Tawox - Markus Linnemann - E-Book

Tawox E-Book

Markus Linnemann

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Beschreibung

Alles deutet auf einen ganz alltäglichen Mord hin, auch wenn die Art, auf die der Tote ums Leben gekommen ist, ausgesprochen ungewöhnlich erscheint. Doch im Laufe seiner Nachforschungen wird Hauptkommissar Sander schnell klar, dass es in diesem Fall um mehr geht als einen schlichten Mord. Der kleine Ort Wirndorf beherbergt ein dunkles Geheimnis.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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INHALT

Was in KEIZ geschah

Tawox

Alles deutet auf einen ganz alltäglichen Mord hin, auch wenn die Art, auf die der Tote ums Leben gekommen ist, ausgesprochen ungewöhnlich erscheint. Doch im Laufe seiner Nachforschungen wird Hauptkommissar Sander schnell klar, dass es in diesem Fall um mehr geht als einen schlichten Mord. Der kleine Ort Wirndorf beherbergt ein dunkles Geheimnis.

Tawox setzt dort an, wo KEIZ aufhörte. Drei Jahre sind vergangen, Sven und Bea erwachsen.

Ein besonderer Dank für die konstruktive Unterstützung geht an Jenny.

Was in KEIZ geschah

Nur durch Zufall entdeckt der Schriftsteller Martin Kästing in einem abgelegenen Steinbruch eine Forschungsstation, die sich als Aufenthaltsort außerirdischer Lebensformen entpuppt. Seit einigen Jahren laufen dort Vorbereitungen, um die Menschheit zu vernichten. Doch die Außerirdischen haben Gegner in den eigenen Reihen. Ordol und Doran nehmen Kontakt mit Martin auf und bitten ihn um Hilfe bei der Zerstörung der Forschungsstation.

Während der Kampfhandlungen übertragen die sterbenden Außerirdischen heimlich einen Virus auf Martin. Doch der Virus bleibt zuerst ohne Wirkung. Erst als die Kästings zwei Jahre später einen Sohn bekommen, scheinen die Folgen sichtbar zu werden. Sven wächst doppelt so schnell wie ein normales, menschliches Kind und ist extrem intelligent.

Als er mit sechs Jahren in die sechste Klasse eingeschult wird, hat er den Entwicklungsstand eines 12-Jährigen. Dort lernt er Bea kennen, ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, mit dem er sich anfreundet.

Fast zeitgleich tauchen Ordol und Doran wieder bei Svens Eltern auf. Sie berichten, dass der Virus Sven dazu veranlassen soll, die Vernichtung der Menschen weiter fortzuführen. Um das zu verhindern, gibt es nur eine Möglichkeit, Sven muss getötet werden.

Doch der hat sich mit Bea in den Steinbruch zurückgezogen und ihr sein Geheimnis offenbart. Als die Verfolger eintreffen, bringt Sven die unterirdischen Höhlen durch eine Explosion zum Einsturz und lässt sich mit Bea verschütten.

Tawox

Nachdem der erste Schuss verhallt war, wurden die wenigen Menschen, die sich noch in der Bankfiliale befanden, ruhiger. Doch es war eine brutale, erzwungene Ruhe, der sich niemand zu widersetzen wagte. Mit dem Gesicht nach unten lagen sie auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Nur das leise Wimmern einer Frau war zu hören. Sie lag direkt zu Füßen jenes Mannes, der kurz zuvor mit zwei weiteren Komplizen hereingestürmt war. Durch den Augenwinkel sah sie seine schwarzen Armeestiefel. Die Gleichen, wie sie ihr Sohn zurzeit immer im Flur abstellte, wenn er am Wochenende vom Wehrdienst nach Hause kam. Mehr konnte sie allerdings nicht erkennen, denn dazu hätte sie sich bewegen müssen. Noch immer konnte sie nicht begreifen, dass sie dies wirklich erlebte. Jede Sekunde hoffte sie darauf, aus einem bösen Traum zu erwachen. Doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Stattdessen erschallte über ihr die raue Stimme des Mannes neben ihr.

»Jeder bleibt an seinem Platz und rührt sich nicht. Sehe ich auch nur die kleinste Bewegung, werde ich verdammt ungemütlich!«

Während er sprach, machte er einen Schritt über die Frau, um zu den Bankschaltern hinüberzugehen. Dabei trat er achtlos gegen ihre Einkaufstasche. Ein paar Äpfel fielen heraus und rollten über den Teppich. Sie stießen gegen eine der großen Pflanzschalen, die unter den Kunstlichtlampen standen und blieben dort liegen. Die Frau hatte die Äpfel zuvor in einem nicht weit von der Bank entfernten Obstgeschäft gekauft. Jetzt wollte sie vor dem Wochenende noch schnell etwas Geld abholen. Es war Freitag und da schlossen die Banken bereits um 15:00 Uhr. Natürlich hätte sie auch zu einem Geldautomaten gehen können, aber sie mochte diese unpersönlichen Geräte nicht. Außerdem liebte sie es den netten Kassierer zu treffen, der sie immer so freundlich anlächelte, wenn sie zu ihm in die Bank kam. Heute bereute sie ihre altmodische Einstellung dem Geldautomaten gegenüber zum ersten Mal.

Der Mann mit den schwarzen Stiefeln hielt jetzt dem netten Kassierer eine Pistole an die Kehle.

»Und wir zwei werden jetzt ein bisschen Geld abheben«, sagte er fordernd.

»Das geht nicht«, flüsterte der Kassierer und deutete mit dem Finger seiner erhobenen Hand auf ein Schild neben dem Ständer mit den Überweisungsformularen.

Kurzentschlossen schoss der Bankräuber das Schild von der Theke, während ein kurzer Aufschrei der Leute den Schalterraum erfüllte. Sofort drückte er den Lauf der Pistole dem Kassierer wieder an den Hals, aber diesmal etwas fester.

»Willst du mich verarschen oder was? Mich interessiert euer Scheiß mit dem Zeitschloss gesicherten Tresor nicht und willst du wissen warum? Weil ich genau weiß, dass sich hier im Gebäude jemand befindet, der jetzt nach Geschäftsschluss diese beschissene Sicherheitsautomatik warten will. Und dieser nette Mensch wird uns dabei behilflich sein, den Tresor zu öffnen. Du wirst jetzt also ganz vorsichtig den Telefonhörer in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass der Typ hier erscheint, sonst beginne ich damit alle dreißig Sekunden eine Geisel zu erschießen und rate mal, mit wem ich anfange?«

Der Bankräuber grinste dem Kassierer frech ins Gesicht und durch seine Strumpfmaske sah dieses Grinsen noch grotesker aus.

»Ich weiß nichts von einer Überprüfung, so etwas wird geheim gehalten.«

Mit der Pistole schlug der Bankräuber dem Kassierer ins Gesicht, sodass er seitlich wegkippte und taumelnd auf das Telefon stürzte. Aus der Platzwunde, unter seinem linken Auge, lief ihm Blut über die Wange und tropfte auf sein weißes Hemd.

»Ihr seid hier nur knapp zwanzig Mann in der Filiale, also spiel nicht den Unwissenden. Du hast jetzt noch genau dreißig Sekunden zu leben, es sei denn du schaffst mir diesen Typ her.«

Demonstrativ hob der Bankräuber seinen Arm und blickte auf die Armbanduhr.

»Noch fünfundzwanzig Sekunden!«, ertönte seine Stimme während er die Waffe auf den Kassierer richtete und sich gleichzeitig in Bewegung setzte, um sich hinter den Bedienungstresen zu begeben.

Hektisch griff der Mann nach dem Telefonhörer, der ihm vor Nervosität fast wieder aus der Hand gerutscht wäre. Seine Hände zitterten so stark, dass er kaum die Tasten auf dem Telefon traf.

»Zwanzig Sekunden!«, drohte die Stimme von hinten.

Im Telefon ertönte das Rufzeichen.

»Da – da - das geht nicht so - so schnell«, stotterte der Kassierer

»Fünfzehn Sekunden!«

Wieder ertönte nur das Rufzeichen.

»Es geht keiner ran, es geht keiner ran«, wimmerte der Kassierer.

Verzweifelt blickte er sich zu dem Mann mit den schwarzen Stiefeln um, der mit starrem Blick auf seine Armbanduhr sah und mit der anderen Hand die Waffe auf ihn richtete.

