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Auf einem Flohmarkt entdeckt Finn eine alte Keksdose. Keine gewöhnliche Keksdose, der hätte er auch keine Beachtung geschenkt. Aber diese war mit einem Bügelschloss verschlossen worden und es war deutlich zu spüren, dass sich darin etwas befand. Aus reiner Neugier kauft Finn die Dose und findet beim Öffnen einen Stein. Durch Zufall bemerkt er, dass der Stein magische Kräfte besitzt. Er beginnt die sich ihm bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes und nicht nur sein Leben gerät völlig aus den Fugen.
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Seitenzahl: 740
Veröffentlichungsjahr: 2023
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INHALT
Auf einem Flohmarkt entdeckt Finn eine alte Keksdose. Keine gewöhnliche Keksdose, der hätte er auch keine Beachtung geschenkt. Aber diese war mit einem Bügelschloss verschlossen worden und es war deutlich zu spüren, dass sich darin etwas befand.
Aus reiner Neugier kauft Finn die Dose und findet beim Öffnen einen Stein. Durch Zufall bemerkt er, dass der Stein magische Kräfte besitzt. Er beginnt die sich ihm bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes und nicht nur sein Leben gerät völlig aus den Fugen.
Ein besonderer Dank für geopferte Zeit
und konstruktive Unterstützung
geht an meine Testleser:
Andrea
Jenny
Marvin
und
Silke
Der Descastein
FINN
JULIA
Epilog
Es war eine ganz gewöhnliche Keksdose und doch weckte sie sein Interesse. Sie war alt, das sah man ihr auf den ersten Blick an. Die Farben waren längst verblasst und ein paar Dellen hatte sie auch schon. Sie lag zwischen alten Büchern, Kerzenleuchtern, einem Projektor für Super-8 Filme und weiterem alten Kram aus längst vergangenen Tagen. Es war offensichtlich, dass der Besitzer an diesem Flohmarktstand seinen Keller aufgeräumt hatte. Das meiste davon war wertlos und würde sich vermutlich nicht verkaufen lassen, genau wie die Keksdose. Trotzdem zog sie Finns Blick auf sich.
Normalerweise besuchte er Flohmärkte, um nach Antiquitäten Ausschau zu halten. Im Laufe der Jahre hatte er schon einige schöne Stücke gefunden, die jetzt bei ihm zu Hause standen und alle noch in ihrer ursprünglichen Funktion genutzt wurden. Er liebte es, modernes und altes Design miteinander zu kombinieren und damit Akzente zu setzen. Aber die Suche war müßig, denn wirklich gute Stücke fanden nur selten den Weg auf einen Flohmarkt.
Die Keksdose war eindeutig keine Antiquität, aber sie war nachträglich mit einem Riegel und einem Bügelschloss verschlossen worden. Finn blickte kurz zur Seite. Der Verkäufer sprach mit einer Frau, die sich für ein paar alte Blumentöpfe interessierte. Finn griff nach der Dose und sofort spürte er am Gewicht, dass sie nicht leer war. Er betrachtete sie von allen Seiten und sah auch kurz unter den Boden. Einen Schlüssel, der vielleicht mit Klebeband irgendwo aufgeklebt war, fand er nicht.
Die Frau hatte inzwischen zwei der Blumentöpfe gekauft und verabschiedete sich. Sofort kam der Verkäufer zum anderen Ende des aufgestellten Tapeziertisches.
»Hallo, Sie haben auch etwas gefunden?«, wandte er sich an Finn.
Der Mann war Mitte vierzig, hatte kurze Haare und trug ein kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Hinter seinem Stand parkte ein Mercedes Kombi mit offener Heckklappe. Darin saß ein Junge und blätterte in einem alten Comic, von denen es ein Stück weiter noch mehrere auf dem Tisch gab. Es war nicht schwer zu erkennen, dass der Mann nur aus Hobby hier stand und nicht, weil er das Geld brauchte.
»Ja, was wollen Sie für die Dose?«
»Das olle Ding? Keine Ahnung. Ich hätte nicht gedacht, dass sich überhaupt jemand dafür interessiert. Was ist sie Ihnen denn wert?«
Finn drehte sie unentschlossen, aber vorsichtig hin und her. Er war sich nicht sicher, ob dem Mann klar war, dass sich im Inneren etwas befand, aber er wollte ihn auch nicht darauf aufmerksam machen. Das würde den Preis vielleicht nur unnötig in die Höhe treiben.
»Na, sagen wir fünf Euro.«
»Fünf Euro!«, wiederholte der Mann und lachte. »Dafür gehört sie Ihnen. Aber Sie haben schon gesehen, dass sie verschlossen ist und ich habe keinen Schlüssel dafür.«
»Ja, das ist nicht wichtig. Ich brauche sie nur als Requisite«, log Finn, um sein eigentliches Interesse zu verbergen.
»Na schön. Fünf Euro.«
Finn zog ein paar Geldscheine aus der Tasche seiner schwarzen Bundfaltenhose, suchte einen fünf Euroschein heraus und reichte ihn dem Verkäufer über den Tisch.
»Warum verschließt man eine Keksdose mit einem Vorhängeschloss?«, fragte er, während er das restliche Geld wieder in der Hose verstaute.
Der Mann lachte.
»Das dürfen Sie mich nicht fragen. Ich vermute, die ist noch von meinem Großvater. Wir haben unseren Dachboden entrümpelt. Unser Sohn wird demnächst zehn und wir wollen den Dachboden für ihn ausbauen.«
Er deutete mit einer kurzen Handbewegung auf den Jungen im Kofferraum des Mercedes.
»Das meiste haben wir weggeworfen. Mein Großvater hatte so seine Eigenarten. Also sollten Sie doch beabsichtigen die Dose zu öffnen, seien Sie auf alles gefasst.«
Er lachte erneut.
»Und wenn er sein Erspartes darin aufbewahrt hat?«
»Das ist ausgeschlossen, dafür war mein Großvater wieder zu gewissenhaft. Aber was immer da auch drin sein sollte, Sie dürfen es behalten.«
»Alles klar. Na dann vielen Dank und noch einen erfolgreichen Tag.«
Der Mann bedankte sich und hob zum Abschied kurz die Hand. Finn drehte sich herum und entfernte sich ein paar Schritte. Suchend blickte er sich um, bis er seine Freundin an einem Stand auf der anderen Straßenseite entdeckte. Er näherte sich und blickte ihr über die Schulter.
»Was Interessantes gefunden?«
»Schau mal, die haben hier die ganzen alten Pixi-Bücher«, sagte Julia und holte ein Exemplar aus einem Karton.
»Da hast du ja die ganz große Literatur entdeckt«, lästerte Finn.
»Wieso? Hattest du früher keine Pixi-Bücher?«, fragte sie und blätterte das kleine Buch durch.
»Kann ich mich nicht mehr dran erinnern«, entgegnete Finn und grinste.
»Du kannst das ruhig zugeben. Ich hatte jedenfalls welche und unsere Kinder werden die auch bekommen.«
»Unsere Kinder?«, gab sich Finn überrascht.
»Klar.«
Sie legte das Buch zurück in den Karton und wandte sich ab. Finn sah ihr einen Augenblick nach, bevor er ihr folgte. Ihre glatten, braunen Haare hatte sie heute als Pferdeschwanz zusammengebunden, der ein wenig aufsässig an ihrem Hinterkopf wippte. Sie trug einen Jeansshorts und ein weit geschnittenes weißes T-Shirt, das vorne in ihrem Hosenbund steckte. Auf der Vorderseite war in großen Buchstaben Bad Girl zu lesen, was bei ihr häufig zutraf.
»Findest du nicht, dass du da ein paar Schritte ausgelassen hast?«, fragte er, nachdem er wieder zu ihr aufgeschlossen hatte.
Von vorne zog der Geruch von gegrillter Bratwurst durch die Straße.
Julia lachte und warf den Kopf zurück.
»Ich wusste, dass du das sagst.«
»Nun wie ich finde, durchaus berechtigt. Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«
»Zwei Jahre?«
»Genau. Zwei Jahre und wir wohnen nicht mal zusammen.« Sie blieb stehen und sah ihn mit diesem Blick an, von dem er wusste, dass er ihr nicht widersprechen könnte, egal was sie jetzt sagen würde.
»Ich würde gerne ein Eis essen. Was hältst du davon?«
Finn machte einen tiefen Atemzug und verdrehte kurz die Augen.
»Das war ein Ja, stimmt’s?«, sagte Julia, erhob sich kurz auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
»Du bist einfach unmöglich«, entgegnete Finn.
Er legte seinen Arm um sie und gemeinsam schlenderten sie zu dem gegenüberliegenden Eiscafé. Sie fanden einen freien Tisch in der Sonne, von dem aus sie weiterhin das Treiben auf dem Flohmarkt beobachten konnten.
Julia wusste genau worauf Finn anspielte. Schon seit über einem Jahr versuchte er sie zu überreden, bei ihm einzuziehen. Doch Julia liebte die Unabhängigkeit in ihrer eigenen Wohnung mit dem Blick auf den Rhein. Nur durch Glück hatte sie damals die Neubauwohnung bekommen und es fiel ihr schwer, sich davon zu trennen.
