Brennendes Wasser - Lukas Erler - E-Book

Brennendes Wasser E-Book

Lukas Erler

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Beschreibung

Temporeich erzählt und lückenlos recherchiert spinnt Erfolgsautor Lukas Erler einen Fracking-Thriller um vier Jugendliche, der brandaktuell ist. Josh, Caro und Speedy trauen ihren Augen nicht: Als sie heimlich den alten Matthis in seinem Haus beobachten, sehen sie, wie dort auf einmal Feuer aus dem Wasserhahn schießt - und dann das ganze Haus explodiert. Ein schrecklicher Unfall? Während die drei Freunde in Norddeutschland nicht weiter wissen, sorgt die Explosion in einem kanadischen Energiekonzern für helle Aufregung: Im Gebiet um Matthis' Haus haben sie Fracking-Probebohrungen angestellt. Die drei Augenzeugen könnten ein Millionengeschäft zum Platzen bringen. Und plötzlich schweben die drei Freunde in Lebensgefahr. Du gerätst in die Schusslinie eines mächtigen Energiekonzerns, der alles tun wird, dich zum Schweigen zu bringen. Wie weit wirst du gehen, um für deine Überzeugungen zu kämpfen?   Weitere Titel von Lukas Erler im Arena Verlag: Side Effect

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Seitenzahl: 289

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Arena-TaschenbuchBand 51273

Ebenfalls von Lukas Erlerim Arena Verlag erschienen:Side Effect

Für meinen Sohn Jan, dem ich die Idee zudiesem Buch verdanke, und für Joshua Fox, der einengroßartigen Film drehte. Danke, Leute …

Lukas Erler studierte Soziologie, Philosophie und Sozialgeschichte und absolvierte eine Ausbildung zum Logopäden. Er arbeitete lange Zeit in der neurologischen Rehabilitation. Sein Debut Ölspur wurde für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, inzwischen hat Erler zahlreiche Romane für Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht.

Brennendes Wasser wurde u. a. mit der »Segeberger Feder« ausgezeichnet und für den »Klimabuchtipp« der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur nominiert. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordhessen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage als Neuausgabe 2023

© 2014 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Lukas Erler

Covergestaltung: Svenja Kuhn unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock ©Jag_cz

Umschlaggestaltung: Jasmin Weiß und Juliane Lindemann unter Verwendung von Abbildungen von iStock: ©rsokoloff, AwakenedEye, Metaphortography ©travelview, roccomontoya (fachl. geprüft von Prof. Dr.-Ing. habil. M. Ruess, Hochschule Düsseldorf)

Innenillustrationen: Adobe Stock ©artbalitskiy

E-Book ISBN 978-3-401-80397-5

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

»Wir sind ein Neun-Milliarden-Dollar-Konzern.Ist dir klar, wozu wir in der Lage sind?«

(Matt Damon in Promised Land)

Prolog

Tot zu sein, war gar nicht so schlimm. Nicht so schlimm jedenfalls, wie er gedacht hatte. Die Schmerzen waren verschwunden und die Angst auch. Dunkelheit und eine wohltuende Wärme umgaben ihn. Aber wie war es möglich, dass er sich bewegte? Oder wurde er bewegt? Schon seit geraumer Zeit hatte er das Gefühl aufzutauchen, unendlich langsam, jedoch stetig an die Oberfläche zu treiben. Aber an die Oberfläche wovon?

Der Gedanke verblasste, verschwand aus seinem Bewusstsein, das Gefühl des Schwebens blieb. Es war jetzt nicht mehr vollständig dunkel. Er nahm einen Lichtschimmer wahr, auf den er sich zubewegte. Schön langsam, dachte er, ganz ruhig. Caro würde oben auf ihn warten. Sie würde …

Wer war Caro?

Der Lichtschimmer wurde größer und nahm die Form eines schmalen Rechtecks an. Das Schweben war erstaunlich anstrengend. Eine Wolke bleierner Müdigkeit senkte sich auf ihn herab und das Licht verschwand für eine Weile. Als die Wolke sich verzog, kehrte es zurück, heller und größer jetzt als vorher. Es war ein hässliches und beunruhigendes Licht, aber wenn er es erreichte, würde er das Mädchen sehen. Eben hatte er den Namen noch gewusst. Das Mädchen mit den Kupferhaaren. Carolyn … Caro?

Joshua Lenz schlug die Augen auf und blickte an die Decke. Dort hing eine Neonröhre, die ein kaltes Licht verbreitete. Er lag in einem Bett, das mit strahlend weißer, etwas rauer Wäsche bezogen war. Die Wände des Zimmers waren ebenfalls weiß. Krankenhaus, dachte er vage, ich bin in einem Krankenhauszimmer.

Wieder wurde er müde, es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten, aber er kämpfte dagegen an, versuchte mit aller Macht, sich zu erinnern, und dann sah er ihr Gesicht vor sich. Wie hatte er es vergessen können? Caro war so schön, dass ihm manchmal schwindelig wurde, wenn sie ihn ansah. Warum war sie nicht hier?

Sie waren zusammen auf der Anhöhe gewesen. Caro und er … und Speedy. Diesmal musste er nicht lange überlegen, wer das war. Auch an sein Gesicht erinnerte er sich sofort. Was hatten sie auf diesem Hügel gemacht?

Beobachten … wir wollten etwas beobachten. Einen Menschen? Die Erinnerungen kamen jetzt schneller, eine rasche Abfolge von Bildern, teilweise in Überblendung, wie bei einem Filmtrailer. Irgendetwas war passiert.