»Zehn Sekunden!«, ertönte seine Stimme.

Dem Kassierer war nicht klar, wie er in der verbliebenen kurzen Zeit noch die an ihn gestellte Forderung erfüllen konnte, doch in diesem Moment hätte es ihm schon gereicht eine Verbindung zu bekommen.

»Fünf Sekunden!«

Endlich meldete sich der Filialleiter am Telefon. Seine Stimme hatte fast etwas Erlösendes, doch der Kassierer ließ ihn kaum aussprechen.

»Wir werden überfallen«, kreischte er verzweifelt ins Telefon,

»der Mann von IGT soll runterkommen, schnell sonst ...« Ein Schuss unterbrach das Gespräch. Für einen kurzen Moment löste der Aufschrei mehrerer Menschen die ansonsten herrschende Totenstille ab. Der Bankräuber nahm dem langsam unter den Schreibtisch sinkenden Kassierer den Telefonhörer aus der Hand.

»Sie haben bereits gehört, was ich will. Leider war mein erster Verhandlungspartner etwas zu langsam, ich hoffe, Sie sind schneller. In dreißig Sekunden stirbt hier der Nächste. Die Zeit läuft!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er den Hörer wieder auf. Anschließend ging er zu einem seiner beiden Komplizen hinüber.

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Sie werden jetzt die Bullen alarmieren, bleiben uns also noch knapp fünf Minuten«, kam die kurze Antwort.

»Okay, kein Problem, wir liegen im Zeitplan. Du wirst sehen wie schnell die jetzt hier sind.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als sich eine Tür öffnete und zwei Männer den Kassenraum betraten. Verunsichert sahen sie sich um, betrachteten die zum Zerreißen angespannte Situation, die sie sofort vereinnahmte, als der Bankräuber seine Waffe auf sie richtete und ihnen entgegen kam.

»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Sie müssen wissen, ich stehe etwas unter Zeitdruck. Insbesondere, weil Sie es sicherlich nicht versäumt haben noch vor ihrem Eintreffen hier, die Polizei zu verständigen, nicht wahr?«

»Mein Name ist Metzroth, ich bin Filialleiter dieser Bank. Sie bekommen was Sie wollen, wenn Sie keine weiteren Menschen erschießen.«

»Nun, das ist ganz in meinem Sinn, also gehen wir«, forderte er die beiden Männer auf.

Er gab dem in seiner Nähe stehenden Komplizen ein Zeichen, der ihm daraufhin eine leere Reisetasche zuwarf. Anschließend verschwand er mit dem Filialleiter und dem Techniker im Tresorraum.

Es dauerte etwas länger als erwartet, aber schließlich kehrte der Bankräuber mit der prall gefüllten Reisetasche zurück.

»Das wird aber auch Zeit!«, rief ihm einer seiner Komplizen entgegen. »Die Bullen sind im Anmarsch.«

»Dann nichts wie raus hier!«

»Keiner bewegt sich!«, rief der Dritte den am Boden liegenden Kunden zu und schoss noch einmal zur Verdeutlichung in die Decke.

Alle Drei verließen den Kassenraum durch die Tür, durch die der Filialleiter hereingekommen war. Sie durchquerten das angrenzende Treppenhaus und gelangten über einen Hinterausgang in eine Nebenstraße. Das Martinshorn der Polizeifahrzeuge war inzwischen deutlich lauter geworden.

Vor dem Verlassen des Gebäudes hatten sich die Männer die Strumpfmasken vom Kopf gezogen und zusammen mit ihren Waffen im Treppenhaus zurückgelassen. Unauffällig und ruhig bogen die beiden Komplizen nach rechts und links ab und entfernten sich vom Tatort, während der Mann mit den schwarzen Stiefeln auf einen blauen Golf zu ging, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Er öffnete kurz den Kofferraum, um die Tasche mit dem Geld hineinzustellen, setzte sich danach hinter das Steuer und fuhr los. Er bog in die Hauptstraße ein, als die ersten Einsatzwagen der Polizei vor dem Haupteingang der Bank stoppten. Mit einem letzten prüfenden Blick in den Rückspiegel fuhr er davon. Zufrieden dachte er daran, dass in wenigen Minuten die ganze Umgebung abgeriegelt sein würde. Noch mussten die Polizisten davon ausgehen, dass er sich in der Bank aufhielt. Es würde kostbare Zeit kosten, bis sie feststellten, dass er sich bereits auf der Flucht befand und dann wäre er schon längst untergetaucht. Der blaue Golf fuhr ein paar Kilometer die Hauptstraße entlang, bis er plötzlich abbremste und nach rechts in eine Seitenstraße wechselte. Von dort aus bog er noch zwei weitere Male ab und blieb schließlich mitten auf einer schmalen Einbahnstraße stehen. Für einen Moment wirkte es, als würde der Fahrer nach dem Weg suchen. Die Bremslichter leuchteten hell auf, während der Auspuff die Rauchschwaden des alten Dieselmotors in die Luft pustete. Die Fahrertür öffnete sich und der leblose Körper des Bankräubers kippte seitlich aus dem Auto. Zum gleichen Zeitpunkt näherte sich Bea dem Fahrzeug. Sie öffnete die Beifahrertür und sah Sven an, der jetzt den Platz hinter dem Lenkrad eingenommen hatte.

»Ist hier noch ein Platz frei?«, fragte sie freundlich.

Sven blickte zu dem toten Bankräuber, der mit gebrochenem Genick auf der Straße lag.

»Gerade frei geworden«, antwortete er mit ironischem Unterton und zog die Fahrertür zu.

»Das trifft sich gut, dann kann ich doch sicher ein Stück mitfahren?«, sagte Bea und setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Aber nur unter einer Bedingung.«

»Ich höre.«

»Das nächste Mal machst du den unbequemen Job hinter den Sitzen.«

»Das kannst du viel besser«, lächelte Bea.

Sven erwiderte ihr Lachen, legte den ersten Gang ein und fuhr los.

Auf der kleinen Straße, die Ulm mit dem benachbarten Vorort Harthausen verband, herrschte kaum Verkehr. Trotzdem hatten die Polizisten ihr Fahrzeug ein paar Hundert Meter nach dem Ortsausgang, quer auf die rechte Fahrspur gestellt und kontrollierten nun die wenigen Autos, die vorbeikamen. Unmittelbar nach bekannt werden des Banküberfalls ließ die Einsatzleitung alle strategisch wichtigen Punkte von Ulm durch Straßensperren abriegeln, sodass es den flüchtigen Bankräubern kaum noch möglich sein würde, die Stadt zu verlassen. Die drei Polizisten saßen in ihrem VW-Bus, während sie durch die geöffnete Schiebetür die Straße beobachteten.

»Wenn du mich fragst, sind die längst über alle Berge,« sagte der Ältere von den Dreien. »Es ist doch immer das Gleiche, wir stehen uns hier die Beine in den Bauch, aber gebracht hat das noch nie etwas. Was würdest du an deren Stelle tun?«

»Ich würde mich verstecken, bis sich alles wieder beruhigt hat und dann die Stadt verlassen«, antwortete der jüngere Kollege und machte einen Zug an seiner Zigarette.

»Zu riskant. Wenn auch nur ein einziger Zeuge, ein Spaziergänger, jemand der mit seinem Hund Gassi geht oder ein gelangweilter Rentner am Fenster und auf solche Leute trifft man immer genau dann, wenn man sie nicht brauchen kann, wenn so jemand etwas Verdächtiges bemerkt, bist du im Arsch. Unsere Jungs haben so einen Wohnbereich abgeriegelt, bevor du es überhaupt mitkriegst. Nach so einem Überfall gibt es nur eins, abhauen solange die Wege noch offen sind und dich niemand verfolgt.«

»Aber diese Täter hatten offensichtlich noch genügend Zeit für ihren internen Streit«, meldete sich jetzt der Dritte zu Wort.

»Stimmt, das ist eigenartig«, sagte der Polizist mit der Zigarette. »Ein Zeuge sieht, wie die Drei aus dem Nebeneingang der Bank kommen. Zwei flüchten zu Fuß, einer mit dem Auto. Der wird aber ein paar Kilometer entfernt tot aufgefunden. Die beiden, die zu Fuß gegangen sind, können das wohl kaum gewesen sein, also muss da noch jemand im Spiel sein.«

Erneut zog er an seiner Zigarette und pustete den Qualm zur Tür hinaus.

