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Hauptkommissar Stefan Brecht hat in seinem Berufsleben schon einiges erlebt und so ist der Mord an einem Vorstandsmitglied der Elfor AG zunächst nichts Ungewöhnliches. Gemeinsam mit seiner Kollegin Tanja Radowski nimmt er die Ermittlungen auf, doch je tiefer er gräbt, desto mehr Verdächtige tauchen auf, und jeder von ihnen hätte ein Motiv. Zudem machen die Verdächtigen keinen Hehl daraus, dass ihr Verhältnis zu dem Toten nicht das Beste war. Schnell wird klar, dieser Fall wird anders.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hauptkommissar Stefan Brecht hat in seinem Berufsleben schon einiges erlebt und so ist der Mord an einem Vorstandsmitglied der Elfor AG zunächst nichts Ungewöhnliches. Gemeinsam mit seiner Kollegin Tanja Radowski nimmt er die Ermittlungen auf, doch je tiefer er gräbt, desto mehr Verdächtige tauchen auf, und jeder von ihnen hätte ein Motiv. Zudem machen die Verdächtigen keinen Hehl daraus, dass ihr Verhältnis zu dem Toten nicht das Beste war. Schnell wird klar, dieser Fall wird anders.
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Die folgende Geschichte könnte in fast jeder Großstadt der Welt spielen. Ich habe mich aber für Wuppertal entschieden. Bei den Recherchen wurde mir schnell klar, dass ich in einem Krimi, anders als in meinen anderen Büchern, die Stadt stärker in den Mittelpunkt stellen muss. Was lag also näher, als die Stadt zu wählen, in der ich lebe und aufgewachsen bin. Keine andere Stadt kenne ich besser, was mir das Beschreiben von Orten und das Abschätzen von Entfernungen wesentlich erleichtert hat. Dennoch wird der ortskundige Leser feststellen, dass einige Orte frei erfunden sind. Das liegt zum einen an der Geschichte, zum anderen aber auch daran, dass ich keine real existierenden Orte zu Tatorten machen wollte. Niemand sollte das Buch lesen und feststellen müssen, dass er mit einem Mörder im selben Haus wohnt. Die genannten Straßen gibt es zwar alle, aber die Hausnummern zum Beispiel sind zum Zeitpunkt der Recherche noch nicht vergeben. Ich habe mich daher bemüht, direkte Bezüge zu vermeiden und Namen frei zu erfinden. Sollte es trotz aller Bemühungen zu irgendwelchen Ähnlichkeiten gekommen sein, so sind diese rein zufällig und ohne Absicht entstanden.
Es war wieder einmal spät, als Horst Brecht die Tür zu seinem Einfamilienhaus öffnete. Normalerweise versuchte er, pünktlich Feierabend zu machen, aber manchmal kam eben doch etwas dazwischen. Vor allem, wenn ein Kunde noch auf seinen Besuch wartete, um ein größeres Projekt zu besprechen. Brecht wusste, dass sich einige Mitbewerber in der Branche um dieses Projekt reißen würden, aber er hatte inzwischen mehr als nur einen Fuß in der Tür. Dieser Auftrag würde seine Elektroinstallationsfirma für mehrere Monate auslasten.
Er schloss die Tür hinter sich und stellte die Aktentasche neben die Kommode im Flur. Seine Jacke hängte er an die Garderode und betrachtete sich kurz im Spiegel. Dann durchquerte er den Flur und betrat die Küche, aus der es schon nach Essen roch. Seine Frau stand an der Spüle und reinigte Messer und Bratpfanne.
Als sie ihn hörte, blickte sie auf und lächelte. Er begrüßte sie mit einem Kuss.
»Bin ich zu spät?«, fragte er.
»Nein, genau richtig. Der Auflauf ist gleich fertig.« Brecht bückte sich und sah in den Backofen.
»Schnitzelauflauf!«, stellte er mit einer gewissen Vorfreude fest.
»Ja, ging jetzt am schnellsten, ich bin auch erst seit einer Stunde wieder zu Hause.« Sie nahm die Bratpfanne und begann sie abzutrocknen.
Brecht sah sie fragend an.
»Wo warst du?« »Mit deinem Sohn im Krankenhaus.« Sie schob ihn etwas zur Seite, um die Pfanne in einer Schublade zu verstauen.
»Ist nichts Schlimmes. Eine Platzwunde am Kopf«, erklärte sie weiter.
»Hat er sich wieder geprügelt?«
»Was sonst?« Sie richtete sich auf und sah ihren Mann ratlos an. »Ich weiß nicht, was wir noch machen sollen, aber das ist diesen Monat das zweite Mal.«
»Wie geht es ihm? Ist er …?«
»Nein, er musste nicht bleiben. Es geht ihm so weit gut. Er ist oben in seinem Zimmer.« Brecht drehte sich herum, um nach seinem Sohn zu sehen.
»Der Schulleiter will mit uns sprechen.« Er blieb kurz stehen und sah seine Frau nachdenklich an.
»Horst, das kann so nicht weitergehen.« Brecht nickte.
»Ich rede mit ihm«, entgegnete er und ging zur Treppe.
»Bring ihn dann mit runter. Wir können essen«, rief seine Frau ihm nach.
Stefan lag auf seinem Bett und blätterte in einem Superhelden Comic. Der Zwölfjährige war ein Fan dieser Geschichten und an den Wänden seines Zimmers hingen die Poster seiner Helden. Da die Tür aufstand, betrat Brecht direkt das Zimmer und setzte sich zu ihm aufs Bett. Stefan ließ den Comic sinken und gab damit den Blick auf das Pflaster auf der linken Seite der Stirn frei. Die Oberlippe war noch stark geschwollen und insgesamt wirkte er etwas blass.