Finn bewohnte einen Bungalow am Stadtrand von Düsseldorf. Mit seinen 130 m2bot er mehr als genug Platz für eine kleine Familie und war inzwischen zu Julias zweitem Wohnsitz geworden. Fast die Hälfte ihrer Kleidung befand sich längst in Finns Kleiderschrank und es gab Zeiten, da verbrachte sie mehr Zeit bei ihm, als in ihrer eigenen Wohnung. Es lag nicht daran, dass sie in ihrer Beziehung zu Finn keine Zukunft sah, aber irgendwie waren ihr das alles zu schnell gegangen, um bereits jetzt schon alle Zelte hinter sich abzubrechen.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, riss sie die Bedienung aus ihren Gedanken.
»Haben Sie einen Erdbeerbecher?«
»Haben wir. Mit oder ohne Sahne?«
»Wenn Sie so fragen, bitte ohne.«
»Geht klar. Und der Herr?«
»Ich nehme das Gleiche«, antwortete Finn.
»Gerne«, entgegnete die Bedienung und verschwand.
»Was willst du mit der Dose?«, fragte Julia und deutete auf die Keksdose, die Finn neben sich auf den Tisch gestellt hatte. »Hast du die gekauft oder hat dir die jemand nachgeworfen, als du mal wieder zu nervig warst?«
»Ist für Weihnachten.«
»Abschließbar?«
»Genau, damit du mir nicht immer die Kekse wegisst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Julia und grinste.
»Und jetzt im Ernst. Du hast die doch nicht wirklich gekauft, oder?«
»Doch habe ich. Für fünf Euro.«
»Wahnsinn. Für den gleichen Preis hättest du auch eine Neue bekommen.«
Finn nahm die Dose und reichte sie Julia an.
»Was soll ich damit?«
»Nimm sie in die Hand.«
»Wieso?«
»Nimm sie.«
Verunsichert nahm Julia die Dose entgegen.
»Was fällt dir auf?«, fragte Finn.
»Sie ist schwer.«
»Richtig. Da ist etwas drin.«
»Aber du weißt nicht was.«
»Nein. Natürlich nicht. Ist ja verschlossen.«
»Hast du den Schlüssel?«
»Nein. Ist wohl verschollen, aber den Verkäufer interessierte das nicht. Er war nur froh, die Dose verkauft zu haben.«
»Kann ich verstehen«, sagte Julia und stellte die Dose zurück auf den Tisch.
Im gleichen Augenblick brachte die Bedienung die bestellten Eisbecher. Finn bedankte sich und wandte sich anschließend Julia zu, die bereits mit dem Löffel die erste Erdbeere vom Eis naschte.
»Sieh es mal so. Der Bügel, der die Dose verschließt, wurde nachträglich aufgelötet. Dazu hat jemand mühevoll die Lackierung abgekratzt. Warum macht sich jemand diese Arbeit?«
»Du glaubst, da ist was Wertvolles drin?«
»Keine Ahnung, aber als ich die Dose sah, hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl. Zumindest wird es spannend sein herauszufinden, was sich darin befindet. Der Verkäufer sprach davon, dass sie noch von seinem Großvater ist. Das heißt, der Inhalt ist vielleicht einhundert Jahre alt.«
»Verletz dich nicht, wenn du sie öffnest.«
»Ist das jetzt Besorgnis oder Sarkasmus?«
»Nein, das ist echte Besorgnis. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du letztens die Konservendose geöffnet hast, als dein elektrischer Öffner seinen Geist aufgegeben hatte.«
»Aber ich habe sie aufbekommen.«
»Ja hast du. Das meiste der Tomatensoße war zwar in der Küche verteilt, aber die Dose war auf.«
»Du kannst beruhigt sein. Tomatensoße wird sich nicht darin befinden.«
»Ja, da gehe ich auch von aus. Aber es ist mir auch egal, denn diesmal bin ich ja nicht dabei.«
»Tja, damit wirst du dann leider auch nie erfahren, was sich darin befindet.«
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass da was Wertvolles drin ist. Also ich tippe mal auf ein Tagebuch oder Liebesbriefe. Was haben die Leute damals schon Wertvolles besessen?«
»Liebesbriefe? Wenn sie gut sind, könnte ich sie als Vorlage nehmen.«
»Als Vorlage für was? Für deine WhatsApp Nachrichten an mich?« Julia lachte. »Mach dich nicht unglücklich. Es ist okay so wie es ist.«
Während sie an ihrem Löffel lutschte, sah sie Finn an. Auch wenn es ungewöhnlich klang, aber sie war in diesen Mann noch immer genauso verliebt wie am ersten Tag. Sie mochte seine treuen Augen, seine krausen dunklen Haare, die immer den Eindruck machten, als wäre er gerade von einem Surfboard abgestiegen. Den frechen Drei-Tage-Bart, der ihn älter erscheinen ließ, als er war und seine lockere Art, die er mit sportlich-eleganten Anzügen unterstrich. Er war nicht der Jeans-Typ und sein Äußeres war ihm wichtig. Alles Dinge, die ihn ausgesprochen attraktiv machten.
»Was hältst du von nächstem Jahr«, sagte sie plötzlich.
Finn hörte auf sein Eis zu löffeln. Der Wechsel kam ihm zu plötzlich und für einen Moment hatte er den Eindruck, dazwischen etwas verpasst zu haben.
»Nächstes Jahr ziehe ich bei dir ein.«
Finn hob skeptisch eine Augenbraue.
»Meinst du das jetzt ernst?«
»Absolut. Du hast recht. Ich lebe sowieso schon mehr als die Hälfte des Jahres bei dir.«
»Und wieso nächstes Jahr und nicht nächsten Monat?«
»Na wir wollen doch nichts überstürzen und meine Wohnung muss ich auch erst noch kündigen.«
Sie stellte ihren Löffel zurück ins Glas und stand auf.
»Okay, also nächstes Jahr. Dachtest du dabei mehr an Januar oder eher an Dezember?«
»Das überlege ich mir noch, aber ich muss jetzt los.«
Sie beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Abschiedskuss.
»Viel Spaß und grüß deine Schwester«, sagte Finn.
»Danke, mache ich.«
Sie verließ das Café und Finn sah hinter ihr her, bis sie in der nächsten Seitenstraße in Richtung Parkhaus verschwand. Er selbst blieb noch einen Moment sitzen, zahlte dann und machte sich auch auf den Weg nach Hause.
Er traf dort gegen sechzehn Uhr ein. Mit der Fernbedienung ließ er das Garagentor hochfahren und parkte sein Auto in der geräumigen Doppelgarage, in der irgendwann im Laufe des nächsten Jahres dann zwei Fahrzeuge stehen würden. Während sich hinter ihm das Tor wieder schloss, öffnete er über einen Zahlencode die Zugangstür zum Haus. Er betrat den Flur und schob die Tür hinter sich zu, die dies mit einem akustischen Ton bestätigte. Finns Haus war vollgestopft mit elektronischen Spielereien. Zum einen natürlich, um es Einbrechern möglichst schwer zu machen. Zum anderen machte es ihm Spaß, die Möglichkeiten der modernen Technik zu nutzen.
»Musik an«, sagte er, während er den Flur komplett durchquerte, da sich der Eingang durch die Garage und die Haustür an vollständig unterschiedlichen Seiten des Hauses befanden.
Im Wohnzimmer schaltete sich die Musikanlage ein und verteilte Popmusik auf die zahlreichen Lautsprecher überall im Haus. Im Eingangsbereich der Haustür legte Finn seinen Autoschlüssel auf das Sideboard und zog seine Schuhe aus. Anschließend ging er in den großen Wohn- und Küchenbereich und stellte die Keksdose auf den antiken Esstisch.
Es war ein Model aus der Gründerzeit. Aus massivem Eichenholz mit aufwendig geschnitzten Beinen und Verzierungen an den Tischecken. Passend dazu standen sechs Hochlehner-Stühle um den Tisch, die aus der gleichen Zeitepoche stammten. Lehnen und Sitzflächen hatte Finn neu polstern und beziehen lassen.
Nur ein paar Meter davon entfernt war das Wohnzimmer selbst mit einer modernen Eckcouch eingerichtet, die mit weißem Leder bezogen war. Auf einem weißen Hochglanz Lowboard stand der große Fernseher.
Finn ging zur Küchenzeile, zapfte sich ein Glas Wasser aus dem Hahn und trank die Hälfte gleich aus. Das süße Eis hatte ihn durstig werden lassen. Anschließend tauschte er im Schlafzimmer seine Kleidung gegen T-Shirt und Jogginghose und verschwand mit der Keksdose im Keller.
