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Dr. Kay Scarpetta reist nach Dublin, um Vorlesungen über Forensik zu halten – und um der Frage aus dem Weg zu gehen, ob sie den Mann, den sie liebt, auch heiraten will. In Irland trifft sie Margaret Foley wieder, eine alte Bekannte und Kollegin. Als Scarpetta ihr von einer Mordserie erzählt, die ihr Team in Atem hält, stoßen die beiden auf einen möglichen Zusammenhang mit Verbrechen in Irland einige Jahre zuvor: In beiden Fällen wurden zerstückelte Leichen auf Müllhalden gefunden. Als an Halloween auf einer Deponie in Virginia der Torso eines zehnten Opfers auftaucht, scheint es zunächst, als hätte derselbe Täter wieder zugeschlagen. Aber bei der Obduktion zeigen sich eindeutige Unterschiede zu den bisherigen Fällen. Haben sie es mit einem Trittbrettfahrer zu tun? Was Scarpetta außerdem Kopfzerbrechen bereitet: Die Haut des Opfers ist mit roten Pusteln übersät. Der Gerichtsmedizinerin kommt ein fürchterlicher Verdacht: Setzt der Mörder einen Virus als biologische Waffe ein? Scarpetta und ihr Team müssen dem Täter schnell das Handwerk legen – sonst droht eine vernichtende Seuche …
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2025
Patricia Cornwell
Der achte Fall für Kay Scarpetta
Aus dem amerikanischen Englisch von Tina Hohl
Kampa
Für Esther Newberg –
Visionen, keine Furcht
Und es kam zu mir einer von den sieben Engeln, welche die sieben Schalen voll der letzten sieben Plagen hatten …
Offenbarung 21,9
Die Nacht brach klar und kalt herein in Dublin,und der Sturm heulte draußen vor meinem Zimmer wie tausend Orgelpfeifen. Windstöße ließen alte Fensterscheiben mit einem Klang erzittern, als huschten Geister vorbei, während ich zum wiederholten Mal die Kissen zurechtrückte und mich schließlich in einem Gewirr irischen Leinens auf den Rücken legte. Doch ich fand keinen Schlaf, und die Bilder des Tages kehrten zurück. Ich sah Körper ohne Kopf und Gliedmaßen vor mir und setzte mich schwitzend auf.
Ich machte Licht, und plötzlich umgab mich das Shelbourne Hotel mit der warmen Ausstrahlung kostbarer alter Hölzer und dunkelroter Plaids. Während ich einen Morgenmantel anzog, verweilte mein Blick auf dem Telefon neben dem Bett. Es war fast zwei Uhr morgens. In Richmond, Virginia, war es jetzt fünf Stunden früher, und Pete Marino, Chef der Mordkommission des städtischen Police Departments, war bestimmt noch wach. Vermutlich sah er gerade fern, rauchte und aß irgendwas Ungesundes, falls er nicht auf den Straßen unterwegs war.
Ich wählte seine Nummer, und er nahm ab, als habe er direkt neben dem Telefon gesessen.
»Süßes oder Saures?« Er sprach laut und war ziemlich angetrunken.
»Du bist ein bisschen früh dran«, sagte ich und bereute meinen Anruf bereits. »Halloween ist erst in ein paar Wochen.«
»Doc?« Er hielt verwirrt inne. »Bist du das? Wieder in Richmond?«
»Immer noch in Dublin. Was ist das für ein Lärm?«
»Bloß ein paar von den Jungs. Wir sind so hässlich, wir brauchen keine Masken. Bei uns ist jeden Tag Halloween. He! Bubba blufft«, brüllte er.
»Immer glaubst du, dass alle bluffen«, gab eine Stimme zurück. »Das kommt, weil du schon zu lange Kriminalbeamter bist.«
»Quatsch! Marinos kriminalistischer Spürsinn reicht doch noch nicht mal, um seinen eigenen Schweißgeruch zu bemerken.«
Im Hintergrund brach lautes Gelächter aus, und das betrunkene Sprücheklopfen ging weiter.
»Wir spielen Poker«, sagte Marino zu mir. »Verdammt, wie spät ist es eigentlich bei dir?«
»Das sag ich dir lieber nicht«, antwortete ich. »Ich muss dir etwas Beunruhigendes mitteilen, aber es hört sich nicht so an, als wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«
»Nein. Nein, warte. Ich nehm nur eben das Telefon mit raus. Mist. Immer muss diese Scheißschnur sich verheddern, kennst du das? Verdammter Mist.« Ich hörte seine schweren Schritte und das Verrücken eines Stuhls. »Okay, Doc. Was zum Teufel ist denn los?«
»Ich habe den Großteil des Tages damit zugebracht, mit meiner hiesigen Kollegin über die Deponiemorde zu sprechen. Marino, ich habe immer mehr den Verdacht, dass die Serie von Zerstückelungen in Irland und die Morde in Virginia das Werk ein und derselben Person sind.«
Er brüllte: »Ruhe da drinnen, Leute!«
Während ich die Bettdecke um mich herum zurechtzog, hörte ich, wie er sich noch weiter von seinen Kumpeln entfernte. Ich griff nach dem letzten Rest Black-Bush-Whiskey, den ich mit ans Bett genommen hatte.
»Dr. Foley hat die fünf Fälle in Dublin bearbeitet«, fuhr ich fort. »Ich habe mir alle Akten angesehen. Rümpfe ohne Gliedmaßen. Die Wirbelsäule am unteren Ende des fünften Nackenwirbelkörpers horizontal durchtrennt. Arme und Beine an den Gelenken abgetrennt, was, wie gesagt, ungewöhnlich ist. Die Opfer sind unterschiedlicher Hautfarbe, Alter schätzungsweise zwischen achtzehn und fünfunddreißig. Keines der Opfer konnte identifiziert werden, und der Totenschein lautet bei allen auf Mord, Todesursache unbekannt. In keinem der Fälle hat man je Kopf oder Gliedmaßen gefunden. Die Rümpfe wurden allesamt auf privaten Mülldeponien entdeckt.«
»Verdammt, das kommt mir bekannt vor«, sagte er.
»Da sind noch andere Einzelheiten. Aber die Parallelen sind in der Tat unübersehbar.«
»Also ist dieser Wahnsinnige jetzt vielleicht in den Staaten«, sagte er. »Dann war es wohl doch verdammt gut, dass du rübergeflogen bist.«
Anfangs war er keineswegs dieser Ansicht gewesen. Ebenso wie alle anderen. Ich war Chief Medical Examiner von Virgina, und als das Royal College of Surgeons mich eingeladen hatte, an der Medizinischen Hochschule von Trinity eine Reihe von Vorlesungen zu halten, konnte ich mir die Gelegenheit, nebenher die Dubliner Mordfälle zu untersuchen, einfach nicht entgehen lassen. Marino hielt das für Zeitverschwendung, und das FBI war der Meinung, die Recherchen hätten kaum mehr als statistischen Wert.
Dass sie ihre Zweifel hatten, war verständlich. Die Mordfälle in Irland waren über zehn Jahre alt, und ebenso wie bei den Fällen in Virginia gab es nur sehr wenige Anhaltspunkte. Wir hatten keine Fingerabdrücke, keine Gebisse, keine Schädel und keine Zeugen, die die Leichen identifizieren konnten. Wir hatten keine körpereigenen Proben von vermissten Personen, deren genetischen Fingerabdruck wir mit dem der Opfer vergleichen konnten. Wir wussten nicht, womit diese Menschen umgebracht worden waren. Daher war es sehr schwer, Genaueres über den Täter zu sagen. Ich glaubte lediglich, dass er Erfahrung im Umgang mit der Knochensäge hatte und sie möglicherweise im Beruf benutzte oder benutzt hatte.
»Der letzte uns bekannte Fall in Irland ist zehn Jahre her«, sagte ich ins Telefon. »In Virginia hatten wir in den letzten beiden Jahren vier.«
»Du glaubst also, dass er acht Jahre lang nicht in Aktion getreten ist?«, sagte er. »Warum? Vielleicht weil er wegen irgendeiner anderen Straftat im Gefängnis saß?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er woanders sein Unwesen getrieben und zwischen den Fällen ist nie ein Zusammenhang hergestellt worden«, antwortete ich, während der Wind schaurige Geräusche machte.
»Da sind diese Serienmorde in Südafrika«, sinnierte er dumpf. »In Florenz, Deutschland, Russland, Australien. Scheiße, wenn man sich’s recht überlegt, gibt’s so was einfach überall. He!« Er hielt die Sprechmuschel zu. »Raucht verdammt noch mal eure eigenen Zigaretten! Was glaubt ihr eigentlich, wo ihr hier seid? Bei der Wohlfahrt vielleicht?«
Männerstimmen dröhnten im Hintergrund, und irgendjemand hatte Randy Travis aufgelegt.
