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Seit zwei Jahren läuft das Leben der Kästings wieder in geordneten Bahnen. Die Ereignisse von damals sind vergessen. Das Glück ist auf dem Höhepunkt, als sich bei Christina Nachwuchs anmeldet. Jedoch verläuft die Schwangerschaft nicht wie erwartet. Noch ahnen Martin und Christina nicht was ihnen bevorsteht, doch das Grauen von damals scheint wieder erwacht zu sein. KEIZ ist eine Fantasy-Geschichte, die das Leben von Sven Kästing erzählt, einem Jungen mit besonderen Fähigkeiten und geheimnisvollen Plänen.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Teil I
Noch am gleichen Abend
Ein Jahr später
Ein paar Tage später
Vier Jahre später
Ein Jahr später
Seit zwei Jahren läuft das Leben der Kästings wieder in geordneten Bahnen. Die Ereignisse von damals sind vergessen. Das Glück ist auf dem Höhepunkt, als sich bei Christina Nachwuchs anmeldet. Jedoch verläuft die Schwangerschaft nicht wie erwartet. Noch ahnen Martin und Christina nicht was ihnen bevorsteht, doch das Grauen von damals scheint wieder erwacht zu sein.
KEIZ ist eine Fantasy-Geschichte, die das Leben von Sven Kästing erzählt, einem Jungen mit besonderen Fähigkeiten und geheimnisvollen Plänen.
Ein besonderer Dank für die konstruktive Unterstützung geht an Jenny.
Zitternd nahm Martin seine Hände vom Lenkrad und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
»So ein verdammter Idiot!«, fluchte er und sah dabei in den Rückspiegel.
Von dem Lieferwagen, der so rücksichtslos überholt hatte, war nichts mehr zu sehen. Auch der Sattelschlepper, der versucht hatte durch eine Vollbremsung das Schlimmste zu verhindern, nahm wieder an Fahrt auf und verschwand hinter der Bergkuppe.
»Hat der mich nicht gesehen? So etwas gibt es doch gar nicht!«, schrie Martin wütend, war aber innerlich froh, dass nichts passiert war.
Er nahm den Gang raus und zog die Handbremse an. Im Radio lief der Song Out Of The Dark von Falco.
Eigenartiger Zufall, dachte Martin, war Falco nicht vor zwei Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt?
Nicht, dass er abergläubisch wäre, aber dieser merkwürdige Zufall ließ ihn für einen Moment nachdenklich werden.
Das hätte dein Ende sein können, schoss es ihm durch den Kopf. Wäre hier ein Abhang gewesen oder hätten große Bäume den Fluchtweg versperrt, dann wäre die Sache anders ausgegangen.
Dabei waren noch so viele Dinge offen. So vieles was er Christina noch zu sagen hätte.
Ein flaues Gefühl stieg in ihm auf. Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Die frische Luft tat gut und gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, um nach dem Wagen zu sehen. Er konnte keine Beschädigungen erkennen, aber dafür machte er eine andere Entdeckung und die zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Zuerst versuchte er sie zu ignorieren, indem er zurück in seinen Wagen stieg. Jedoch schaffte er es nicht davonzufahren. Stattdessen sah er in den Rückspiegel. Auf der Straße fuhr kein Auto, sie lag da wie ausgestorben. Als ob sich alle dazu verabredet hatten, jetzt nicht hier entlang zu fahren. Er verschob seinen Blick auf eine Stelle, die ein paar Meter hinter ihm lag. Dort zweigte ein kleiner Weg in den Wald ab. Langsam glitt seine rechte Hand zur Gangschaltung und umfasste den Knauf. Mit einem Ruck zog er den Schalthebel in den Rückwärtsgang und steuerte den Wagen zurück auf die Straße bis zu der Einmündung. Er beugte sich über den Beifahrersitz, um besser in den kleinen Weg hineinsehen zu können. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn. Jedes Mal, wenn er hier vorbeigekommen war, hatte er sich gefragt, wohin dieser Weg wohl führen würde. Erneut sah er in den Rückspiegel, der noch immer eine leere Straße zeigte. Irgendetwas in ihm wünschte sich, dass in diesem Moment ein Auto hinter der Straßenkuppe auftauchen und ihn zum Weiterfahren zwingen würde. Vielleicht würde das andere Fahrzeug ihn mit dem Fernlicht anblinken, schließlich stand er mitten auf der Straße. Doch die Straße blieb leer. Wieder zog der kleine Weg seinen Blick an. Er wusste nicht, was ihn daran so reizte, aber manchmal gab es Dinge, die man sich selbst nicht erklären konnte und dies war ganz eindeutig so eine Sache. Noch niemals hatte er dort jemanden hineingehen oder herauskommen sehen und immer war der Eingang durch ein altes rostiges Tor versperrt. Jetzt war dieses Tor offen. Martin richtete sich auf und sah in den Rückspiegel, der ihm ein unverändertes Bild von der Straße zeigte. Unentschlossen fuhr er sich mit den Fingern durch sein streichholzkurzes Haar. War er mit seinen fünfunddreißig Jahren nicht etwas zu alt für diesen Unsinn? Aber was konnte schon passieren?
Vielleicht war es ein Privatweg, der an irgendeiner dieser weißen Villen endete, wie man sie aus den Filmen im Fernsehen kannte. Sicherlich würde man ihn dann darauf aufmerksam machen, dass er dort nichts zu suchen hätte. Er könnte sich entschuldigen und vorgeben, sich verfahren zu haben. Ja, er könnte sogar nach einer Straße fragen, das würde dann besonders glaubwürdig klingen. Noch einmal wechselte sein Blick zu dem kleinen Weg herüber. Bei einem Privatweg hätte man sicher ein entsprechendes Schild aufgestellt, aber hier konnte er keins entdecken. Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett und anschließend wieder in den Rückspiegel. Es war noch früh und so lange würde der kleine Abstecher bestimmt auch nicht dauern. Er ließ den Wagen ein Stückchen zurückrollen und schlug das Lenkrad nach rechts ein, bevor er den ersten Gang einlegte und langsam in den kleinen Weg einbog. Der Schotter knirschte unter den Reifen, während sein Wagen vollständig in der Einfahrt verschwand. Im Rückspiegel sah Martin, wie ein anderes Fahrzeug auf der Straße vorbeifuhr. Während er diese Beobachtung machte, rollte er unbemerkt an dem geöffneten Tor vorbei, das am rechten Wegrand weit zurückgedrückt in den Büschen lehnte. Hätte er auch nur einen Moment früher wieder nach vorne gesehen, so wäre ihm vermutlich auch der zugewachsene Zaun aufgefallen, der das Grundstück umgab und das daneben aufgestellte Schild, auf dem zu lesen stand:
Privatgelände! Zutritt strengstens verboten!
Martin gab etwas mehr Gas. Nach ein paar Metern lichtete sich die Vegetation an den Seiten des Weges und gab den Blick auf die Umgebung frei. Rechts und links breiteten sich riesige Felder aus, auf denen Getreide heranwuchs. Er versuchte zwischen den Feldern eine Straße, ein Gebäude oder sonst etwas auszumachen, an dem er sich orientieren könnte, aber er sah nichts außer den grünen Halmen des heranreifenden Getreides, die sich sacht im Wind bewegten. Er hatte keine Ahnung, wohin ihn dieser Weg bringen würde, aber er führte durch eine Landschaft, wie Martin sie hier nicht erwartet hatte. Inzwischen war auch die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und ließ die Felder in einem satten Grün leuchten. Martin beobachtete die Bewegungen des Getreides, die ihn an Wellen im Meer erinnerten. An einigen Stellen unterbrachen kleinere Waldstücke die riesigen Felder und ragten wie einsame Inseln aus dem Getreide empor. Eine Weile rollte er den Weg entlang, bis er plötzlich anhielt. Es war etwas eingetreten, woran er bisher noch keinen Gedanken verschwendet hatte. Etwas, das seine ganze Planung abrupt durcheinanderwarf. Vor ihm gabelte sich der Weg. Was sollte er jetzt tun?