Finn war kein Handwerker und besaß dementsprechend wenig Werkzeug. Doch mit einer Zange, einem großen Schraubendreher und einem Hammer gelang es ihm schließlich die Dose zu öffnen. Sein erster Blick fiel auf alte Briefe und unwillkürlich musste er an Julias Liebesbrief Theorie denken. Er kehrte an den Esstisch zurück und begann, den Inhalt vor sich zu verteilen. Neben den Briefen fand er auch verschiedene Fotos. Eines der Fotos zeigte einen südländisch aussehenden Mann. Auf der Rückseite stand Diego 1972. Ein anderes Bild zeigte einen weiteren Mann. Dem Aussehen nach war er vermutlich Deutscher, worauf auch der Name Kurt auf der Rückseite hindeutete. Auf dem dritten Foto war eine Figur oder etwas Ähnliches abgebildet. Die Aufnahme war unscharf und zudem wie die anderen Fotos auch stark vergilbt. Finn schob sie zur Seite und betrachtete die Briefe. Die Poststempel waren aus dem Jahr 1972 und offensichtlich in Mexiko abgeschickt worden. Unwillkürlich griff Finn noch einmal zu dem Foto, das mit Diego beschriftet war. Der Mann könnte Mexikaner sein, aber welchen Kontakt hatte der Besitzer der Keksdose zu dieser Zeit nach Mexiko.
Finn dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit er heutzutage in Bruchteilen von Sekunden Nachrichten in die ganze Welt verschickte und nur Minuten später Antworten erhielt. Doch 1972 hatte das noch ganz anders ausgesehen. Wie lange brauchte ein Brief von Mexiko bis Deutschland? Es mussten Wochen gewesen sein. Langsam öffnete er den Umschlag und zog den Brief heraus. Soweit Finn das beurteilen konnte, war er in spanischer Sprache geschrieben, was ihn im Moment nicht weiterbrachte. Gleichzeitig fiel sein Blick auf das Stoffknäuel, das noch immer in der Dose lag. Vorsichtig griff er danach.
In dem Stoff war etwas eingewickelt. Das ist der große Edelstein, dachte Finn, ein Diamant, so groß wie ein Hühnerei. Er musste innerlich lachen, während er den Inhalt in der Hand ausrollte. Zum Vorschein kam ein Stein oder jedenfalls etwas Ähnliches, aber ob es wertvoll war, wagte Finn doch eher zu bezweifeln. Sofort erinnerte er sich an eines der Fotos und zog es zu sich. Die darauf abgebildete Figur ähnelte dem Gegenstand, der jetzt in seiner Hand lag, ziemlich genau. Sie war etwas größer als sein Daumen und hatte angedeutete Flügel. Arme und Beine waren nicht zu erkennen und möglicherweise unter einem langen Gewand verborgen. Die Figur hatte eine absolut glatte und in Rosa und Rot strukturierte Oberfläche. Für ihre Größe war sie relativ schwer. Beim Material tippte Finn auf Marmor oder Granit. Er stellte sie auf den Tisch und betrachtete sie einen Moment. Was sollte er jetzt damit anfangen? Spanische Briefe, die er nicht lesen konnte und eine undefinierbare Figur, die vermutlich aus einem Souvenirladen in Mexiko stammte. Doch warum waren diese Dinge in eine Keksdose eingeschlossen worden? Vielleicht würden die Briefe ja doch noch etwas mehr Aufschluss darüber geben und Finn wusste auch schon, wer sie übersetzen könnte. Er drehte sich herum, um nach seinem Handy zu greifen, doch im gleichen Moment stieß er gegen sein Glas und der restliche Inhalt des Wassers ergoss sich über den Tisch. Fluchend sprang Finn auf, um ein Tuch aus der Küche zu holen. Doch als er zurückkehrte, traute er seinen Augen nicht. Die Figur lag in der Wasserlache und leuchtete hellrot. Für einen Moment ließ der Anblick ihn vergessen, dass das Wasser noch immer vom Tisch auf den Boden tropfte und dort ebenfalls begann, kleine Pfützen zu bilden. Er ging um den Tisch und stellte sich zwischen das große Terrassenfenster und die Figur, um zu prüfen, ob die Sonne vielleicht nur ungünstig auf die Figur traf, doch in seinem Schatten wirkte das Leuchten nur noch intensiver. Er nahm die Figur in die Hand und betrachtete sie. Automatisch begann er, sie mit dem Tuch abzutrocknen und gleichzeitig verschwand das Leuchten. Aus den Lautsprechern der Musikanlage erschallte Flowers von Miley Cyrus. Völlig verwirrt stellte Finn die Figur auf den Tisch zurück und wischte die Reste des Wassers weg. Dabei ließ er die Figur nicht aus den Augen und gleichzeitig ergriff ihn das Verlangen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Er nahm das Glas, füllte es erneut mit Wasser und tauchte dann die Figur darin ein. Sofort begann sie wieder zu leuchten und diesmal war er sich sicher. Das war keine Täuschung. Doch gleichzeitig horchte er auf. Um ihn herum war es absolut ruhig geworden. Er sah zur Musikanlage hinüber. Das Display, auf dem sonst der Interpret und der Titel als Laufschrift durchliefen, stand still. War das Gerät genau jetzt abgestürzt? Er beschloss, sich später darum zu kümmern und wandte sich wieder der Figur zu. Mit Zeige- und Mittelfinger griff er ins Glas, fischte die Figur heraus und trocknete sie ab. Im gleichen Moment wie das Leuchten erlosch, begann auch die Musik wieder zu spielen. Erschrocken fuhr Finn herum. Auch die Laufschrift auf dem Gerät war wieder aktiv. Für einen Augenblick war er ratlos, doch dann begann sein Blick zwischen der Figur in seiner Hand und der Musikanlage hin und her zu wechseln. Konnte da ein Zusammenhang bestehen? Das war irgendwie nicht logisch, aber letztendlich begann der Stein zu leuchten, wenn er nass wurde. Das war auch nicht logisch. Es gab also nur einen Weg, einen Zufall auszuschließen. Er nahm das Wasserglas in die andere Hand und beobachtete die Musikanlage. Dann tauchte er die Figur erneut in das Wasser. Im gleichen Moment verstummte die Musik und das Display blieb stehen.
Finn stellte das Glas auf den Tisch und ließ sich rückwärts auf einen Stuhl sinken. Langsam begann er an sich selbst zu zweifeln. Erneut kamen ihm die Briefe in den Sinn. Er hatte nicht alle durchgesehen. Vielleicht war auch einer in deutscher Sprache dabei. Er drehte sich und während sein Blick auf die Terrasse fiel, bemerkte er einen Vogel. Es war ein Spatz und er saß auf der Rückenlehne eines Gartenstuhls. Finn blieb stehen und betrachtete den Vogel. Er schien sich überhaupt nicht zu bewegen. Langsam näherte sich Finn der Terrassentür und schob sie auf. Jeder andere Vogel wäre sofort davongeflogen, doch dieser blieb sitzen. Selbst als Finn nur noch einen knappen Meter entfernt war, bewegte sich das Tier nicht. Es schien geradezu erstarrt zu sein. Sein Schnabel stand ein kleines Stück auf, als würde es laut zwitschern, doch zu hören war nichts. Finns Gedanken rasten. Was geschah hier? Sein Blick begann durch den Garten zu wandern und über dem kleinen Teich am Ende der Terrasse entdeckte er einen Schwarm Mücken, die in der Sonne getanzt hatten. Jetzt standen sie still in der Luft. Automatisch bewegte er sich darauf zu. Mit Daumen und Zeigefinger griff er nach einer und zerquetschte sie. Zwischen seinen Fingern entstand eine kleine Blutspur. Sie waren echt, daran bestand kein Zweifel, doch warum bewegten sie sich nicht mehr? Warum spielte seine Musikanlage keine Musik mehr und warum leuchtete die Figur, wenn sie nass wurde? Dass die Figur der Schlüssel zu allem war, lag irgendwie auf der Hand, aber was bewirkte sie? War das Magie? Zauberei? Und…
Finn unterbrach seine Gedanken, lief zur Haustür und verließ das Haus. Er wohnte in einer Seitenstraße, in der nie viel Verkehr herrschte und so war auch jetzt hier nichts los. Doch ein Stück die Straße herunter entdeckte er einen Mann, der mit seinem Hund Gassi ging. Jedenfalls hatte er das offensichtlich bis vor Kurzem getan. Jetzt standen beide regungslos auf dem Bürgersteig. Finn wurde heiß. Sofort stürzte er ins Haus zurück, holte die Figur aus dem Wasser und trocknete sie an seinem T-Shirt ab. Gleichzeitig begann die Musik wieder zu spielen und als er sich herumdrehte, war der Vogel bereits weggeflogen.
Er stellte die Figur auf den Wohnzimmertisch und sackte auf der Couch zusammen. Noch einmal ging er die Fakten durch und versuchte seine Gedanken dabei zu ordnen. Die Figur ließ anscheinend alles um sich herum erstarren, wenn sie nass wurde. Davon waren Lebewesen offensichtlich genauso betroffen wie technische Geräte. Nur er selbst anscheinend nicht. Aber wie weit reichte der Radius? Der Mann mit dem Hund war gute Hundert Meter entfernt gewesen. Waren etwa alle Bewohner der Nachbarschaft in den letzten Minuten in ihren Häusern zu Wachsfiguren erstarrt? Würden sie sich daran erinnern können? Hatte das ganze etwa Folgen, die er im Augenblick noch gar nicht überschauen konnte? Finn brummte der Kopf. Das waren viel zu viele Fragen, auf die er keine Antworten hatte.