»Hört sich an, als würdest du dich prima amüsieren«, sagte ich trocken. »Danke, dass du mich nicht eingeladen hast.«
»Tiere sind das«, grummelte er. »Frag mich nicht, warum ich das tue. Die saufen mir jedes Mal die Haare vom Kopf. Und sie mogeln beim Kartenspielen.«
»Der Modus Operandi bei diesen Fällen ist sehr charakteristisch.« Ich schlug wieder einen nüchternen Tonfall an.
»Okay«, sagte er, »wenn dieser Kerl also in Dublin mit dem Morden angefangen hat, suchen wir vielleicht einen Iren. Ich finde, du solltest dich schnellstens auf den Heimweg machen.« Er rülpste. »Klingt, als müssten wir nach Quantico fahren und uns an die Arbeit machen. Hast du’s Benton schon erzählt?«
Benton Wesley war der Chef der Child Abduction Serial Killer Unit, kurz CASKU, der Abteilung für Kindesentführung und Serienmorde des FBI, für die sowohl Marino als auch ich als Berater tätig waren.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, erwiderte ich zögernd. »Vielleicht kannst du ihn schon mal vorwarnen. Ich komme nach Hause, so schnell ich kann.«
»Morgen wäre gut.«
»Ich bin mit meiner Vorlesungsreihe hier noch nicht fertig«, erwiderte ich.
»Deine Vorlesungen sind auf der ganzen Welt gefragt. Wahrscheinlich machst du bald nichts anderes mehr«, sagte er, und ich wusste, dass er gleich nachbohren würde.
»Wir exportieren unsere Kriminalität in andere Länder«, sagte ich. »Da ist es doch das Mindeste, dass wir denen beibringen, was wir wissen, was wir in all den Jahren, die wir uns mit solchen Verbrechen befassen, gelernt haben …«
»Du bist doch nicht wegen der Vorlesungen im Land der Kobolde, Doc«, unterbrach er mich, und ein Kronkorken zischte. »Die sind nicht der Grund, und das weißt du auch.«
»Marino«, warnte ich. »Lass das.«
Doch er ließ sich nicht beirren. »Seit Wesleys Scheidung findest du immer wieder irgendwelche Gründe, mit fliegenden Fahnen die Stadt zu verlassen. Und jetzt willst du nicht wieder nach Hause, das merk ich doch. Und zwar, weil du nicht bereit bist, dich auf ein Spiel einzulassen, bei dem du vorher nicht weißt, wie’s ausgeht. Ich sag dir was. Irgendwann kommt der Tag, an dem du Farbe bekennen musst …«
»Werd’s mir merken«, unterbrach ich sanft seine bierselige Anteilnahme. »Marino, bleib nicht die ganze Nacht auf.«
Die Gerichtsmedizin befand sich in der Store Street Nr. 3, gegenüber dem Zollamt und dem Busbahnhof, in der Nähe der Docks und des Flusses Liffey. Das Backsteingebäude war klein und alt, die Durchfahrt, die hinters Haus führte, von einem schweren schwarzen Tor versperrt, auf dem in weißen Versalien Leichenschauhaus stand. Ich stieg die Stufen zu dem georgianischen Portal hinauf, läutete und wartete im Nebel.
Es war kühl an diesem Dienstagmorgen, die Bäume begannen herbstlich auszusehen. Mein Schlafmangel machte sich bemerkbar. Meine Augen brannten, ich hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf und war noch aufgewühlt von dem, was Marino gesagt hatte.
»Hallo.« Gut gelaunt machte mir der Verwalter die Tür auf. »Wie geht’s uns denn heute Morgen, Dr. Scarpetta?«
Sein Name war Jimmy Shaw. Er war sehr jung, ein Bilderbuch-Ire mit feuerrotem Haar und himmelblauen Augen.
»Nicht besonders«, gestand ich.
»Nun, ich war gerade beim Teekochen«, bemerkte er, während er die Tür hinter uns schloss. Wir gingen einen engen, schwach beleuchteten Flur entlang zu seinem Büro. »Hört sich an, als könnten Sie eine Tasse vertragen.«
»Das wäre reizend, Jimmy«, sagte ich.
»Die Frau Doktor ist im Moment noch vor Gericht.« Als wir seine unaufgeräumte kleine Kammer betraten, warf er einen Blick auf seine Uhr. »Sie müsste aber eigentlich gleich zurück sein.«
Auf seinem Schreibtisch stach ein mächtiges Sektionsbuch ins Auge, schwarz und in dickes Leder gebunden. Vor meiner Ankunft hatte er in einer Steve-McQueen-Biographie gelesen und Toast gegessen. Ohne danach zu fragen, wie ich meinen Tee trank, schließlich wusste er das inzwischen, stellte er einen Becher vor mich.
»Einen Marmeladentoast?«, fragte er wie jeden Morgen.
»Danke, ich habe schon im Hotel gefrühstückt«, antwortete ich wie immer, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
»Mich würde das nicht davon abhalten, noch was zu essen.« Er lächelte und setzte seine Brille auf. »Dann wollen wir doch mal einen Blick auf Ihren Stundenplan werfen. Sie halten heute Morgen um elf eine Vorlesung und dann noch eine um eins. Beide im College, im alten Pathologiegebäude. Ich schätze, dass zu jeder etwa fünfundsiebzig Studenten kommen werden, aber vielleicht werden es auch mehr. Ich weiß nicht, Sie sind hier schrecklich beliebt, Dr. Scarpetta«, sagte er vergnügt. »Oder vielleicht liegt es auch nur daran, dass amerikanische Kriminalität für uns so etwas Exotisches ist.«
»Das ist beinahe so, als würde man die Pest als exotisch bezeichnen«, erwiderte ich.
»Nun ja – wir finden es einfach faszinierend, was Sie so alles zu Gesicht bekommen.«
»Genau das ist es, was mir Sorgen macht«, sagte ich freundlich, aber mit einem unheilvollen Unterton. »Sie sollten es nicht allzu faszinierend finden.«
Wir wurden vom Telefon unterbrochen, und er griff mit der Ungeduld eines Menschen, der zu oft angerufen wird, zum Hörer.
Nachdem er einen Moment lang zugehört hatte, sagte er brüsk: »Schon klar. Aber wir können im Moment einfach keinen solchen Auftrag erteilen. Ich muss Sie wieder anrufen.«
»Seit Jahren will ich hier Computer haben«, beschwerte er sich bei mir, als er auflegte. »Aber da wir nach der Pfeife der Sozialisten tanzen müssen, gibt es eben kein Geld.«
»Es wird nie genug Geld geben. Tote gehen nun mal nicht zur Wahl.«
»Das ist leider wahr. Also, was ist heute das Thema?«, wollte er wissen.
»Der Sexualmord«, antwortete ich. »Im Besonderen die Rolle, die der genetische Fingerabdruck dabei spielen kann.«
»Diese Verstümmelungen, für die Sie sich so interessieren.« Er nahm einen Schluck Tee. »Glauben Sie, dass die sexueller Natur sind? Ich meine, könnte das bei einem Menschen, der so etwas tut, das Motiv sein?« Seine Augen leuchteten wissbegierig.
»Das spielt sicherlich eine Rolle«, antwortete ich.
»Aber woher wollen Sie das wissen, wo doch keines der Opfer jemals identifiziert wurde? Könnte es nicht einfach jemand sein, für den Töten ein Sport ist? Wie zum Beispiel der Son of Sam bei Ihnen in Amerika?«
»Auch die Morde des Son of Sam hatten eine sexuelle Komponente«, sagte ich und sah mich nach meiner Freundin, der Forensikerin, um. »Was glauben Sie, wie lange sie noch brauchen wird? Ich bin leider ein bisschen in Eile.«
Shaw schaute noch mal auf die Uhr. »Sehen Sie doch mal nach. Vielleicht ist sie auch gleich ins Leichenschauhaus gegangen. Wir sollten einen Fall reinbekommen. Ein junger Mann, Verdacht auf Selbstmord.«
»Ich schau mal, ob ich sie finde.« Ich stand auf.
Der Gerichtssaal, in dem die gerichtlichen Untersuchungen der Todesursache bei nicht natürlichen Todesfällen, also Betriebs- und Verkehrsunfällen, Morden und Selbstmorden, abgehalten wurden, befand sich in der Nähe des Eingangs. Die Verfahren fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, denn die irische Presse sollte nicht allzu eingehend darüber berichten. Ich schlüpfte in einen kahlen kalten Raum voller lackierter Bänke und nackter Wände und stieß drinnen auf mehrere Männer, die Papiere in Aktenkoffer stopften.
»Ich suche die Leichenbeschauerin«, sagte ich.
»Sie ist vor etwa zwanzig Minuten gegangen. Musste zu einer Identifizierung, glaube ich«, meinte einer von ihnen.
Ich verließ das Gebäude durch die Hintertür. Als ich gerade den kleinen Parkplatz überquert hatte und auf das Leichenschauhaus zusteuerte, kam ein alter Mann zur Tür heraus. Er machte einen desorientierten Eindruck und verlor beinahe das Gleichgewicht, als er sich benommen umschaute. Einen Moment lang starrte er mich an, als hätte ich irgendeine Antwort parat. Er tat mir leid. Was immer ihn hierhergeführt hatte, es konnte unmöglich etwas Angenehmes sein. Ich beobachtete, wie er zum Tor eilte, als plötzlich Dr. Margaret Foley aufgelöst und mit wirren grauen Haaren hinter ihm auftauchte.