Welchem Weg sollte er weiter folgen? Eigentlich wollte er nur sehen, wohin dieser Weg führte und jetzt waren es plötzlich zwei. Welcher davon war sein Weg?
Vielleicht sollte er einfach zurückfahren, schließlich konnte es ihm völlig egal sein, wohin dieser Weg führte. Aber an Wenden war hier nicht zu denken. Dazu war es viel zu schmal. Er sah auf seine Tankanzeige. Der Tank war noch über die Hälfte voll, ausreichend für mindestens 300 Kilometer und so lang konnte dieser Weg nun wirklich nicht sein. Kurzentschlossen trat er wieder auf das Gaspedal und steuerte seinen Wagen nach links. So schnell würde er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Seit er wieder losgefahren war, hatte er seine Geschwindigkeit unbewusst erhöht. Er achtete jetzt weniger auf die Landschaft, sondern verfolgte mehr sein Ziel, das Ende des Weges kennenzulernen. Das Fahrgeräusch des knirschenden Schotters war inzwischen mehr in das Rumpeln eines festgefahrenen Feldwegs übergegangen. Hinter ihm bildete sich eine Staubwolke und das Getreide am Wegrand bog sich im Sog des Fahrtwinds. Martin stellte die Lüftung eine Stufe höher. Die Sonne begann den Wagen langsam aufzuheizen. Der Weg machte eine scharfe Rechtskurve. Martin drosselte die Geschwindigkeit, fuhr aber trotzdem noch immer zu schnell. Er war sich klar darüber, dass er nicht mehr in der Lage wäre, sein Fahrzeug früh genug zum Stehen zu bringen, wenn ihm jetzt jemand entgegenkäme. Der Wagen legte sich in die Kurve. Martins Fuß stand bremsbereit vor dem Pedal, vorbereitet für den Fall der Fälle und dann trat er zu. Mit einer Vollbremsung blieb er in einer aufsteigenden Staubwolke stehen. Mit offenem Mund starrte er auf die Weggabelung vor ihm. Was war das für ein gewaltiger Mist? Wo war er eigentlich? Er legte den Leerlauf ein, zog die Handbremse an und stieg aus. Draußen war es noch heißer als im Auto. Die Sonne brannte förmlich vom Himmel. Er ging ein paar Schritte auf die Gabelung zu und sah sich dabei um. Um ihn herum befanden sich nur Felder, auf denen überall das gleiche Getreide wuchs. Langsam zweifelte er an seinem Verstand. Das waren amerikanische Dimensionen, die auf keinen Fall hier nach Deutschland passten. Er drehte sich herum, wobei ihn ein greller Lichtstrahl blendete. Er schloss die Augen. Die Sonne am wolkenlosen Himmel hatte sich in der Windschutzscheibe reflektiert und ihn genau getroffen. Kleine Punkte tanzten noch immer vor seinen Augen, als er wieder in sein Fahrzeug stieg. Die Innentemperatur des Wagens hatte sich inzwischen der äußeren angepasst. Martin stellte die Lüftung auf volle Leistung und ließ sich die Luft ins Gesicht blasen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass für heute ein derartig heißer Tag vorhergesagt worden war. Nein, das war nicht das, was er erwartet hatte. Seine Neugierde war fürs Erste befriedigt. Er würde zurückfahren und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal wiederkommen. Wer konnte schon ahnen, dass ausgerechnet heute der Hochsommer ausbricht, obwohl es am Morgen noch kühl und regnerisch war. Martin wendete das Fahrzeug an der Gabelung, die hier etwas breiter war. Trotzdem brauchte er mehrere Züge, bei denen er seinen Wagen immer wieder ein Stück in die Vegetation des Wegesrands fahren musste. Selbst als es beim Zurücksetzen einmal unter dem Auto kräftig schabte, interessierte ihn das nicht. Darum würde er sich später kümmern. Er fuhr den Weg in entgegengesetzter Richtung zurück. Knappe zehn Minuten war er in diesem Feld herumgekurvt. Zurück würde es etwas schneller gehen, dann wäre er wie geplant wieder zu Hause. Dort würde er den Weg im Stadtplan suchen und damit klären, wohin er führt. Doch er konnte diesem Gedanken nicht weiter folgen. Der Feldweg verlief jetzt leicht abschüssig und führte auf einen kleinen Wald zu. Martin konnte sich nicht daran erinnern, hier vorbeigekommen zu sein, obwohl er doch immer geradeaus gefahren war. Auch hätte er schon längst an der ersten Gabelung vorbeikommen müssen. Er fuhr bis an den Waldrand und stoppte sein Fahrzeug. Manchmal wirkten Wege völlig anders, wenn man sie aus einer anderen Richtung sah, als man es sonst gewohnt war. Wahrscheinlich traf das genau hier zu. Martin versuchte sich davon zu überzeugen, dass dies der kleine Wald war, durch den er eben von der Straße aus eingebogen war. Nach ein paar Metern hatte sich die Vegetation gelichtet und den Blick auf die Felder freigegeben. Sicherlich würde er hinter diesem Wald wieder auf die Straße stoßen. Ruckartig trat Martin auf das Gaspedal. Die Vorderräder seines Wagens drehten auf dem staubigen Feldweg durch und wirbelten ein Gemisch aus Staub und kleinen Steinen auf, bevor sich der Wagen wieder in Bewegung setzte. Martin raste den Weg entlang. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und erschwerte das Atmen. In seinem tiefsten Inneren spürte er, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn es nicht logisch zu erklären war, so hatte er sich verfahren. Dies war nicht mehr sein Weg. Eine Zeit lang war es Martin gelungen diesen Gedanken tief in sich zu verdrängen, doch dann war die unübersehbare Wahrheit in ihm explodiert. Sie war ausgebrochen wie ein Vulkan, spuckte ihre heiße Lava in seinen Körper und schien ihn zu verbrennen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Erneut drückte sein Fuß das Bremspedal fest durch. Die Räder blockierten und der Wagen kam nach einer kurzen Rutschpartie vor einer weiteren Weggabelung zum Stehen. Martins Beine zitterten, während sie Kupplungs- und Bremspedal durchtraten. Wie gebannt starrte er auf die beiden abzweigenden Wege. Nein, hier war er vorhin auf keinen Fall vorbeigekommen. Er musste umkehren und versuchen den richtigen Weg zu finden. Martin wendete den Wagen und setzte anschließend seine Fahrt mit hoher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung fort. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er versuchte Klarheit in die Geschehnisse der letzten Minuten zu bringen. Schon zweimal hatte er seine Richtung geändert, war aber trotzdem nie an seinen Ausgangspunkt zurückgelangt. Dieser Weg schien endlos zu sein, er kannte nur eine Richtung und es gab kein Zurück. So unglaubwürdig dies auch sein mochte, die Tatsachen sprachen dafür. Seit der letzten Weggabelung war Martin mit hoher Geschwindigkeit den Waldweg zurückgefahren, aber auf die erhoffte Landstraße war er dabei nicht gestoßen. Dafür wurde die Beschaffenheit des Weges immer schlechter. Ständig musste das Fahrwerk tiefe Schlaglöcher einstecken, die als dumpfe Stöße in den Innenraum weitergegeben wurden. Normalerweise wäre Martin diesen Weg niemals und wenn, dann bestimmt nicht mit so hoher Geschwindigkeit gefahren. Zusammen mit Christina hatte er den Wagen erst vor gut einem Jahr gekauft und dabei war ein großer Teil ihrer gemeinsamen Ersparnisse draufgegangen. Darum musste das gute Stück noch ein paar Jahre halten, jedoch war ihm das jetzt völlig gleichgültig. Er raste diesen Waldweg entlang, als ginge es um sein Leben. Die Sträucher an den Rändern peitschten gegen die Karosserie. Völlig unbemerkt war der Weg immer schmaler geworden, jetzt passte