»Hey, wie gehts?«, fragte Brecht.
»Ganz okay. Tut nur noch ein bisschen weh.«
»Was ist passiert?«
»Na was schon? Mama hat es doch bestimmt schon erzählt.«
»Nicht, warum du dich schon wieder geprügelt hast.«
Stefan sah seinen Vater entschlossen an.
»Die haben wieder Renè geärgert. Sie haben ihm die Luftpumpe weggenommen und dann die Luft aus den Rädern seines Fahrrads gelassen.«
»Sie?«
»Ja, Thomas und die anderen.«
»Und du hast dich mal wieder dazu berufen gefühlt, René zu helfen?«
Es war nicht das erste Mal, dass sich Stefan in einen solchen Konflikt eingemischt hatte. Nicht immer war er daraufhin im Krankenhaus gelandet, aber schon mehrfach im Büro des Schulleiters.
»Wenn es sonst keiner tut. Ich habe die nur aufgefordert, wenigstens die Luftpumpe zurückzugeben. Das sind fast zehn Kilometer bis zu René nach Hause.«
»Hast du Zeugen?«
Der Junge sah seinen Vater schweigend an. Natürlich hatte er keine, denn die Jungen vollzogen ihre Übergriffe auf René oder andere Kinder nur selten vor versammelter Mannschaft auf dem Schulhof. Auch diesmal hatten sie genau den Moment abgepasst, als sich René allein in dem etwas abgelegenen Bereich der Fahrradständer befand.
»Du weißt, was jetzt passiert? Thomas wird den Spieß herumdrehen, seine Kumpels werden das bestätigen und du wirst wieder als Schuldiger dastehen.«
»Alle wissen, dass es nicht so ist.«
»Ja, nur etwas zu wissen und etwas zu beweisen sind zwei unterschiedliche Dinge.«
»Aber wenn niemand etwas tut, dann können Jungen wie Thomas immer weiter machen.«
»Dann hol demnächst einen Lehrer dazu.«
»Das dauert doch viel zu lange.«
Brecht machte einen tiefen Atemzug und erhob sich vom Bett. Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Natürlich konnte er seinen Sohn verstehen und dennoch musste Stefan einsehen, dass er nicht alles Unrecht der Welt verhindern konnte. Im ungünstigsten Fall würde er von der Schule verwiesen. Der Schulleiter hatte das schon beim letzten Mal angedroht und dass er jetzt wieder zu einem Gespräch eingeladen hatte, verhieß nichts Gutes.
»Herr Assmann will mit uns reden. Du weißt, was das bedeuten könnte?«, wandte er sich wieder an seinen Sohn.
»Ja«, gab Stefan kleinlaut zu und senkte den Blick.
»Mensch Junge, überleg doch mal. Das ist deine Zukunft, die du dir verbaust. Wenn du die Schule verlassen musst, hast du täglich einen viel weiteren Weg zur nächsten Schule. Du verlierst deine Freunde. Und wofür? Für einen Jungen, den du kaum kennst. Der nicht mal in deiner Klasse ist und Thomas hältst du damit auch nicht auf.«
»Ich soll einfach wegsehen, wenn etwas Ungerechtes geschieht? Herr Assmann weiß selbst, dass Thomas ein Arschloch ist. Warum wirft er ihn nicht von der Schule?«
»Weil er das nicht kann. Thomas hat Zeugen, du nicht. Er könnte einen Schulverweis nicht rechtfertigen.«
»Das ist so ungerecht.«
»Ja ist es«, gab Brecht zu und setzte sich wieder zu seinem Sohn. »Weißt du«, fuhr er fort und deutete mit einem Blick auf den Comic, »in der Welt von Superman und seinen Freunden wird das Böse am Ende immer bestraft. In der realen Welt ist das leider nicht so.«
»Dann sollte man das ändern!«
»Stimmt, aber nicht mal die Polizei kann das. Frag deinen Opa. Ohne Beweise kann auch er niemanden festnehmen.«
Brecht stand auf und ging zur Tür.
»Komm, wir gehen essen. Mama hat Schnitzelauflauf gemacht.«
»Mama hat Schnitzelauflauf gemacht?«, wiederholte sein Sohn überrascht.
»Ja, und ich glaube eine ganz besonders große Portion.«
Stefan legte den Comic aufs Bett, erhob sich und folgte seinem Vater.
Schnitzelauflauf war eine seiner Lieblingsspeisen und er aß zwei große Portionen davon. Anschließend zog er sich wieder in sein Zimmer zurück und las noch den Comic zu Ende, bis irgendwann sein Vater kam, um ihm gute Nacht zu sagen und das Licht auszuschalten.
Während Stefan noch unter die dunkle Zimmerdecke starrte, spürte er das Pochen in der Wunde am Kopf. Das Schmerzmittel, das der Arzt ihm im Krankenhaus gegeben hatte, schien langsam seine Wirkung zu verlieren.
Der Gedanke an die Schule ging ihm durch den Kopf. Wenn er seiner Mutter morgen sagen würde, dass es ihm noch nicht gut geht, wären bestimmt ein bis zwei Tage schulfrei drin.
Diese Möglichkeit sollte er nicht ungenutzt lassen.
Mit diesem Gedanken schlief er ein, wurde aber kurz darauf wieder geweckt. Ein lautes Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Er drehte den Kopf und schaute auf seinen Radiowecker. Es war kurz nach Mitternacht. Offensichtlich hatte er länger geschlafen, als es ihm vorkam.