»Mein Gott!« Sie rannte mich fast um. »Ich hab ihm nur einen Moment den Rücken zugedreht, und schon war er auf und davon.«
Der Mann riss das Tor weit auf und flüchtete. Foley trabte über den Parkplatz, um es wieder zu schließen und zu verriegeln. Als sie zu mir zurückkam, war sie außer Atem und stolperte beinahe über einen Buckel im Asphalt.
»Na, du bist ja früh auf den Beinen, Kay«, sagte sie.
»Ein Verwandter?«, fragte ich.
»Der Vater. Ist abgehauen, ohne ihn zu identifizieren. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, ihm das Laken vom Gesicht zu ziehen. Der Tag ist für mich gelaufen.«
Sie führte mich in das kleine Backsteingebäude mit den weißen Porzellan-Autopsietischen, die eigentlich in ein medizinhistorisches Museum gehörten, und einem alten eisernen Ofen, der nicht mehr benutzt wurde. Die Luft war kalt wie in einer Kühlkammer, und elektrische Strykersägen waren die einzigen modernen Geräte, die es gab. Dünnes graues Licht drang durch Milchglasoberlichter herein und erhellte nur schwach das weiße Papierlaken über dem Leichnam, den zu sehen ein Vater nicht hatte ertragen können.
»Das ist immer das Bitterste am Ganzen«, sagte sie. »Niemand sollte sich hier jemals jemanden anschauen müssen.«
Ich folgte ihr in einen kleinen Lagerraum und half ihr, Kartons voller neuer Spritzen, OP-Masken und Handschuhe hinauszutragen.
»Hat sich an den Dachbalken der Scheune erhängt«, fuhr sie fort, während wir arbeiteten. »War wegen eines Alkoholproblems und Depressionen in Behandlung. Immer das Gleiche. Arbeitslosigkeit, Frauen, Drogen. Sie hängen sich auf oder springen von einer Brücke.« Sie warf mir einen Blick zu, während wir einen Sektionswagen neu bestückten. »Gott sei Dank gibt es bei uns keine Schusswaffen. Zumal ich kein Röntgengerät habe.«
Foley war eine zierliche Frau mit einer altmodischen dicken Brille und einer Vorliebe für Tweed. Wir hatten uns vor Jahren bei einer internationalen Kriminalistikkonferenz in Wien kennengelernt, als weibliche Gerichtsmediziner noch eine seltene Spezies waren, vor allem außerhalb Amerikas. Wir waren schnell Freundinnen geworden.
»Margaret, ich muss früher zurück in die Staaten, als ich dachte«, sagte ich, holte tief Luft und schaute mich unkonzentriert um. »Ich hab letzte Nacht fast nicht geschlafen.«
Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte mich. »Ich kann dir Kopien von allem besorgen, was du haben willst. Wie schnell brauchst du sie? Fotos dauern vielleicht ein paar Tage, aber die kann ich dir nachsenden.«
»Na ja, ich finde, es herrscht immer ein gewisser Zeitdruck, wenn so jemand frei herumläuft«, sagte ich.
»Froh bin ich auch nicht darüber, dass du ihn jetzt am Hals hast. Ich hatte gehofft, dass er nach all diesen Jahren endlich aufgehört hätte.« Gereizt aschte sie ihre Zigarette ab und stieß den starken Qualm britischen Tabaks aus. »Komm, wir setzen uns mal einen Augenblick hin. Meine Füße sind so geschwollen, dass mir schon die Schuhe zu eng werden. Auf so einem verdammt harten Fußboden alt zu werden, ist die Hölle.«
Zwei klobige Holzstühle in einer Ecke stellten den Aufenthaltsraum dar. Auf einer Bahre hatte Foley ihren Aschenbecher stehen. Sie legte die Füße auf eine Kiste und gab sich ihrem Laster hin.
»Ich kann diese armen Menschen einfach nicht vergessen.« Sie sprach wieder über die Serienmorde. »Als der Erste bei mir ankam, dachte ich, das sei die IRA gewesen. Außer bei Bombenanschlägen hatte ich noch nie einen derart zerfetzten Leichnam gesehen.«
Es war mir gar nicht recht, auf solche Weise an Mark erinnert zu werden. Ich musste an die Zeit denken, als er noch am Leben war und wir uns liebten. Plötzlich sah ich ihn wieder vor mir. Er lächelte, und in seinen Augen war dieser strahlende Glanz, der schelmisch aufblitzte, wenn er lachte und mich neckte. Wir hatten an der juristischen Fakultät in Georgetown viel Spaß miteinander gehabt, leidenschaftlich diskutiert und unzählige Nächte durchgemacht. Unser Verlangen nach einander war unstillbar. Im Lauf der Zeit heirateten wir andere Menschen, ließen uns wieder scheiden und versuchten es von Neuem miteinander. Er war mein Leitmotiv – mal da, mal fort, dann wieder am Telefon oder vor meiner Tür, um mir das Herz zu brechen und mein Bett zu zerwühlen.
Ich kam einfach nicht von ihm los. Dass ein Bombenanschlag auf einen Londoner Bahnhof das Ende unserer stürmischen Beziehung gewesen sein sollte, konnte ich immer noch nicht glauben. Die Vorstellung, dass er tot war, war für mich nicht fassbar, denn es gab kein letztes Bild, das mir Frieden geben konnte. Ich hatte nie seinen Leichnam gesehen, hatte vor jeglicher Gelegenheit, ihn mir anzuschauen, Reißaus genommen, genau wie der alte Dubliner, der den Anblick seines Sohns nicht ertragen konnte. Mir wurde bewusst, dass Foley etwas zu mir sagte.
»Tut mir leid«, wiederholte sie mit traurigem Blick, denn sie kannte die ganze Geschichte. »Ich wollte keine unangenehmen Erinnerungen wachrufen. Du wirkst heute Morgen schon melancholisch genug.«
»Das ist interessant, was du eben gesagt hast«, sagte ich und versuchte, tapfer zu sein. »Ich denke, der Mörder, nach dem wir suchen, ist einem Bombenattentäter gar nicht unähnlich. Es ist ihm egal, wen er tötet. Seine Opfer sind Menschen ohne Gesichter und ohne Namen. Sie sind nichts als Symbole seines persönlichen grausamen Credos.«
»Wäre es dir sehr unangenehm, wenn ich dich etwas wegen Mark fragen würde?«
»Frag, was du willst.« Ich lächelte. »Du tust es ja sowieso.«
»Warst du jemals dort, wo es passiert ist? Hast du den Ort besucht, an dem er gestorben ist?«
»Ich weiß nicht, wo es passiert ist«, antwortete ich schnell.
Rauchend sah sie mich an.
»Ich meine, ich weiß nicht, wo genau auf dem Bahnhof«, wand ich mich und fing fast an zu stottern.
Sie sagte immer noch nichts und zerdrückte die Zigarette unter ihrem Fuß.
»Soweit ich mich erinnere«, fuhr ich fort, »bin ich seit seinem Tod nicht mehr in Victoria gewesen, jedenfalls nicht auf dem Bahnhof. Ich glaube, es gab keinen Grund, von dort aus einen Zug zu nehmen. Oder dort anzukommen. Zuletzt war ich, glaube ich, in Waterloo.«
»Der einzige Tatort, den zu besichtigen die große Dr. Kay Scarpetta sich weigert.« Sie klopfte eine weitere Consulate aus der Packung. »Möchtest du eine?«
»Und wie. Aber ich darf nicht.«
Sie seufzte. »Das erinnert mich an Wien. Die Männer dort, und wir beide haben mehr geraucht als sie alle zusammen.«
»Wahrscheinlich haben wir wegen all der Männer so viel geraucht«, sagte ich.
»Kann sein. Für mich scheint es jedenfalls keine Heilung zu geben. Das zeigt nur mal wieder, dass unser Handeln sich nicht danach richtet, was wir wissen, und dass unsere Gefühle keinen Verstand haben.« Sie schüttelte ein Streichholz aus. »Ich habe Raucherlungen gesehen. Und ich habe jede Menge Fettlebern gesehen.«
»Meinen Lungen geht es besser, seit ich aufgehört habe. Für meine Leber möchte ich lieber nicht die Hand ins Feuer legen«, sagte ich. »Den Whiskey hab ich noch nicht aufgegeben.«
»Um Gottes willen, tu das bloß nicht. Dann hätte man ja gar keinen Spaß mehr mit dir.« Sie hielt inne und fügte dann mit Nachdruck hinzu: »Natürlich lassen sich Gefühle lenken, dressieren, sodass sie sich nicht gegen uns verschwören.«
»Ich werde wahrscheinlich morgen fliegen«, kehrte ich wieder zum Thema zurück.