der Wagen gerade noch dazwischen durch. Auch der Wald war dichter geworden, Sonne fiel kaum noch durch die geschlossene Laubschicht der Baumkronen und schließlich war die Vegetation so weit in den Weg gewachsen, dass er sich mit seinem Fahrzeug regelrecht eine Schneise schlagen musste. Martin bremste den Wagen bis auf Schrittgeschwindigkeit ab. Die Sträucher kratzten über den Lack. Abgerissene Blätter rutschten über die Windschutzscheibe. Hier war schon seit einer Ewigkeit niemand mehr hergefahren, sofern dies überhaupt noch als Weg zu bezeichnen war. Am liebsten wäre Martin umgekehrt, aber er war sich nicht mehr sicher, ob ihn das weiterbringen würde. Im Gegenteil, er hatte regelrecht Angst vor dem, was ihn dann erwartete. Seine Fahrt wurde gestoppt, als das Fahrzeug plötzlich ein kleines Stück zur Seite wegrutschte. Martin trat sofort auf die Bremse und verharrte für einen Moment regungslos hinter dem Lenkrad. Nur das Brummen des Motors war noch zu hören. Vorsichtig gab er wieder Gas. Der Wagen ruckte, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Martin trat das Gaspedal weiter durch. Von draußen drang das Schleifen durchdrehender Räder zu ihm herein. Erschrocken nahm er den Fuß vom Gaspedal. In ihm stieg eine unbeschreibliche Hitze auf, die ihn für einen Moment fast lähmte. Das durfte nicht passieren, er brauchte das Auto. Wie sollte er sonst pünktlich zu Hause sein? Christina wäre sicherlich nicht begeistert, wenn sie aus dem Büro nach Hause kam und das Abendessen nur deswegen nicht fertig war, weil er sich aufgrund einer dämlichen Idee im Wald festgefahren hatte. Mit der linken Hand wischte er sich durch sein schweißnasses Gesicht, während er mit der rechten Hand den Rückwärtsgang einlegte. Er versuchte sich zu konzentrieren. Aus dieser Situation konnte er den Wagen nur mit sehr viel Gefühl wieder freibekommen. Martin gab etwas Gas und ließ ganz langsam die Kupplung kommen. Der Wagen begann leicht zu schaukeln, aber die Räder bekamen in dem schlammigen Boden nicht genug Haftung, um sich aus dieser verfahrenen Situation befreien zu können. Martin schlug das Lenkrad ganz ein und gab mehr Gas. Draußen sah er aufgeschleuderten Schlamm in die Büsche fliegen. Das Schleifen der durchdrehenden Räder löste regelrechte Aggressionen in ihm aus. Immer hektischer riss er an dem Lenkrad, während er das Gaspedal weiter durchtrat. Das Dröhnen des Motors wurde immer lauter und bohrte sich in seinen Verstand und in diesem Moment schlug Martin die Augen auf.
Erschrocken fuhr er aus dem Schlaf hoch. Sein Körper war schweißnass. Christina lag neben ihm und schlief noch. Leise hob er die Beine aus dem Bett und blieb auf dem Rand sitzen. Mit den Händen rieb er sich durch sein Gesicht. Diese Träume, wann würde er sie endlich loswerden? Er blickte zur Seite und beobachtete den Vorhang, der vor der geöffneten Balkontür sacht im Wind schaukelte. Die Sonne schien bereits und Martin schätzte, dass es ungefähr acht Uhr sein musste. Auch dieser Tag würde wieder warm und sonnig werden, so wie alle anderen zuvor auch. Der Sommer hatte dieses Jahr ausgesprochen früh begonnen. Schon den ganzen Juni herrschte dieses warme Wetter und machte den Menschen zu schaffen. In der Herrenmode waren Anzug und Krawatte bereits nahezu abgeschafft. Nur selten traf man noch auf einige wenige, die an ihren alten Gewohnheiten festhielten, aber die hatten zumindest ihre dunklen Anzüge gegen Helle eingetauscht. Die allgemein entstandene Atmosphäre war lockerer geworden. Manchmal machte es fast den Eindruck, als würde die Zeit langsamer vergehen als zuvor. Niemand hetzte mehr herum oder verbreitete unnötige Hektik. Alles geschah einen Takt langsamer und bekam fast ein wenig südländisches Flair. Bis tief in die Nacht traf man noch auf Leute, die aus ihren Häusern und Wohnungen kamen, wenn die Sonne unterging und ein wenig abendliche Abkühlung zurückließ. Sie gingen spazieren, trafen sich in Biergärten und Cafés oder saßen einfach nur in ihren Gärten. Nach der weltweiten Klimakatastrophe vor einem Jahr, als ganz plötzlich Unmengen an Regen und Schnee bereits im Oktober zu gewaltigen Überschwemmungen in vielen Städten führten, hatte sich das Wetter verändert. Nur wenige kannten den wahren Grund für dieses Unwetter, jedoch hatte es die Menschheit zum Umdenken bewegt. Viele hielten es für ein Zeichen der Natur, die ihnen auf diese Weise klar machen wollte, rücksichtsvoller mit ihr umzugehen und so waren zahlreiche Programme, Auflagen und Aktionen ins Leben gerufen worden, mit denen die Umwelt in Zukunft mehr geschützt werden sollte. Seitdem hatte sich schon einiges verbessert. Natürlich konnten innerhalb eines so kurzen Zeitraumes nicht alle Probleme auf einmal gelöst werden, aber man hatte die Richtung verändert und das war gut so. Die Unwetterkatastrophe kostete damals einigen Menschen das Leben und vielen nahm sie den ganzen Besitz, jedoch war der überwiegende Teil der Menschheit mit einem blauen Auge davongekommen. Das Klima jedenfalls schien irreparabel in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Besonders in den europäischen Breitengraden wechselten jetzt häufiger die Extreme. So wie es nun schon seit Wochen sonnig und heiß war, konnte es ab morgen wieder tagelang kühl und regnerisch sein. Christina hatte sich besonders während ihrer Schwangerschaft öfters kühlere Temperaturen gewünscht, aber offensichtlich sollte sie ein Sonnenkind bekommen. An den heißen Tagen war es ihr oft schwergefallen, sich selbst und ihren dicken Bauch durch den Alltag zu bewegen. Doch sie hatte nicht gejammert. Nein, sie war glücklich, schwanger zu sein. Doch die extremen Bedingungen brachten sie schneller als sonst an ihre Leistungsgrenze. Mehr als einmal bekam sie Streit mit Martin. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sie die letzten Wochen sicherlich im Liegestuhl unter dem Sonnenschirm verbracht, während ihre Füße in einer Schüssel mit kaltem Wasser hingen. Sie konnte seine Sorgen nur zu gut verstehen. Auch sie machte sich ihre Gedanken, schließlich war es alles andere als normal, dass sie im fünften Monat bereits aussah, wie andere kurz vor der Geburt. Schon die ersten Untersuchungen, nachdem die Schwangerschaft festgestellt worden war, zeigten ungewöhnliche Ergebnisse. Der kleine Fötus entwickelte sich erstaunlich schnell, aber er schien gesund zu sein. Noch in den ersten Wochen hatte der Arzt Christina und Martin zu einer Fruchtwasserspiegelung geraten, um alle Eventualitäten auszuschließen. Natürlich waren ihnen auch die Risiken einer solchen Untersuchung nicht verschwiegen worden, aber schließlich entschlossen sie sich doch dazu. Das Ergebnis war für alle eine Erleichterung. Es brachte zwar keinen weiteren Aufschluss über die rasanten Entwicklungsschritte des Kindes, aber es enthielt auch keine Anzeichen für eine Krankheit oder Missbildung. Christina hatte schon früh aufgehört zu arbeiten. Der Arzt hatte sie vorsorglich als arbeitsunfähig eingestuft und so verbrachte sie nahezu die ganze Schwangerschaft mit Martin gemeinsam, während er ständig darum bemüht war, dass sie sich nicht zu sehr anstrengte oder etwas Schweres trug.