Wenn wir auf Speedy gehört hätten, wären wir jetzt tot. Speedy hatte Nerven wie ein Stuntman. Er wollte unbedingt näher ran, aber Caro hatte ihn ausgebremst. Wir machen es von hier aus, hatte sie gesagt und Speedy hatte nur mit den Achseln gezuckt und begonnen, seine Ausrüstung auszupacken.

Natürlich, die Kamera. Wir wollten ihn filmen.

Sie hatten sich hinter den hohen Büschen auf die Erde gehockt, das Stativ aufgestellt, die Videokamera montiert und sie auf das Haus vom alten Matthis ausgerichtet. Speedy durfte als Erster durch den Sucher schauen. Er fängt genau jetzt an, hatte er gelacht und die Kamera angeschaltet. Heiliger Strohsack, ist der Kerl verrückt. Und diese Pfeife. Speedy hatte recht. Als Josh an der Reihe war, sah er den Alten, eingehüllt in eine dichte Wolke Tabakqualm, seine irre Show abziehen. Lass mich auch mal, hatte Caro gewispert, ihn kurzerhand beiseitegeschoben und gleich angefangen zu maulen: Ach Scheiße, ausgerechnet jetzt hat er aufgehört. Er braucht schon eine Pause. Nun geht er in die Küche, ich glaube, er will was trinken, oh Mann, was ist das? Das gibt’s doch …

In diesem Augenblick änderte die alte Bauernkate ihre Farbe. Sie wurde rot, schien sich in alle Richtungen auszudehnen und explodierte wie ein riesiger Feuerball in der Abendsonne. Die Detonation und die Druckwelle fegten sie zu Boden. Caro fiel auf ihn, kreischte und zeigte in den Himmel. Das Dach des Hauses kam direkt auf sie zu.

1

Kantheim, Norddeutschland

Sie machten keinen großen Aufriss wegen der Sache, und das hatte er auch nicht erwartet. Erstens waren seine Eltern, was die Schule anging, ziemlich cool und zweitens wussten sie es schließlich schon Monate vorher.

Natürlich hatte sein Vater es sich nicht nehmen lassen, darauf hinzuweisen, dass weder in seiner noch in Moms Familie jemals irgendjemand das Klassenziel nicht erreicht hatte, aber das war’s auch schon. Hin und wieder sollten Familientraditionen aufgelockert werden, hatte Josh geantwortet und dabei die Gedanken seines Vaters gelesen. Er sah dessen Augen hinter den Gläsern der John-Lennon-Brille funkeln und wusste, dass er sich über Joshs Unverschämtheit ärgerte und gleichzeitig stolz auf die Schlagfertigkeit seines Sohnes war.

Wie auch immer, versetzt werden wird überschätzt, dachte er, als er am letzten Schultag sein Mountainbike vor dem Haus seiner Eltern abstellte und die Treppe zum Arbeitszimmer seines Vaters hinaufstieg. Joshua Lenz war knapp 1,80 Meter groß und kräftig gebaut. Er trug sein schulterlanges braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sein gut geschnittenes Gesicht war von Akne weitgehend verschont geblieben. Seiner Mutter hatte er die dunkle Augenfarbe zu verdanken und seinem Vater die Kurzsichtigkeit, aber die modisch dunkle Brille hatte seiner Beliebtheit bei Mädchen nie geschadet. Ganz so cool, wie er tat, war er allerdings nicht. Im Laufe des Vormittags war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschossen, der sich festgesetzt hatte und an seiner Selbstzufriedenheit nagte wie ein Biber am Treibholz. Es gab da etwas, das er klären musste.

Gegen seine Gewohnheit klopfte er an, bevor er das Zimmer betrat, und wusste, dass bereits das seinen Vater stutzig machen würde. Der saß hinter seinem Schreibtisch, blickte jetzt von seinem Laptop auf und sah ihn misstrauisch an.

»Hi«, sagte Josh vorsichtig.

Sein Vater nickte und deutete schweigend auf den großen Rattansessel, der vor seinem Schreibtisch stand. Zoe hatte ihn immer den Audienzsessel genannt. Während ihrer ganzen Kindheit war es so gewesen: Wann immer sie etwas von ihrem Vater wollten, waren sie die Treppe raufgestiegen und hatten in dem Sessel Platz genommen. Seine Schwester Zoe glaubte bis zum Alter von sieben Jahren fest daran, dass man Jonathan Lenz nur dann um etwas bitten konnte, wenn er hinter diesem Tisch saß. Er war so eine Art Sprachgenie und arbeitete meistens von zu Hause aus als Übersetzer und Lektor für eine Reihe von wissenschaftlichen Fachverlagen. Seitdem Zoe ausgezogen war, hatte Josh den Audienzsessel für sich, denn wenn Mom seinen Vater sprechen wollte, zitierte sie ihn einfach heran.

Josh reichte ihm das Zeugnis und er legte es, ohne einen Blick darauf zu werfen, auf den Tisch.

»Wegen Mathe und Physik?«

»Ja.«

»Und wegen dieses Mädchens.«

»Dieses Mädchen hat einen Namen«, zischte Josh und riss sich mühsam zusammen. Er hatte nicht gedacht, dass sein Vater wieder davon anfangen würde. Blöderweise stimmte es. In den letzten zehn Monaten hatte es für ihn kein anderes Thema gegeben als Caro. Zu sagen, dass ihm die Schule egal war, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen.

Sein Vater schüttelte sachte den Kopf und lehnte sich zurück.