Völlig verwirrt wendete er sich noch einmal den Briefen zu. Tatsächlich fand er darunter auch zwei mit einem deutschen Absender. Sie stammten von einem gewissen K. Allhoff aus Gießen. Er schien den Empfänger des Briefes, der offensichtlich Ernst hieß, gut zu kennen. Offenbar planten die beiden eine gemeinsame Reise, die er wegen eines Unfalls, bei dem er von einer Leiter gefallen war, absagen musste. Aber er wünschte alles Gute und viel Erfolg. Der Brief war mit Karl unterschrieben und aus dem Jahr 1971. Der zweite war anscheinend nach der Reise geschrieben worden und beglückwünschte den Empfänger zu seinem Fund. Der Schreiber war sehr interessiert daran und man wollte sich so bald wie möglich treffen. Letztendlich brachte der Inhalt der Briefe aber keine weitere Erkenntnis und so blieb nur noch die Post aus Mexiko.
Finn ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Anschließend steckte er sich die Figur in die Jackentasche und verließ das Haus in Richtung Garage. Von Unterbach bis Hilden waren es nur wenige Kilometer und schon zehn Minuten später parkte er seinen Audi S7 vor dem Haus seines Freundes und Geschäftspartners Simon Fischer.
Er hatte Simon vor mehr als sechs Jahren bei einem Skiurlaub in Österreich kennengelernt. Finn war gerade dabei sich mit einer Firma für Mediendesign selbstständig zu machen und Simon suchte einen neuen Job. Nach seinem Betriebswirtschaftsstudium vor zwei Jahren hatte er im Unternehmen seiner Eltern gearbeitet, doch das diente nur als Lückenfüller, bis er etwas Reizvolleres fand. Zusammen mit Finn eine eigene Firma aufzubauen war mehr als reizvoll und so hatten sie die Firma Pixkon gegründet. Finn war dies ganz gelegen gekommen, da Simon gleichzeitig noch Kapital mitbrachte, das die neue Firma gut brauchen konnte. Inzwischen stand das kleine Unternehmen auf sicheren Beinen und beschäftigte sechsunddreißig Mitarbeiter. Die Geschäftsführung war zwischen den beiden aufgeteilt. Simon kümmerte sich um den kaufmännischen Teil, während Finn aufgrund seines abgeschlossenen Masters in Mediendesign die Projektierung und den Vertrieb übernahm. Aus der anfänglich geschäftlichen Beziehung war inzwischen echte Freundschaft geworden und als Simon vor drei Jahren geheiratet hatte, war Finn natürlich sein Trauzeuge.
Während er aus seinem Auto stieg, sah er an dem Haus mit dem zurückliegenden Balkon in dem verglasten Spitzgiebel hoch. Es sah immer wieder edel aus, dennoch hielt er schräge Dächer für reine Platzverschwendung. Er folgte dem gepflasterten Fußweg durch den kleinen, aber gepflegten Vorgarten zur Haustür und schellte. Es dauerte einen Moment bis geöffnet wurde.
»Hi Finn. Was für eine Überraschung. Mit dir hätte ich jetzt als Letztes gerechnet«, begrüßte ihn Ricarda fröhlich.
»Hallo. Ich eigentlich auch nicht.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn kurz.
»Komm rein. Wir sind auf der Terrasse.«
Die gebürtige Spanierin schloss die Tür und ging vor. Ihre schwarzen, welligen Haare hingen ihr lang den Rücken herunter. Sie trug eine hautenge, schwarze Leggins und eine ebenso enges Spaghetti Top in Schwarz. Die beiden durchquerten das große Wohnzimmer, dessen verglaste Seite zur Terrasse durch die großen Schiebetüren fast vollständig geöffnet war. Simon erhob sich aus dem Gartenstuhl, als er Finn kommen sah.
»Hey, plagt dich die Einsamkeit oder was führt dich hier her?«, fragte er und begrüßte ihn mit einem Handschlag.
Genau wie Ricarda war auch Simon mit dreiviertel Shorts und T-Shirt in Schwarz gekleidet. Die beiden waren Fans der Heavy-Metal Szene und da war es anscheinend üblich, schwarze Kleidung zu tragen. Auf Simons T-Shirt war zusätzlich der Name einer Band abgedruckt, den Finn aber nicht entziffern konnte. Im Wohnzimmer hatten die beiden sogar eine ganze Wand mit den Namen ihrer Lieblingsbands verziert, was Finn dann doch etwas übertrieben fand, aber er musste hier ja auch nicht wohnen. Genau diese Musik schallte jetzt auch hinaus bis auf die Terrasse.
»Ich brauche mal deine Frau«, antwortete er.
»Aha. Weil deine gerade nicht greifbar ist?«, entgegnete Simon und lachte. »Setz dich. Wo steckt Julia?«
»Ihre Schwester hat heute ein Spiel und sie hatte ihr versprochen zu kommen, wenn sie in Düsseldorf spielen.«
Finn nahm auf einem der freien Stühle Platz, der ihm einen Blick über den großzügigen Garten und den Pool ermöglichte. Der Garten war rundherum von blühenden Stauden und Sträuchern umgeben und der Rasen war eine einzige grüne Fläche, in der nicht das kleinste Unkraut zu finden war.
Schon häufiger hatten sie zu viert hier das ein oder andere Sommerwochenende verbracht. Dabei hatten sie faul in der Sonne gelegen, waren im Pool geschwommen und hatten am Abend zusammen gegrillt. Später hatte Ricarda dann ein paar ihrer köstlichen Cocktails serviert. Als gelernte Hotelkauffrau hatte sie damals in einer Bar auf Mallorca gearbeitet, wo sie schließlich Simon kennenlernte. Inzwischen arbeitete sie in einem Düsseldorfer Hotel an der Rezeption.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie Finn.
»Ja, gerne.«
Ricarda verschwand kurz im Haus, um eine Tasse zu holen und goss ihm dann Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch ein.
Anschließend setzte sie sich wieder in den Stuhl direkt neben Simon.
»Irgendetwas stimmt doch nicht, oder?«, hakte Simon nach.
»Merkt man mir das an?«
»Irgendwie schon.«
Finn griff nach seiner Tasse und trank vorsichtig einen Schluck.
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau wie ich anfangen soll.«
Er holte die Briefe aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch. Anschließend erhob er sich noch einmal, zog die Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Stuhls.
»Ich war heute Vormittag mit Julia auf einem Flohmarkt«, begann er zu erzählen.
»Ah, hast du wieder einen alten Schrank vorm Sperrmüll gerettet?«, lästerte Simon, doch Finn nahm es gelassen.
Es war ein regelmäßiger Schlagabtausch zwischen den beiden. So wie er nichts für Simons Musik übrig hatte, konnte Simon seine Leidenschaft für Antiquitäten nicht nachvollziehen.
»Nein, eine Keksdose.«
Simon verzog beeindruckt die Mundwinkel.
»Und da waren diese Briefe drin und auf einem klebt eine blaue Mauritius.«
Jetzt verzog auch Finn die Mundwinkel zu einem Lachen.
»Jetzt lass ihn doch mal erzählen«, mischte sich Ricarda in die Unterhaltung ein.
»Tue ich ja.«
»Nein, du quatscht ständig dazwischen.«
Sie sah Finn an und forderte ihn damit auf weiter zu erzählen.
»Also die Briefe waren da drin, aber eine blaue Mauritius habe ich nicht entdeckt. Aber die Briefe sind in Spanisch geschrieben und ich würde gerne wissen, was da drinsteht.«
Alles andere verschwieg Finn vorerst. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
»Das sollte doch kein Problem sein. Zeig mal her.«
Finn reichte Ricarda den ersten Brief an.
»Der ist aus Mexiko«, stellte sie fest, nachdem sie den Umschlag betrachtet hatte.
»Ist das ein Problem?«
»Nein, ich denke, es wird gehen, aber mexikanisch unterscheidet sich ein wenig vom Spanischen.«
»So wie englisch und amerikanisch?«
»Schon, obwohl die Unterschiede hier noch größer sind. Das mexikanische hat für viele Begriffe eigene Wörter«
Sie öffnete den Umschlag, zog den Brief heraus und entfaltete ihn. Einen Moment lang wanderten ihre Augen über den Text.
»Der ist von 1971. Ganz schön lange her. Wieso hast du so was gekauft?«
»Ich wusste nicht, was in der Dose ist. Was steht drin? Kannst du es lesen?«
»Ja, nicht alles, aber es geht schon.«
Sie las den Text zu Ende, um einen groben Überblick zu bekommen. Letztendlich waren ihr doch mehr Wörter unbekannt, als sie vermutet hatte, deren Bedeutung sie aber dem Zusammenhang entnehmen konnte.
»Kann man bei Google ins mexikanische übersetzen?«, fragte sie und sah Simon an.
Der griff nach seinem Handy und tippte einen Moment darauf herum.
»Nein, haben die nicht im Angebot«, sagte er dann.
»Okay, also grob geht es um eine Reise. Der Empfänger dieses Briefes kommt wohl nach Mexiko, wo die beiden dann etwas unternehmen wollen. Der Schreiber freut sich schon darauf. Er hat schon alles vorbereitet und auch schon Karten für Lastwagen gekauft.«
Ricarda sah nachdenklich in die Luft.