Wieder ertönte ein lauter Knall und im selben Moment wusste Stefan, was ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Unten im Haus polterte etwas, dann wurde eine Tür zugeschlagen.
Draußen heulte ein Motor auf und ein Auto fuhr schnell davon. Dann wurde es ganz still.
Stefan lag reglos in seinem Bett. Er spürte sein Herz klopfen.
Irgendetwas musste passiert sein, aber solange seine Eltern nicht zu ihm kamen, würde es nicht so schlimm sein. Unruhig lauschte er in die Dunkelheit, doch im Haus war kein Laut zu hören. Was taten seine Eltern da unten? Warum kamen sie nicht wieder ins Bett?
Die Unwissenheit ließ ihm keine Ruhe. Er schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Unschlüssig blieb er einen Moment auf der Bettkante sitzen. Noch einmal lauschte er in die Dunkelheit. Er hoffte, seine Eltern zu hören, wie sie die Treppe heraufkamen, um schlafen zu gehen. Aber es blieb still. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören.
Stefan rutsche vom Bett und ging langsam zur Tür. Zögernd öffnete er sie und sah nach draußen. Von unten schien Licht die Treppe hinauf. Unentschlossen betrat er den kleinen Flur. Die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern stand auf.
Eine der Bettdecken lag auf dem Fußboden.
»Mama? – Papa?«, rief Stefan zaghaft.
Wo waren seine Eltern? Hatten sie ihn allein gelassen? Waren sie es, die eben mit dem Auto so eilig weggefahren waren? Warum hatten sie ihn nicht mitgenommen?
Stefan näherte sich der Treppe, legte seine Hände auf das Geländer und beugte sich etwas nach vorne, um nach unten zu sehen.
»Mama?«, rief er nach unten und diesmal etwas lauter.
Aber auch darauf erhielt er keine Antwort. Er drehte sich zur Treppe und stieg sie Stufe für Stufe herunter. Im Wohnzimmer brannte Licht und auch aus dem Arbeitszimmer seines Vaters fiel ein Lichtschein in den Flur. Stefan blieb am Ende der Treppe stehen.
»Papa?«
Wieder antwortete ihm niemand. Seine Hand glitt vom Geländer und er durchquerte langsam den Flur. Vor der Wohnzimmertür blieb er kurz stehen. Die Tür zur Terrasse stand weit offen, aber die Terrassenbeleuchtung, die seine Eltern immer eingeschaltet hatten, wenn sie abends noch draußen saßen, brannte nicht.
Wie in Trance durchquerte Stefan den Flur und ging auf das Arbeitszimmer zu, wo er wie erstarrt in der Tür stehen blieb.
Was er sah, würde sein Verstand für lange Zeit nicht fassen können und ihn für den Rest seines Lebens prägen.
Seine Eltern lagen nur mit ihren Pyjamas bekleidet auf dem Boden. Der Kopf seiner Mutter ruhte auf dem Oberkörper seines Vaters und ihre offenen Augen schienen ihn anzusehen. Der Schreibtischstuhl war umgekippt und die Tresortür stand offen. Erst nach all diesen nebensächlichen Beobachtungen entdeckte er das Blut, während gleichzeitig das Martinshorn ertönte und Hauptkommissar Stefan Brecht gnadenlos aus seinem Traum riss.
Dienstag
Schlaftrunken tastete er mit der linken Hand nach dem Nachttisch und dem darauf liegenden Handy. Er brauchte einen Moment, während sich der Klingelton penetrant in sein Gehör bohrte. Bei der nächsten Gelegenheit würde er ihn ändern. Leichte Entspannungsmusik oder Meeresrauschen kamen ihm spontan in den Sinn.
Er bekam das Handy zu greifen und drehte sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken. Am anderen Ende meldete sich seine Kollegin. Sie war vermutlich die Einzige, die sich trauen würde, um diese Uhrzeit anzurufen. Brecht hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. Er drehte den Kopf und blinzelte mit einem Auge zum Wecker. Es war kurz nach sechs.
Seine Kollegin war offensichtlich schon hellwach. Sie informierte ihn über einen neuen Fall und dass sie bereits so gut wie unterwegs zum Tatort sei. Anschließend gab sie ihm noch die Adresse durch und verabschiedete sich mit einem fröhlichen „bis gleich“.
Brecht stöhnte leise und ließ die Hand mit dem Handy neben sich auf das Bett sinken. Bis gleich hörte sich wie eine Verabredung zu einem schönen Treffen an, aber dem war nicht so. An der Adresse, die er bekommen hatte, wartete Arbeit auf ihn. Dabei hatte er sich auf ein paar freie Tage gefreut.
Der letzte Fall war gerade erst abgeschlossen. Nicht einmal achtundvierzig Stunden lagen dazwischen.
Der Traum kehrte wieder in seine Erinnerung zurück. Häufig konnte er sich nicht an seine Träume erinnern, aber dieser war so klar, als hätte er das alles gerade erst erlebt. Das Ereignis lag bereits fast vierzig Jahre zurück und dennoch ließ es ihn immer noch nicht los. Es hatte damals seine Berufswahl entscheidend beeinflusst. Ob das gut war, hatte er in der Vergangenheit schon mehrfach angezweifelt. Aber jetzt machte er den Job bereits sein ganzes Leben lang.
Langsam erhob er sich, blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen und rieb sich mit den Händen durch das Gesicht. Hatte er eigentlich noch etwas zum Anziehen? Er müsste dringend mal wieder Wäsche waschen, aber daraus würde jetzt vermutlich wieder nichts werden. Auf dem Sessel gegenüber türmte sich ein Berg bereits getragener Kleidungsstücke. Irgendwas davon musste noch brauchbar sein.