»Du hast recht, aber vielleicht gab es einen Auftraggeber, der plötzlich keine Lust mehr hatte die Beute zu teilen.«

»Ich sage euch«, sagte der Ältere und kratzte sich dabei am Kopf, »das ist wieder einer der Fälle, den wir niemals aufklären werden. So was habe ich im Gefühl.«

Mit einer Handbewegung deutete er nach draußen auf ein Auto das sich der Kontrollstelle näherte.

»Kundschaft«, sagte er, stieg aus dem Polizeiwagen und setzte sich seine Dienstmütze auf.

Der jüngere Kollege folgte ihm, warf den Rest seiner Zigarette auf die Straße und trat sie aus.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zu viel rauchst?«

»Ja.«

»Du weißt doch, Rauchen kann tödlich sein!«

Der Jüngere machte eine gleichgültige Handbewegung und ging auf das sich nähernde Fahrzeug zu, wobei ihm der ältere Kollege folgte.

»Guten Tag, allgemeine Verkehrskontrolle, darf ich bitte Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere sehen?«, begrüßte er den Fahrer.

»Stimmt etwas nicht? Bin ich zu schnell gefahren?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, da wir keine Geschwindigkeitsmessung durchführen. Wir machen nur eine routinemäßige Kontrolle.«

Der Fahrer nickte verständnisvoll, zog die verlangten Papiere aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Polizisten. Während der einen prüfenden Blick darauf warf, streifte sein älterer Kollege einmal um das Fahrzeug und kehrte anschließend zum Einsatzwagen zurück.

»Darf ich noch einen Blick in Ihren Kofferraum werfen?«, fragte der jüngere Polizist und gab gleichzeitig die Papiere zurück.

»Wenn Sie wollen, warten Sie ich schließe auf.«

Der Fahrer zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Gemeinsam mit dem Polizisten ging er zum Heck seines Wagens, während sich von hinten ein blauer Golf näherte in dem zwei Personen saßen. Das Fahrzeug blieb mit etwas Abstand und laufendem Motor auf der Straße stehen. Der Polizist ignorierte das Auto vorerst und fuhr mit seiner Kontrolle fort. Der Fahrer hatte inzwischen den Kofferraum geöffnet, in dem sich nichts außer einer durchsichtigen Plastiktüte mit einem Abschleppseil befand.

»Alles in Ordnung, ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt«, verabschiedete er den Fahrer, der sich bedankte und die Kontrollstelle verließ.

Jetzt lenkte der Polizist seinen Blick zu dem blauen Golf herüber und winkte ihn herbei. Doch im gleichen Moment wurde er stutzig. In dem Fahrzeug saß nur eine Person, obwohl er sich sicher war, kurz zuvor noch zwei Personen erkannt zu haben. Noch während er darüber nachdachte, stand plötzlich sein älterer Kollege neben ihm.

»Das ist ein blauer Golf!«, sagte er.

»Meinst du den aus dem Bankraub?«

»Möglicherweise. Tom prüft gerade das Kennzeichen.«

Der Ältere nahm unauffällig seine Pistole aus dem Gürtel.

»Wir nähern uns langsam. Ich gebe dir Deckung. Lass ihn aussteigen.«

»Okay.«

Gemeinsam gingen sie auf das Fahrzeug zu, dessen Fahrer noch immer regungslos hinter seinem Lenkrad saß. Erst als sie neben ihm standen, drehte er den Kopf und sah die Polizisten an.

»Guten Tag, allgemeine Verkehrskontrolle. Würden Sie bitte aussteigen.«

Der ganz in schwarz gekleidete Fahrer öffnete die Tür und folgte der Anweisung. Erleichtert nahm der jüngere Polizist dies zur Kenntnis, konnte er doch so den Verdächtigen besser im Blick behalten. Auch der ältere Polizist entspannte sich ein wenig, behielt seine Waffe aber noch in der Hand.

»Könnte ich bitte Ihren Führerschein und den Fahrzeugschein sehen?«

Der Mann griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und für einen Moment verkrampfte sich die Hand an der Waffe des älteren Polizisten. Er sah, wie der Mann eine kleine Pistole herauszog und sofort zu schießen begann. Noch bevor die Polizisten reagieren konnten, durchbohrte sie eine Salve von Kugeln und schwer verletzt stürzten sie auf die Straße. Der ältere Polizist sah in das schadenfreudige Gesicht des schwarz gekleideten Mannes, dessen kurzen, blonden Haare in der Nachmittagssonne leuchteten, als trüge er eine Krone auf dem Kopf. Ohne diesen Mann aus den Augen zu lassen, versuchte er sich noch einmal aufzurichten und stützte sich mit der Hand auf dem Boden ab. Zwischen seinen Fingern spürte er etwas Feuchtes und als er hinsah, war es das Blut seines Kollegen, das über den Asphalt floss. Sein entsetzter Blick wechselte wieder zu dem schwarz gekleideten Mann, der erneut seine Pistole auf ihn richtete und im gleichen Moment hörte er die Stimme seines jüngeren Kollegen.

»Danke«, sagte er, nahm die Fahrzeugpapiere entgegen und reichte sie an seinen älteren Kollegen zur Prüfung weiter.

Noch immer von dem Tagtraum benommen, nahm der die Papiere entgegen.

»Alles klar mit dir?«, fragte der jüngere Polizist und sah ihm in sein verschwitztes Gesicht.

»Ja natürlich, alles in Ordnung. Es ist nur das Wetter. Ist verdammt drückend heute.«

»Setz dich in den Wagen, Tom kann mir hier draußen helfen.«

»Nein, ist schon okay. Ich bringe Tom nur schnell die Papiere.«

»Wie du meinst.«

Er wandte sich wieder dem Fahrer des Golfs zu und bat ihn den Kofferraum zu öffnen, während der ältere Polizist zum Einsatzfahrzeug zurückging. Zuerst wunderte er sich darüber, dass Tom nicht am Funkgerät saß, so wie es eigentlich seine Aufgabe wäre, doch dann bemerkte er, dass Tom auch nirgendwo anders zu sehen war. Eine grausame Vorahnung ergriff ihn. Es war etwas passiert und irgendwie stand es mit dem Traum in Verbindung, der ihn zuvor überfallen hatte. Mit jedem Schritt, den er dem Einsatzfahrzeug näher kam, steigerte sich sein Pulsschlag.

»Tom?«, rief er verunsichert, »Tom, wo steckst du?«

Doch im gleichen Moment wurde ihm klar, dass Tom nie wieder antworten würde. Der ältere Polizist stand jetzt so nah vor der geöffneten Schiebetür des Einsatzfahrzeugs, dass er problemlos in den hinteren Teil hineinschauen konnte. Tom hing quer und mit dem Kopf nach unten über der Rücksitzbank. Sein linker Fuß hatte sich in dem Netz verfangen, das den Kofferraum abtrennte, wodurch verhindert wurde, dass er vollständig von der Sitzbank rutschte. Seine toten Augen starrten ins Leere und überall war Blut. Mehr Blut, als der Polizist jemals auf einer Stelle gesehen hatte. Es tropfte Tom aus den Haaren und bildete unter seinem Kopf eine rote Pfütze. Für einen Moment spürte der alte Polizist Übelkeit in sich aufsteigen. Er glaubte jeden Augenblick bewusstlos zu werden, doch er fing sich wieder. Auf extreme Situationen war er vorbereitet worden und er hatte gelernt, wie damit umzugehen war. Doch was er jetzt sah, war so nie erwähnt worden. Das Wichtigste war in diesem Augenblick nicht die Nerven zu verlieren und normal weiter zu atmen. Gerade jetzt musste sein Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt werden. Während er sich zu seinem zweiten Kollegen umdrehte, machte er ein paar ruhige und tiefe Atemzüge. Doch gleich darauf hielt er den Atem an. Der schwarz gekleidete Fahrer des Golfs hatte den jüngeren Polizisten mit einer Hand am Hals ergriffen und ihn ein Stück in die Höhe gehoben. Dabei entstand fast der Eindruck, als hätte ein Kind eine viel zu große Puppe in die Luft gehalten. Sofort richtete er seine Waffe auf den Fahrer.