»Das ergibt keinen Sinn. Camión…, Camión…, Bus! Na klar, Camión bedeutet im mexikanischen Bus. Er hat Karten für den Bus gekauft. Die Höhlen sind noch nicht oder kaum erforscht. Er soll irgendwas nicht vergessen, ah, die Fotoausrüstung soll er nicht vergessen und dann noch ein bisschen blah blah.«
Ricarda blickte auf, zuckte mit den Schultern und sah Finn an.
»Kannst du damit was anfangen?«
»Hast du auch nichts übersehen?«
»Soweit ich das beurteilen kann, nicht.«
»Okay, sieh dir diesen an«, sagte Finn und reichte ihr den nächsten Brief an.
Erneut ließ Ricarda erst ihre Blicke darüber wandern, bevor sie den ungefähren Inhalt wiedergab.
»Er bedankt sich für die interessanten Nachrichten, versteht aber nicht, was er über den Stein schreibt. Er schreibt: Wieso weiß niemand, was das für ein Material ist und was meinst du damit, er hat sich verändert. Kannst du mir ein Foto schicken? Ich glaube, wir haben diesmal etwas ganz Besonderes gefunden. Führe deine Untersuchungen weiter und halt mich auf dem Laufenden. Ich bleibe ebenfalls an der Sache dran.
Er zählt jetzt noch ein paar Treffen und Termine auf und hier kommen noch ein paar Namen.«
Ricarda hob den Kopf und sah zu Finn.
»Der Brief ist aus 1972, richtig?«, fragte er.
Ricarda warf einen kontrollierenden Blick auf den Umschlag.
»Ja, März 72. Der Erste war aus 1971. Mehr ist hier aber auch nicht zu erkennen. Ist total verwischt.«
»Es liegt auf jeden Fall ein größerer Zeitraum dazwischen und die im ersten Brief erwähnte Reise scheint beendet zu sein«, dachte Finn laut nach.
»Da war die Rede von Höhle erforschen und sie scheinen etwas gefunden zu haben«, fügte Ricarda hinzu.
»Ja, einen sich verändernden Stein. Also bitte. Das Ganze ist doch die Zeit nicht wert, die ihr damit verschwendet. Finn, du überraschst mich. So kenne ich dich gar nicht«, sagte Simon und goss sich noch Kaffee ein.
»Ich glaube, da steckt mehr dahinter«, entgegnete Finn, obwohl das für ihn längst eine Tatsache war.
Doch was er eigentlich wissen wollte, hatte er bisher immer noch nicht erfahren.
»Ich habe noch einen. Würdest du dir den auch noch ansehen?«
»Klar«, sagte Ricarda und nahm den dritten Brief entgegen.
»Das Datum ist hier vollständig lesbar. 16.08.1972.«
Sie nahm erneut den Brief aus dem Umschlag und faltete ihn auseinander.
»Querido cuate?« Sie blickte auf. »Ist wohl eine Anrede. Querido bedeutet so viel wie lieber und cuate…, keine Ahnung.
Vielleicht so was wie Freund.«
Sie wandte sich wieder dem Brief zu.
»Es gibt schlechte Nachrichten. Er hat mit einem Gringo, er meint vermutlich einen Amerikaner, gesprochen. Er hat inzwischen auch ein Foto bekommen, denn er schreibt, dem Aussehen nach könnte es sich um das verschollene Descapiedra handeln. Keine Ahnung, das Wort kenne ich nicht. Wenn dem so ist, dann…«
Ricarda hörte auf zu lesen und sah Finn erschrocken an.
»Was steht da?«, hakte Finn nach.
»…dann besteht für dich große Gefahr. Lass ihn verschwinden, sodass er nie gefunden wird. Du weißt, was er anrichten kann.«
Ricarda brach erneut ab.
»Das war‘s oder kommt da noch was?«
»Er soll auch den Brief vernichten, damit es keine Spuren mehr gibt«, antwortete sie, ohne noch einmal auf den Brief zu sehen.
Sie faltete die Briefe und legte sie auf den Gartentisch.
»Wow, ist denn schon Halloween?«, fragte Simon und lachte.
»Das ist doch Fake. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt und die Dose mit den Briefen präpariert, damit sie jemand findet und genauso reagiert wie ihr.«
»Und wenn es doch wahr ist?«, gab Ricarda zu bedenken.
»Na wenn schon. Der angeblich so gefährliche Stein ist offensichtlich verschollen, obwohl ich anstelle des Initiators noch einen Kieselstein dazugelegt hätte.«
»Vermutlich hast du recht. Ich habe da wohl etwas zu viel rein interpretiert«, gab Finn zu.
»Finn, der sonst so kühle Stratege lässt sich von einer alten Keksdose aufs Glatteis führen. Diesen Tag muss ich mir im Kalender ankreuzen.«
»Wie auch immer. Etwas unheimlich ist es schon«, gab Ricarda zu bedenken.
»Ach vergiss es Schatz. Das ist ja nun wirklich billig gemacht.«
Finns Hand glitt in seine Hosentasche. Mit seinen Fingern berührte er die glatte und warme Oberfläche der Figur. Für einen Moment rang er mit sich, sie einfach auf den Tisch zu stellen oder zu demonstrieren, was sie bewirkte, wenn sie nass wurde. Sein Blick wanderte in Richtung Pool. Er könnte sie einfach hineinwerfen, dann würde Simon schon sehen, wozu sie fähig war. Doch wo lag die in dem Brief genannte Gefahr? Hatte er bisher vielleicht noch etwas übersehen? Der Schreiber der Briefe hätte sich da ruhig noch etwas genauer äußern können. Im Grunde hatten Ricardas Übersetzungen auch nicht wirklich weitergeholfen. Solange er nicht mehr über die Figur erfahren hatte, würde er das Geheimnis erst noch für sich behalten.
»Für mich hört es sich nicht nach einem Fake an und der Verkäufer auf dem Flohmarkt war auch nicht der Typ für so was. Aber wir werden wohl nicht rausbekommen, über was die beiden da in den Briefen geschrieben haben und letztendlich ist das Ganze ja auch schon fünfzig Jahre her. Also, was solls? Einen Versuch war es wert. Ich danke dir jedenfalls.«
»Klar. War ja kein Ding«, entgegnete Ricarda.
»Vielleicht solltest du lieber weiterhin nach Möbel Ausschau halten. Da kennst du dich wenigstens aus«, sagte Simon und sah auf die Uhr. »Bleibst du zum Essen?«
»Nein, danke. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Ich habe jetzt schon zu viel Zeit mit der Dose und den Briefen verbracht.«
»Mach mal Pause. Es ist Sonntag.«
»Ich wollte die Zeit nutzen, wenn Julia nicht da ist«, entgegnete Finn, stand auf und zog seine Jacke wieder über.
»Wie du meinst. Dann sehen wir uns morgen.«
Simon erhob sich auch und verabschiedete sich mit einem Handschlag.
»Ich komme etwas später. Ich fahre erst noch bei dem Zahnarzt vorbei und gehe mit ihm die Entwürfe durch, die Julia gemacht hat.«
»Grüß sie von mir«, sagte Ricarda und verabschiedete sich mit einer Umarmung.
»Ich werde sie heute nicht mehr sehen, aber das ändert sich demnächst. Sie hat heute bekannt gegeben, nächstes Jahr bei mir einzuziehen.«
»Echt? Was für ein Tag. Mehr Überraschungen brauche ich heute aber nicht mehr«, gab sich Ricarda erstaunt.
»Ich konnte es auch kaum glauben. Aber warten wir erst mal ab. Einen schönen Abend noch.«
Finn durchquerte das Haus und machte sich auf den Heimweg.
…
Das Gespräch mit dem Zahnarzt hatte länger gedauert als geplant. Die Vorschläge für den neuen Internetauftritt in Verbindung mit dem Geschäftspapier und den Informationsblättern für die Patienten über bevorstehende Behandlungen trafen die Vorstellungen zwar schon recht gut, dennoch gab es ein paar Änderungswünsche. Dementsprechend spät war Finn erst im Büro. Er parkte seinen Audi in der Tiefgarage des mehrstöckigen Bürogebäudes im Düsseldorfer Medienhafen. Seine Firma hatte hier die ganze 4. Etage gemietet.
Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach oben, während er sich im Spiegel betrachtete. Er sah müde aus, was darauf zurückzuführen war, dass er die Nacht kaum geschlafen hatte. Bis in den frühen Morgen hatte er noch Versuche mit der Figur gemacht. Dabei war er zu der Erkenntnis gelangt, dass die Figur alles stoppte, was mehr als fünf Meter von ihr entfernt war. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich dabei um Tiere, Menschen, Gegenstände oder Wasser handelte. Der Wasserstrahl der Dusche erstarrte genauso wie ein Ball, den er den Flur hinuntergerollt hatte. Interessant war allerdings, dass seine Hand trotzdem nass wurde, wenn er sie durch den erstarrten Duschstrahl bewegte. Das Wasser war also noch da und es war auch nass. Es bewegte sich eben nur nicht mehr.
Auch das Fernsehbild verwandelte die Figur in ein Standbild.