Martin war in dieser Zeit nur selten seiner Tätigkeit als Schriftsteller nachgegangen. Schon während seines Studiums hatte er mit mäßigem Erfolg begonnen Kurzgeschichten zu schreiben. Sein Lektor, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt, hatte ihn später darin bestärkt, einen Roman zu schreiben. Sein erstes Werk brachte noch nicht den großen Durchbruch, aber jede Menge Ansporn weiterzumachen. Nach seinen Erlebnissen vor einem Jahr hatte er ein weiteres Buch herausgebracht. Es war ein voller Erfolg geworden und stand für einige Wochen sogar auf Platz vierzehn der Verkaufsliste. Natürlich hatte er viele seiner Erlebnisse darin verarbeitet, aber in stark veränderter Form, sodass sie nicht mit den wirklichen Geschehnissen in Verbindung gebracht werden konnten. Sie hatten sich gegenseitig versprochen, niemals darüber zu reden. Es war im Nachhinein nicht mehr wichtig und hätte nur für unnötige Unruhe gesorgt. Außerdem, da war sich Martin ausgesprochen sicher, wären Scharen von Untersuchungskommissionen und Neugierigen in den Steinbruch eingefallen, um nach dem zu suchen, was dort tief unter der Erde verschüttet lag. Es war ein Geheimnis zwischen ihm und seinen Freunden. Nun schrieb Martin bereits seit einigen Monaten an einem neuen Buch, aber außer ein paar spärlichen Seiten war noch nicht viel dabei herausgekommen. Oft gelang es ihm einfach nicht, sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Manchmal saß er stundenlang in seinem Arbeitszimmer vor dem leeren Bildschirm und beobachtete den blinkenden Cursor, während seine Gedanken zu Christina und dem Kind abschweiften. Irgendetwas in seinem Inneren ließ ihm keine Ruhe. Er hätte es nicht beschreiben können, aber es hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Sicherlich, in dem letzten Jahr hatte er viel von dem verarbeitet, was damals so plötzlich über ihn hereingebrochen war. Es hatte sein Leben verändert und einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Viele Dinge des täglichen Lebens sah er seitdem anders. Ihm war bewusst geworden, wie schnell ein Leben beendet sein konnte. Aber er hatte es überstanden, so etwas wie eine zweite Geburt erlebt und nun lebte er sein Leben bewusster, als er es zuvor getan hatte. Manchmal gab es Tage, an denen er nur lebte und überhaupt nicht mehr an die Dinge von damals dachte. Aber es gab auch Tage, an denen ihn die Erinnerungen wieder einholten. Dann quälten ihn Zweifel, ob die Sache wirklich vorüber war. Besonders belasteten ihn die Ereignisse im Zusammenhang mit Christinas Schwangerschaft. Auch wenn die Ärzte im Moment keinen Grund zur Beunruhigung sahen, ungewöhnlich war es schon. Und gerade dieses Ungewöhnliche ließ in ihm alte Wunden aufbrechen. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich einredete, vielleicht nur zu viel in die Sache hineinzuinterpretieren. Möglicherweise handelte es sich um die ganz normale Nervosität, die alle werdenden Väter plagte. Schließlich war es das erste Mal. Natürlich hatte er sich mit ausreichend einschlägiger Fachliteratur zum Thema Schwangerschaft eingedeckt, nach dessen Studium er aber auch nicht wesentlich schlauer war als vorher. Jedenfalls erhielt er in einem Punkt Gewissheit. Nicht alle Kinder entwickelten sich nach einem festen Plan und es war als völlig normal anzusehen, dass die einen ihrem Plan etwas voraus und andere wiederum auch etwas hinterher waren. Auf diese Weise beruhigte er sich zwar oberflächlich, aber in seinem Unterbewusstsein brodelte es weiter. Um Christina nicht unnötig zu beunruhigen, vermied er ihr gegenüber dieses Thema. Natürlich sprachen sie oft über die Schwangerschaft, aber Martin erwähnte mit keinem Wort sein ungutes Gefühl. Er spürte ihre eigene Unruhe. Erst vor gut einem halben Jahr hatte ihre beste Freundin Karin ein Kind zur Welt gebracht und dabei hatte Christina die einzelnen Phasen hautnah miterlebt. Logischerweise verglich sie jetzt natürlich die beiden Schwangerschaften miteinander und stellte nichts als Unterschiede fest. Während es Karin in den ersten Monaten furchtbar übel war, ging es Christina blendend. Dafür begann sich ihr Bauch schon im zweiten Monat zu wölben und manchmal glaubte sie schon erste Bewegungen des Kindes gespürt zu haben. Dies alles trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei und Martin musste oft lange reden und aus seinem angelesenen Fachwissen zitieren, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Trotz allem genossen sie die Zeit der Schwangerschaft so gut es ging und oft überstieg die Vorfreude ihre Bedenken. So begann auch der 23. Juni.