»Reg dich ab«, sagte er.

Josh versuchte es – allerdings mit mäßigem Erfolg. Jonathan Lenz grinste und die Zahl der Falten in seinem Gesicht schien sich zu verdoppeln. Zum ersten Mal fiel Josh auf, wie alt er geworden war.

»Nothing else matters«, sagte sein Vater unvermittelt, immer noch grinsend.

»Was?«

»Nichts anderes zählt. Ein alter Song von Metallica. Wusstest du, dass einige der schönsten Balladen überhaupt von Metalbands geschrieben wurden?«

Josh wusste es nicht, aber vielleicht würde er es sich merken. Vielleicht auch nicht. Er stand auf Kendrick Lamar und Apache und konnte mit dem, was seine Eltern nostalgisch Rock ’n’ Roll nannten, nichts anfangen.

»Deine Mutter hat mir das Stück gestern noch mal vorgespielt. Damit ich mich erinnere, wie sie sagte, und wieder auf den Teppich komme. Okay, ich erinnere mich.«

Er zwinkerte seinem Sohn zu und schien offenbar bis Silvester weitergrinsen zu wollen. Josh verstand nicht genau, wovon die Rede war, aber ihm wurde klar, dass die Befürchtung, die ihn den ganzen Vormittag über gequält hatte, offensichtlich unbegründet war. Sein Vater hatte nicht vor, ihm den Führerschein zu streichen. Er würde, wie geplant, nach den Sommerferien mit den Fahrstunden beginnen. Dann ein Jahr lang begleitetes Fahren in der alten Familienkutsche und mit achtzehn … Wann immer er sich in den letzten Monaten mies fühlte, hatte Josh sich vorgestellt, wie er mit Caro die Autobahn nach Norden in Richtung Skandinavien raufdüste – und schon war es ihm schlagartig besser gegangen.

Dabei war bis vor zwei Jahren an Kopfkino dieser Art nicht einmal zu denken gewesen. Seine Eltern hatten wenig Geld, die Hypothek für das Haus und die hohen Lebenshaltungskosten fraßen Monat für Monat den Löwenanteil davon auf und sein Taschengeld war ein Witz. Eines Tages dann war seinem Vater ein genialer Coup gelungen. Er hatte Adrians Grund verkauft. Ein ödes Stück Weideland, etwa zehn Kilometer vom Haus seiner Eltern entfernt, direkt neben der Dörsamer Heide gelegen, das einmal Joshs Großvater gehört hatte. Dieser Verkauf hatte die finanziellen Probleme der Familie Lenz ein für alle Mal gelöst.

»Was wolltest du eigentlich?«, fragte sein Vater jetzt und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Der Führerschein … geht das noch in Ordnung?«

»Klar, wenn du kein Abitur machst, brauchst du den Schein auf jeden Fall. Dann kannst du wenigstens noch Taxi fahren.«

Josh zuckte zusammen.

»Ich krieg das Abi – nur eben später.«

»Okay«, sagte sein Vater und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Die Audienz war beendet. Ohne weiteren Kommentar stand Josh auf und ging zur Tür.

»Joshua!«

Er drehte sich noch einmal um.

»Schöne Ferien!«

Ja Mann, dachte er, worauf du dich verlassen kannst.

2

Das lief doch ganz gut«, fand Caro und küsste ihn, »mein Alter hätte mir die Hölle heißgemacht.«

Sie lagen auf Caros Bett in der Dachgeschosswohnung ihrer Mutter, die der Sommer prächtig aufgewärmt hatte, und tranken eisgekühlte Bionade.

»Dein Alter ist vor zwölf Jahren abgehauen«, erwiderte Josh, »woher willst du wissen, was er getan hätte?«

»Hallooo? Ich hab dir doch von ihm erzählt: Wer ein Goldstück wie mich verdrischt und sitzen lässt, muss ein Arschloch sein. Er hat sich damals wie ein Arschloch benommen und würde das garantiert heute auch tun. Also hätte er getobt und mir die Hölle heißgemacht. Voilá!«

Caro grinste und sah ihn triumphierend an. Wie gewöhnlich hatte Josh ihrer umwerfenden Logik nichts entgegenzusetzen.

»Auf eine merkwürdige Weise macht mir Jonathan auch die Hölle heiß«, sagte er nachdenklich. Seine Schwester Zoe hatte angefangen, ihren Vater beim Vornamen zu nennen, als sie sechzehn wurde, und der hatte nichts dagegen gehabt. Josh gebrauchte seinen Vornamen, wenn er Probleme mit ihm hatte.

»Wie meinst du das?«

»Ich werd nicht schlau aus ihm. Auch weil er immer so verdammt ironisch ist. Er macht auf cool, so als ginge ihm die Schule am Arsch vorbei, aber er war stocksauer, weil ich das ganze Jahr nur mit dir abgehangen habe, statt zu lernen. Er tut so, als würde er nichts von mir erwarten, aber wenn ich seinen Vorstellungen nicht entspreche, sorgt er dafür, dass mir das leidtut. Erst macht er auf Verständnis, schließlich war er auch mal jung, du kennst ja die Leier, und im nächsten Augenblick würgt er mir eine rein.«

Er dachte an den Spruch mit dem Taxifahren und spürte, wie wütend er immer noch war.