Er stand auf, zog ein graues Sweatshirt mit Troyerkragen heraus, roch kurz daran und warf es dann mit einer schwarzen Jeans aufs Bett. Im Schrank fand er noch vier Paar Socken. Ein eindeutiges Zeichen für die Dringlichkeit einer anstehenden Wäsche. Er verschwand zum Duschen im Bad und war kurz darauf unterwegs zur angegebenen Adresse.
Brecht lebte in Cronenberg, einem südwestlich gelegenen Stadtteil von Wuppertal. Im Stadtbezirk Sudberg bewohnte er ein Haus, das er seiner Frau damals nach der Scheidung abgekauft hatte. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von dem Haus zu trennen und er mochte den Wohnort. Sudberg war ruhig, von viel Grün umgeben und irgendwie ein bisschen ländlich.
Sein morgendlicher Weg führte ihn in der Regel über die Hahnerberger Straße, an der auch Costas Kiosk lag. Der kleine Laden, der zudem auch Paketshop war, konnte problemlos mit den großen Discountern mithalten. Costa Papadakis bot hier von losen Süßigkeiten für Kinder bis zum Alkohol für Erwachsene alles an. Zusätzlich gab es hier morgens Kaffee und frische Brötchen. Er war damals als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, hatte die ersten Jahre bei der Deutschen Bahn gearbeitet und sich später mit dem Kiosk selbstständig gemacht. Hatte er zuerst nur Zeitungen und Zigaretten verkauft, war sein Sortiment mit der Zeit immer weiter gewachsen. Inzwischen war der Laden längst zu klein geworden und mehr als drei Leute fanden hier kaum Platz.
Brecht parkte direkt davor und betrat den kleinen Laden durch die offenstehende Tür, die mit einem Holzkeil festgestellt worden war. Die meisten seiner Tage begannen mit einem Besuch bei Costa. Brecht war kein besonders häuslicher Typ. Selbst Frühstück machen war ihm schon lästig, daher versorgte er sich hier mit dem Nötigsten, was meistens nur ein Kaffee war.
»Guten Morgen«, grüßte er, auch wenn er an diesem Morgen eigentlich nichts Gutes finden konnte.
Warme, abgestandene Luft der Nacht schlug ihm entgegen.
Darüber lag der Geruch von frischem Kaffee.
»Oh der Herr Kommissar. So früh schon«, entgegnete Papadakis mit seinem griechischen Akzent.
»Hauptkommissar. So viel Zeit muss sein.«
»Ist da heute jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden?«, fragte Papadakis lachend und stellte gleichzeitig einen Einwegbecher unter die Kaffeemaschine.
»Nicht nur der Fuß. Es ist insgesamt falsch, dass ich aufgestanden bin.«
»Sehen Sie das positiv. Sie sind nicht der einzige.«
»Ja, das tröstet mich jetzt wirklich.«
Der Grieche mit den kurz rasierten grauen Haaren drückte einen Deckel mit Trinkschnabel auf den Becher und stellte ihn auf die Theke. Brecht legte wie immer eine zwei Euro Münze auf die Theke, obwohl der Kaffee nur ein Euro achtzig kostete.
»Danke und schönen Tag noch«, sagte er dann und verließ den Laden.
»Ihnen auch und schnappen Sie sich die bösen Jungs.«
Brecht machte einen tiefen Atemzug. Es gab einfach zu viele böse Jungs und manchmal kam ihm sein Job wie ein Kampf gegen Windmühlen vor. Für jeden, den er von der Straße holte, schienen zwei neue nachzurücken. Die Welt wurde immer verrückter und Motive immer belangloser. Als er sich damals entschloss, zur Polizei zu gehen, tat er dies mit der Absicht, dabei zu helfen, die Welt ein wenig besser zu machen. Jetzt war er bereits seit siebzehn Jahren bei der Kriminalpolizei und an seiner Einstellung hatte sich nichts verändert. Allerdings war ihm inzwischen klar geworden, dass seine Tätigkeit nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein war. Er stieg wieder in sein Auto, trank einen Schluck vom Kaffee und fuhr dann zum Tatort.
Die Adresse lag in einem Wuppertaler Nobelviertel, in dem um diese Zeit noch nicht viel los war. Die Menschen, die hier lebten, standen in der Regel um diese Zeit noch nicht auf.
Brecht fuhr an zahllosen Villen mit ihren gepflegten Vorgärten vorbei, bog ein paar Mal ab und gelangte in einen Abschnitt, in dem die Villen hinter hohen Hecken und Mauern verschwanden. Die Zielstraße war eine Sackgasse. Im Wendehammer stand ein Polizeifahrzeug mit zwei Beamten, die offensichtlich den Zugang zu einem Grundstück kontrollierten. Es war von einer weißen Mauer umgeben. Das schwarze Gittertor stand auf und gab den Weg auf das dahinter liegende Grundstück frei. Brecht stoppte sein Fahrzeug, ließ die Seitenscheibe herunter und hielt dem Polizisten seinen Ausweis entgegen.
»Ich nehme an, ich muss da rein?«, fragte er vorsichtshalber.
»Ja, immer dem Weg nach. Ist noch ein Stück. Die Kollegen sind schon da.«
»Danke«, antwortete Brecht und rollte langsam durch die Einfahrt.
Der mit Natursteinen gepflasterte Weg führt in einem geschwungenen Bogen durch einen gepflegten Garten aus Sträuchern, Blumen und kleinen Hecken und endete an einer weißen zweistöckigen Villa. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses plätscherte ein Brunnen aus weißem Stein, auf dem eine Frauenfigur Wasser aus einem Krug goss.