»Du musst in London umsteigen.« Sie sah mir in die Augen. »Bleib ein bisschen dort. Einen Tag.«
»Wie bitte?«
»Du musst die Sache zu Ende bringen, Kay. Das spüre ich schon lange. Du musst Mark James begraben.«
»Margaret, wie kommst du denn plötzlich darauf?« Ich geriet schon wieder ins Stottern.
»Ich merke doch, wenn jemand vor etwas wegläuft. Und das tust du, ganz genau wie dieser Mörder.«
»Na, das klingt ja tröstlich«, erwiderte ich. Die Unterhaltung passte mir gar nicht.
Aber diesmal ließ sie nicht locker. »Und zwar einerseits aus ganz anderen, andererseits aber auch aus ganz ähnlichen Gründen wie er. Er ist ein Verbrecher, du nicht. Aber ihr wollt beide entkommen.«
Ich konnte nicht verbergen, wie sehr mir ihre Worte an die Nieren gingen.
»Und wer oder was ist deiner Meinung nach hinter mir her?« Meine Stimme klang unbeschwert, aber ich war den Tränen bedrohlich nahe.
»Momentan Benton Wesley, nehme ich an.«
Ich schaute weg, vorbei an der Bahre, über die ein bleicher Fuß mit einem Schild hinausragte. Wolken schoben sich vor die Sonne, und das von oben kommende Licht veränderte sich nach und nach. Der Geruch des Todes, der in den Fliesen und Steinen hing, war hundert Jahre alt.
»Kay, was willst du tun?«, fragte sie sanft, während ich mir Tränen aus den Augen wischte.
»Er will mich heiraten«, sagte ich.
Ich flog heim nach Richmond. Aus Tagen wurden Wochen, und draußen wurde es kalt. Die Morgenstunden waren mit Frost überzuckert, und die Abende verbrachte ich grübelnd vor dem Kamin. So vieles war ungelöst und unausgesprochen, und wie üblich bestand meine Reaktion darin, mich immer tiefer ins Labyrinth meiner Arbeit zu vergraben, bis ich den Ausgang nicht mehr fand. Meine Sekretärin brachte das zur Weißglut.
»Dr. Scarpetta?«, rief sie meinen Namen. Laut und energisch hallten ihre Schritte über den gefliesten Boden des Autopsiesaals.
»Hier drinnen«, übertönte ich das Geräusch fließenden Wassers.
Es war der 30. Oktober. Ich stand im Umkleideraum des Leichenschauhauses und wusch mich mit antibakterieller Seife.
»Wo waren Sie denn?«, fragte Rose, als sie hereinkam.
»Ich habe an einem Gehirn gesessen. Der plötzliche Tod von neulich.«
Sie blätterte in meinem Kalender. Ihr graues Haar war fein säuberlich zurückgesteckt, und sie trug ein dunkelrotes Kostüm, das offenbar zu ihrer Stimmung passte. Rose war äußerst böse auf mich, weil ich nach Dublin geflogen war, ohne mich zu verabschieden. Und dann hatte ich, als ich wieder zurück war, auch noch ihren Geburtstag vergessen. Ich drehte den Wasserhahn zu und trocknete mir die Hände ab.
»Schwellung mit Erweiterung der Hirnwindungen bei gleichzeitiger Verschmälerung der Hirnfurchen. Das spricht alles für einen Hirnschaden aufgrund mangelhafter Blutversorgung, hervorgerufen durch seine schwere Hypotonie«, deklamierte ich.
»Ich habe Sie überall gesucht«, sagte sie. Sie war mit ihrer Geduld am Ende.
»Was hab ich diesmal angestellt?«, fragte ich und nahm die Hände hoch.
»Sie waren mit Jon zum Mittagessen im Skull and Bones verabredet.«
»O Gott«, stöhnte ich beim Gedanken an ihn und andere Medizintutanden, für die ich so wenig Zeit hatte.
»Ich habe Sie heute Morgen noch daran erinnert. Letzte Woche haben Sie ihn auch schon versetzt. Er muss dringend wegen seiner Assistenzarztstelle an der Cleveland Clinic mit Ihnen sprechen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Mit furchtbar schlechtem Gewissen sah ich auf meine Armbanduhr. »Es ist halb zwei. Vielleicht kann er zum Kaffee in mein Büro kommen?«
»Um zwei haben Sie eine Aussage zu machen, und für drei ist eine Konferenzschaltung wegen des Falls Norfolk-Southern angesetzt. Um vier halten Sie an der Forensic Science Academy eine Vorlesung über Schusswunden, und um fünf haben Sie ein Treffen mit Investigator Ring«, ratterte Rose herunter.
Ich mochte weder Ring noch seine nassforsche Art, Fälle zu übernehmen. Er hatte sich in die Ermittlungen eingeschaltet, als der zweite Rumpf gefunden wurde, und offenbar hielt er sich für klüger als das FBI.
»Auf Ring kann ich gut verzichten«, sagte ich knapp.
Meine Sekretärin sah mich einen Augenblick lang an, während im Autopsiesaal nebenan Schwämme auf Wasser klatschten.
»Ich sage ihm ab, und Sie können sich stattdessen mit Jon treffen.« Sie musterte mich über ihre Brille hinweg wie eine gestrenge Oberlehrerin. »Und dann ruhen Sie sich aus. Das ist ein Befehl. Morgen kommen Sie nicht hierher, Dr. Scarpetta. Und wehe, Sie stehen plötzlich doch vor der Tür.«
Ich wollte protestieren, doch sie schnitt mir das Wort ab.
»Wagen Sie es ja nicht, mir zu widersprechen«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Sie brauchen einen Tag, um sich zu erholen, ein langes Wochenende. Das würde ich nicht sagen, wenn ich es nicht ernst meinte.«
Sie hatte recht. Der Gedanke, einen Tag ganz für mich zu haben, hellte meine Stimmung sofort auf.
»Es gibt keinen Termin, den ich nicht verschieben kann«, fügte sie hinzu. »Außerdem« – sie lächelte – »bekommen wir einen letzten Hauch von Indian Summer. Am Wochenende soll es wunderschön werden, fast dreißig Grad und blauer Himmel. Die Blätter sind jetzt am buntesten, die Pappeln goldgelb. Die Ahornbäume sehen aus, als stünden sie in Flammen. Außerdem ist Halloween. Sie können eine Fratze in einen Kürbis schnitzen.«
Ich holte mein Kostümjackett und die Schuhe aus meinem Spind. »Sie hätten Juristin werden sollen«, sagte ich.
Am nächsten Tag war das Wetter genau so, wie Rosees vorausgesagt hatte, und ich wachte in Hochstimmung auf. Als die Geschäfte öffneten, zog ich los, um Süßigkeiten für Halloween und Sachen fürs Abendessen einzukaufen. Zuerst fuhr ich die Hull Street hinaus zu meinem Lieblingsgartencenter. Die Sommerpflanzen um mein Haus herum waren längst verblüht, und ich konnte den Anblick der toten Stängel in den Blumentöpfen nicht mehr ertragen. Nach dem Mittagessen schleppte ich Säcke voll Blumenerde, Kisten voller Pflanzen und eine Gießkanne auf meine Veranda.
Ich öffnete die Tür, damit ich draußen Mozart hören konnte, während ich vorsichtig Stiefmütterchen in ihr neues Bett setzte. Der Brotteig war am Gehen, der Eintopf köchelte auf dem Herd, und der Duft von Knoblauch, Wein und Lehmboden stieg mir beim Arbeiten in die Nase. Marino wollte zum Essen kommen, und wir würden Schokoriegel an meine furchteinflößenden kleinen Nachbarn verteilen. Bis drei Uhr fünfunddreißig war die Welt noch in Ordnung, doch dann vibrierte der Pager an meiner Taille.
»Mist«, fluchte ich. Er zeigte die Nummer meines Auftragsdienstes an.
Ich eilte ins Haus, wusch mir die Hände und griff nach dem Telefon. Der Auftragsdienst gab mir die Nummer eines Detective Grigg vom Sheriff’s Department von Sussex County, und ich rief ihn postwendend zurück.
»Grigg«, hörte ich einen Mann mit tiefer Stimme sagen.
»Hier ist Dr. Scarpetta«, meldete ich mich und starrte dabei trübsinnig aus dem Fenster auf die großen Terrakottatöpfe auf der Veranda und den toten Hibiskus darin.
»Ah, sehr gut. Danke für den schnellen Rückruf. Ich steh hier mit meinem Handy, deshalb will ich’s kurz machen.« Er sprach langsam, mit dem rhythmischen Akzent der alten Südstaaten.
»Wo genau ist hier?«, fragte ich.
»Auf der Atlantic-Waste-Deponie an der Reeves Road. Geht von der 460 East ab. Man hat hier etwas zutage gefördert, das Sie sich bestimmt ansehen möchten.«
»Doch nicht so etwas, wie man es an ähnlichen Orten schon mehrfach gefunden hat?«, fragte ich sibyllinisch, und der Tag schien sich zu verdunkeln.
»Sieht ganz danach aus, fürchte ich«, sagte er.