»Ach was!« Caro machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zum Teufel mit der Psychokacke. Hauptsache, du kriegst den Schein und wir fahren nach Norwegen.«

Josh nickte. Er hatte im letzten Jahr mit seinen Eltern eine Rundreise durch Skandinavien unternommen, deren Höhepunkt ein Besuch in Tromsø zur Mittsommernacht gewesen war. Ein megageiler Trip. Die ganze Stadt hatte sich in einer vierundzwanzigstündigen Partylaune befunden und die fortdauernde Helligkeit niemanden an Schlaf denken lassen. Überall gab es Konzerte oder Events unter freiem Himmel. Sie waren um Mitternacht mit der Seilbahn auf den über vierhundert Meter hohen Storsteinen gefahren, hatten danach am Hafen einer AC/DC-Coverband zugehört und schließlich um 2 Uhr morgens ein Orgelkonzert in der Eismeerkathedrale besucht, während die Sonne durchs riesige Westfenster strahlte. Josh hatte Caro Dutzende Male von Nordnorwegen vorgeschwärmt und sie waren entschlossen, im nächsten Jahr gemeinsam dorthin zu fahren.

Er überschlug im Kopf, wie viel Geld für ein Auto sie bis dahin zusammenbekommen würden, als Caros Handy klingelte. Sie angelte danach, sah die Nummer auf dem Display und ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht:

»Hi, Alter, schön, dass du wieder da bist. Es ist Speedy«, sagte sie in Joshs Richtung. Der nickte. Natürlich ist es Speedy, dachte er mit einem Anflug von Eifersucht. Caro stand auf und fing an, sich anzuziehen, ohne das Telefon auch nur einen Moment aus der Hand zu legen. Josh verschränkte die Arme hinter dem Kopf und genoss den Anblick. Er liebte ihre rotblonde Löwenmähne, die Sommersprossen, ihre grünen Augen und die helle Haut. Und ihr Mundwerk, dachte er, für das man in einigen Ländern dieser Erde einen Waffenschein benötigt.

»Vor vierhundert Jahren hätte man mich ratzfatz auf dem erstbesten Scheiterhaufen gegrillt«, hatte sie Josh einmal zugeflüstert. Da war was dran, hatte er damals gedacht. Ratzfatz.

»Wie war dein Urlaub?«, hörte er sie jetzt fragen. Die Antwort schien etwas umfänglicher auszufallen, denn sie schwieg eine Weile. Josh fand Caros Frage reichlich naiv. Speedy hatte vor einem Jahr die Schule geschmissen und eine Ausbildung zum Industriekaufmann begonnen. Die ersten sieben Tage seines diesjährigen Sommerurlaubes hatte er auf Ibiza verbracht und Josh hatte eine glasklare Vorstellung davon, wie diese Woche abgelaufen war. Speedys Urlaubserinnerungen würden aus einem einzigen großen, sonnengebräunten Kater bestehen.

»Er will sich mit uns treffen«, sagte Caro und bedeckte den unteren Teil des Telefons mit der Hand: »Bisschen rumfahren, schwimmen und chillen …«

Josh nickte.

»Okay, 16 Uhr am See«, sagte Caro und beendete das Gespräch. Sie ließ das Handy in einer Tasche ihrer Jeans verschwinden und fing an aufzuräumen. »Raus aus dem Bett. Meine Mutter wird gleich hier sein!«

»Ich hab gehofft, du kommst noch mal zurück.«

»Oh Mann«, seufzte sie mit gespielter Empörung, »vor Typen wie dir hat mich Mom die letzten fünf Jahre ununterbrochen gewarnt!«

»Tja, und was hat’s genutzt?«

Caro griff blitzschnell nach irgendetwas auf ihrem Schreibtisch und warf es ihm an den Kopf. Josh konnte nicht erkennen, was es war, aber es tat ziemlich weh.

3

Als sie am See ankamen, war Speedy schon da. Er sah ungefähr so aus, wie Josh es sich vorgestellt hatte. Braun gebrannt, hohläugig und übernächtigt. Die Insel hatte ihre Spuren hinterlassen.

Doch da war noch etwas anderes.

»Wo ist das ganze Metall hin?«, staunte Caro.

Als sie Speedy das letzte Mal gesehen hatten, waren Lippen, Nasenflügel, Augenbrauen und Ohren gepierct gewesen. Das Gesicht hatte ausgesehen, als sei es mal in die Auslage eines Geschäfts für Anglerbedarf gedrückt worden, wie Caro angemerkt hatte. Bis auf einen dezenten Ring im Ohr waren jetzt alle Piercings verschwunden.

»Ich musste mich entscheiden«, brummte Speedy, »der Schmuck oder die Lehrstelle.«

»Gute Wahl«, sagte Caro und Speedy warf ihr einen mürrischen Blick zu. Nils »Speedy« Wegener war groß, mager und dunkelhaarig. Er war schon achtzehn und der coolste Typ, den Josh und Caro jemals kennengelernt hatten. Sein Spitzname verdankte sich der Tatsache, dass er seinen Führerschein einen Monat nach Erhalt wegen eines illegalen Autorennens gleich wieder hatte abgeben müssen. Ein Thema, auf dem Caro nach Belieben herumritt, wenn ihr danach war.

Sie schwammen eine Weile im Niedermoosbacher See, lagen anschließend faul in der Sonne und beschlossen, als es kühler wurde, noch ein wenig herumzufahren. Nebeneinander radelten sie auf den befestigten Wanderwegen, welche die Dörsamer Heide labyrinthartig durchzogen, nach Norden und genossen das Nachlassen der Tageshitze.

»Wie weit wollt ihr fahren?« Caro, die nach einer halben Stunde ein wenig außer Atem schien, zog die Kopfhörerstöpsel ihres MP3-Players aus den Ohren und sah Josh fragend an.