»Loslassen!«, rief er der Verzweiflung nah. »Lassen Sie ihn sofort los!«

Der Fahrer folgte der Aufforderung. Der leblose Körper des Polizisten fiel in sich zusammen und blieb regungslos auf der Straße liegen. Entsetzt starrte der ältere Polizist auf seinen zweiten toten Kollegen. Seine Atmung geriet zunehmend aus dem Rhythmus. Die Atemzüge wurden kürzer und kamen schneller hintereinander. Ihm war klar, dass er bewusstlos werden würde, wenn er sich nicht wieder unter Kontrolle brachte. Doch bevor er überhaupt reagieren konnte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er fuhr herum und richtete seine Waffe auf die Geräuschquelle. Seine Hände zitterten. Du darfst jetzt nicht durchdrehen, du musst die Nerven behalten, ermahnte er sich selbst. Dabei betrachtete er die junge Frau, auf die seine Waffe zielte. Sie war ganz in weiß gekleidet. Weißes T-Shirt, weiße Jeans, jedoch keine Schuhe und sie lächelte ihn an, als wollte sie ihn zu einem Picknick am Straßenrand überreden.

»Nehmen Sie die Hände über den Kopf und legen Sie sich auf den Boden!«, befahl er ihr.

Doch die junge Frau reagierte nicht. Sie legte ihren Kopf etwas zur Seite und beobachtete ihn mit ihrem überaus sympathischen Lächeln. Hektisch warf er einen Blick zu dem Golf herüber. Der schwarz gekleidete Mann war bereits wieder in den Golf gestiegen und wartete. Worauf, fragte sich der Polizist und gleich darauf peitschte die Antwort durch seinen Kopf. Dass sie dich fertigmacht! So wie sie auch Tom fertiggemacht hat! Noch einmal nahm er all seine Kraft zusammen.

»Wenn Sie sich nicht sofort auf den Boden legen, dann muss ich von der Waffe Gebrauch machen!«, rief er und versuchte dabei so energisch wie möglich zu wirken.

Jetzt reagierte die Frau. Jedoch legte sie sich nicht auf den Boden, sondern bewegte sich langsam auf ihn zu. Damit war genau die Situation eingetreten, von der er gehofft hatte, verschont zu bleiben. Sein Atemrhythmus geriet jetzt endgültig durcheinander und alle vorbereitenden Schulungen konnten ihm nicht mehr helfen, das zu verhindern. Es war ein panischer Reflex, der ihn den ersten Schuss abfeuern ließ. Blitzschnell bewegte sich die junge Frau zur Seite und wich der Kugel aus. Gleich darauf schoss der Polizist ein zweites Mal, doch diesmal tat er es bewusst. Abermals wich die Frau der Kugel aus. Sie duckte sich förmlich darunter durch und setzte unbeirrt ihren Weg weiter fort. Mit blankem Entsetzen sah er mit an, wie die Frau ihn fast erreicht hatte. Eine Wolke aus süßlichem Parfüm drang zu ihm herüber.

»Bleiben Sie stehen!«, schrie er in letzter Verzweiflung, bevor er mit geschlossenen Augen das ganze restliche Magazin abfeuerte.

Die Frau wurde herumgeschleudert und stürzte auf die Straße. Mehrere Kugeln hatten sie in Schulter und Oberkörper getroffen. Entsetzt starrte der Polizist auf die am Boden liegende Frau. Doch sofort wechselte sein Blick zu dem Golf hinüber. Noch saß der Fahrer teilnahmslos hinter seinem Lenkrad. Für einen Moment war dem Polizisten nicht klar, warum der Fahrer nicht reagierte und einfach nur zusah, wie seine Partnerin erschossen wurde. Er machte auch keinen Versuch alleine zu flüchten. Er saß einfach nur in seinem Wagen und sah herüber. Allein dieses Verhalten ließ in dem Polizisten die Gewissheit aufsteigen, den Kampf noch nicht gewonnen zu haben und schon im gleichen Augenblick nahm er neben sich eine Bewegung wahr. Sofort richtete er seine Waffe wieder auf die Frau. Sie stützte sich seitlich auf ihrem Ellenbogen ab und sah zu ihm auf. Für einen Moment war der Polizist froh sie nicht getötet zu haben, doch gleich darauf kamen ihm Zweifel. Mindestens eine der abgefeuerten Kugeln musste die Frau getroffen haben, wieso konnte sie ihn dann ansehen, als wäre nichts passiert? Doch er bekam keine Gelegenheit weiter darüber nachzudenken. Mit einer schnellen Bewegung trat die Frau ihm von vorne gegen sein rechtes Knie. Der Schmerz von reißenden Sehnen ließ ihn laut aufschreiend zu Boden stürzen. Verzweifelt umklammerte er sein Kniegelenk, worüber er keine Kontrolle mehr hatte und das wie Feuer brannte. Er sah, wie die Frau sich von der Straße erhob und die Einschusslöcher in ihrem T-Shirt betrachtete. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen und entschlossen ging sie auf ihn zu. Er hob noch einmal seine Waffe, doch der Schmerz in seinem Knie nahm ihm die Kraft erneut abzudrücken. Er musste zusehen, wie die Frau ihm die Waffe aus der Hand nahm und sie ihm an den Kopf hielt. Dann klickte der Abzug. Der Polizist erwartete den erlösenden Schuss, der seine Qualen beenden würde. Den Schuss, der dieses makabre und unerklärliche Spiel beenden würde. Doch nichts passierte. Das Klicken der Waffe verhallte ohne Folgen. Der Polizist öffnete seine Augen, die er Sekunden zuvor geschlossen hatte.

»Glück gehabt!«, sagte die Frau und warf ihm die Waffe vor die Füße.

Das Lächeln war wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt, doch es war ein sarkastisches Lächeln, das nichts Gutes erwarten ließ. Sie wandte sich ab und ging auf das Auto zu, in dem ihr Partner wartete. Der Polizist hörte wie der Motor gestartet wurde und dieses Geräusch erzeugte in ihm eine tödliche Vorahnung. In panischer Verzweiflung versuchte er sich von der Straße zu ziehen, wobei er sein verletztes Bein wie einen Fremdkörper hinter sich her schliff. Mit den Händen krallte er sich in den Asphalt und schleppte sich vorwärts. Noch trennte ihn eine ganze Fahrbahnbreite von der rettenden Böschung am Fahrbahnrand. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er zu langsam war. Der Golf hinter ihm war bereits mit quietschenden Reifen angefahren. Ohne Rücksicht auf sein schmerzendes Knie stand er auf und hüpfte mit einem Bein über die Straße. Doch es waren nur wenige Hüpfer, die er zustande brachte, bevor er wieder stürzte. Nun gab es kein Entkommen mehr. Ihm war klar, dass er dieses Spiel verloren hatte. Ein letztes Mal blickte er sich um und sah, wie das Auto auf ihn zu raste.

Ein Jahr später. Freitag.

Der Nebel hing wie ein schwerer Schleier in den Birken des Wirndorfer Moos, einem weitläufigen, unter Naturschutz stehenden Moorgebiet, an das der kleine Ort Wirndorf angrenzte. Als Bauer Toni Eder seinen alten Trecker anwarf, ruckte der Motor ein paar Mal störrisch und nahm dann widerwillig seine Arbeit auf. Aus dem Auspuff des roten Case 844 entwich eine schwarze Rußwolke, die ihren Weg in den Himmel antrat, wo sich die ersten Sonnenstrahlen durch den Morgendunst kämpften. Eder setzte den Trecker ein Stück zurück, um den bereitstehenden Anhänger anzukuppeln. Anschließend kletterte er wieder in die Kabine, legte den Vorwärtsgang ein und rollte auf die Ausfahrt seines mit einer Backsteinmauer eingefassten Hofes zu. Ein paar Hühner flüchteten laut gackernd vor den heranrollenden Rädern. In der Ausfahrt stoppte er kurz, um die Straße einzusehen. Von links näherte sich ein weiterer Traktor. Der Fahrer blieb quer vor ihm stehen und begrüßte ihn mit einem Handzeichen.

»Servus Toni, du kommst doch heute Abend?«, rief Ludwig Steinberg zu ihm herüber, wobei die ratternden Traktoren die Unterhaltung nicht gerade vereinfachten.

»Zu der Versammlung?«, entgegnete Eder.