»Sagen Sie mir, wie ich hinkomme, und ich fahre gleich los.«
Ich trug schmutzige Drillichhosen und ein FBI-T-Shirt, das mir meine Nichte Lucy geschenkt hatte. Zum Umziehen hatte ich keine Zeit. Wenn ich den Leichnam nicht vor Einbruch der Dunkelheit barg, würde er bis zum Morgen bleiben müssen, wo er war, und das war inakzeptabel. Ich schnappte mir meine Arzttasche und schoss zur Tür hinaus. Erde, Kohlpflanzen und Geranien ließ ich über die Veranda verstreut liegen. Natürlich hatte mein schwarzer Mercedes kaum noch Benzin im Tank. Ich hielt erst einmal bei Amoco, tankte und machte mich dann auf den Weg.
Die Fahrt hätte normalerweise eine Stunde gedauert, doch ich fuhr schneller als erlaubt. Das schwächer werdende Licht schimmerte weiß auf der Unterseite der Blätter, und auf Höfen und in Gärten stand braun der Mais. Auf den Feldern kräuselten sich grüne Sojabohnenmeere, und Ziegen grasten ungehindert in den Gärten einiger Einfamilienhäuser. Grellfarbige, mit bunten Kugeln bestückte Blitzableiter ragten aus jedem Giebel und an jeder Ecke hervor, und ich fragte mich immer, welcher Bauernfänger hier sein Unwesen getrieben und dermaßen Kapital aus den Ängsten der Bewohner geschlagen hatte.
Bald kamen die Getreidesilos in Sicht, nach denen Ausschau zu halten Grigg mich angewiesen hatte. Ich bog in die Reeves Road ein und kam an winzigen Backsteinhäuschen und Wohnwagensiedlungen mit Pick-ups und Hunden ohne Halsband vorbei. Reklametafeln warben für Mountain Dew und das Virginia Diner. Wie Rauch stiegen rote Staubwolken von meinen Reifen empor, als ich über Bahngleise holperte. Vor mir auf der Straße hackten Bussarde auf Lebewesen ein, die nicht schnell genug gewesen waren. Das kam mir wie ein böses Omen vor.
An der Einfahrt zur Atlantic-Waste-Deponie hielt ich an und blickte auf eine weite kahle Mondlandschaft hinaus, über der gerade die Sonne unterging, als stünde sie in Flammen. Schwere Lastwagen in glänzendem Weiß und poliertem Chrom krochen auf dem Gipfel eines stetig wachsenden Müllbergs umher. Gelbe Raupenbagger erinnerten an angriffslustige Skorpione. Ich saß da und beobachtete, wie eine Staubwolke sich von der Müllhalde entfernte und mit hoher Geschwindigkeit über das unebene Gelände wogte. Als sie mich erreichte, entpuppte sie sich als ein schmutzig roter Ford Explorer, am Steuer ein junger Mann, der sich hier offensichtlich zu Hause fühlte.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte er mit kehligem Südstaatenakzent. Er wirkte gespannt und aufgeregt.
»Ich bin Dr. Kay Scarpetta«, erwiderte ich und zeigte ihm die Messingplakette in der kleinen schwarzen Hülle, die ich immer zog, wenn ich an einem Tatort niemanden kannte.
Er studierte meinen Ausweis und schaute mich dann mit dunklen Augen an. Sein Jeanshemd war durchgeschwitzt und sein Haar im Nacken und an den Schläfen nass.
»Man hat mir gesagt, der Gerichtsmediziner würde kommen, und ich solle nach ihm Ausschau halten«, sagte er.
»Tja, das bin ich«, antwortete ich kühl.
»Ja, natürlich, Ma’am. Ich wollte damit nicht sagen …« Er verstummte, und sein Blick wanderte über meinen Mercedes. Er war von einem feinen und hartnäckigen Staub bedeckt, der durch alle Ritzen drang. »Ich schlage vor, Sie lassen Ihren Wagen hier und fahren mit mir«, setzte er hinzu.
Ich schaute zur Müllhalde hinauf. Raupenbagger mit drohend aufgerichteten Schaufeln und Planierschilden standen reglos auf dem Gipfel. Zwei zivile Polizeiwagen und ein Krankenwagen erwarteten mich am Ort des Geschehens, und Polizisten hatten sich als winzige Gestalten um das Heck eines Lastwagens versammelt, der kleiner war als die anderen. Daneben stocherte jemand mit einem Stock im Boden herum, und ich wurde langsam ungeduldig.
»Okay«, sagte ich. »Dann mal los.«
Ich parkte meinen Wagen und holte meine Arzttasche und Tatortkleidung aus dem Kofferraum. Der junge Mann schwieg und beobachtete neugierig, wie ich, bei weit geöffneter Tür auf meinem Fahrersitz sitzend, Gummistiefel anzog, die von jahrelangem Waten durch Flüsse und Wälder auf dem Weg zu Mordopfern und Ertrunkenen stumpf und verschrammt waren. Ich schlüpfte in ein großes, ausgeblichenes Jeanshemd, das ich während einer Ehe, die mir inzwischen irreal vorkam, meinem Ex-Mann Tony entwendet hatte. Dann stieg ich in den Explorer und streifte zwei Paar Handschuhe über. Ich zog mir eine OP-Maske über den Kopf und ließ sie lose um meinen Hals baumeln.
»Kann ich Ihnen nicht verdenken«, erwiderte mein Chauffeur. »Der Gestank ist ziemlich übel, das sag ich Ihnen.«
»Es ist nicht der Gestank«, stellte ich klar. »Es sind die Mikroorganismen, die mir Sorgen machen.«
»Oje«, meinte er besorgt. »Vielleicht sollte ich auch so ein Ding tragen.«
»Sie sollten ohnehin nicht so dicht rangehen, dass es gefährlich für Sie werden könnte.«
Er gab keine Antwort, und ich war mir sicher, dass das bereits geschehen war. Der Versuchung zu gaffen konnten die meisten Menschen nicht widerstehen. Je grausiger der Fall, desto weniger gelang es ihnen.
»Tut mir leid, dass es hier so staubig ist«, sagte er, während wir am Ufer eines kleinen, von Enten bevölkerten Löschteichs durch ein Dickicht aus Goldruten fuhren. »Wie Sie sehen, streuen wir gegen den Staub überall eine Schicht Reifenspäne, und ein Straßenreinigungsfahrzeug sprüht sie fest. Aber das scheint alles nicht so richtig zu helfen.« Er hielt nervös inne, bevor er weitersprach. »Wir kriegen hier pro Tag dreitausend Tonnen Müll rein.«
»Wo kommt der her?«, fragte ich.
»Aus dem gesamten Gebiet zwischen Littleton, North Carolina, und Chicago.«
»Was ist mit Boston?«, fragte ich, denn die ersten vier Opfer stammten vermutlich von dort.
»Nein, Ma’am.« Er schüttelte den Kopf. »Kann aber noch werden. Wir sind hier unten sehr viel preiswerter. Fünfundzwanzig Dollar pro Tonne. In New Jersey zahlt man neunundsechzig und in New York achtzig. Außerdem recyceln wir, sortieren Giftmüll aus und fangen das Methangas auf, das beim Verrotten des Mülls entsteht.«
»Wie lange haben Sie geöffnet?«
»Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.«
»Und Sie haben die Möglichkeit, zurückzuverfolgen, woher die Fahrzeuge kommen?«
»Wir arbeiten mit einem Satellitensystem. Zumindest können wir Ihnen sagen, welche Wagen in dem Bereich, wo die Leiche gefunden wurde, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne Müll abgeladen haben.«
Bei ein paar Chemieklos fuhren wir durch eine tiefe Pfütze und holperten an einer Waschanlage vorbei, in der die Lastwagen auf ihrem Weg zurück auf die Straßen und Autobahnen des Lebens abgespritzt wurden.
»So was haben wir hier noch nicht erlebt«, sagte er. »Aber auf der Shoosmith-Deponie wurden mal Leichenteile gefunden. Zumindest gibt es so ein Gerücht.«
Er warf mir einen Blick zu, als erwartete er von mir eine Bestätigung dieses Gerüchts, aber ich ging nicht darauf ein. Schmatzend fuhr der Explorer durch den mit Gummispänen bestreuten Schlamm, und der saure Gestank faulenden Mülls wehte ins Wageninnere. Ich behielt den kleinen Lastwagen, den ich seit meiner Ankunft beobachtete, fest im Auge. Meine Gedanken überschlugen sich.
»Übrigens, mein Name ist Keith Pleasants.« Er wischte sich die Hand an der Hose ab und reichte sie mir. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ich musste mir fast den Arm verrenken, um seine Hand zu schütteln, während Männer, die sich Taschentücher und Lappen vor die Nase hielten, uns beim Näherkommen beobachteten. Es waren vier, die sich, wie ich jetzt sehen konnte, um das Heck eines Hydraulik-Mülltransporters versammelt hatten, mit dem Müll zusammengepresst wurde. Cole’s Trucking Co. stand auf den Türen.
»Der Typ, der da im Müll herumstochert, ist der zuständige Detective«, erklärte mir Pleasants.