»Keine Ahnung.«

»Lass uns checken, ob der alte Matthis noch lebt«, schlug Speedy vor.

»Wie kommst du jetzt auf den?«, wollte Josh wissen.

Speedy grinste. »Immer wenn ich durch die Heide fahre, muss ich an ihn denken. Er hat mir mal einen Geburtstag versaut.«

Caro verzog das Gesicht. »Den Geburtstag hast du dir selbst versaut. Aber, echt jetzt … das sind mindestens noch sechs Kilometer. Warum willst du dahin? Denkst du, er hat sich inzwischen zu Tode gemüllt?«

Sie kannten Matthis seit ihrer Kindheit. Er war ein mittlerweile etwa siebzigjähriger, verwahrloster Messie, der in einem alten Haus am Rande der Dörsamer Heide ein unvorstellbares Sammelsurium von Dingen um sich herum aufgetürmt hatte. In der Grundschule hatten sie ihn gefürchtet, waren Hals über Kopf abgehauen, wenn er hinter ihnen herfluchte. Später spionierten sie ihn aus und beobachteten ihn stundenlang. Es faszinierte sie zu sehen, wie er immer sonderbarer wurde und sich von aller menschlichen Gesellschaft zurückzog. Und dabei dauernd irgendwelche Sachen anschleppte. An seinem zwölften Geburtstag hatte Speedy Matthis’ Haus mit seinem neuen Luftgewehr beschossen, worauf der Alte wutentbrannt herausgestürzt kam und ihn um ein Haar erwischt hatte. Danach war das Interesse an Ole Matthis erloschen.

Josh überlegte, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vor zwei oder eher drei Jahren? Egal, er war damals schon völlig verrückt gewesen. Josh erinnerte sich an eine Bemerkung seines Vaters, der behauptet hatte, der alte Matthis sei nur deshalb noch nicht in der Klapsmühle gelandet, weil er da draußen in der Einöde niemandem in die Quere kam. Solange das so bliebe, könne er weiter vor sich hin spinnen.

Die Leute erzählten sich komische Geschichten über Ole Matthis und gingen ihm aus dem Weg, aber im Grunde galt er als harmlos. Trotzdem hatte Caro erkennbar keine Lust, zu dem Haus zu fahren. Sie schüttelte den Kopf und blickte missmutig zu Josh hinüber, doch der überlegte noch einen Augenblick und nickte dann energisch.

»Okay«, sagte er, »schauen wir nach, ob der Alte noch lebt.«

Er trat kräftig in die Pedale und Caro folgte ihm widerwillig. Speedy schien die Verstimmung zwischen den beiden zu spüren und ließ sich zurückfallen. Sie durchquerten ein kleines Wäldchen und fuhren dann über eine Reihe von Anhöhen, die wie Dünenkämme aussahen. Die Sonne stand schon tief und tauchte die blühende Heide in ein warmes Licht.

»Nach dem nächsten Hügel kommt das Haus«, sagte Josh und sah sich nach Caro um, die dicht hinter ihm fuhr. Auf ihrer Stirn hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet und sie schien jetzt stocksauer zu sein. Wieso hatte er das gemacht? Warum hatte er darauf bestanden, gegen ihren Willen hierher zu fahren, obwohl ihm im Grunde gar nicht viel daran lag? Josh versuchte vergeblich, sich diese Frage zu beantworten. Er wusste nur, dass er es einen Augenblick lang sattgehabt hatte, sich nach Caro zu richten.

Von der Anhöhe aus sahen sie es. Das alte Haus schmiegte sich unauffällig in die vor ihnen liegende Bodensenke und schien irgendwie mit der Umgebung zu verschmelzen. Die Wände und das Dach waren schwarz und teilweise von Efeu und anderen Pflanzen überwuchert, die staubigen Fenster schimmerten matt wie erblindete Augen. Das ganze Anwesen machte einen verwahrlosten und verlassenen Eindruck.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Caro spitz. »Da runtergehen und anklopfen? He, Matthis, alles klar bei Ihnen? Da unten ist kein Mensch, das sieht man doch!«

»Ja-ha, ist ja gut«, sagte Josh. »Lass uns durch die Scheiben sehen, und wenn niemand da ist, hauen wir wieder ab.«

Speedy nickte. Caro starrte ihn genervt an, widersprach aber nicht. Sie ließen die Fahrräder hinter den Büschen auf der Anhöhe zurück, kletterten hinunter und näherten sich in einem Halbkreis der linken Seite des Hauses. Josh hatte den Eindruck, dass es um sie herum stiller geworden war. War das möglich? Die Sonne war noch nicht vollständig untergegangen und dennoch schienen alle Singvögel verstummt zu sein. Auch der Wind hatte sich gelegt. Als sie an die linke Hausseite huschten, sah er Caros Gesicht von der Seite. Es wirkte angespannt und beunruhigt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch eines der Fenster zu sehen. Josh trat hinter sie, hob ihre Haarmähne an und küsste sie in den Nacken. Caro fuhr blitzschnell herum und hätte ihm beinahe ihren Ellenbogen in den Magen gerammt.

»Bist du völlig verblödet?!«, zischte sie.

Josh grinste.

»Jetzt kühl dich mal runter. Das hier ist nicht Scary Movie Teil 18, okay? – das ist das Haus vom alten Matthis!«

»Oh, verdammt, da drinnen brennt’s«, sagte Speedy.