Sobald die Figur wieder abgetrocknet wurde, setzten alle Bewegungen dort wieder ein, wo sie aufgehört hatten.
Es gab allerdings eine Ausnahme. Wenn Finn den erstarrten Ball in die Hand nahm und ein Stück verschob, dann rollte er anschließend nicht weiter, sondern blieb dort liegen. Soweit Finn das beurteilen konnte, hielt die Figur im leuchtenden Zustand die Zeit an. Änderungen, die in diesem Zustand vorgenommen wurden, blieben allerdings erhalten. Genau diese Tatsache führte Finn wieder zu dem Schreiber des Briefes. Noch wusste er nicht, wie weit sich die Wirkung der Figur erstreckte, aber was wäre alles möglich, wenn in der Zeit des Stillstands nicht nur ein Ball verrückt würde? Steckte hier die Gefahr, vor der in dem Brief gewarnt wurde? Diese Überlegungen hatten Finn nicht mehr losgelassen und selbst als er irgendwann erschöpft ins Bett gegangen war, konnte er keine Ruhe finden.
Der Fahrstuhl blieb mit einem leichten Ruck stehen und die Tür öffnete sich. Finn setzte ein fröhliches Gesicht auf. Er wollte sich nichts anmerken lassen. Er betrat den großräumigen und hell erleuchteten Empfangsraum. Auf beiden Seiten standen dunkelgraue Ecksofas, Sessel und Stehtische. Große längliche Pflanzkübel dienten als Raumteiler. Auf der linken Seite saßen zwei Webentwickler mit einem Mediendesigner zusammen und diskutierten intensiv. Sie winkten zur Begrüßung kurz herüber, als sie ihn kommen sahen. Finn folgte dem Gang, von dem zu beiden Seiten die einzelnen Büros abzweigten und an dessen Ende die Büros der Geschäftsleitung lagen. Die meisten der Türen standen auf und auch die zu dem Büro, wohin ihn sein erster Weg führte.
»Guten Morgen«, grüßte er, als er das Büro betrat.
Die beiden Frauen grüßten fast synchron zurück, während Finn an Julias Schreibtisch stehen blieb und seine Umhängetasche darauf abstellte. Natürlich war unter den Mitarbeitern das Verhältnis zwischen Finn und Julia bekannt, doch die beiden versuchten privat und geschäftlich weitestgehend auseinanderzuhalten. Darum verzichteten sie in Gegenwart anderer Mitarbeiter auf Umarmungen und Küsse.
Julia arbeitete seit etwas mehr als zwei Jahren in der Firma.
Nach ihrer Ausbildung zur Mediengestalterin hatte sie noch zweieinhalb Jahre in ihrem Ausbildungsbetrieb gearbeitet, bevor sie die Stellenanzeige der Pixkon entdeckte. Ihr Bewerbungsgespräch hatte sie bei Finn und noch heute wurde sie den Eindruck nicht los, dass das Vorstellungsgespräch damals unbemerkt in ein Blind Date übergegangen war. Jedenfalls hatte Finn sie noch am gleichen Tag eingestellt und anschließend persönlich eingearbeitet. Für Julia hatte dieser Umstand zwei Seiten. Einerseits hatte auch sie sich sofort in Finn verliebt, doch die Tatsache, die Freundin des Chefs zu sein, war ihr zu Anfang nicht leichtgefallen. Erst später bemerkte sie, dass in der Firma ein recht lockeres Klima herrschte und auch die anderen Mitarbeiter ein freundschaftliches Verhältnis zu den Chefs hatten.
Finn zog den Reißverschluss an seiner Tasche auf und holte eine Mappe mit Papieren heraus.
»Der Zahnarzt ist noch nicht ganz überzeugt«, sagte er und reichte Julia die Mappe an. »Du musst das Logo noch mal überarbeiten. Dieses Zahnsymbol gefällt ihm gut, aber er möchte es mehr in den Vordergrund stellen.«
»Was? Nein. Das wirkt dann viel zu aufdringlich«, entgegnete Julia und zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich weiß, aber der Kunde ist König«, sagte Finn und war schon wieder im Begriff, das Büro zu verlassen.
»Warum hast du ihm das nicht ausgeredet?«
»Habe ich versucht. Was glaubst du, warum ich so spät dran bin. Da sind auch noch ein paar andere Kleinigkeiten. Du findest meine Anmerkungen auf den Vorlagen.«
Julia sah ihre Kollegin Sarah am gegenüberliegenden Schreibtisch an, während Finn das Büro verließ.
»Es ist schrecklich für Kunden zu arbeiten, die keine Ahnung haben.«
Sarah lachte.
»So ist das in unserer Branche. Wir machen nur Vorschläge und Geschmack war sowieso schon immer etwas sehr Individuelles.«
Julia zuckte mit den Schultern, legte die Mappe zur Seite und setzte ihre Arbeit fort. Inzwischen war Finn am Ende des Flurs angekommen. Er grüßte mit der erhobenen Hand kurz im Vorbeigehen zu Simon ins Büro, der gerade telefonierte und ebenfalls mit einem Handzeichen darauf reagierte. Finn stellte seine Tasche auf den Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Auf der Tastatur seines Computers lag ein Zettel. Bitte Dr. Holtberg von Elfor zurückrufen, dringend, stand handschriftlich darauf geschrieben. Finn fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. In dem Gespräch mit dem Zahnarzt war es ihm gelungen. Da war er für einen Moment abgelenkt, doch schon auf dem Weg hierher musste er wieder an den Stein und die Briefe denken.
»Hi, wie ist es gelaufen?«, riss Simon ihn aus seinen Gedanken.
Er lehnte im Türrahmen. Seine Daumen steckten in den Taschen seiner schwarzen Jeans. Simon war der eher lässige Typ. Auch im Büro trug er meistens Jeans und Poloshirts.
Die waren überwiegend sogar farbig und nur selten trug er schwarze Bandshirts. Im Gegensatz zu Finn wäre er für Außenstehende nicht von der Belegschaft zu unterscheiden gewesen. Zudem war er mit seinen dreiunddreißig Jahren auch längst nicht der Älteste in der Firma. Er war der Mensch, der gerne im Hintergrund blieb und von dort aus die Fäden in der Hand hielt. Dadurch hatte er nur wenig Kundenkontakt, was ihm zusätzlich die Möglichkeit bot, bei gutem Wetter mit dem Motorrad zu kommen.
»Ganz okay. Julia muss noch ein paar kleine Änderungen vornehmen, dann können wir mit der Umsetzung beginnen«, antwortete Finn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei die Lehne ein Stück nachgab.
»Das wird sie nicht erfreut haben.«
»Natürlich nicht. Du kennst Julia.«
Simon grinste.
»Du, wir kriegen da ein Problem mit Nagasung«, wechselte er das Thema und wurde wieder ernst. »Ich habe eine E-Mail bekommen. Die akzeptieren den Preis nicht. Wir sollen ihnen ein besseres Angebot machen.«
»Das ist unfair. Du weißt, mit wem die uns vergleichen.«
»Klar weiß ich das und ich habe Bai Jintao schon im letzten Gespräch versucht klarzumachen, dass er Äpfel mit Birnen vergleicht.«
Simon bewegte sich ein paar Schritte durch das Büro, sah kurz aus dem Fenster hinunter in den Hafen und lehnte sich dann rückwärts an die Fensterbank.
»Ich denke, wir sagen ab. Vermutlich blufft er sowieso nur und lenkt ein, wenn er sieht, dass wir nicht mitgehen.«
»Nein, auf keinen Fall«, entgegnete Finn und sprang auf.
»Wenn er nicht blufft, verlieren wir den Auftrag.«
Simon hob ratlos die Schultern.
»Mag sein, aber besser einen Auftrag verlieren, als jahrelang auf einen Schlechten draufzahlen. Wir machen mit den aktuellen Konditionen schon kaum noch Gewinn.«
»Der Auftrag öffnet uns als Referenzprojekt die Tür nach Asien.«
»Richtig und das weiß Jintao und er nutzt es aus. Nein, ich bin dagegen. Wir machen keine weiteren Zugeständnisse.«
»Wir holen das über Folgeaufträge wieder rein.«
»Finn, du verrennst dich da. Selbst wenn wir den Auftrag bekommen, ist das nur eine Chance auf weitere Aufträge, aber keine Garantie. Der Auftrag wird bei uns eine Menge Ressourcen binden. Zeit, in der wir andere, vermutlich lukrativere Aufträge ablehnen müssen.«
»Dann werde ich noch mal mit Jintao reden.«
Simon sah seinen Freund an und machte einen tiefen Atemzug. Mit der Hand fuhr er sich über die kurzen Haare und zog seinen asymmetrischen Seitenscheitel nach.
»Na schön, von mir aus. Rede mit ihm, aber es gibt keine Zugeständnisse mehr.«
»Geht klar. Wenn ich es nicht schaffe, dann lassen wir es.«
»Das wäre schade, aber wir finden eine neue Gelegenheit«, sagte Simon und ging zur Tür.
»Gehen wir heute Mittag was essen?«, hielt Finn ihn kurz auf.