…
Als Christina erwachte, war es bereits kurz nach neun. Von der Terrasse drangen die Geräusche von klappernden Tellern und Besteck zu ihr hoch. Sie drehte den Kopf und entdeckte das leere Bett neben ihr. Ein zufriedenes Lächeln lief über ihr Gesicht. Wie gut es ihr doch ging! Wenn sie nicht alles täuschte, war Martin gerade dabei, das Frühstück auf der Terrasse vorzubereiten. Sie brauchte jetzt nur noch zu warten, bis der Geruch von frischem Kaffee durchs Haus zog, um dann aufzustehen und sich an den Frühstückstisch zu begeben. Die Vorteile waren unübersehbar, wenn der Partner sich seine Arbeitszeit selber einteilen konnte. Wie groß war doch der Unterschied zu Karins Schwangerschaft. Christinas Freundin hatte die meiste Zeit des Tages allein mit ihren Sorgen verbracht, da Thomas beruflich sehr eingebunden war und immer erst spät nach Hause kam. Wann immer es ging, hatte Christina sie in dieser Zeit besucht und ihr Gesellschaft geleistet. Oft waren sie zusammen spazieren gegangen oder zum Shopping in die City. Aber durch ihre eigene Berufstätigkeit war auch Christina sehr eingeschränkt und so blieben am Ende nur wenige Tage, an denen sie zusammenkommen konnten. Sie war froh, dass sie die Zeit der Schwangerschaft nicht wie Karin allein durchstehen musste und sie wusste, dass Karin sie darum beneidete. Obwohl Christina sich manchmal auch durchaus mehr Zeit für sich alleine gewünscht hätte. Jedes Mal, wenn Martin etwas zu erledigen hatte und sie alleine Zuhause blieb, genoss sie diese Momente ganz besonders. Sie selbst bezeichnete ihre Ehe als vorbildlich und war glücklich mit Martin, aber es war auch nicht immer einfach, wenn man plötzlich Tag für Tag zusammen mit einander verbringen musste. Besonders dann nicht, wenn man mit unverhältnismäßiger Fürsorge überschüttet wurde. Letztendlich überwogen aber die guten Seiten, denn schließlich konnte sie jetzt aufstehen und sich an den gedeckten Frühstückstisch setzen. Sie schlug die Bettdecke auf und drehte sich langsam auf die Seite. In ihrem kugelrunden Bauch spürte sie die Bewegungen ihres Kindes. Vermutlich war es durch die Drehung aufgewacht, denn bisher hatte es sich ruhig verhalten. Es waren leichte Berührungen, als würde ein Füßchen an ihrer inneren Bauchdecke entlang streichen. Karin hatte öfters von festen und schmerzhaften Tritten berichtet, doch so etwas kannte Christina nicht. Ihr Baby schien sich geradezu rücksichtsvoll zu benehmen. An sich war das eine angenehme Sache, dennoch beunruhigte es Christina und manchmal wünschte sie sich lieber einen festen Tritt. Schwerfällig erhob sie sich aus ihrem Bett, reckte sich und stapfte mit den Händen in den Rücken gestützt auf den Balkon hinaus. Ihr Bauch schien in der vergangenen Nacht erneut ein Stück gewachsen zu sein und zog nun mächtig nach vorne. Sie lehnte sich auf das warme Balkongeländer und sah nach unten auf die Terrasse. Martin saß in einem der Gartenstühle an dem gedeckten Frühstückstisch und las die Zeitung. Er trug bunte Shorts und ein gelbes T-Shirt, das locker darüber hing. Sich selbst hatte er schon eine Tasse Kaffee eingegossen und der aufgestellte Sonnenschirm warf seinen großflächigen Schatten auf die Stelle, wo sie gleich sitzen würde.
»Guten Morgen Herr Kästing!«, rief sie zu ihm hinunter.
Etwas verdutzt sah er zu dem Nachbargarten hinüber, bevor er ihre Stimme erkannte. Blinzelnd blickte er zu ihr hoch.
»Ah, mein Sonnenschein ist aufgewacht, guten Morgen. Komm runter, wir können frühstücken.«
»Das musst du mir nicht zweimal sagen, ich habe einen Bärenhunger«, sagte sie lächelnd und verschwand durch die Balkontür im Schlafzimmer.
Als sie die Terrasse betrat, trug sie noch immer ihr Nachthemd. Es war warm genug und außer ihren direkten Nachbarn, den Pohlmanns, konnte niemand in den Garten schauen. Außerdem konnte sich das Nachthemd sehen lassen. Sie hatte es von Martin geschenkt bekommen, nachdem ihr alle anderen Schlafanzüge zu eng geworden waren. Auf der Vorderseite war eine Bärenfamilie abgebildet. Mutter Bär gab dem Baby Bär gerade die Flasche und Vater Bär sah dabei zu. Als sich Christina näherte, stand Martin auf und empfing sie mit einer Umarmung und einem Kuss. Ihre langen, braunen Haare hingen ihr noch ungekämmt über den Schultern. Vor der Schwangerschaft wäre das undenkbar gewesen. Da wäre sie bei ihrem äußeren Erscheinungsbild zu keinerlei Kompromissen bereit gewesen. Nicht mal an verregneten Sonntagen, wenn kein Besuch angekündigt war. Doch die Schwangerschaft hatte sie verändert und nicht nur sie. Martin ging zu ihrem Stuhl und zog ihn ein Stück vom Tisch ab, damit sie sich einfacher hinsetzen konnte. Christina warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Könntest du das bitte sein lassen, ich bin doch keine alte Frau!«
Resolut nahm sie ihm den Stuhl aus der Hand, zog ihn zu sich und setzte sich darauf.
»Schon gut, ich wollte dir ja nur helfen«, entschuldigte sich Martin.
»Ich weiß, aber ich bin nicht krank.«
Martin goss ihr Kaffee in die Tasse und setzte sich anschließend wieder.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.
»Ja, wie ein Murmeltier.«
»Und unser Kleiner?«
Christina sah auf ihren hervorstehenden Bauch runter.
»Oh, wie immer hat er genau so lange geschlafen wie ich. Jedenfalls hat er mich nicht geweckt, höchstens ich ihn.«
Martin nahm sich ein halbes Brötchen aus dem Korb und bestrich es mit Butter und Marmelade.
»Hast du dir zu gestern Abend schon was überlegt?«, fragte er beiläufig.
»Ich weiß nicht, ich kann mich nicht entscheiden.
Manchmal finde ich Kai schöner und dann wieder Sven.«
»Ich finde Kai Kästing klingt nicht.«
Martin biss in sein Brötchen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Vielleicht sollten wir einen ganz anderen Namen suchen?«
»Oh noin Chrisch, fong jez nisch fiedör scho on«, entgegnete Martin mit vollem Mund.
Er bemühte sich schnell zu kauen, um Schlucken zu können und fuhr dann fort, »Wir haben bereits alle Jungennamen durch und sind letztendlich immer wieder bei Kai und Sven angekommen.«
»Aber ich kann mich noch nicht entscheiden. Weißt du eigentlich, was das für eine verantwortungsvolle Entscheidung ist? Dein Kind wird sein ganzes Leben mit diesem Namen herumlaufen müssen. Stell dir vor ihm gefällt der Name später nicht.«
»Jetzt mach es doch bitte nicht so kompliziert. Täglich bekommen tausende Kinder auf der ganzen Welt einen Namen und keines davon ist unglücklich. Jedenfalls nicht wegen seinem Namen.«
Martin nahm seine Kaffeetasse und trank einen Schluck, um die klebrige Marmelade herunterzuspülen.
»Woher willst du das wissen, hast du sie etwa gefragt?«, erkundigte sich Christina, wobei ihre Stimme energischer wurde.
Martin stellte die Tasse zurück und sah sie an.
»Was ist zum Beispiel mit meiner Kollegin?«, fuhr Christina fort.
»Welcher Kollegin?«, entgegnete Martin verwirrt, der auf einen solchen Gefühlsausbruch seiner Frau nicht vorbereitet war.
»Na, die Gabi. Die mag ihren Namen zum Beispiel nicht.«
»Wieso? Gabi ist doch nicht schlecht?«
»Ja, aber mit richtigen Namen heißt sie eigentlich Gabriele. Gabi ist doch nur die Abkürzung.«
»Ich würde meine Tochter auch nicht Gabriele nennen, aber Sven und Kai sind zwei zeitgemäße moderne Namen. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, dann können wir ja eine Münze werfen oder du überlässt mir die Entscheidung.«
»Nein, nein, das kommt überhaupt nicht infrage«, platzte es aus Christina heraus, »Ich denke ich lege mich da noch gar nicht fest. Wir haben ja auch noch Zeit. Wenn ich ihn sehe, dann weiß ich, ob es ein Sven oder ein Kai ist.«
Martin nahm sein Brötchen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»So, wie sieht denn so ein Kai aus?«, fragte er amüsiert und biss ein weiteres Stück ab.
»Ich weiß nicht, aber wenn ich ihn sehe, dann weiß ich es bestimmt.«
»Okay, also vertagen wir die Entscheidung mal wieder«, stellte Martin fest und war dabei mehr als unzufrieden.
Schon seit Wochen führten sie regelmäßig die gleichen Gespräche und immer mit dem gleichen Ausgang. Martin sah sich schon schulterzuckend vor der Hebamme stehen, die ihn nach dem Namen seines Kindes fragen würde.