Brecht parkte sein Auto auf dem Vorplatz und stieg aus. Interessiert sah er sich um. Dem Besitzer schien es nicht an Geld zu mangeln. Schon allein die Pflege des Grundstücks musste Unsummen verschlingen. Das Haus bestand aus viel Glas mit Applikationen aus hellem Holz. Auch davor wuchsen sauber geschnittene Büsche und Blumenstauden. Daneben und etwas nach hinten versetzt befand sich eine große Doppelgarage, deren Tor offen stand. Der Platz davor war überdacht und darüber lag anscheinend eine Terrasse.
Zwei Kombis auf dem Vorplatz zeugten davon, dass die Spurensicherung schon ihre Arbeit aufgenommen hatte. Direkt dahinter parkte ein Motorrad. Brecht erkannte die schwarze Honda Fireblade sofort. An dem Lenker hing der Helm, den die Fahrerin dort zurückgelassen hatte. Tanja Radowski war mit ihren dreiundvierzig Jahren gute acht Jahre jünger als Brecht. Kurz nach ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin war sie ihm zugeteilt worden. Das war inzwischen fast zwölf Jahre her.
Obwohl sie sich in vielen Dingen unterschieden, kamen sie als Team gut zurecht. Sie stand im Eingang der Garage und sprach mit dem Leiter der Spurensicherung, der in einen weißen Overall gehüllt war. Brecht trank seinen Kaffee aus und ließ den Becher auf seinem Autodach zurück, bevor er auf die Garage zuging.
»Okay, dann warten wir die Untersuchung ab«, hörte er Radowski sagen.
Ihr Gesprächspartner nickte kurz und verschwand wieder in der Garage.
»Morgen Stefan«, begrüßte sie ihn und kam ihm ein Stück entgegen.
Trotz der Uhrzeit sah sie gut aus. Ihre asymmetrisch geschnittenen, kastanienbraunen Haare mit dem großzügigen Seitenscheitel lagen tadellos. Die perfekt sitzende Jeans und die schwarze Motorradjacke ließen sie jünger aussehen, als sie war. Diese Tatsache hatte schon zu der Frage geführt, ob er seine Tochter einarbeiten würde. Tatsächlich war er eher der optische Gegensatz. Seine kurzen dunklen Haare bekamen seit einiger Zeit immer mehr graue Strähnen und auch sein Dreitagebart wurde zunehmend grauer. Seit er die Fünfzig überschritten hatte, schien sich die Entwicklung dramatisch zu beschleunigen. Grundsätzlich hatte er kein Problem damit, solange man ihn nicht für den Vater einer dreiundvierzigjährigen hielt.
»Entschuldige, wenn ich dich aus deinem Schönheitsschlaf geholt habe«, sagte sie und blieb vor ihm stehen.
»Hast du aber.«
Abschätzend sah sie ihn mit ihren braunen Augen an. Hinter ihr leuchtete mehrmals Blitzlicht in der Garage auf.
»Hat bisher anscheinend aber noch nicht so viel gebracht.«
»Die Wirkung tritt immer erst zum Ende ein.«
»Dann muss das aber noch weit entfernt gewesen sein.«
»Danke, ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Er setzte sich in Bewegung und ging an ihr vorbei.
»Ich nehme an, du hast den Fall inzwischen schon gelöst.«
Radowski folgte ihm.
»Nicht ganz. Mir fehlen noch der Täter und das Motiv.«
Brecht blieb stehen.
»Und was hast du die ganze Zeit hier gemacht?«
»Ich habe die Tatwaffe.«
»Also gehe ich davon aus, das Opfer ist nicht erschossen worden.«
»Nein, es ist mit einem Hammer erschlagen worden.«
Brecht blickte kurz zur Garage, bevor er seine Kollegin wieder ansah.
»Bitte nicht so ein Ritualmord mit einem mysteriösen Hammermörder.«
»Komm mit und sieh es dir an.«
Er folgte ihr zur Garage, in der sich zwei Fahrzeuge befanden. Ein schwarzer SUV und eine weiße Limousine, beide von Mercedes. Die Türen des SUV standen auf, während der Innenraum nach Spuren untersucht wurde. Auf der Fahrerseite lag ein Mann neben dem Fahrzeug. Im Hinterkopf steckte ein Hammer und auf dem Boden hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Brecht schob die Türen auf der Fahrerseite mit dem Ellenbogen zu und ging in die Hocke. Der Tote lag auf dem Bauch und sein Gesicht war nicht vollständig zu erkennen. Doch er schien schon älter zu sein. Er trug einen schwarzen Anzug und schwarze Lederschuhe. Die rechte Hand war zur Faust geballt, als wollte er etwas festhalten. Brecht erhob sich wieder und blickte in das Fahrzeug.
Es war ein neueres Model. Er wendete sich wieder seiner Kollegin zu.
»Ist das der Eigentümer dieses bescheidenen Anwesens?«
»Ja, Dr. Udo Thiele, sechsundfünfzig Jahre alt.«
»Doktor?«
»Ja, aber er ist vermutlich kein Mediziner. Er ist Vorstandsmitglied der Elfor AG.«
»Elfor? Ist das nicht dieser Industriekomplex auf Lichtscheidt?«
»Richtig.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Seine Frau, aber die ist im Moment nicht vernehmungsfähig. Ein Arzt ist bei ihr.«
Er ging um das Auto herum in den hinteren Teil der Garage. Vor Kopf stand eine Werkbank, über der eine Reihe von Werkzeugen säuberlich an einer Wand aufgehängt waren.