Caro drehte sich wieder zum Fenster und Josh war mit einem Sprung neben ihr. Beide pressten ihre Nasen an die Scheiben. Einen Augenblick lang konnten sie gar nichts erkennen, dann wurden die Konturen schärfer.

»Ach, du Scheiße«, flüsterte Caro.

Das Innere des einstöckigen Hauses bestand im Grunde nur aus einem einzigen großen Raum, von dem die Küchenzeile durch etwas, das einmal eine spanische Wand gewesen sein mochte, abgetrennt war. Inmitten eines unfassbaren Durcheinanders von Gerümpel, Möbelresten, Autoreifen, Gartengeräten und Lebensmitteln erhob sich eine dichte gelbgraue Qualmwolke in die Luft und begann, den Raum zu füllen. Ausgangspunkt der Wolke war ein Mann, der im Schneidersitz auf dem Boden saß. Er war alt und unbekleidet und Josh hatte keinen Zweifel, um wen es sich handelte.

»Nein«, sagte er, »es brennt nicht. Der Hausherr raucht.«

Der Alte hatte eine große Tabakspfeife in seinen rechten Mundwinkel geklemmt, aus der im Fünf-Sekunden-Takt gelbgraue Schwaden aufstiegen. In beiden Händen hielt er einen runden Gegenstand von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser, den er offensichtlich unruhig und erwartungsvoll anstarrte. Dann wieder glitt sein Blick zur gegenüberliegenden Wand, verharrte kurz dort und wechselte wieder zu dem Ding in seinen Händen.

»Was hat er da?«, flüsterte Caro.

»Sieht aus wie eine große Uhr.« Speedys Stimme war nur ein heiseres Krächzen.

»Könnt ihr erkennen, was da an der …?«

In diesem Moment sprang der Alte auf und gleichzeitig hörten sie das unverwechselbare Geräusch einer … Kuckucksuhr? Es kam von der Wand. Matthis warf noch einen kontrollierenden Blick auf die Uhr in seiner Hand und lief dann zu einem alten Plattenspieler, der auf einem Stuhl stand. Er legte den Tonarm auf eine staubige Langspielplatte, raste zurück in die Mitte des Raumes und stellte sich in Positur.

»Showtime«, sagte Caro, »voll krass!«

Exakt mit dem siebten Ruf des Kuckucks setzte die Musik ein. Fidel, Akkordeon, Banjo, eine ebenso ungewöhnliche wie eingängige Melodie und ein mitreißender Rhythmus.

»Was ist das für Musik?«, flüsterte Josh.

»Irish Folk«, erwiderte Speedy völlig perplex, »das ist ein irischer Volkstanz.«

Matthis hatte jetzt begonnen, sich im Takt der Musik zu wiegen, und wurde langsam schneller. Das glaubt uns kein Mensch, dachte Josh und tastete vergeblich nach seinem Handy. Sie sahen tatsächlich einen schmutzstarrenden, abgemagerten, nackten alten Mann, der einen irischen Tanz aufführte. Und dabei rauchte wie verrückt. Sein faltiges braunes Gesicht mit dem langen grauen Bart verschwand immer wieder hinter der dicken Qualmwolke, während Intensität und Tempo der Musik sich steigerten und die Bewegungen des Alten heftiger wurden. Josh blickte zu Caro hinüber. Sie hatte ihre Stirn an die schmutzige Scheibe gepresst und den Mund vor Staunen geöffnet. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Josh noch nie bei ihr gesehen hatte. Es war eine merkwürdige Mischung aus Abscheu und Faszination. Wie bei einem grauenvollen Verkehrsunfall, dachte er, man will nicht hinschauen und gleichzeitig kann man nicht wegsehen. Er beugte sich zu ihr und brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr: »Dein Handy, schnell, ich kann meines nicht finden. Mach Fotos! Los, beeil dich, verdammt!«

Caro fingerte ihr Handy aus der Hosentasche, aber sie war nervös, hätte es um ein Haar fallen lassen, und bis sie das Handy auf den Mann im Haus richten konnte, vergingen wertvolle Sekunden. Dann schoss sie in rascher Folge sieben oder acht Fotos. Der Tanz näherte sich jetzt offenbar seinem Höhepunkt. Die Musik war noch einmal schneller geworden und eigentlich konnte bei den Bewegungen, die der Alte vollführte, von Tanzen nicht mehr die Rede sein. Er zuckte wie rasend mit Armen, Beinen und Kopf, verdrehte die Augen und erinnerte Josh an einen orientalischen Derwisch, den er einmal in einer Dokumentation über den Jemen gesehen hatte. Er fragte sich, wie lange der alte Mann das noch durchhalten würde, und einen kurzen schauderhaften Moment lang schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, der Alte könnte einen Herzinfarkt erleiden und sie müssten Erste Hilfe leisten. In diesem Augenblick brach die Musik mit einem fulminanten Schlussakkord ab.

Matthis sank auf die Knie und hockte sich dann mühsam wieder im Schneidersitz auf den Boden. Sein faltiges Gesicht war gerötet und schweißüberströmt. Er zitterte und schien schwer Luft zu bekommen, rauchte aber unverdrossen weiter. Der Tabakqualm hatte die Sicht in dem Raum mittlerweile erheblich beeinträchtigt.

»Okay, das war’s«, raunte Josh. »Hauen wir ab!«

Caro löste ihre Stirn von der Fensterscheibe, warf Speedy einen fragenden Blick zu, und als der nickte, schlichen sie aus dem Schatten der Hauswand und rannten geduckt die Anhöhe hinauf. Bei ihren Fahrrädern warfen sie sich ins Heidekraut und versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich richtete sich Caro auf, ihre Mundwinkel zuckten, dann begann sie, hysterisch zu kichern.