Er war schon etwas älter, hatte keine Jacke an und trug einen Revolver an der Hüfte. Ich hatte das Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
»Grigg?«, riet ich. So hieß der Detective, mit dem ich telefoniert hatte.
»Genau.« Schweiß lief Pleasants über das Gesicht, und er wurde noch nervöser. »Wissen Sie, ich hatte noch nie etwas mit der Polizei zu tun. Noch nicht mal wegen zu schnellen Fahrens.«
Wir hielten. Ich konnte durch den aufgewühlten Staub kaum etwas sehen. Pleasants langte nach seinem Türgriff.
»Bleiben Sie noch einen Moment sitzen«, bat ich ihn.
Ich wartete, bis der Staub sich gelegt hatte, und verschaffte mir durch die Windschutzscheibe hindurch einen Überblick, wie ich es immer bei meiner Ankunft an einem Tatort tat.
Die Baggerschaufel hing wie erstarrt mitten in der Luft, der Müllwagen darunter war noch fast voll. Überall sonst auf der Deponie herrschte Betriebsamkeit. Dieselmotoren liefen. Nur hier wurde nicht gearbeitet. Einen Moment lang sah ich zu, wie kraftvolle weiße Trucks bergauf röhrten, während die Raupenbagger mit ihren Klauen zupackten und Kompaktoren mit ihren Stahlrädern den Boden zermalmten.
Der Krankenwagen, mit dem die Leiche abtransportiert werden sollte, war schon da, und die Sanitäter saßen im klimatisierten Inneren und beobachteten mich. Als sie sahen, dass ich die OP-Maske über Nase und Mund zog und meine Tür öffnete, stiegen sie auch aus. Türen knallten. Der Detective kam sofort auf mich zu, um mich zu begrüßen.
»Detective Grigg, Sheriff’s Department von Sussex«, sagte er. »Ich habe Sie angerufen.«
»Waren Sie die ganze Zeit hier draußen?«, fragte ich ihn.
»Ja, Ma’am, seit wir um zirka dreizehn Uhr benachrichtigt wurden. Ich habe aufgepasst, dass nichts verändert wurde.«
»Entschuldigen Sie«, wandte sich einer der Sanitäter an mich. »Brauchen Sie uns jetzt gleich?«
»Vielleicht in einer Viertelstunde. Es kommt Sie dann jemand holen«, sagte ich, und sie stiegen eiligst wieder in ihren Krankenwagen. »Ich brauche hier mehr Platz«, sagte ich zu den Umstehenden.
Schritte knirschten, als die Leute aus dem Weg traten und den Blick auf das freigaben, was sie bewacht und begafft hatten. Die Hautfarbe war im verlöschenden Licht des Herbstnachmittags unnatürlich bleich, der Rumpf ein grauenerregender Stumpen. Er war aus einer Ladung Müll gefallen und auf dem Rücken gelandet. Ich hielt die Leiche für weiß, war mir aber nicht sicher, und die Maden, von denen es im Genitalbereich wimmelte, machten es schwer, auf den ersten Blick das Geschlecht zu bestimmen. Ich konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob das Opfer schon die Geschlechtsreife erreicht hatte oder nicht. Der Leichnam war extrem mager, die Rippen stachen unter flachen Brüsten hervor, die vielleicht weiblich waren, vielleicht auch nicht.
Ich hockte mich dicht daneben und öffnete meine Arzttasche. Mit einer Pinzette sammelte ich Maden in ein Glas, damit der Entomologe sie später untersuchen konnte, und stellte bei näherer Betrachtung fest, dass das Opfer tatsächlich eine Frau war. Sie war am unteren Ende der Halswirbelsäule enthauptet, Arme und Beine waren abgetrennt worden. Die Stümpfe waren bereits trocken und dunkel, und ich wusste sofort, dass dieser Fall anders war als die sonstigen.
Die Gliedmaßen dieser Frau waren nicht an den Gelenken, sondern mitten durch die kräftigen Oberarm- und Oberschenkelknochen hindurch abgetrennt worden. Ich spürte, wie die Männer mich anstarrten, als ich ein Skalpell herausholte, an der rechten Seite des Rumpfes einen gut einen Zentimeter langen Einschnitt machte und ein langes Thermometer einführte. Ein zweites Thermometer legte ich auf meine Tasche.
»Was machen Sie da?«, fragte ein Mann in einem karierten Hemd mit einer Baseballkappe auf dem Kopf, der aussah, als würde ihm gleich schlecht.
»Ich brauche die Körpertemperatur, um den Todeszeitpunkt zu bestimmen. Eine Messung im Leberkern ist am genauesten«, erklärte ich geduldig. »Und außerdem muss ich wissen, wie hoch die Außentemperatur hier ist.«
»Sehr hoch, das kann ich ihnen auch so sagen«, sagte ein anderer Mann. »Es ist eine Frau, was?«
»Für solche Feststellungen ist es noch zu früh«, erwiderte ich. »Ist das Ihr Transporter?«
»Ja.«
Er war jung, hatte dunkle Augen, sehr weiße Zähne und Tätowierungen auf den Fingern, wie ich sie normalerweise mit Leuten assoziierte, die im Gefängnis gesessen hatten. Ein verschwitztes Tuch war um seinen Kopf gebunden und hinten verknotet, er konnte den Rumpf nicht lange ansehen, ohne den Blick abzuwenden.
»Zur falschen Zeit am falschen Ort«, fügte er hinzu und schüttelte unwirsch den Kopf.
»Wie meinen Sie das?« Grigg sah ihn scharf an.
»Von meinem Wagen stammt das nicht. Das weiß ich genau«, sagte der Fahrer, als sei das der wichtigste Satz, den er in seinem ganzen Leben sagen würde. »Das hat der Bagger aufgewühlt, als er meine Ladung verteilt hat.«
»Dann wissen wir also nicht, wann es hier abgeladen wurde?« Ich blickte in die Gesichter um mich herum.
Pleasants ergriff das Wort. »An dieser Stelle haben seit zehn Uhr dreiundzwanzig Trucks ihren Müll abgeladen, dieser nicht mitgezählt.« Er deutete auf den Mülltransporter.
»Wieso gerade zehn Uhr?«, fragte ich, denn das schien mir ein ziemlich willkürlich gewählter Zeitpunkt.
»Weil wir um zehn die letzte Schicht Reifenspäne streuen. Vorher kann das also auf keinen Fall hier abgeladen worden sein«, erklärte Pleasants und starrte auf die Leiche. »Und meiner Meinung nach hat es nicht lange hier gelegen. Sieht nicht so aus, als wär es von einem Fünfzig-Tonnen-Kompaktor, von Lastwagen oder von diesem Bagger überrollt worden.«
Er blickte in die Ferne, wo gepresster Müll von Lkws gehievt und dann von riesigen Traktoren zermalmt und verteilt wurde. Der Fahrer des Mülltransporters wurde immer nervöser.
»Hier oben fahren überall große Maschinen herum«, fügte Pleasants hinzu. »Fast ununterbrochen.«
Ich sah zu dem Mülltransporter und dem leuchtend gelben Bagger mit seiner leeren Kabine hinüber. Ein Fetzen eines schwarzen Müllbeutels flatterte an der aufgerichteten Baggerschaufel.
»Wo ist der Fahrer des Baggers?«, fragte ich.
Pleasants zögerte, bevor er antwortete. »Tja, schätze, das bin ich. Es hat sich jemand krankgemeldet, da musste ich auf der Halde arbeiten.«
Grigg ging näher an den Bagger heran und blickte zu dem Überrest des Müllsacks empor, der sich in der heißen stickigen Luft hin und her bewegte.
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben«, forderte ich Pleasants auf.
»Nicht viel. Ich war gerade dabei, seinen Wagen zu entladen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Fahrer. »Da blieb der Müllsack, den Sie da sehen, an meiner Schaufel hängen. Er platzte auf, die Leiche fiel raus und landete dort, wo sie jetzt liegt.« Er hielt inne, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und wehrte Fliegen ab.
»Aber Sie wissen nicht genau, wo sie herkam«, versuchte ich es noch einmal. Grigg hörte zu, obwohl er ihre Aussagen vermutlich bereits aufgenommen hatte.
»Möglich, dass ich sie mit dem Bagger hochgewühlt hab«, räumte Pleasants ein. »Ich sag ja gar nicht, dass es so nicht gewesen sein kann. Ich glaube es nur nicht.«
»Das kommt, weil du es nicht glauben willst.« Wütend starrte der Fahrer ihn an.
»Ich weiß, was ich glaube.« Pleasants zuckte nicht mit der Wimper. »Meine Schaufel hat sie beim Entladen von deinem Laster geholt.«
»Mann, du weißt aber nicht genau, ob sie von mir stammt«, gab der Fahrer zurück.
»Nein, absolut sicher bin ich mir nicht. Aber es ist doch logisch.«
»Für dich vielleicht.« Das Gesicht des Fahrers verzerrte sich drohend.
