schon den Mund fusselig geredet – sollen wir jetzt unsere eigenen Kreditkarten benutzen?«
»Und obendrein gibt es nur bis sieben Uhr Zimmerservice.«
»Ist sowieso ein Scheißladen.«
»Gibt’s irgendeine Aussicht, dass wir umziehen können?«
»Ich kümmere mich drum«, versprach McGovern.
»Dafür lieben wir Sie ja so.«
Ein knallroter Feuerwehrwagen holperte über die ungeteerte Zufahrt und wirbelte Staub und Steinchen auf. Es war die erwartete Hilfe, die mit dem Abpumpen des Wassers aus der Brandruine beginnen sollte. Zwei Feuerwehrleute in beschichteten Anzügen und hohen Gummistiefeln stiegen aus und besprachen sich kurz mit McGovern, ehe sie mehrere Schläuche abrollten, die an Filter angeschlossen waren. Sie legten sie sich über die Schultern, schleppten sie ins Innere der steinernen Hülle des Hauses und ließen sie an vier verschiedenen Stellen ins Wasser fallen. Dann kehrten sie zum Löschwagen zurück, stellten schwere, tragbare Prosser-Pumpen auf den Boden und schlossen Verlängerungskabel an den Generator an. Bald wurde der Motorenlärm sehr laut. Die Schläuche schwollen an mit schmutzigem Wasser, das durch sie hindurchschoss und sich auf den Rasen ergoss.