»Hat der Mann selbst an seinen Autos geschraubt?«
Er drehte den Kopf zu seiner neben ihm stehenden Kollegin.
»Der Hammer fehlt jedenfalls«, stellte sie fest und deutete auf eine leere Stelle.
»Der fehlt nicht, der hat nur den Aufbewahrungsort gewechselt.«
Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu und wendete sich ab.
»Es gibt keine Einbruchsspuren. Der Täter kann also erst in die Garage gekommen sein, als das Tor aufstand«, sagte sie und entfernte sich.
»Oder Täter und Opfer kannten sich und kamen gemeinsam an«, fügte Brecht hinzu, während er ihr folgte.
Radowski blieb auf dem Vorplatz stehen.
»Der Wagen wird bereits nach Spuren untersucht, aber eine Zuordnung wird sich daraus nicht ergeben, denn am Hammer befinden sich keine Fingerabdrücke.«
»Gar keine? Das heißt, der Täter hat keine Handschuhe getragen und den Griff danach gereinigt.«
»Vermutlich. Er wusste, was er tat.«
»Das wusste er sicher«, mischte sich ein Mann ein.
»Herr Stirner, Leiter der Spurensicherung«, stellte Radowski ihn vor.
»Wie meinen Sie das?«, hakte Brecht nach.
»Nun, das war keine Affekthandlung oder gar unabsichtlich.
Das war geplant und der Tod beabsichtigt. Die Schädeldecke hält schon einiges aus. Schlagen Sie nicht fest genug zu, ist das Opfer bewusstlos und hat eine Platzwunde am Kopf.
Aber um den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand so zu durchschlagen, ist schon extreme Entschlossenheit notwendig.«
»Könnte das jeder? Ich meine, wie viel Kraft muss ich dafür aufwenden?«
»Wenn die Aggression groß genug ist – ja, dann denke ich, könnte es jeder.«
Brecht bedankte sich und wendete sich wieder seiner Kollegin zu.
»Und wir können nicht mit der Frau des Toten reden?«
»Nein, das musst du wohl verschieben.«
Brecht sah sich um.
»Die sollen das Grundstück nach Hinweisen auf unerlaubtes Eindringen absuchen. Ich glaube nicht, dass der Täter im gleichen Fahrzeug mit angereist ist. Wozu?«
»Um ungestört zu sein?«
»Ungestört? Mit der Frau nebenan im Haus? Was wissen wir eigentlich über den Zeitpunkt der Tat?«
»Der Tod ist vermutlich zwischen dreiundzwanzig und null Uhr gestern Abend eingetreten.«
»Und wann ging der Notruf ein?«
»Etwa halb drei.«
»Was macht die Frau mitten in der Nacht in der Garage?«
»Fragen wir sie, wenn sie vernehmungsfähig ist.«
»Bleib du hier und sprich mit dem Arzt. Ich schaue mal, ob ich nützliche Informationen bei Elfor bekomme.«
»Geht klar.«
Brecht ging zu seinem Wagen und stieg ein. Auf seinem Handy suchte er nach der Adresse der Firma Elfor, die er anschließend als Navigationsziel markierte. Er startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein, als es an seinem Seitenfenster klopfte. Radowski stand neben ihm und winkte mit dem Kaffeebecher. Brecht ließ die Scheibe herunter und sah in ihr grinsendes Gesicht.
»Du hast deine Frühstücksdose auf dem Dach vergessen.«
Genervt griff er nach dem Becher. Natürlich war es eine erneute Anspielung auf seine in ihren Augen ungesunde Ernährung, aber ihm war morgens eben nicht nach frisch gepresstem Karottensaft.
»Danke, was würde ich nur ohne dich machen?«
»Das frage ich mich manchmal auch.«
Er warf den Becher achtlos auf den Beifahrersitz, ließ die Scheibe wieder hochfahren und wendete den Wagen.
Hannah Seidel parkte ihren alten Skoda Fabia direkt in der Einfahrt des Einfamilienhauses. Eigentlich hätte sie auch die Garage nutzen können, die jetzt seit zwei Jahren leer stand, doch das war ihr zu aufwendig. Meistens musste es bei ihr schnell gehen und da hielt sie das ständige Öffnen und Schließen des Tores nur auf. Sie stieg aus dem Auto, schloss die Haustür auf und kehrte dann zurück, um die Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen. Zwei Klappboxen und eine Kiste Mineralwasser stellte sie im Flur ab. Neben der Treppe war dafür extra ein kleiner Tisch aufgestellt worden. Hannah klopfte gegen die Wohnungstür im Erdgeschoss, wartete einen Moment und öffnete sie dann einen Spalt.
»Herr Schmelzer! Die Einkäufe!«, rief sie in die Wohnung.
Nach einem kurzen Augenblick wurde die Tür aufgeschoben und Günter Schmelzer begrüßte sie.
»Komm doch einfach rein. Habe ich dir doch schon mal gesagt.«
»Nein, das möchte ich nicht.«
»Wovor hast du Angst? Dass du mich noch im Bett erwischst? Ich bin früher auf den Beinen als du.«
Der alte Mann folgte ihr zum Küchentisch, wo Hannah eine der Klappboxen abstellte.
»Habe ich das alles bestellt?«, wunderte er sich.
»Ja und einen Kasten Wasser. Den hole ich noch eben.«
Sie ging noch einmal in den Flur und kehrte sofort darauf zurück. Schmelzer hatte damit begonnen, die Lebensmittel in den Kühlschrank zu stellen.
»Sie sollten mal auf Wasser aus der Leitung umsteigen.«
Schmelzer legte das Gemüse in das untere Fach und schloss den Kühlschrank.