»Nein, ich habe etwas dabei.«
»Okay, kein Problem.«
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm den Telefonhörer und wählte Julias Nummer. Kurz darauf erschien sie in seinem Büro. Sie schloss hinter sich die Tür und die beiden begrüßten sich mit einem Kuss und einer Umarmung.
»Hat deine Schwester gewonnen?«, erkundigte er sich.
»Nein, knapp verloren. Wenn sich nichts ändert, wird die Mannschaft in der nächsten Saison wohl absteigen.«
»Geht es denn noch tiefer?«
Julia lachte.
»Du bist gemein. Nach der 3. Liga kommt noch die Regionalliga und da drunter gibt es auch noch was.«
»Also noch viel Spielraum nach unten.«
»Sie liebt Volleyball. Ich würde ihr so sehr etwas mehr Erfolg wünschen.«
Finn kehrte an seinen Schreibtisch zurück.
»Hör mal, du hast doch die Projektzusammenfassung für das Nagasung Projekt gemacht.«
»Ja. Stimmt was nicht?«
»Doch, doch. Alles okay. Aber ich wollte noch mal fragen, ob da wirklich überall die korrekten Zeiten eingetragen sind.
Ich meine, du kennst das. Da wird auch gerne mal etwas großzügig geschätzt.«
»Das ist witzig. Das Gleiche hat mich Simon auch schon gefragt.«
»Tatsächlich. Na dann weißt du vermutlich, dass die uns preislich ziemlich drücken.«
»Ja. Simon sagte so was«, antworte Julia und nickte.
»Und? Was hast du Simon gesagt?«
»Ich habe noch mal mit Andreas und Lisa gesprochen. Andreas sagte, dass er schon etwas gerundet hat, aber bereinigt wären das höchstens ein bis zwei Stunden. Also nichts, was die Kalkulation entlasten würde.«
Finn kratze sich am Hinterkopf.
»Nein, nicht wirklich. Dann muss ich eben so noch mal mit denen reden. Simon will den Auftrag platzen lassen, aber ich halte das für falsch.«
»Aber so wie sich die Sache darstellt, hat er recht.«
»Ja vermutlich. Ich will es trotzdem noch mal versuchen.«
»Du bist der Verkäufer. Lass deinen unwiderstehlichen Charme spielen.«
Julia legte den Kopf etwas schräg und lachte ihn an.
»Wenn Bai Jintao eine Frau wäre, würde das vielleicht helfen.
Sag mal, gehen wir heute Mittag zusammen was essen?«
»Ich habe einen Joghurt mit. Ich dachte, wir kochen heute Abend zusammen.«
»Ach ja. Bleibst du auch über Nacht?«
Für den Moment wirkte Finn etwas verwirrt.
»Ja wieso? Störe ich?«
»Nein, nein, überhaupt nicht.«
»Was ist los? Da hatten wir doch gestern drüber gesprochen.«
»Natürlich. Hatte es nur kurz vergessen.«
Julia öffnete die Tür, drehte sich aber noch einmal herum.
»Hast du eigentlich die Keksdose aufgekriegt?«
Finn blickte auf und sah sie beinahe erschrocken an.
»Ja, habe ich.«
»Und was war drin?«
»Äh…, erzähle ich dir heute Abend.«
»Uhh, jetzt bin ich aber gespannt«, sagte sie und verschwand.
Finn ließ den Kopf gegen die Stütze seines Stuhls zurückfallen und machte einen tiefen Atemzug. Was sollte er Julia heute Abend erzählen? Die Briefe musste er erwähnen, denn die kannten Simon und Ricarda inzwischen auch schon.
Aber was war mit dem Stein? Finn war sich nicht sicher, ob er überhaupt jemandem davon erzählen sollte. Er war sich nicht mal sicher, was er selbst damit anfangen sollte. Vielleicht wäre es besser, ihn einfach wieder verschwinden zu lassen. Im Grunde besaß der Stein eine völlig unsinnige Funktion. Er war zwar in der Lage die Zeit anzuhalten, wodurch es möglich wurde, das Wochenende zu verlängern, aber was nützte das, wenn alles andere um ihn herum auch einfror? Die einzige sinnvolle Anwendung erschien Finn noch, wenn man durch den Stein die Nacht nach einem anstrengenden Partyabend verlängern konnte. Doch noch immer wusste er zu wenig über den Stein. Wie lange konnte damit die Zeit angehalten werden? Gab es möglicherweise irgendwann Verschiebungen im Raum-Zeit-Kontinuum, die dann vielleicht irreparable Folgen hätten? Die Warnung in dem Brief war nicht grundlos erfolgt und die Keksdose nicht grundlos verschlossen worden.
…
Wegen des schönen Wetters hatte ein Großteil der Belegschaft schon früh Feierabend gemacht. Auch Finn und Julia waren an diesem Montag früher dran als sonst. Sie verabschiedeten sich kurz von Simon und gingen anschließend noch zum Einkaufen in die Stadt. Der nächste Supermarkt war nicht weit entfernt und zu fahren war um diese Uhrzeit wenig sinnvoll. Julia hatte Hunger auf asiatische Küche und brauchte dazu noch frisches Gemüse, Sojasprossen, Hähnchenfilet und Kokosmilch. Gewürze und Reis hatte Finn zu Hause, soweit kannte sie sich aus. Die Lebensmittel packten sie in eine Jutetasche und machten sich auf den Rückweg.
Auf halben Weg blieb Finn plötzlich auf einem Platz stehen.
In der Mitte sprudelte ein Brunnen und auf den Parkbänken unter den Bäumen saßen vereinzelt Leute. Ein kleiner Junge versuchte eine Taube zu fangen und tapste erfolglos hinter ihr her, hatte dabei aber trotzdem eine Menge Spaß.
»Okay, was machen wir jetzt hier?«, fragte Julia interessiert.
Finn wirkte nervös und unsicher. So hatte sie ihn eigentlich noch nie erlebt.
»Liebst du mich?«, fragte er und sah sie an.
Julia runzelte verunsichert die Stirn.
»Finn, was soll das? Ich hoffe, das wird jetzt kein Heiratsantrag.«
»Liebst du mich?«, wiederholte er seine Frage.
»Ja natürlich. Ich liebe dich, das weißt du doch.«
Etwas verunsichert sah sie sich um. Irgendwie war die Situation hier mitten auf dem Platz schon ein wenig skurril. In einer halben Stunde wären sie zu Hause, da wäre das Ganze wesentlich romantischer gewesen.
»Wenn ich dir etwas völlig Ungewöhnliches erzähle, wirst du es dann für dich behalten und niemandem davon erzählen, egal was es ist.«
»Absolut, aber können wir das nicht auf zu Hause verschieben?«
»Nein, ich möchte es dir hier sagen. Zu Hause würdest du es vielleicht nicht verstehen. Ich habe nämlich auch noch so meine Probleme damit.«
»Finn, was ist los?«
»Du erzählst niemandem etwas davon? Auch deiner Schwester nicht?«
»Nein, niemandem. Versprochen.«
Julia verdrehte die Augen. Irgendwie kam ihr die Sache merkwürdig vor. Im Grunde konnte es sich nur um einen Scherz handeln, denn was sollte Finn ihr jetzt schon hier mitten auf dem Platz so Bedeutendes zu sagen haben. Er nahm ihre Hand und zog sie zu dem Brunnen, wo sie sich auf die gemauerte Umrandung setzten. Der kleine Junge kreischte vor Freude, während er noch immer die Taube verfolgte.
Finn stellte die Jutetasche zur Seite und holte etwas aus der Tasche seiner Anzugjacke. Anschließend tauchte er die Hand in das Wasser des Brunnens. Zuerst blickte Julia nur Finn an, dann fiel ihr auf, dass in seiner geschlossenen Hand etwas zu leuchten schien und danach bemerkte sie plötzlich die eingetretene Ruhe. Neben ihr plätscherte noch der Brunnen und immer wieder trafen sie kalte Spritzer, doch ansonsten war da nicht mehr das kleinste Geräusch. Verunsichert blickte sie sich um und im gleichen Moment stieß sie einen spitzen Schrei aus. Mit der Hand fasste sie sich erschrocken vor den Mund, während ihr Blick erst zu Finn und anschließend zu dem Leuchten in seiner Hand wanderte. Um sie herum war alles stehen geblieben. Die Menschen, die Autos und zusammen mit ihnen die Geräusche. In diesem Augenblick fühlte sich Julia wie der lebende Teil eines dreidimensionalen Standbildes. Zusammen mit Finn saß sie hier an diesem Brunnen, der weiter vor sich dahinplätscherte, als wäre nichts geschehen, während alles um sie herum zum Stillstand gekommen war.
»Du wolltest wissen, was in der Keksdose war? Das hier.«
Er öffnete seine Hand und unter der bewegten Oberfläche des klaren Wassers sah Julia einen rötlich leuchtenden Gegenstand. Durch die Lichtbrechungen konnte sie keine genauen Umrisse erkennen, was für sie aber im Augenblick sowieso völlig ohne Bedeutung war.
»Was ist das?«, waren die einzigen Worte, die sie herausbekam.
»Ich weiß es nicht. Es ist eine Art Steinfigur. Wenn sie nass wird, bleibt die Zeit stehen. Ich habe es durch Zufall herausgefunden.«
»Die Zeit bleibt stehen?«, fragte Julia verunsichert.