»Toni, es geht um den neuen Mähdrescher. Wenn wir nicht bald eine Entscheidung treffen, kriegen wir die neue Maschine bis Ende Juli nicht mehr.«

»Wir brauchen auch keine, die Alte tut es doch noch.«

»Fang jetzt nicht wieder damit an. Also, wir sehen uns heute Abend.«

»Ich überleg es mir!«, rief Eder, während der andere Trecker an ihm vorbeifuhr.

Er selber gab ebenfalls Gas und bog auf die bürgersteiglose Schlossgasse ab. Hinter ihm verließ seine Tochter Stefanie das Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Eigentlich wurde sie von allen Steffi genannt und nur wenn es wirklich ernst wurde, sprach ihr Vater sie mit ihrem vollen Namen an, doch das kam glücklicherweise äußerst selten vor. Bevor sie den Hof durch die Ausfahrt verließ, machte sie einen kurzen Abstecher zur Pferdebox, aus der ihr Hengst Abisko schon sehnsüchtig seinen Kopf streckte. Abisko war ein hellbrauner Holsteiner mit einer Blesse auf dem Kopf. Wie jeden Morgen stattete Steffi ihm einen Besuch ab und brachte bei der Gelegenheit ein Stück trockenes Brot mit. Ursprünglich hatte ihr Vater Abisko als Zuchthengst eingesetzt, aber jetzt erfüllte er schon seit ein paar Jahren die Anforderungen nicht mehr und war in Steffis Obhut übergegangen. Während der Hengst ihr das Brotstück aus der Hand fraß, streichelte sie liebevoll seinen Kopf. Anschließend verabschiedete sie sich und setzte ihren Weg zur Schule fort. Sie ging die schmale Schlossgasse entlang und bog dann auf den Kaiserring ab, der sie geradewegs auf die einzige Hauptstraße des kleinen Ortes führte. In Wirndorf lebten knapp eintausend Menschen. Es lag etwa fünf Kilometer südlich von Vohrnau, der nächsten größeren Ortschaft entfernt. Wirndorf verfügte über einen Kindergarten und eine Grundschule, aber für alle weiterführenden Schulen mussten die Schüler mit dem Schulbus nach Vohrnau fahren. Wie jeden Morgen traf Steffi an der Bushaltestelle ihre Freundin Maria, mit der sie zusammen die 10. Klasse am Burgsee-Gymnasium besuchte. Sie waren bereits seit dem Kindergarten miteinander befreundet und daran hatte sich in all den Jahren auch nichts geändert. Obwohl die beiden so unterschiedlich waren, wie zwei Menschen nur sein konnten. Steffi war ein Einzelkind, was hier auf dem Dorf an sich schon eine ausgesprochen ungewöhnliche Tatsache war, aber ihr waren keine weiteren Geschwister gefolgt, was natürlich so manche wilde Spekulation unter den Dorfbewohnern ausgelöst hatte. Steffi war ein lebensfrohes Mädchen, das sich wenig um alte Gepflogenheiten kümmerte und lieber einmal provozierte, als sich der Diktatur des Dorfes zu beugen. Immer wenn es ihre Zeit zuließ, ritt sie auf Abisko hinaus aus dem Dorf, um zwischen den umliegenden Feldern und dem angrenzenden Wirndorfer Moos im wilden Galopp das Leben zu genießen. Sie liebte es, den Wind zu spüren, wenn er mit ihren langen, blonden Locken spielte und warm und weich über ihre Haut streifte. Dann träumte sie von einer großen Pferdezucht, die sie später einmal auf dem Hof ihrer Eltern aufbauen wollte, wenn diese den Betrieb aufgaben. Maria beneidete Steffi oft um ihre Freiheit, die ihr in dieser Form nicht zur Verfügung stand. Marias Vater besaß mit Abstand den größten Hof der insgesamt acht landwirtschaftlichen Betriebe in Wirndorf. Er führte diesen Betrieb mit konservativer Strenge und machte damit auch bei seiner Familie keine Ausnahme. Oft musste Maria nach der Schule noch im Stall oder ihrer Mutter im Haushalt helfen. Dabei war sie mit ihren Gedanken manchmal mehr bei Steffi als bei ihrer Tätigkeit und nicht selten hatte sie nur etwas Glück davor bewahrt, größere Fehler zu machen. Der Auffassung ihres Vaters nach hatten in einem Familienbetrieb alle gemeinsam etwas zu tun oder alle gemeinsam frei. So geriet Maria oft in einen Gewissenskonflikt, zwischen den verrückten Ideen ihrer Freundin und den engen Ansichten ihres Vaters. Bis jetzt war ihr der Spagat noch immer gut gelungen, aber mit der Zeit wurde es zunehmend schwieriger. Doch was sie am meisten belastete, war der unerreichbare Wunsch nach einem eigenen Pferd. Natürlich war ihr klar, dass ein Pferd einen nicht unerheblichen Unkostenfaktor darstellte und außer Steffi besaßen im Dorf nur noch Rebecca und Inge ein eigenes Pferd. Die Idee von Steffis Eltern, mit dem Zuchthengst zusätzliches Geld zu verdienen, war damals im Dorf ziemlich zerrissen worden. Die Eders waren noch verhältnismäßig jung und spielten selber mit dem Gedanken einer Pferdezucht, zu der ihnen aber das Geld fehlte. Mit Abisko wollten sie den ersten Grundstein zu dieser Idee legen. Tatsächlich war es sogar zu einigen Kontakten mit anderen Pferdebesitzern gekommen, aber letztendlich hatte sich der Aufwand nicht gelohnt. Jedenfalls war Steffi so zu einem eigenen Pferd gekommen. Maria hatte ihren Vater schon so oft darauf angesprochen, dass er einen Wutanfall bekam, wenn sie das Wort Pferd nur erwähnte. Trotzdem blieb es ihr größter Wunsch. Heimlich hatte sie bei Steffi reiten gelernt und manchmal schlichen sich die beiden aus dem Dorf und dann durfte sie alleine auf Abisko durch die Felder reiten.

Als Maria ihre Freundin auf die Bushaltestelle zukommen sah, löste sie sich aus der Gruppe der wartenden Schüler und ging ihr entgegen.

»Hi, du bist heute spät dran.«

»Du weißt doch, freitags ist mit mir nicht mehr viel los. Ich bin froh, wenn die sechs Stunden rum sind«, jammerte Steffi.

»Da solltest du heute mal eine Ausnahme machen!«

»Wegen der Mathearbeit?«

»Klar, wegen was sonst?«

»Wird schon schief gehen, ich habe gestern noch den ganzen Abend mit lernen verbracht.«

»Trigonometrie, ich möchte wissen wozu man so etwas braucht?«

»Na, für meine Pferdezucht später brauche ich es jedenfalls nicht.«

Die Mädchen lachten und beobachteten gleichzeitig wie sich der gelbe Schulbus der Haltestelle näherte. Sofort bildete sich eine Traube von Kindern an den Türen, da jeder einen Sitzplatz abbekommen wollte, um die zwanzig Minuten Fahrzeit nicht stehend verbringen zu müssen. Maria und Steffi drängten sich schnell dazwischen, doch Steffi wurde abgedrängt und als sie wieder zusammentrafen, war der Sitzplatz neben Maria schon besetzt. Max aus der sechsten Klasse hockte siegessicher auf dem Polster und tat so, als ginge ihn das überhaupt nichts an.

»Hey du Zwerg, das ist mein Platz«, fuhr Steffi ihn an.

»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, entgegnete Max und grinste frech.

»Och das ist unfair, ich habe keinen Bock zu stehen.«

Genervt strich sie sich durch die Haare und sah sich im Bus um. Ein paar Reihen weiter schob Mark Peters seinen Freund vom Sitz.

»Hey Steffi, hier neben mir ist noch ein Platz frei«, rief er zu ihr herüber.

Steffi warf ihm einen giftigen Blick zu.

»Bevor ich mich neben dich setze, würde ich mich lieber in unseren Misthaufen setzen.«

Der ganze Bus lachte über Marks misslungenen Versuch und unter der Schadenfreude seines Freundes rutschte Mark wieder auf den Platz am Fenster zurück. Mark war ebenfalls Sohn eines Bauern in Wirndorf und eigentlich ganz okay, doch Steffi mochte seine plumpe Art, die er manchmal an den Tag legen konnte, einfach nicht.

»Also was ist jetzt?«, forderte Steffi Max erneut auf.