»Aber da sind doch diese Keime drin. Multidingens.«
»Multiresistente Keime«, ergänzte Hannah und lachte. »Also ich lebe ja auch noch.«
»Du bist ja auch noch jung, mit einem guten Immunsystem, aber in meinem Alter muss man auf so was achten.«
Er ging zu seinem alten Sekretär hinüber und holte sein Portemonnaie aus der oberen Schublade.
»Was bekommst du?«, fragte er, obwohl diese Frage rein rhetorisch war.
Egal für welchen Betrag sie einkaufen war, sie bekam immer einhundert Euro.
»64,25 Euro«, antwortete Hannah.
Der alte Mann mit dem lichten weißen Haar klappte das Portemonnaie auf und zog zwei fünfzig Euro Scheine aus dem Seitenfach.
»Hier, das stimmt so«, sagte er wie immer und drückte Hannah das Geld in die Hand.
»Ach Herr Schmelzer, das müssen Sie doch nicht jedes Mal machen«, beschwerte sie sich, obwohl es ihr inzwischen längst nicht mehr so unangenehm war wie zu Anfang.
Seit Schmelzer mit vierundachtzig Jahren das Autofahren aufgegeben hatte, half sie ihm bei den wöchentlichen Besorgungen oder fuhr ihn auch mal zum Arzt, wenn er einen Termin hatte.
»Das musst du schon mir überlassen«, verteidigte sich Schmelzer. »Du opferst ja schließlich deine Zeit und du kannst es gebrauchen. Wenn es mal irgendwann so weit ist, dann kann ich nichts davon mitnehmen.«
»Jetzt hören Sie aber auf. Bis dahin vergehen hoffentlich noch ein paar Jahre.«
»Man kann nie wissen.«
»Sie sollten sich mal was gönnen. Sie haben Zeit, Sie haben Geld. Fahren Sie doch mal weg. Es gibt betreute Reisen für Senioren, da müssen Sie sich um fast nichts kümmern.«
»Du willst mich wohl loswerden, damit du hier richtig Party machen kannst.«
»Nein«, Hannah lachte und schüttelte den Kopf, »ich weiß, dass ich das könnte, wenn ich wollte.«
»Das will ich meinen. Ein bisschen Leben hier im Haus würde guttun. Du bist immer so ruhig. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich die Wohnung niemals an dich vermietet.«
»Soll ich ausziehen?«
»Nein bloß nicht. So eine hübsche Mieterin finde ich nie wieder.«
Er legte sein Portemonnaie auf den Küchentisch und sah sie zufrieden an. Aus dem Mietverhältnis war für beide eine Zweckgemeinschaft geworden. Nachdem Hannah sich dazu entschlossen hatte, Kunstgeschichte zu studieren, brauchte sie auch eine Unterkunft. Die Studentenwohnheime waren alle voll und führten lange Wartelisten. Durch Zufall fand sie die Anzeige von Schmelzer.
Nach dem Tod seiner Frau war ihm das Haus allein zu groß und so hatte er das Erdgeschoß und die erste Etage in zwei eigenständige Wohnungen umbauen lassen. Für Familien war sie zu klein und für die meisten Studenten zu teuer. Nur deswegen war sie vermutlich noch nicht vergeben worden.
Während ihres Studiums hatte ihr Vater die Miete bezahlt.
Inzwischen kam sie mehr schlecht als recht allein über die Runden. Letztendlich konnte sie die kleinen Zuwendungen, die Schmelzer ihr immer wieder zusteckte, gut gebrauchen.
»Ich muss dann los, muss noch arbeiten«, sagte Hannah und ging zum Ausgang.
»Heute wieder Spätdienst?«
»Ja passt überhaupt nicht. Ich hoffe, ich kann heute etwas früher Schluss machen.«
»Na dann frohes Schaffen.«
Schmelzer war ihr zur Wohnungstür gefolgt, die er jetzt hinter ihr schloss. Sie schnappte sich die zweite Klappbox und stieg die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Mit dem Ellenbogen betätigte sie die Türklinke der Wohnungstür, die sie eigentlich nie abschloss. Wozu auch? Die Haustür war immer verschlossen und Schmelzer vertraute sie. Er war nicht der typische Vermieter. Vielmehr schien er in ihr die Enkelin zu sehen, die er nie hatte.
Ihre Wohnung verfügte in etwa über den gleichen Grundriss wie Schmelzers Wohnung. Auf 63 m2befanden sich ein offener Raum mit Küche und Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein Bad. Sie stellte die Klappbox auf der Kochinsel ab und räumte schnell die gekühlten Lebensmittel in den Kühlschrank. Um den Rest würde sie sich später kümmern. Die Einkäufe hatten länger gedauert, als sie geplant hatte und zu allem Überfluss war dann auch nur eine Kasse geöffnet gewesen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass es auf ihrem Weg zur Arbeit keine Verzögerungen mehr gab.
Sie ging kurz ins Badezimmer und warf einen kontrollierenden Blick in den Spiegel. Mit der Bürste fuhr sie ein paar Mal durch ihre langen braunen Haare, die sie anschließend mit einem Gummi zusammenband. Der bunt gestreifte Pullover musste für heute noch reichen, schließlich arbeitete sie nicht am Empfang. Bevor sie ging, nahm sie noch einen der Schokoriegel aus der Klappbox, hing sich ihre Handtasche um und verließ die Wohnung.