»Keine Ahnung. Ich nenne es jedenfalls so. Solange die Figur nass ist, bleibt alles in diesem eingefrorenen Zustand.
Trockne ich sie ab, geht alles weiter, als wäre nie etwas gewesen.«
»Und wieso wir nicht?«
»Auch das weiß ich nicht. Ich glaube, ein bestimmter Umkreis der Figur ist davon ausgenommen. So wie der Brunnen.
Auch er läuft noch. Das Wasser zu Hause in der Dusche ist stehen geblieben.«
»Du hast schon damit experimentiert?«
»Gestern. Den ganzen Abend.«
Julia sah ihn erschrocken an.
»Dann hast du auch mich und Saskia mit dem Ding eingefroren?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht wirkt das Ding gar nicht so weit.«
»Was ist, wenn das gesundheitliche Folgen hat?«
»Hast du etwas bemerkt?«
»Nein, aber du experimentierst nicht mit einem Chemiebaukasten in deinem Keller, wo dir das Experiment im Zweifel alleine um die Ohren fliegt. Du weißt nicht mal, was das ist oder wie es funktioniert oder warum es überhaupt da ist.«
Beunruhigt war sie aufgesprungen. Jetzt fiel ihr Blick auf den kleinen Jungen. Er war stark nach vorne gebeugt und schien jeden Moment zu stürzen, doch genau in diesem Moment war die Zeit stehen geblieben. Die Taube hatte noch abgehoben und hing jetzt mit ausgebreiteten Flügeln ein Stück über dem Boden. Langsam bewegte sich Julia darauf zu. Alles um sie herum stand und nur sie bewegte sich über diesen ansonsten so belebten Platz. Zwei Frauen mit Einkaufstüten schienen mitten im Gespräch erstarrt zu sein und auf der gegenüberliegenden Bank saß ein älterer Mann und rauchte.
Selbst der Qualm der Zigarette stand bewegungslos in der Luft.
Auf der anderen Seite war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Ein Auto war mitten im Abbiegevorgang stehen geblieben. Der Blinker leuchtete jetzt durchgehend. Sie ging ein Stück auf die Kreuzung zu und sah die Straße hinunter. Soweit ihr Blick reichte, war alles zum Stillstand gekommen.
Hinter sich spürte sie eine Bewegung und schon fast erschrocken fuhr sie herum.
»Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, wie ich damit umgehen soll, aber ich brauchte jemanden, mit dem ich darüber sprechen kann«, sagte Finn.
»Was ist das für ein Ding? Ich meine, wie kann man die Zeit anhalten und wer verkauft so was auf dem Flohmarkt?«
»Ich glaube, der Besitzer hatte keine Ahnung von dem Inhalt.
Zusammen mit dem Stein waren da auch noch Briefe drin.
Sie waren aus Mexiko. Ich habe sie gestern von Ricarda übersetzen lassen. Der Opa des Verkäufers war wohl dort mal auf einer Expedition und hat den Stein dabei gefunden.«
»Dann wissen Simon und Ricarda auch davon?«
»Nein! Denen darfst du nichts erzählen. Sie kennen nur die Briefe.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Keine Ahnung. Da denke ich die ganze Zeit schon drüber nach. Ich meine, es hat ja auch seine Vorteile, die Zeit anzuhalten. Wenn wir den Stein dort im Brunnen lassen, wird dieser Tag nie für uns enden.«
Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm.
»Stell dir vor, wir fliegen samstags ans Meer. Ich stelle den Stein ins Wasser und schon verbringen wir da ein, zwei oder drei Wochen Urlaub und fliegen trotzdem am Sonntag wieder zurück.«
»Du bist verrückt.«
Sie löste die Umarmung und kehrte zu dem Brunnen zurück.
»Warum? Was wäre so falsch daran?«, rief er hinter ihr her.
Julia fuhr herum.
»Finn, du weißt nicht was du damit auslöst. Das Kausalitätsgesetz besagt, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Solange du die Hintergründe nicht kennst, spielst du mit dem Feuer.«
»Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?«
»Finn…« Sie brach den Satz ab und sah ihn einen Moment an, als wollte sie ihm etwas Wichtiges sagen, ohne dabei die richtigen Worte zu finden. Schließlich wendete sie sich ab und setzte sich wieder auf die Umrandung des Brunnens.
Finn setzte sich zu ihr, holte die Figur aus dem Wasser und rieb sie an seiner Hose trocken. Augenblicklich setzte das Leben auf dem Platz wieder ein. Das Brummen der Automotoren erfüllte wieder die Luft. Irgendwer hupte. Der kleine Junge stürzte bäuchlings auf die Steine und begann sofort laut zu schreien, während seine Mutter herbeieilte und die Taube davonflog.
Finn legte einen Arm um Julia und hielt ihr mit der anderen Hand den Stein hin. Verunsichert sah sie ihn an, bevor sie danach griff.
»Das ist kein richtiger Stein«, sagte sie nachdenklich, »das ist mehr eine Figur. Findest du nicht auch?«
»In den Briefen steht etwas von einer Verwandlung. Als wenn das mal ein Stein war, der dann zu diesem Ding geworden ist.«
»Ist ganz glatt und sieht ein bisschen aus wie ein Engel.«
»Ja, habe ich auch schon gedacht.«
»Finn, egal was es ist. Du musst es irgendwem geben.«
»Na klar, nur wem? Wer ist für so etwas zuständig?«
Er sah sie fragend an, während sie ihm die Figur zurückgab.
»Willst du sie etwa behalten?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls weiß ich ebenso wenig, wem ich sie geben könnte.«
Julia nahm die Jutetasche und stand auf.
»Lass uns erst mal nach Hause gehen. Dann sehen wir weiter.«
Finn nickte, ließ die Figur in seiner Jackentasche verschwinden und erhob sich ebenfalls. Er war sich nicht sicher, ob es richtig war, Julia in die Sache einzuweihen. Sie hatte ganz anders reagiert, als er sich das vorgestellt hatte. Obwohl, was hatte er erwartet? Diese Figur dürfte es eigentlich gar nicht geben. Sie widersprach allen physikalischen Gesetzen. Da konnte er wohl kaum Jubel und Begeisterung erwarten und möglicherweise war Julias Skepsis auch gar nicht so verkehrt.
Selbst hatte er diese Seite noch gar nicht so intensiv betrachtet, obwohl er längst die Warnung aus dem Brief kannte.
Nun gab es jedenfalls kein Zurück mehr. Julia kannte jetzt sein kleines Geheimnis und es war gut, dass er mit jemanden darüber sprechen konnte.
…
Finn ließ seinen Wagen in der Tiefgarage stehen und fuhr bei Julia mit. Sie besaß ein zweitüriges BMW-Cabriolet in Sunset Orange, ihrer Lieblingsfarbe. Bei dem schönen Wetter konnten sie mit offenem Verdeck fahren und ein wenig frischer Wind tat jetzt gut. Die nächste Zeit sprachen die beiden nicht mehr über die Figur. Jeder war erst mal mit sich selbst beschäftig und versuchte seine Gedanken zu dem Thema zu sortieren.
Bei Finn angekommen, parkte Julia in der Garage, die sie mit ihrer Fernbedienung geöffnet hatte. Sie stellte die Tasche in der Küche ab und verschwand kurz im Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als sie zurückkehrte, hörte sie Finn im Badezimmer duschen. Sofort überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Sie ging zur Garderobe und griff in Finns Jackentasche, wo ihre Finger auf die glatte Oberfläche der Figur stießen. Die Bilder der regungslosen Leute auf dem Platz tauchten wieder vor ihr auf. Es war eigenartig zu wissen, dass auch ihr das vermutlich passiert war und jederzeit wieder passieren könnte. Sie beließ die Figur wo sie war und machte sich in der Küche an die Arbeit.
Wenig später stieß auch Finn zu ihr. Er umarmte sie von hinten, während sie Tomaten häutete. Der Geruch von frischem Duschgel drang ihr in die Nase. Sie drehte ihren Kopf und er gab ihr einen Kuss.
»Es ist so schön, dich hier zu haben«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Wenn der Stein die Zeit schneller laufen lassen könnte, würde ich direkt auf nächstes Jahr vorspulen.«
Julia legte das Messer auf die Arbeitsplatte und drehte sich herum.
»Jetzt ist es ja beschlossen und es dauert gar nicht mehr so lange.«
»Viel zu lange. Du könntest jetzt schon hier einziehen und deine Wohnung kündigst du, wenn dir danach ist. Die Miete übernehme ich.«
»Ist das dein Ernst?«
»Und wie. Ich möchte mit dir zusammenwohnen, dich abends bei mir haben und morgens mit dir aufwachen. Und ich möchte das jetzt und nicht erst in einem Jahr.«
Sie legte ihre Arme um seinen Hals und sah ihn glücklich an.
»Das ist ein ziemlich verführerisches Angebot, auf das ich glatt eingehen würde.«
»Ich bin eben ein ziemlich guter Verkäufer.«
Julia lachte und gab ihm einen Kuss.
»Kann der Verkäufer auch Zwiebeln schneiden? Dann könnte er mir beim Kochen helfen.«