»Ich hatte heute Nacht wieder diesen Traum«, wechselte er das Thema.
Christina blickte auf und sah ihn mitfühlend an.
»Wird das jemals aufhören?«, fragte sie.
»Ich gewöhne mich langsam dran.«
Christina schüttelte den Kopf.
»Nein, das sagst du nur so. Ich weiß, dass es dich belastet.«
Sie hatte mehrmals mitbekommen, wenn er nachts schweißgebadet aufgewacht war. Die Ereignisse von damals ließen ihn nicht los. Martin sah darin noch immer die Verarbeitung des erlebten, doch Christina spürte, dass mehr dahintersteckte. Martin hatte Angst.
Vermutlich war er sich selber darüber gar nicht bewusst. Manchmal ist es für außenstehende leichter, solche Dinge zu beurteilen, als für den Betroffenen selbst. Zudem war sich Christina auch nicht sicher, ob sie die ganze Wahrheit erfahren hatte oder ob es nicht doch noch etwas gab, was er ihr verschwieg. Tatsache war jedenfalls, dass es für ihn einem Albtraum gleichgekommen sein musste und er dabei fast sein Leben verloren hätte. Alleine das, war sicherlich schon Begründung genug, um einen psychischen Knacks davonzutragen.
»Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen und mit einem Arzt darüber sprechen?«, fragte Christina.
»Was für ein Arzt? Ich bin doch nicht krank.«
»Du weißt schon was ich meine.«
»Du meinst so einen Seelenklempner, bei dem ich mich ein Stündchen aufs Sofa lege und aus meinem Leben erzähle und der mir dann sagt was mir fehlt?«
»Martin!«
Er blickte seine Frau einen Augenblick lang schweigend an.
»Ich kann nicht«, sagte er dann. »Ich kann nicht darüber reden. Wir haben es uns gegenseitig geschworen.«
»Wer? Wem hast du etwas geschworen? Martin, der eine ist ein Alkoholiker und der andere tot. Außerdem gibt es so etwas wie ärztliche Schweigepflicht.«
Martin senkte den Blick. Grundsätzlich hatte Christina recht, aber er war noch nicht so weit, um mit Fremden darüber reden zu können und außerdem würde ihm sowieso niemand glauben. Für einen Psychiater wäre der Fall schnell klar, schwerer Fall von Wahnvorstellungen, würde die Diagnose lauten und manchmal wünschte sich Martin, dass es so wäre.
Eine Krankheit könnte man behandeln, seine Erinnerungen nicht.
»Später vielleicht«, antwortete er kurz.
»Ich möchte nur nicht, dass du dich unnötig quälst.«
Martin versuchte ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen, was ihm auch einigermaßen gelang.
»Ich bin okay, mach dir keine Sorgen.«
Christinas Blick verriet ihm, dass sie nicht ganz davon überzeugt war, aber sie beendete das Thema und wandte sich nun auch ihrem Frühstück zu. Sie nahm sich ein Brötchen, bestrich die beiden Hälften mit Butter und belegte sie anschließend mit Käse.
»Wann ist eigentlich dein Arzttermin heute?«, fragte Martin, wobei es eine rein rhetorische Frage war, die er nur stellte um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern.
»Um halb zwölf. Genug Zeit, um erst einmal in Ruhe zu frühstücken«, antwortete Christina, rückte sehr zum Missfallen ihres Mannes mit dem Stuhl ein Stück aus dem Schatten und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während sie genüsslich ihr Brötchen aß.
…
Gegen elf Uhr verließen sie gemeinsam das Haus und fuhren mit dem Auto in die Innenstadt, wo für einen normalen Wochentag erstaunlich viel Betrieb herrschte. Martin parkte das Auto in einem Parkhaus, ganz in der Nähe der Arztpraxis. Heute hatte Christina nichts dagegen einzuwenden. Obwohl sie sonst einen kleinen Fußweg gerne in Kauf nahm, machte ihr die heutige Wärme doch schwerer zu schaffen als an den anderen Tagen. Außerdem waren in der letzten Nacht eindeutige Veränderungen eingetreten. Ihr ungeborenes Kind war seltsam unruhig, wie sie es noch nie zuvor gespürt hatte. Die Bewegungen fühlten sich fast so an, als würde es in der Gebärmutter Purzelbäume machen. Christina war froh über den heutigen Arzttermin und die damit verbundene Kontrolluntersuchung. Während es in dem Parkhaus noch relativ kühl war, staute sich draußen in den Einkaufsstraßen der Fußgängerzone schon die Hitze. Der Weg führte Martin und Christina vorbei an zahlreichen Straßencafés, die ausnahmslos alle bis auf den letzten Platz besetzt waren. Lediglich ein paar wenige Tische in der Sonne standen noch zur Verfügung. Unwillkürlich musste sich Martin fragen, ob es eigentlich auch Leute gab, die um diese Uhrzeit arbeiten mussten, schließlich bestand ja nicht die ganze Stadt aus Schriftstellern, die sich ihre Arbeitszeit einteilen konnten. Während er diesem Gedanken nachhing, bogen sie in eine schmale Seitenstraße ab, die noch vollständig im Schatten lag. An der Ecke hatte ein Straßenkünstler angefangen, Rembrandts Nachtwache mit Kreide auf die Steine zu malen. Drumherum standen mehrere Konservendosen, mit denen die Passanten zu kleinen Spenden aufgefordert werden sollten. Martin warf einen flüchtigen Blick auf das halb fertige Bild, ging aber ansonsten zielstrebig mit Christina daran vorbei.
Das Wartezimmer des Gynäkologen war klimatisiert und machte das eintönige Warten auf diese Weise etwas angenehmer. Bisher hatte Martin seine Frau zu jeder Untersuchung begleitet. Er fand es faszinierend, die Entwicklung des Kindes mithilfe des Ultraschallgerätes mitverfolgen zu können. Bei jeder Untersuchung druckte der Arzt Bilder aus, die Martin bereits auf den ersten Seiten des neuen Fotoalbums eingeklebt hatte. Christina schaffte es kaum den ersten Artikel des ausgelegten Modemagazins zu lesen, als sie auch schon von der freundlichen Arzthelferin aufgerufen wurde, die sie in den Raum mit der Aufschrift Sonografie führte. Die Buchstaben waren aus glänzendem Silber und klebten in Augenhöhe auf der Tür.
Christina war erleichtert, als sie sich auf die Liege legen konnte. Ihr Befinden hatte sich in den letzten Stunden seit dem Erwachen drastisch verändert. So schlecht wie heute hatte sie sich während der ganzen Schwangerschaft noch nicht gefühlt. Ihr war schrecklich heiß und die Unruhe ihres Kindes übertrug sich auf sie. Die Aufregung steigerte sich ins Unerträgliche, als der Wehenschreiber keine Herztöne des Kindes aufzeichnete. So sehr die Arzthelferin auch mit der Sonde über Christinas kugelrunden Bauch fuhr, nirgends war ein eindeutiges Signal zu erkennen. Schließlich rief sie den Arzt herbei, der sofort mit dem Ultraschallgerät nach dem Befinden des Kindes sah. Es stellte sich heraus, dass die Herztöne nur deswegen nicht aufgezeichnet werden konnten, weil das Kind immer wieder seine Position änderte. Martin hatte später einmal behauptet, es wäre die Absicht des Kindes gewesen, doch wem immer er auch von dieser Theorie erzählte, niemand hatte ihm geglaubt. Voller Sorge beobachtete er abwechselnd den Arzt, seine Frau und den Monitor, auf dem in unterschiedlich starken Grauabstufungen die Umrisse des Kindes sichtbar wurden. Zwei kleine helle Punkte wippten auf und ab. Seine spärlichen Kenntnisse sagten ihm, dass es sich dabei um die Herzklappen handelte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er schließlich den Arzt und brachte damit seine Besorgnis zum Ausdruck.