…
Stefan Brecht steuerte sein Auto auf einen der Besucherparkplätze vor dem Haupteingang der Firma Elfor. Die Einfahrt war durch zwei Schranken versperrt und ein großes Schild wies darauf hin, dass sich Besucher erst anmelden mussten. Direkt links vom Eingang befand sich ein gläserner Pavillon. Über der Automatiktür war das Wort Anmeldung zu lesen. Brecht stieg aus und verriegelte mit dem Funkschlüssel das Fahrzeug.
Er sah sich kurz um und verschaffte sich einen groben Eindruck von der Umgebung. Das Gelände der Firma war mit hohem Doppelstabzaun umgeben, der im oberen Bereich nach außen abgebogen und zusätzlich mit Stacheldraht bespannt war. Dahinter waren mehrere Gebäude zu erkennen. Das Bürogebäude war neu und erst vor ein paar Jahren erbaut worden. Dahinter waren ein paar ältere Backsteinhallen zu erkennen. Sie waren durch geteerte Straßen miteinander verbunden.
Brecht drehte sich herum. In direkter Nachbarschaft lagen eine Firma für KFZ-Elektronik und eine Tankstelle. Er ließ die Hände in den Vordertaschen seiner Jeans verschwinden und ging auf den Pavillon zu. Hinter einer Theke aus Kiefernholz mit einer Taschenablage aus gebürstetem Edelstahl standen zwei junge Frauen, als hätten sie ihn schon erwartet.
»Schön guten Tag, ich begrüße Sie bei Elfor. Mein Name ist Janine. Was kann ich für Sie tun?«
Der letzte Satz hätte gereicht, schoss es Brecht durch den Kopf. Er wusste, wo er war und der Name der Frau stand auf dem Schild an ihrer Jacke.
»Ich möchte jemanden vom Vorstand sprechen«, antwortete er kurz.
»Ja, mit wem haben Sie denn einen Termin?«
»Ich habe keinen Termin.«
Die Frau verzog die Mundwinkel.
»Es tut mir leid, aber dann wird das nicht möglich sein. Haben Sie vielleicht noch einen anderen Ansprechpartner?«
Brecht zog seinen Ausweis aus der Tasche und legte ihn auf die Theke.
»Kriminalpolizei. Ich ermittle in einem Mordfall und würde gerne mit jemandem vom Vorstand sprechen.«
Sofort entglitten der Frau die Gesichtszüge. Unsicher blickte sie zu ihrer Kollegin rüber, die jetzt ebenfalls hellhörig geworden war. Offensichtlich hatte sich Thieles Tod noch nicht herumgesprochen.
»Frag im Sekretariat nach«, schlug die Kollegin vor.
Janine nickte und griff zum Telefon.
»Sie werden abgeholt. Bitte warten Sie einen Moment«, sagte sie nach einem kurzen Wortwechsel.
Brecht bedankte sich, steckte seinen Ausweis wieder ein und schlenderte zu einer Infotafel hinüber. Fotos und Texte dokumentierten in einer Kurzfassung die Geschichte der Firma Elfor, die sich anscheinend auf dem Gebiet der Materialforschung betätigte. Jedenfalls war es das, was Brecht noch bei seinem kurzen Aufenthalt im Büro herausgefunden hatte.
Eigentlich wollte er nur etwas Zeit überbrücken, da es vermutlich sinnlos war, vor 8 Uhr jemanden vom Vorstand zu besuchen. So hatte er erst noch in der Kantine gefrühstückt und anschließend ein wenig recherchiert. Elfor war eine deutsche Aktiengesellschaft mit drei Vorstandsmitgliedern. Das Unternehmen beschäftigte rund sechshundert Mitarbeiter, war bisher eher unauffällig und in der Presse nur selten vertreten. Die letzte Meldung war zwei Jahre alt. Da hatte es eine große Feier zum einhundertfünfzigjährigen Bestehen gegeben.
Während Brecht sich die Infotafel ansah, stoppte im Hintergrund der blaue Skoda Fabia von Hannah Seidel vor der Schranke. Sie ließ das Seitenfenster herunter und hielt ihre Zugangskarte vor das Lesegerät. Kurz darauf gab die Schranke die Einfahrt frei und Seidels Fahrzeug fuhr auf das Gelände.
Brecht drehte sich herum und blickte zur Theke. Die beiden Frauen hatten die Köpfe zusammengesteckt und sprachen leise miteinander. Er konnte sich gut vorstellen worüber. In den nächsten Tagen würde die Gerüchteküche bei Elfor überkochen.
Ein Mann mit schwarzer Jeans, T-Shirt und Mulitfunktionsweste betrat den Pavillon und ging zielstrebig auf die Theke zu. Auf seinem Rücken stand mit großen weißen Buchstaben ELFOR SECURITY geschrieben. Janine deutete auf Brecht und der Mann kam direkt auf ihn zu. Er trug ein In-Ear Headset am Kopf und eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern. Damit verkörperte er für Brecht alle Klischees, die im Zusammenhang mit Leuten von der Security standen. Dabei waren es häufig Leute, die die Ausbildung bei der Polizei nicht geschafft hatten und jetzt auf diese Weise versuchten, ihr Ego aufzupolieren.
Direkt aufgefallen war Brecht die Pistole, die er am Gürtel seiner Hose trug. In der Regel waren Sicherheitsdienste nicht mit Waffen ausgestattet. Hier bei Elfor schien man ein besonders hohes Sicherheitsbedürfnis zu haben.
»Guten Tag Herr Brecht, bitte folgen Sie mir.«
Das klang wichtig. Wenn er selbst das sagte, hatte das meistens für die Angesprochenen unangenehme Konsequenzen.
»Gerne«, antwortete Brecht und folgte dem Mann aus dem Pavillon.