»Komm lass ihn«, mischte sich Maria ein und stand auf, »wir stellen uns gemeinsam nach hinten.«

Während der Bus seine Fahrt aufnahm, gingen die Mädchen in den hinteren Teil des Busses, wobei sie die Pfiffe der Jungen über sich ergehen lassen mussten, als sie an ihnen vorbeikamen. Aber es war im Grunde nichts Ungewöhnliches und darum ignorierten sie es auch.

»Was ist jetzt mit morgen Abend?«, fragte Steffi.

Maria begann etwas herumzudrucksen.

»Ich habe noch nicht gefragt«, gab sie dann zu.

»Ich möchte ja nicht drängen, aber viel Zeit bleibt dann ja nicht mehr.«

»Mein Vater sagt sowieso Nein.«

»Ach Maria, du bist inzwischen sechzehn! Worauf will dein Vater denn noch warten? Alle fahren freitags und samstags nach München.«

Der Bus fuhr eine Kurve und Steffi musste sich an der Stange festhalten, um nicht umzufallen.

»Ich weiß«, antwortete Maria, »glaubst du mir macht es Spaß mit den ganzen Deppen in der Dorfkneipe abzuhängen? Aber du kennst meinen Vater. Wenn ich ihn auf dem falschen Fuß erwische, ist die Sache von vornherein gestorben.«

»Ich verstehe dich ja, aber dann frag ihn wenigstens ob wir ins Team17 nach Vohrnau dürfen.«

Maria nickte, während der Bus an der nächsten Haltestelle stoppte, um einen weiteren Schwall Schulkinder aufzunehmen.

»Kann ich sonst noch was für Sie tun?«, fragte die Verkäuferin hinter der Verkaufstheke der Bäckerei ihre Kundin, wobei sie das bestellte Brot in Papier einwickelte.

»Ja, wenn Sie mir noch vier Stücke Bienenstich geben könnten. Meine Enkel kommen am Wochenende zu Besuch.«

»Gerne, wie geht es Ihrer Tochter denn eigentlich?«

»Ach die hat ja so schrecklich viel zu tun und jetzt ist sie auch noch Abteilungsleiterin geworden. Ich weiß gar nicht wie sie das alles schaffen will und unser Schwiegersohn ist doch auch immer unterwegs und nur so wenig zu Hause. Dieses Wochenende hat sie eine Fortbildung und darum sind die Kinder bis Sonntagabend bei uns.«

»Na, die haben es bestimmt auch nicht leicht«, sagte die Verkäuferin und schob das Paket mit dem Bienenstich auf die Theke.

»Sie sagen es. Ich finde, die sind viel zu viel allein, aber heute scheint das ja normal zu sein und als Großeltern darf man sich in solche Dinge sowieso nicht einmischen.«

»Ja, da haben Sie recht Frau Moosbauer, darf ich Ihnen sonst noch etwas geben?«

Die kleine Glocke an der Tür läutete, als Bea den Laden betrat. Augenblicklich verstummte das Gespräch. Wie ein exotisches Tier wurde jede ihrer graziösen Bewegungen verfolgt. Ihre langen, braunen Haare waren durch ein breites, weißes Haarband nach hinten gebunden. Während sie auf die Verkaufstheke zuging, schob sie sich die dunkle Sonnenbrille in die Haare und gab damit den Blick auf ihre braunen Augen frei. Ihr sonnengebräunter Teint bildete einen starken Kontrast zu ihrer weißen Kleidung. Da sie keine Schuhe trug, bewegte sie sich nahezu geräuschlos auf dem marmorierten Steinfußboden.

»Grüß Gott Frau Abacha«, grüßte die Verkäuferin.

»Guten Morgen«, sagte Bea, ohne den in Wirndorf üblichen bayrischen Akzent.

»Was darf es sein?«

Bea warf einen fragenden Blick zu der anderen Kundin herüber.

»Nein, nein, das ist schon in Ordnung. Die Kundin wartet noch auf etwas«, erklärte die Verkäuferin die Situation.

Auf Beas Gesicht zeigte sich ein Lächeln.

»Ich möchte mich auf keinen Fall vordrängen.«

»Aber das tun Sie doch gar nicht«, bestätigte die Kundin und fügte hinzu, »außerdem habe ich Zeit, machen Sie ruhig.«

»Na schön, dann geben Sie mir bitte vier Brötchen und ein Krustenbrot«, wandte sich Bea an die Verkäuferin.

»Gerne«, sagte die, packte die bestellten Artikel ein und schob alles zusammen auf die Theke neben den Bienenstich.

»Macht 3,31 Euro.«

Bea zog ein paar lose Geldscheine aus der Vordertasche ihrer weißen Jeans und suchte einen fünf Euroschein heraus, den sie der Verkäuferin entgegenstreckte. Die gab ihr das Wechselgeld zurück und Bea verstaute es zusammen mit den restlichen Scheinen wieder in ihrer Hosentasche. Anschließend nahm sie das Brot und die Brötchen und verließ mit einem freundlichen Auf Wiedersehen die Bäckerei. Die beiden Frauen beobachteten durch das Schaufenster, wie sie ihre Sonnenbrille zurück auf die Nase schob und davon ging.

»Mit der stimmt doch was nicht«, wandte sich die Kundin wieder an die Verkäuferin. »Glauben Sie mir, für so etwas habe ich ein Gespür.«

»Also ich kann nichts Schlechtes an ihr feststellen, sie ist immer sehr freundlich.«

»Aber ihr Auftreten? Und immer weiß gekleidet und dieser Mann, mit dem sie zusammen lebt? Genau das Gegenteil, immer schwarz gekleidet. Ja sagen Sie, das ist doch nicht normal.«

»Nur weil sich jemand nicht so verhält, wie es alle anderen erwarten, muss er doch kein schlechter Mensch sein.«

Die Kundin beugte sich jetzt ein Stück über die Theke und sprach leiser.

»Ich möchte nicht wissen, wo die das ganze Geld herbekommen.«

»Aber Frau Moosbauer«, entrüstete sich die Verkäuferin,

»wollen Sie damit etwa sagen ...«

Die Kundin machte eine mehrdeutige Handbewegung, indem sie ihre Hand hob und auf dem Handgelenk hin und her drehte.

»Ich sage Ihnen, da ist etwas faul. Warum sollten die sonst ausgerechnet hier nach Wirndorf ziehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte die Verkäuferin und zuckte mit den Schultern.

»Die verstecken sich hier. Was sonst?«, platzte die Kundin heraus. »Am besten sollte man direkt die Polizei benachrichtigen.«

»Also jetzt malen Sie nicht gleich den Teufel an die Wand.

Für jemanden der sich verstecken will, verhalten sich die beiden viel zu auffällig. Jemand, der sich verstecken will, könnte das im Moor viel besser tun. Nein, nein, das glaube ich nicht.«

»Nun, es kann ja jeder glauben was er will«, sagte Frau Moosbauer und ließ die gekauften Waren in ihrer Tasche verschwinden. »Ich jedenfalls halte die ganze Sache für sehr merkwürdig.«

»Ich sage immer, man soll niemanden verurteilen, ohne seine

Schuld bewiesen zu haben«, erklärte die Verkäuferin, während sie ein paar Brotkrümel mit der Hand von der Theke auf den Fußboden beförderte. »Die haben doch niemandem etwas getan, also da kenne ich andere.«

»Da haben Sie recht, aber trotzdem bleibe ich lieber vorsichtig. So jetzt muss ich aber los, sonst vermisst mich mein

Mann womöglich noch.«

Sie lachte etwas gekünstelt und ging zum Ausgang.

»Einen schönen Tag noch Frau Moosbauer!«

»Ja danke, bis nächste Woche«, rief die Kundin und verließ die Bäckerei.

Zu den vielen festen Regeln im Haus der Hubers gehörte auf jeden Fall das gemeinsame Abendessen, das immer pünktlich um neunzehn Uhr eingenommen wurde. Die Familie traf sich dann in der geräumigen und rustikal eingerichteten Küche, in der es um diese Zeit immer so gut roch. Marias Mutter hatte Schnitzel gebraten, zu denen es Bratkartoffeln und frischen Salat gab. Bis auf die Schnitzel war alles aus eigenem Anbau. Während des Essens drehten sich die Gespräche meist um den Hof und Dinge, die noch erledigt werden mussten. Im Gegensatz zu Steffi hatte Maria noch zwei Brüder. Thomas, der Jüngere, besuchte die sechste Klasse der Realschule. Ihr älterer Bruder Peter hatte vor zwei Jahren eine Ausbildung zum Landwirt im elterlichen Betrieb begonnen. Um dazu die erforderliche Genehmigung zu bekommen, hatte Huber seine Beziehungen genutzt und an den entsprechenden Stellen ein wenig Geld verteilt. Natürlich gab es dafür keine Beweise, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er mit dieser Methode immer das bekam, was er wollte. Unauffällig beobachtete Maria ihren Vater, um den geeigneten Moment für jene Frage zu finden, die ihr unter den Nägeln brannte.