»Heilige Scheiße, das war das Verrückteste, was ich jemals gesehen habe!«

»Und du hättest es glatt verpasst, wenn ich nicht so stur gewesen wäre«, lachte Josh. Caro stimmte großzügig zu und küsste ihn. Speedy hielt sich jetzt ebenfalls den Bauch vor Lachen und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten.

»Warum hat er nackt getanzt?«, fragte Caro. »Was meint ihr, warum das für ihn wichtig war?«

»Was weiß ich?«, grinste Josh. »Er ist vollkommen gaga. Denkst du, der hätte irgendwelche Gründe für das, was er tut?«

»Zeig mal die Aufnahmen«, sagte Speedy, der nur mühsam wieder Luft bekam. Caro holte ihr Handy heraus und stieß einen Fluch aus. Der Anblick der Bilder war enttäuschend. Sie waren allesamt misslungen. Überbelichtet, unscharf, verwackelt. Die Fotos vermittelten keinerlei Eindruck von der bizarren Szene, deren Zeugen sie vor wenigen Minuten gewesen waren. Man sah einfach nur einen alten Mann, der seine Glieder verrenkte.

»Scheiße«, sagte Speedy und warf das Telefon frustriert ins Gras »ich hab gedacht, wir könnten die Bilder ins Netz stellen.«

»Was?«

Caro und Josh hatten beinahe gleichzeitig gesprochen und sahen ihn verblüfft an. Speedy grinste säuerlich.

»Jetzt guckt nicht so angefressen! Ihr habt doch selbst gesagt, das sei die abgedrehteste Show gewesen, die ihr jemals gesehen hättet.«

»Aber man kann doch nicht einfach private Bilder von einem Menschen, der sich völlig verrückt aufführt, veröffentlichen«, wandte Caro ein.

»Na ja, mit deinen geht’s jedenfalls nicht«, erwiderte Speedy kurz angebunden. »Aber …« Er hielt inne und schien nachzudenken. »Vielleicht bekommen wir eine zweite Chance.«

Caro schüttelte entgeistert den Kopf.

»Du bist nicht ganz dicht!«

»Doch, ihr habt nur nicht richtig aufgepasst.«

Caro und Josh schwiegen abwartend. Speedy sah sie herausfordernd an und sprach dann weiter: »Er hatte zwei Uhren, oder? Die in seiner Hand und die Kuckucksuhr. Und er hat dauernd von einer zur anderen geblickt, bevor es losging. Richtig?«

»Jepp!«, sagte Josh.

»Es war also für ihn von ganz besonderer Wichtigkeit, die Show zu einem bestimmten Zeitpunkt zu starten.«

»Ja«, sagte Caro, die begriff, worauf Speedy hinauswollte, »sie sollte exakt um 19 Uhr beginnen, du meinst …?«

»Genau«, unterbrach Speedy sie triumphierend, »beim ersten Schlag der Kuckucksuhr ist er zum Plattenspieler gerannt, hat sich aufgestellt und dann … 6-5-4-3-2-1 – der Countdown. Sah es für euch so aus, als ob er das zum ersten Mal gemacht hat?«

»Nein, du hast recht«, sagte Caro nachdenklich, »vielleicht ist es so etwas wie ein Ritual.«

»Seht ihr«, strahlte Speedy, »und deshalb glaube ich, dass er die Nummer morgen noch mal abzieht. 19 Uhr. Prime-time. Auf diesem Sender!«

»Und wir sind noch mal dabei?«, fragte Josh.

Speedy nickte.

»Mit der digitalen Videokamera meines Vaters. Mit Teleobjektiv und allem Drum und Dran. Und dann stellen wir ein megascharfes Video bei YouTube rein. 50.000 Klicks in vier Wochen. Minimum! Wollen wir wetten?«

Auch Caro lächelte jetzt und schien von Speedys Begeisterung angesteckt zu sein.

»Der alte Matthis wird es niemals erfahren, oder?«

»Wie sollte er? Internet hat er nicht und die Leute sprechen nicht mit ihm. Was aber noch wichtiger ist: Ich glaube, es würde ihn einen Dreck interessieren!«

»Speedy hat recht«, sagte Josh.

Caro nickte.

»Ich bin dabei!«

Das gab den Ausschlag. Wenn Josh später über diesen Abend in der Heide nachgrübelte, den letzten Abend ihres alten Lebens, bevor der Albtraum begann, dachte er, dass Caro es hätte verhindern können. Wenn sie Nein gesagt hätte, wären sie niemals ein zweites Mal auf diese Anhöhe gefahren. Er hätte es nicht fertiggebracht, Caro zweimal an einem Tag zu widersprechen, und alles wäre völlig anders gekommen. Möglicherweise.

4

Als Josh gegen 21 Uhr nach Hause kam, hatten seine Eltern schon gegessen. Er roch Knoblauch, Oregano, Weißwein und gebratenes Kalbfleisch und hoffte inständig, dass vom Abendessen noch etwas übrig war. Seine Mutter war zwar in Norddeutschland geboren, doch Antonia Lenz hatte lange genug mit ihrer neapolitanischen Mutter zusammengelebt, um tief in die Geheimnisse der italienischen Kochkunst einzudringen. Als sie Jonathan Lenz heiratete, waren einige Spezialitäten aus dessen Heimat dazugekommen und so hatte sie im Laufe der Jahre eine norddeutsch-mediterrane Küche kreiert, die Josh über alles liebte.