»Das kann ich noch nicht sagen, auf den ersten Blick sieht es so aus, als ginge es dem Kind gut. Ich muss Ihre Frau näher untersuchen, bitte warten Sie einen Moment draußen.«
»Wir sagen Ihnen Bescheid, wenn Sie wieder hereinkommen können«, fügte die Arzthelferin hinzu und begleitete Martin zur Tür.
Er entfernte sich nicht weit und blieb nahezu direkt daneben stehen. Nervös lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und schloss die Augen. Wenn jetzt bloß nichts passiert, sagte er zu sich selbst. Es darf nichts passieren, nicht jetzt, nach der ganzen Zeit. Warum kann nicht auch mal etwas gut gehen?
Martins Gedanken schweiften ab und kehrten zu dem Traum zurück, durch den er heute Morgen aufgewacht war. Hätte er damals gewusst, was ihn erwartet, wäre er niemals in den Waldweg abgebogen. Die Erlebnisse hatten ihn verändert, nein, nicht nur ihn, sie hatten alles verändert. Obwohl sie über ein Jahr zurücklagen, erinnerte sich Martin noch an jedes Detail, als wäre es erst gestern gewesen. Tagelang war er durch einen anscheinend endlosen Wald gelaufen, in dem es so ruhig war, dass ihn die Stille fast wahnsinnig gemacht hätte. Irgendwann war er auf alte, verrostete Schienen getroffen, die bereits völlig zugewachsen waren. Darauf war schon seit einer Ewigkeit kein Zug mehr gefahren, aber sie hatten Martin Orientierung verschafft und die Hoffnung, nach Hause zu kommen, wenn er ihnen nur lange genug folgen würde.
Fast einen vollen Tagesmarsch später verschwanden die Schienen dann in einem Tunnel, der in eine Felswand hineinführte und für Martin der einzige Weg war, wenn er nicht umkehren wollte. Martin hasste Tunnel. Vielleicht war das auch ein Grund, warum er sich insbesondere an dieses Ereignis noch so gut erinnern konnte. Er gehörte zu jener Personengruppe, die unter klaustrophobischen Ängsten litten. Schon wenn er mit dem Auto durch einen Tunnel fahren musste, war es für ihn jedes Mal eine schreckliche Überwindung. Zum Glück gab es in seiner näheren Umgebung nur wenige und dann auch nur recht kurze, aber die Städteplaner hatten einen Hang zum Untertunneln von Straßen und dafür hasste er sie. Er kannte alle Tunnel in der Gegend und wusste, wie man sie umfährt. Aber nicht immer ließ es sich vermeiden oder er wurde von einem neuen und unbekannten Tunnel überrascht. Schon beim Anblick einer Tunneleinfahrt begann sein Puls zu rasen und während er die dunkle Röhre durchfuhr, bekam er schweißnasse Hände, die sich krampfhaft um das Lenkrad krallten. Martin hatte lange auf die vor ihm liegende Röhre geschaut, die ihn an das geöffnete Maul eines riesigen Untiers erinnerte.
Die Steine, mit denen der Rand ummauert war, standen vor wie Zähne und die Schienen wirkten wie eine lange ausgerollte Zunge, die alles in den schwarzen Schlund zog, was sich ihm näherte. Mit einem mehr als unguten Gefühl hatte sich Martin auf den Weg durch den Tunnel gemacht und das sollte sich noch als berechtigt herausstellen. Er hatte schon mehr als die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als hinter ihm ein dumpfes Grollen den Tunnel erfüllte. Obwohl es absolut unlogisch war, erinnerte Martin das Geräusch an einen fahrenden Zug. Martin hatte diesen irrsinnigen Gedanken versucht zu verdrängen, doch Sekunden später erschallte jener Ton, der ihm seine bisher schleierhafte Erinnerung an das Geräusch schlagartig deutlich machte. Es war genau dieser Ton, den jedes Kind kannte und immer dann imitierte, sobald es mit einer Eisenbahn spielte. Der pfeifende Laut des Signalhorns einer Lok schallte durch den Tunnel und trieb Martin vor sich her. Während er um sein Leben lief, warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter. Die zu einem Dreieck angeordneten Scheinwerfer der Lok waren schon fast hinter ihm und sahen ihn bedrohlich an. In vagen Konturen erkannte er dahinter eine Dampflok. Das Signalhorn ertönte erneut und zwangsläufig fragte sich Martin, warum der Lokführer nicht bremste, wenn er ihn sehen konnte. Obwohl es fast unmöglich war, erhöhte Martin seine Geschwindigkeit noch einmal. Der Ausgang war fast erreicht. Er spürte den Luftdruck im Nacken. Die Lok musste jetzt fast hinter ihm sein. Wieder erschallte das Signalhorn und diesmal sogar zweimal hintereinander. Martin kam es jetzt eher wie ein höhnisches Lachen vor. Ein Lachen, das ihm sagte, gib auf, du hast sowieso keine Chance, ich kriege dich. Mit letzter Kraft schüttelte er diesen Gedanken ab und konzentrierte sich auf seinen rettenden Sprung. Kaum hatte er das Ende des Tunnels erreicht, wich er nach rechts aus und hechtete mit einem Kopfsprung in das seitliche Gebüsch. Noch während seines kurzen Fluges spürte er den Zug an sich vorbeidonnern. Der warme Rauch der Dampflok hüllte ihn in eine stickige, nebelige Wolke und verwandelte seine Flucht in einen Blindflug. In der Ferne hörte er noch einmal das Signalhorn der Lok. Martin war um sein Leben gerannt und entkommen, doch noch heute fragt er sich, was geschehen wäre, wenn er das Ende des Tunnels nicht rechtzeitig erreicht hätte.
Er hob den Blick und erschrak. Für einen Moment war er völlig in seinen Gedanken versunken. Hektisch sah er auf die Uhr, doch es waren nicht einmal zwei Minuten vergangen. Er versuchte in den Sonografieraum hineinzuhorchen. Versuchte ein Geräusch oder ein Wort aufzuschnappen. Was ging darin vor sich und warum dauerte das so lange? Er musste noch weitere quälende Minuten warten, bevor sich die Tür wieder öffnete.
»Sie können wieder rein«, sagte die Arzthelferin und hetzte hektisch an ihm vorbei.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend schob Martin die Tür auf und betrat den Raum. Christina lag noch immer auf der Liege. In ihren Augen standen Tränen. Einige waren schon seitlich an ihrem Gesicht heruntergelaufen und hatten feuchte Spuren hinterlassen. Der Arzt saß mit dem Rücken zur Tür an seinem kleinen Tisch und schrieb.
»Martin!«, rief Christina mit weinerlicher Stimme.
»Martin, unser Kind kommt! Es ist doch noch viel zu früh!«
Martin trat zu ihr an die Liege und ergriff ihre Hand.
Sie war kalt und zitterte leicht. Der Arzt sah zu den beiden herüber und rollte ihnen auf seinem Hocker ein Stück entgegen.
»Der Muttermund ist schon mehrere Zentimeter geöffnet«, erklärte er, »die Fruchtblase ist noch intakt, aber wir können die Geburt nicht mehr verhindern.
Ich habe einen Krankenwagen bestellt, der Ihre Frau ins Krankenhaus bringt. Ihr Kind ist ungewöhnlich groß für sein Alter und möglicherweise weit genug entwickelt, um eine gute Überlebenschance zu haben.«
»Wieso geschieht das alles so plötzlich?«, fragte Martin.