»Ich habe mir eben noch den Futtermischwagen angesehen«, sagte Peter und steckte sich eine Gabel Bratkartoffeln in den Mund.

»Die Karre gibt seit ein paar Tagen verdammt merkwürdige Geräusche von sich«, bestätigte sein Vater.

»Ist ja auch kein Wunder. Die zweite Schnecke im Austrag hatte sich völlig verklemmt.«

»Konntest du das beheben?«

»Klar, war zwar eine Sauarbeit, aber ich denke, das Ding läuft jetzt wieder.«

»Na großartig. Ich habe im Moment wirklich kein Geld für weitere Neuanschaffungen. Der neue Mähdrescher liegt mir schon schwer genug im Magen.«

»Glaubst du, du kannst die Anderen heute Abend überzeugen?«, mischte sich seine Frau ein.

»Ich weiß nicht, wir werden sehen.«

»Wenn sie nicht wollen, dann bauen wir eben wieder weniger Getreide an, da sind wir früher auch mit ausgekommen.«

»Das Geld können wir gut gebrauchen. Es war schon schwierig genug das zusätzliche Land zu bekommen. Der Bürgermeister hat sich angestellt als wollte ich seinen Garten kaufen. Das gebe ich doch jetzt nicht einfach alles auf.«

»Ich meine ja auch nur, dass du dich mit den anderen Bauern nicht anlegen sollst. Das gibt nur böses Blut.«

»Die meisten habe ich sowieso schon auf meiner Seite. Es sind immer die Gleichen die quer schießen.«

»Ich wollte dich noch was fragen, bevor du gleich wieder weg bist«, meldete sich Maria zu Wort. Sie hielt das für einen guten Einstieg und wollte ihre Frage loswerden, bevor ihr Vater sich noch mehr über die Sache mit dem Mähdrescher aufzuregen begann.

»Na dann los. Ist was mit der Schule?«

»Nein, es ist wegen morgen Abend.«

Maria ließ ihre Gabel auf den Teller sinken und sah ihren Vater an.

»Ich würde morgen Abend gerne mit Steffi nach München fahren.«

»Kommt gar nicht infrage. Darüber haben wir letztens doch schon gesprochen«, entgegnete ihr Vater ohne dabei mit dem Essen aufzuhören. »Erinnere mich daran, dass ich den Ölstand am Traktor kontrolliere oder am besten du machst es gleich morgen früh. Du bist sowieso als Erster damit unterwegs«, wandte er sich wieder Peter zu.

»Kein Problem«, nickte Peter.

»Warum denn nicht? Fast alle aus dem Dorf fahren samstags nach München!«, versuchte Maria es erneut.

Ihr Vater unterbrach jetzt sein Essen und sah zu ihr herüber.

»Es interessiert mich nicht was die anderen machen. Für die bin ich auch nicht verantwortlich. Wenn du älter bist, können wir noch mal darüber reden.«

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen in der Küche.

»Wer setzt dir eigentlich immer diese Flausen in den Kopf?

Das kann doch nur diese verzogene Göre der Eders sein.«

»Die Steffi hat damit nichts zu tun. Sie ist meine Freundin!«, rechtfertigte sich Maria.

»Schlimm genug. Warum musste es ausgerechnet die sein?

Ich habe schon genug Probleme mit dem Vater, da musst du dich auch noch mit seiner Tochter anfreunden.«

»Was können wir für euren Streit? Außerdem bist du daran ja wohl nicht ganz unschuldig!«

Sie hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als eine heiße

Welle in ihr aufstieg. In der Aufregung war es ihr so herausgerutscht, aber an dem Blick ihres Vaters erkannte sie, dass sie damit eindeutig zu weit gegangen war. Erschrocken wartete sie auf seine Reaktion.

»Das muss ich mir von meiner Tochter nicht sagen lassen. Ich glaube, du wagst dich damit in Bereiche vor, die du nicht überblicken kannst und darum rate ich dir, halt dich da raus.«

Er sagte das mit einer für ihn ungewöhnlichen Ruhe. Normalerweise polterte er in solchen Situationen los und schlug mit der Hand auf den Tisch, aber diesmal tat er es nicht. Gerade das machte die Situation für Maria noch unerträglicher.

Wenn er laut wurde, sagte er was er dachte, das machte ihn berechenbar. Doch jetzt fühlte sie sich ihm hilflos ausgeliefert.

»Du kannst deine freien Abende ab sofort wieder hier in Wirndorf verbringen. Wenn du ausgehen möchtest, geh in den Goldenen Ochsen und damit ist das Thema beendet.«

Er nahm wieder das Besteck in die Hand und schnitt sich ein Stück von seinem Schnitzel ab. Maria sah Hilfe suchend ihre Mutter an.

»Das ist gemein! Mama sag du doch was!«

»Du hast gehört was dein Vater gesagt hat«, antwortete die Mutter kurz.

Maria sprang auf, wobei ihr Stuhl auf den glatten Fliesen ein

Stück nach hinten rutschte. Mit Tränen in den Augen rannte sie aus der Küche, während sich die restliche Familie wieder dem Essen zuwandte.

Als Huber etwas später seinen grauen Mercedes-Kombi auf dem Marktplatz abstellte, bemerkte er sofort den schwarzen Hengst. Er war gegenüber dem Goldenen Ochsen, unter einer Reihe von Linden locker an eine Sitzbank gebunden. Huber wusste nur zu gut, wem dieses Tier gehörte. Bisher lebten in Wirndorf überwiegend gewöhnliche Leute. Bauern, Handwerker und Kaufleute. Sie alle gingen arbeiten, verdienten Geld und benahmen sich ganz normal. Doch dieses Bild änderte sich mit dem Einzug dieses merkwürdigen Pärchens in die alte Villa am nördlichen Ortsrand. Sie schienen Geld im Überfluss zu haben, obwohl sie offensichtlich keiner geregelten Arbeit nachgingen. Manchmal sah man sie schon vormittags im Café am Marktplatz sitzen oder mit ihren Pferden durch den Ort reiten. Oder sie kehrten mittags zum Essen in den Goldenen Ochsen ein. Auf besonderen Wunsch hatte der Wirt sogar die Speisekarte erweitert. Seit ein paar Monaten gab es jetzt auch sündhaft teure Fisch- und Wildgerichte. Huber mochte die beiden nicht. Mit dieser Meinung stand er durchaus nicht alleine da, obwohl viele Bewohner auch einen anderen Standpunkt vertraten. Die ganze Handwerkerinnung zum Beispiel war voll des Lobes. Hatten sie doch die alte Villa von unten nach oben neu renoviert und umgebaut und so mancher hatte dadurch die Gelegenheit bekommen, sich daran finanziell zu erholen. Alfons Papke zum Beispiel konnte anschließend zusätzliche Maschinen für seine Tischlerei kaufen. Durch die damit verbundenen besseren Fertigungsmöglichkeiten wurde er innerhalb kürzester Zeit zu einem der gefragtesten Tischlerreibetriebe in der Umgebung. So oder ähnlich war es vielen gegangen und darum war es kein Wunder, dass sie den Fremden gegenüber keine Ablehnung zeigten. Huber machte einen unauffälligen Bogen über den Markt, der in den Abendstunden als Parkplatz zur Verfügung stand und ging langsam an dem schwarzen Hengst vorbei. Es war ein zweifellos schönes Tier. Sein Fell glänzte in dem dämmrigen Licht der untergehenden Sonne. Doch gleichzeitig strahlte es auch etwas Unheimliches aus und genau das hatte es mit seinem Reiter gemeinsam. Huber schob die schwere Holztür auf und betrat den Gastraum des Goldenen Ochsen. Von den drei Wirtshäusern im Ort war der Goldene Ochse mit Abstand das beliebteste Gasthaus. Zusammen mit der Gaststätte Kornspeicher lag er im Zentrum von Wirndorf. Etwas abseits am Stadtrand lag das Kaisereck. Die kleine Gaststätte mit Biergarten grenzte direkt an das Naturschutzgebiet und obwohl das Bier dort zehn Cent billiger war, wurde es nur von wenigen Einheimischen besucht. Das Kaisereck lebte mehr schlecht als recht von Touristen, Wanderern und Radfahrern, von denen es aber nur in der Sommerzeit genügend gab. An diesem Abend war der Goldene Ochse wieder gut besucht und Huber schlug eine warme Mischung aus Zigarettenqualm und Essensgeruch entgegen, obwohl die meisten Fenster geöffnet waren. In der großen Nische, direkt neben der Theke hatten sich bereits ein paar Jugendliche getroffen, die sich lautstark unterhielten und lachten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass diese Nische für sie reserviert war. Die übrigen Tische des Lokals waren locker besetzt, überwiegend mit Männern, die teilweise aber auch von ihren Frauen begleitet wurden. An der Theke saßen ausschließlich Männer in Hubers Alter. Er steuerte direkt darauf zu, begrüßte den ein oder anderen mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter und blieb dann neben Heinz Peters stehen. Peters war ebenfalls Bauer in Wirndorf und fast jeden Abend hier im Ochsen anzutreffen. Heute führte allerdings auch ihn die Versammlung her.