»Ich glaube, das reicht, Jungs«, mahnte Grigg und trat wieder näher an sie heran, damit seine Präsenz sie daran erinnerte, dass er ein kräftiger Mann mit einer Waffe war.
»Da haben Sie recht«, sagte der Fahrer. »Ich hab die Nase voll von diesem Mist. Wann kann ich hier weg? Ich bin schon spät dran.«
»So eine Sache bringt für alle Beteiligten Unannehmlichkeiten mit sich«, entgegnete Grigg und sah ihn dabei fest an.
Der Fahrer verdrehte die Augen, fluchte halblaut, ging steifbeinig davon und zündete sich eine Zigarette an.
Ich zog das Thermometer aus der Leiche und hielt es hoch. Die Temperatur im Leberkern betrug neunundzwanzig Grad, genauso viel wie die Außentemperatur. Ich drehte den Rumpf um und bemerkte eine merkwürdige Ansammlung von mit Flüssigkeit gefüllten Pusteln am unteren Teil des Gesäßes. Bei genauerem Hinsehen fand ich an den Rändern tiefer Schnittwunden im Schulter- und Schenkelbereich Spuren weiterer Pusteln.
»Verpacken Sie sie doppelt in Leichensäcke«, ordnete ich an. »Ich muss den Müllbeutel haben, in dem sie gefunden wurde, einschließlich des Stücks, das dort oben an dem Bagger hängt. Und ich brauche den Abfall, der unmittelbar unter ihr und um sie herum liegt. Schicken Sie das alles zu mir.«
Grigg faltete einen Fünfundsiebzig-Liter-Müllsack auseinander und schüttelte ihn auf. Er zog Handschuhe aus der Tasche, hockte sich hin und fing an, Abfall aufzusammeln. Inzwischen öffneten die Sanitäter die Hecktüren des Krankenwagens. Der Fahrer des Mülltransporters lehnte an seiner Kabine, und ich spürte seinen Zorn wie Hitze.
»Woher stammt Ihr Wagen?«, fragte ich ihn.
»Gucken Sie doch aufs Nummernschild«, entgegnete er patzig.
»Wo in Virginia?« Ich dachte gar nicht daran, mich von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen.
Pleasants antwortete an seiner Stelle: »Aus der Gegend von Tidewater, Ma’am. Der Laster gehört uns. Die kann man bei uns leasen.«
Von der Hauptverwaltung der Mülldeponie aus hatte man einen Blick auf den Löschteich. Das Gebäude wirkte in der lauten, staubigen Umgebung seltsam fehl am Platz. Es war pfirsichfarben verputzt, vor den Fenstern hingen Blumenkästen, und der Plattenweg wurde von kunstvoll geschnittenen Büschen gesäumt. Die Fensterläden waren cremefarben gestrichen, und die Eingangstür zierte ein Messingklopfer in Form einer Ananas. Drinnen empfing mich eine herrlich saubere, kühle Luft, und ich begriff, warum Investigator Percy Ring seine Verhöre lieber hier führte. Ich hätte wetten können, dass er noch gar nicht am Tatort gewesen war.
Er saß zusammen mit einem älteren Mann in Hemdsärmeln im Aufenthaltsraum, trank Cola light und schaute sich Computerdiagramme an.
»Das ist Dr. Scarpetta. Entschuldigen Sie«, sagte Pleasants und fügte Ring zugewandt hinzu: »Ich weiß Ihren Vornamen nicht.«
Ring schenkte mir ein breites Lächeln und zwinkerte mir zu. »Die Frau Doktor und ich kennen uns schon recht lange.«
Er war blond, trug einen adretten blauen Anzug und verströmte eine jugendliche Unschuld, die äußerst überzeugend wirkte. Mich hatte er jedoch nie täuschen können. Er war ein großmäuliger, zur Faulheit neigender Blender, und es war mir nicht entgangen, dass fortwährend Informationen an die Presse durchsickerten, seit er mit diesen Fällen befasst war.
»Und dies ist Mr. Kitchen«, wandte sich Pleasants an mich. »Der Eigentümer der Deponie.«
Kitchen trug einfache Jeans und Timberland-Boots. Seine Augen waren grau und traurig, als er mir seine große raue Hand reichte.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte er und zog einen Stuhl hervor. »Heute ist ein ganz, ganz schlechter Tag. Besonders für diese Person dort draußen, wer immer das auch sein mag.«
»Die hat ihren schlechten Tag ja nun hinter sich«, sagte Ring. »Jetzt muss sie nicht mehr leiden.«
»Sind Sie dort oben gewesen?«, fragte ich ihn.
»Ich bin erst vor einer Stunde hier angekommen. Und das hier ist nicht der Tatort, sondern nur der Fundort«, sagte er. »Leiche Nummer fünf.« Er wickelte einen Streifen Juicy Fruit aus. »Er pausiert nicht mehr so lange, diesmal liegen nur zwei Monate dazwischen.«
Wie schon so oft wallte Ärger in mir auf. Ring liebte es, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und sie mit der Gewissheit eines Menschen zu äußern, der nicht genug weiß, um zu erkennen, dass er falschliegen könnte. Zum Teil rührte das daher, dass er Ergebnisse haben wollte, ohne etwas dafür zu tun.
»Ich habe den Leichnam bisher weder untersucht noch sein Geschlecht bestimmt«, sagte ich in der Hoffnung, ihm würde wieder einfallen, dass sich noch andere Leute im Raum befanden. »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, Vermutungen anzustellen.«
»Tja, ich geh dann«, sagte Pleasants nervös und steuerte auf die Tür zu.
»Denken Sie dran: In einer Stunde will ich Ihre Aussage aufnehmen«, rief ihm Ring hinterher.
Kitchen starrte schweigend auf die Diagramme, als Grigg hereinkam. Er nickte uns zu und nahm sich einen Stuhl.
»Die Feststellung, dass es sich hier um einen Mord handelt, halte ich nicht bloß für eine Vermutung«, sagte Ring zu mir.
»Das kann man so sagen.« Ich hielt seinem Blick stand.
»Und dass alles genau so ist wie bei den anderen Fällen.«
»Das kann man so nicht sagen. Ich habe die Leiche noch nicht untersucht«, entgegnete ich.
Kitchen rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Möchte jemand ein Mineralwasser? Kaffee vielleicht?«, fragte er. »Die Toiletten sind übrigens auf dem Gang.«
»Die gleiche Geschichte«, beharrte Ring, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. »Wieder ein Rumpf und wieder auf einer Mülldeponie.«
Grigg beobachtete uns mit ausdruckslosem Gesicht und trommelte unruhig auf sein Notizbuch. Er spielte an seinem Kugelschreiber herum und sagte zu Ring: »Ich bin der gleichen Meinung wie Dr. Scarpetta. Wir sollten besser noch keine Verbindung zwischen diesem und irgendwelchen anderen Fällen herstellen. Vor allem nicht vor der Öffentlichkeit.«
»Ach du lieber Gott. Auf diese Art von Publicity kann ich gut verzichten«, schnaufte Kitchen. »Wissen Sie, wenn man in dieser Branche arbeitet, ist einem schon klar, dass so etwas passieren kann, besonders, wenn der Müll aus Orten wie New York, New Jersey oder Chicago stammt. Aber man glaubt doch nie, dass tatsächlich einmal auf der eigenen Deponie eine Leiche gefunden wird.« Er sah Grigg an. »Ich würde gern eine Belohnung aussetzen, damit derjenige, der diese schreckliche Tat begangen hat, möglichst schnell gefasst wird. Zehntausend Dollar für den Hinweis, der zu seiner Verhaftung führt.«
»Das ist sehr großzügig«, sagte Grigg beeindruckt.
»Gilt das auch für Ermittlungsbeamte?«, grinste Ring.
»Es ist mir egal, wer den Fall löst.« Mit unbewegtem Gesicht wandte sich Kitchen mir zu. »Jetzt sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann, Ma’am.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, benutzen Sie ein Satellitenortungssystem«, sagte ich. »Stammen daher diese Diagramme?«
»Ja, ich war gerade dabei, sie zu erläutern«, erwiderte Kitchen.
Er schob ein paar zu mir herüber. Die Wellenlinienmuster darauf sahen aus wie Gesteinsquerschnitte und waren mit Koordinaten versehen.
»Das ist die Müllhalde aus der Vogelperspektive«, erklärte Kitchen. »Wir können stündlich, täglich, wöchentlich, wann auch immer eine Aufnahme davon machen, wenn wir rauskriegen wollen, woher der Müll stammt und wo er abgeladen wurde. Mittels dieser Koordinaten lassen sich einzelne Punkte auf der Karte genau bestimmen.« Er tippte auf das Papier. »Das ist so ähnlich wie das Zeichnen einer Kurve in Geometrie oder Algebra.« Er blickte zu mir hoch und fügte hinzu: »Ich nehme an, damit hat man Sie in der Schule auch irgendwann gequält.«
»Gequält ist das treffende Wort.« Ich lächelte ihn an. »Das heißt also, wenn Sie diese Bilder vergleichen, können Sie sehen, wie sich die Oberfläche der Halde von Ladung zu Ladung verändert.«
Er nickte. »Ja, Ma’am. Kurz gesagt heißt es das.«
»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Er legte acht Karten nebeneinander. Auf jeder sahen die Wellenlinien anders aus, wie unterschiedliche Falten im Gesicht ein und desselben Menschen.