Der Arzt sah ihn ratlos an.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine Antwort darauf geben. Bei Ihrer Frau gibt es keine Anzeichen von Wehentätigkeit. Ich habe so etwas noch nie erlebt, aber alles deutet darauf hin, als ginge die Geburt von Ihrem Kind aus.«
…
Der Krankenwagen ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Sanitäter hoben Christina auf eine fahrbare Trage und brachten sie hinunter zum Fahrzeug. Martin ließ sein Auto in der Tiefgarage stehen und begleitete Christina. Die ganze Fahrt über hielt er ihre Hand und streichelte sie, während sie leise weinte. Ihm selbst steckte ein dicker Kloß im Hals. Es fehlte nicht viel und auch ihm wären die Tränen übers Gesicht gerollt. Im Krankenhaus erwartete man sie schon. Christina wurde sofort in den Kreißsaal gebracht und eine knappe halbe Stunde später war das Kind geboren. Es wurde die komplikationsloseste Geburt, die jemals in diesem Kreißsaal stattgefunden hatte. Das Kind passte sich dem vorgegebenen Geburtskanal nahezu völlig an und bereitete seiner Mutter kaum Schmerzen. Die sofort eingeleiteten Untersuchungen brachten zur Überraschung aller keinen Grund zur Sorge hervor. Normalerweise wäre ein Kind in der zweiundzwanzigsten Woche nicht überlebensfähig. Dieses jedoch war bereits kräftig genug, während der ganzen Untersuchung laut zu schreien und es beruhigte sich erst, als es in ein warmes Handtuch gepackt, der Mutter auf den Bauch gelegt wurde. Was für die Ärzte ein medizinisches Wunder darstellte, war für die Eltern einfach nur der glücklichste Augenblick ihres Lebens.
Warum immer ihr Sohn auch nur fünf Monate Schwangerschaft benötigt hatte, jetzt war er da. Mit seinen zweiundvierzig Zentimetern war er sicherlich kein Riese und auch sein Gewicht von rund zweitausendsechshundert Gramm war nicht rekordverdächtig, aber er war gesund. Nachdem sich der ganze Trubel aufgelöst hatte und im Kreißsaal Ruhe eingekehrt war, saß Martin überglücklich neben dem Bett und beobachtete seinen Sohn.
»Na mein Schatz, was meinst du?«, fragte er Christina nach einer Weile, ohne dabei die Augen von seinem Sohn zu nehmen, »Ist es ein Kai oder ein Sven?«
»Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete Christina.
»Ich konnte ihn mir noch gar nicht richtig ansehen«, fuhr sie fort und sah auf das kleine Bündel auf ihrem Bauch.
»Du solltest dich entscheiden, bevor er in die Schule kommt.«
»Sehr witzig«, kommentierte Christina die Bemerkung und warf Martin einen abfälligen Blick zu.
»Es wäre alles viel einfacher, wenn wir unser Baby fragen könnten«, fügte sie anschließend hinzu.
»Vielleicht sollten wir das mal probieren«, scherzte Martin.
»Du verstehst mich nicht.«
»Doch, doch, und ich meine das ernst.«
Christina ließ ihren Kopf zur Seite fallen, wobei ihr ein paar lange Haarstränen ins Gesicht rutschten und sah ihren Mann an. Anscheinend hatte ihm die Überdosis Glück vorübergehend den Verstand genommen.
»Vielleicht bewegt sich zufällig ein Finger oder ein Füßchen. Wir könnten das dann als Zustimmung werten, als Entscheidung des Schicksals und du kannst wieder beruhigt schlafen«, erklärte Martin.
Christinas Blick signalisierte noch immer grenzenloses Unverständnis an dem Verhalten ihres Mannes, doch sie ließ ihn gewähren. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er sowieso nicht mehr davon abzubringen.
Martin beugte sich ganz nach vorne, sodass er seinen Sohn fast mit der Nasenspitze berührte.
»Hör mal Baby, möchtest du Kai heißen?«, fragte er leise.
Der Kleine gab keine Reaktion von sich.
»Oder lieber Sven?«, fügte Martin hinzu.
Genau in diesem Moment öffnete der Kleine die Augen. Martin zuckte erschrocken zurück. Er hatte gehofft, dass sich zufällig eine Reaktion ergeben würde, aber dies war keine zufällige Reaktion gewesen. Das Kind hatte ihn direkt angesehen.
»Was hat er gesagt?«, spottete Christina.
»Er, - er hat die Augen geöffnet.«
»So? Und heißt das jetzt Ja oder Nein?«
»Ich glaube, er möchte Sven heißen.«
Christina lächelte ihren Mann liebevoll an.
»Es ist okay, wir nennen ihn Sven. Ich bin einverstanden.«
»Nein, nein. Du sollst dich nicht überrumpelt fühlen.
Er hat wirklich ...«
»Martin«, unterbrach ihn Christina, »Ich fühle mich nicht überrumpelt. Wie du schon sagtest, irgendwann muss ich mich doch entscheiden und das habe ich jetzt getan.«
Martins Blick wechselte von seiner Frau zu Sven, der wieder mit geschlossenen Augen dalag und sich nicht rührte. Martin schob seine Hand zu ihm herüber und streichelte mit dem Zeigefinger über den kleinen Handrücken.
»Willkommen in dieser Welt, Sven. Ich hoffe, es wird dir immer gut gehen.«, flüsterte Martin und in diesem Augenblick öffnete der Kleine erneut die Augen.
Martin blickte in ein strahlendes Blau, wie er es noch niemals zuvor gesehen hatte und gleichzeitig überkam ihn die erschreckende Gewissheit, dass Sven kein normales Kind sein würde.
Die Reifen blockierten beim Bremsen auf dem sandigen Schotter. In einer grauen Staubwolke kam das rote Cabriolet kurz hinter dem verrosteten Maschendrahtzaun zum Stehen. Früher hatte ein großes Tor die Einfahrt versperrt, aber jetzt stand es weit auf.
»Was willst du hier?«, fragte die junge Frau lachend.
»Schwimmen!«, antwortete ihr Freund.
»Schwimmen? Hier?«
»Na klar, wo sonst?«
Von der Hauptstraße aus, war er völlig unerwartet in den kleinen Waldweg abgebogen und mit hoher Geschwindigkeit die unbelebte Asphaltstraße entlang gerast. Jetzt standen sie auf dem Gelände eines alten Steinbruchs. In der Mitte des recht großen Grundstücks erhoben sich drei verfallene Gebäude aus dem Boden. Zwei davon waren lang gezogene, eingeschossige Hallen, von denen eine fast vollständig eingestürzt war. Das dritte Gebäude hatte sechs Stockwerke mit einem Flachdach und befand sich vom Tor aus gesehen, hinter den Hallen. Auf dem Gelände waren vereinzelte Tankbehälter oder Silos positioniert.
Ihre gelbe Farbe war inzwischen völlig verblasst und der Rost hatte sich schon stellenweise großflächig ausgebreitet. Auf ihren vier Beinen in der staubigen Landschaft stehend, erinnerten sie an verlassene Landefähren, wie sie in Weltraumgeschichten vorkamen.
Insgesamt wirkte die Umgebung tot und ausgestorben. Nur die Gebäude zeugten davon, dass hier einmal Leben vorhanden gewesen sein musste.
»Frank, es ist fast neun Uhr. Ich habe nicht mal einen Badeanzug mit«, sagte die Frau Er machte den Motor aus und sah sie an.
»Hey, wo bleibt deine Spontaneität? Hier ist kein Mensch, du brauchst keinen Badeanzug.«