»Wir haben schon auf dich gewartet, die anderen sind schon alle drin«, sagte Peters, während sich Huber ein Bier bestellte.

»Und? Wie ist die Stimmung?«

»Gespalten, wie immer. Wirst heute noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten müssen.«

»Man, die sollen sich nicht so anstellen. Die neue Maschine würde ihnen ja auch zugutekommen.«

»An mir soll es nicht liegen. Du weißt, dass ich auf deiner Seite bin, aber es geht um viel Geld. Du weißt, wie das ist. Es geht immer ums Geld.«

Der Wirt schob Huber sein bestelltes Bier auf die Theke. Huber nahm einen großen Schluck davon und behielt den Krug gleich in der Hand.

»Gehen wir rein?«, fragte er danach.

»Was sonst, bringen wir es hinter uns«.

Peters nahm ebenfalls seinen Krug und folgte Huber zum Versammlungsraum. Der Goldene Ochse besaß zwei separate Räume. Einen Größeren für Feiern und geschlossene Gesellschaften und einen Kleineren für Versammlungen. Direkt neben der bunt verglasten Verbindungstür zu dem kleineren Raum, saß Sven allein an einem Tisch. Vor ihm stand ein Glas Rotwein, das bereits halb geleert war. Wie immer war er komplett schwarz gekleidet, wodurch seine kurzen blonden Haare noch mehr zur Geltung kamen. Als Huber an ihm vorbeiging, sah Sven ihn nicht an, aber trotzdem fühlte sich Huber beobachtet. Er war froh, als er den Versammlungsraum erreichte und Peters die Tür hinter ihnen schloss. Doch dieses Gefühl trog. Während er alle anwesenden Bauern begrüßte, verfolgte Sven von draußen jedes der im Versammlungsraum gesprochenen Worte. Es strengte ihn nicht einmal besonders an und wenn es hätte sein müssen, wäre es ihm auch noch möglich gewesen, gleichzeitig eine Unterhaltung zu führen. Doch er saß allein am Tisch und so genoss er seinen Wein und hörte zu.

»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden!«, eröffnete Huber den Abend. Er stand am Kopfende des Tisches mit den tiefhängenden Lampen, um die schwerelose Wolken von Zigarettenrauch schwebten. »Unser alter Mähdrescher ist in die Jahre gekommen und hat seine beste Zeit hinter sich. Ich habe beim letzten Mal schon angekündigt, dass ich es für sinnvoll halte ihn gegen einen Neuen zu ersetzen. Ihr hattet nun alle Zeit darüber nachzudenken und wir sollten heute Abend eine endgültige Entscheidung treffen, damit wir die neue Maschine in dieser Saison noch einsetzen können.«

Mit diesen Worten setzte sich Huber auf seinen Stuhl und übergab das Wort an die Runde.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum der alte Mähdrescher ersetzt werden soll? Er läuft doch noch prima«, meldete sich Hannes Reuter.

Sofort schallten ein paar zustimmende Rufe durch den Raum.

»Mensch Hannes«, entgegnete Huber und erhob sich wieder von seinem Stuhl, »natürlich läuft er prima, aber wer weiß schon wie lange noch. Was ist denn, wenn das Ding mitten in der Ernte den Geist aufgibt.«

»Bis jetzt hatten wir noch nie einen größeren Ausfall. Wer weiß, ob wir mit einer neuen Maschine auch so viel Glück haben«, stocherte Reuter weiter und wieder erntete er Zustimmung.

»Aber es geht doch auch gar nicht nur um Ausfall. Die neuen

Maschinen sind viel leistungsfähiger. Sie arbeiten schneller und bringen mehr Ertrag, weil nicht mehr so viel Getreide verloren geht.«

»Dieser Vorteil betrifft dann ja wohl eindeutig nur dich«, mischte sich jetzt Toni Eder in die Diskussion ein.

»Wieso, jeder kann damit Zeit sparen!«, verteidigte sich Huber.

»Ja, aber deine Felder sind um ein Vielfaches größer als die vom Hannes oder auch meine. Für uns würde sich die Investition kaum lohnen.«

»Dafür fällt eure finanzielle Beteiligung ja auch geringer aus.«

»Mir ist sie aber immer noch zu hoch.«

»Dann solltest du vielleicht mal anfangen zu sparen.«

»Was soll das heißen?«

»Stopp!«, rief Peters dazwischen. »Es macht absolut keinen

Sinn zu streiten. So kommen wir nicht weiter.«

Huber sackte auf seinen Stuhl zurück und war froh darüber, dass sich endlich jemand gemeldet hatte, der für ihn war.

»Schon seit ewigen Zeiten schließen sich die Bauern von

Wirndorf zusammen und nutzen einen gemeinsamen Maschinenpark. Das haben sogar schon unsere Väter und Großväter so gemacht. Aber noch nie hat es so viel Diskussion darum gegeben wie in diesem Fall. Die Vorteile einer neuen Maschine sind uns wohl allen klar. Wenn es nun trotzdem jemanden gibt, der sich nicht mehr an diesem Zusammenschluss beteiligen möchte, dann steht es ihm frei zu gehen.«

»Das ist doch Unsinn!«, rief Günther Heidel. »Ein Einzelner von uns wäre doch gar nicht in der Lage sich so eine Maschine alleine anzuschaffen.«

»Also ich bin für den neuen Mähdrescher, aber wenn nicht alle mitmachen wird mir die Sache zu teuer«, meldete sich

Ludwig Steinberg zu Wort.

Es folgte ein wildes Durcheinander, bei dem jeder mit jedem redete, auch wenn der Gesprächspartner am gegenüberliegenden Tischende saß. Schließlich erhob sich Huber und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ruhe verdammt noch mal!«, schrie er in die Runde.

Augenblicklich wurde es wieder ruhiger und alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Ich gebe euch noch eine Woche Bedenkzeit. Nächsten Freitag treffen wir uns hier wieder und dann will ich nur diejenigen hier sehen, die sich an dem neuen Mähdrescher beteiligen wollen. Alle anderen werden aus dem Verkauf der alten

Maschine ausbezahlt und können sich ihre eigene Lösung suchen.«

Er trank den Rest seines Bieres in einem Zug aus und ließ den Krug auf die Tischplatte knallen.

»Einen schönen Abend noch!«, verabschiedete er sich und verließ den Raum. Peters folgte ihm nach draußen auf den Parkplatz und fing Huber gerade noch ab, bevor er in sein Auto steigen konnte.

»Was machst du, wenn sie sich gegen dich entscheiden, Karl?«

»Wenn es sein muss, dann kauf ich mir das Dingen auch alleine!«, antwortete Huber gereizt.

»Ich hoffe du übernimmst dich dabei nicht. Denk daran, in zwei Wochen ist der erste Juni.«

»Mach dir keine Sorgen Heinz. Ich habe das alles im Griff.

Du kriegst dein Geld schon.«

Huber ließ sich auf den Fahrersitz fallen und zog die Tür zu.

Dann startete er den Motor und ließ Peters allein auf dem Parkplatz zurück.