»Jede Linie steht für eine bestimmte Höhe«, sagte er. »Wir können ziemlich genau sagen, welcher Truck welche Höhenveränderung verursacht hat.«
Ring leerte seine Cola-Dose und warf sie in den Müll. Er blätterte in seinem Notizblock, als suche er irgendetwas.
»Der Leichnam kann nicht sehr tief gelegen haben«, sagte ich. »In Anbetracht der Umstände ist er sehr sauber. Er hat keine postmortalen Verletzungen. Soweit ich draußen gesehen habe, hieven die Raupenbagger Müllballen von den Lastern und zerquetschen sie. Sie verteilen den Müll am Boden, damit der Kompaktor ihn zusammenschieben, zerkleinern und komprimieren kann.«
»Stimmt haargenau.« Kitchen sah mich interessiert an. »Suchen Sie einen Job?«
Mir gingen Bilder von Erdbewegungsmaschinen durch den Kopf, die aussahen wie mechanische Dinosaurier und die ihre Klauen in plastikumhüllte Ballen auf Lastwagen schlugen. Die Verletzungen der bisherigen Opfer, dieser zerquetschten und zerfetzten menschlichen Überreste, kannte ich in- und auswendig. Abgesehen von dem, was der Mörder ihr angetan hatte, war dieses Opfer unverletzt.
»Es ist schwer, fähige Frauen zu finden«, sagte Kitchen.
»Das können Sie laut sagen, mein Lieber«, erwiderte Ring, während Grigg ihn mit wachsendem Abscheu beobachtete.
»Klingt logisch«, bemerkte Grigg. »Wenn die Leiche schon länger auf dem Gelände gelegen hätte, wäre sie ziemlich hinüber.«
»Die ersten vier sahen wirklich übel aus«, sagte Ring. »Das reinste Hackfleisch.« Er schaute mich an. »Macht die hier den Eindruck, als sei sie in eine Müllpresse geraten?«
»Der Leichnam sieht nicht zerquetscht aus«, antwortete ich.
»Hm, das ist interessant«, sinnierte er. »Wieso nicht?«
»Sie kommt halt nicht aus einer Transferstation, wo der Müll zu Ballen gepresst wird«, erwiderte Kitchen, »sondern aus einem Müllcontainer, der von dem Transporter geleert wurde.«
»Aber auch im Transporter wird der Müll doch gepresst«, wandte Ring ein.
»Es kommt darauf an, wo genau im Wagen die Leiche sich befand, als der Müll komprimiert wurde«, sagte ich. »Es kommt auf alle möglichen Dinge an.«
»Oder ob der Müll überhaupt komprimiert wurde, je nachdem, wie voll der Laster war«, ergänzte Kitchen. »Wenn Sie mich fragen, wo genau die Leiche nun herkam, würde ich sagen, sie stammt von dem Transporter. Höchstens noch von einem der beiden Laster davor.«
»Ich schätze, dann brauche ich die Namen der Fahrer dieser Lastwagen und ihren Herkunftsort«, sagte Ring. »Wir müssen sie vernehmen.«
»Sie betrachten also die Fahrer als Tatverdächtige«, meinte Grigg kühl. »Ziemlich originell, das muss ich Ihnen lassen. So wie ich das sehe, stammt der Müll aber nicht von ihnen. Er stammt von den Leuten, die ihn weggeworfen haben. Und ich gehe davon aus, dass einer von denen derjenige ist, den wir suchen.«
Ring sah ihn völlig ungerührt an. »Ich möchte mir nur anhören, was die Fahrer zu sagen haben. Man kann nie wissen. Vielleicht ist das Ganze nur inszeniert. Man lädt eine Leiche an einem Ort ab, der auf der eigenen Route liegt, und sorgt dafür, dass man sie selbst auf die Deponie bringt. Oder man wirft sie gleich auf den eigenen Laster. Dann wird man von niemandem verdächtigt, stimmt’s?«
Grigg stieß seinen Stuhl zurück. Er löste seinen Kragen, und sein Kiefer mahlte, als schmerze er. Zuerst knackte sein Hals, dann seine Fingerknöchel. Schließlich knallte er sein Notizbuch auf den Tisch, und alle Blicke richteten sich auf ihn, während er Ring wütend anstarrte.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich diese Sache bearbeite?«, fauchte er den jungen Ermittlungsbeamten an. »Mir ist sehr daran gelegen, den Job zu machen, für den ich bezahlt werde. Und ich glaube, das hier ist mein Fall und nicht Ihrer.«
»Ich bin nur hier, um zu helfen«, sagte Ring gelassen und zuckte wieder mit den Schultern.
»Ich wusste nicht, dass ich Hilfe brauche«, erwiderte Grigg.
»Als der zweite Rumpf in einem anderen County gefunden wurde als der erste, hat die Polizei von Virginia eine überregionale Sonderkommission gebildet«, erklärte Ring. »Sie sind ein bisschen spät dran, mein Lieber. Sieht so aus, als könnten Sie ein paar Informationen von jemandem gebrauchen, der schon länger dabei ist.«
Aber Grigg hörte schon gar nicht mehr hin, sondern wandte sich an Kitchen: »Die Fahrzeugdaten hätte ich auch gern.«
»Wie wär’s, wenn ich sicherheitshalber die Daten der letzten fünf Trucks besorge, die oben waren?«, fragte Kitchen in die Runde.
»Das wäre eine große Hilfe«, sagte ich und stand vom Tisch auf. »Je eher Sie dazu kommen, desto besser.«
»Um wie viel Uhr fangen Sie morgen damit an?«, fragte mich Ring, der auf seinem Stuhl sitzen blieb, als gäbe es im Leben wenig zu tun und Zeit im Überfluss.
»Sprechen Sie von der Autopsie?«
»Allerdings.«
»Ich öffne diese Leiche wohl erst in ein paar Tagen.«
»Wieso?«
»Das Wichtigste ist die äußere Leichenschau. Sie wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen.« Ich sah, wie sich sein Interesse verflüchtigte. »Ich muss im Müll nach Spuren suchen, Knochen mazerieren, einen Entomologen wegen des Alters der Maden zu Rate ziehen, damit ich abschätzen kann, wann die Leiche im Müll gelandet ist, und so weiter.«
»Vielleicht ist es besser, wenn Sie mir dann einfach Ihre Ergebnisse mitteilen«, schloss er.
Grigg folgte mir zur Tür hinaus, schüttelte den Kopf und sagte in seiner langsamen, leisen Art: »Als ich vor langer Zeit aus der Army entlassen wurde, wollte ich unbedingt zur State Police. Kaum zu glauben, dass die solche Volltrottel einstellen.«
»Zum Glück sind nicht alle so«, erwiderte ich.
Als wir in die Sonne hinaustraten, bewegte sich der Krankenwagen gerade langsam zur Ausfahrt der Mülldeponie. Tuckernde Lastwagen standen Schlange vor der Waschanlage, während der Berg eine neue Schicht aus zerkleinerten Resten des modernen Amerika erhielt. Es war schon dunkel, als wir bei unseren Wagen ankamen. Grigg blieb vor meinem stehen.
»Ich hab mich schon gefragt, wem der wohl gehört«, sagte er voller Bewunderung. »Eines schönen Tages werde ich auch so einen fahren. Irgendwann mal.«
Ich lächelte ihm zu und schloss meine Tür auf. »Dem fehlen aber so wichtige Dinge wie Sirene und Blaulicht.«
Er lachte. »Marino und ich sind im selben Kegelclub. Sein Team heißt Balls of Fire, meins Lucky Strikes. Der alte Junge ist so ziemlich der unsportlichste Mensch, den ich kenne. Ist permanent am Spachteln und Biertrinken. Und dann glaubt er auch noch, dass alle mogeln. Letztes Mal hatte er eine Frau dabei.« Er schüttelte den Kopf. »Sie kegelte wie Wilma Feuerstein, und so war sie auch angezogen. So was mit Leopardenmuster. Fehlte bloß noch der Knochen im Haar. Na ja, grüßen Sie ihn von mir.«
Sein Schlüsselbund klirrte, als er davonging.
»Detective Grigg! Danke für Ihre Hilfe«, sagte ich.
Er nickte mir zu und stieg in seinen Caprice.
Beim Planen meines Hauses habe ich darauf geachtet, dass die Waschküche direkt von der Garage abgeht, denn nach der Arbeit an Tatorten wie diesem wollte ich den Tod nicht durch die Räume schleppen, in denen sich mein Privatleben abspielt. Wenige Minuten nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, steckten meine Sachen in der Waschmaschine, und Schuhe und Stiefel lagen in einem extragroßen Spülbecken, wo ich sie mit Waschmittel und einer harten Bürste schrubbte.