Er fand seine Mutter im Wohnzimmer, ging zu ihr und küsste sie auf die Wange. Antonia Lenz war eine fünfundvierzigjährige, gut aussehende Frau mit kurzen dunklen Locken, die in einer Buchhandlung arbeitete und nicht im Geringsten dem Klischee einer italienischen Mamma entsprach. Sie war schlank, trug Jeans und Polohemd und hatte keinerlei Sinn für Theatralik.

»Hier auch«, sagte sie und hielt Josh ihre andere Wange hin. Er tat ihr den Gefallen.

»Wofür war das?«, fragte sie heiter.

»Du hast mit Jonathan gesprochen. Vielen Dank!«

Seine Mutter nickte.

»Was hat er gemeint mit Nothing else matters? Er sagte, du hättest ihm das Lied vorgespielt.«

»Es ist nicht irgendein Lied. Das ist unser Lied. Jonathans und meines. Es kam heraus, als wir uns ineinander verliebten, und der Titel war Programm. Nichts anderes zählte. Dein Vater war damals im vierten Semester. Er hat seine Zwischenprüfung vergeigt, weil er … ach, verdammt, du bist alt genug … weil er lieber mit mir im Bett war, statt zu lernen. Okay? Nothing else matters lief, als Zoe gezeugt wurde.«

»Und das hatte er vergessen?«, fragte Josh ungläubig.

»Nein, nicht vergessen. Es war ihm … nun, sagen wir mal, ein wenig nach hinten gerutscht. Also habe ich eine Kerze angezündet, die CD eingelegt und dafür gesorgt, dass er sich erinnert.«

»Mille grazie!«

»Keine Ursache. Hast du Hunger?«

Josh lächelte verträumt.

»Si, signora!«

5

Denver, Colorado, USA

Als Gary Warshinski die Sekretärin sah, hätte ihn beinahe der Mut verlassen. Die Security-Leute in der Eingangshalle des Wells Fargo Centers waren kein Problem gewesen. Sie hatten ihn kurz gemustert und als harmlos und uninteressant eingestuft. Ein etwa siebzehnjähriger Weißer, in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, der den Schirm seines Basecaps mit dem Emblem der Colorado Rockies nach hinten gedreht trug. Ein typischer Farmerjunge, der wahrscheinlich irgendwelchen Papierkram erledigen wollte. Von seiner Umhängetasche hatte niemand Notiz genommen.

Die Frau hinter dem Schreibtisch, die ihn jetzt misstrauisch und unfreundlich anstarrte, war von anderem Kaliber. Am Revers ihres Sakkos trug sie ein Schild mit dem Namen Meredith Hudson. Sie mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, war sehr elegant gekleidet und aufwendig geschminkt. Ihr sorgfältig gelocktes Haar schimmerte bläulich und die unbarmherzigen Augen hinter den Gläsern ihrer Designerbrille betrachteten ihn wie ein lästiges Insekt. Sie war die entscheidende Hürde, die ihn von seinem Ziel trennte, und Gary Warshinski hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er an ihr vorbeikommen sollte. Sein Herzschlag beschleunigte und er spürte, wie er rot wurde.

»Du hast dich verlaufen, nicht wahr?«

»Nein, Ma’am«, sagte Gary und überlegte fieberhaft, ob sich wohl irgendwo an ihrem Schreibtisch ein Alarmknopf befand und was passieren musste, damit sie ihn betätigte. Wie lange brauchte die Security, um in den achten Stock zu gelangen? Sie konnten nach Belieben die Fahrstühle dirigieren. Eine Minute, dachte er, mehr nicht. Sein Blick wanderte durch den Raum zur gepolsterten, schallgedämpften Bürotür hinter der Sekretärin und blieb an dem großen Namensschild hängen, auf dem stand, dass Mrs Hudsons Vorgesetzter Jerome Carter hieß. Dann hatte er eine Idee.

»Was ist jetzt?«, fragte Meredith Hudson und ihre kultivierte Altstimme gewann deutlich an Schärfe.

»Ich habe etwas gefunden, draußen auf dem Parkplatz. Eine Brieftasche. Mit Bargeld, Kreditkarten, Führerschein und allen möglichen Sachen. Sie gehört Mr Carter. Die Wachleute in der Halle haben gesagt, ich soll sie bei Ihnen abgeben.«

»Oh«, lächelte Mrs Hudson, »das ist natürlich etwas anderes.«

Sie stand auf und streckte ihm erwartungsvoll die Hand entgegen. Das war perfekt. Gary öffnete den Reißverschluss seiner Umhängetasche, holte den Revolver heraus und richtete ihn auf ihr Gesicht.

»Bleiben Sie stehen und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

Die Sekretärin war sehr blass geworden und biss auf ihre Unterlippe. Überdeutlich nahm Gary das Pulsieren ihrer Halsschlagader und die Angst in ihren Augen wahr.

»Das ist nicht dein Ernst«, flüsterte sie.

»Liebe Mrs Hudson«, sagte Gary und senkte ebenfalls die Stimme, »wissen Sie, woran man eine ernste Situation erkennt? An der Kanone! Drehen Sie sich um und gehen Sie zur Tür hinter Ihnen.«

Die Sekretärin gehorchte und Gary war mit drei Schritten bei ihr. Er drückte ihr den Revolverlauf in den Rücken und schob sie nahe an die Tür heran.

»Mr Carter möchte nicht gestört werden!«, schluchzte Mrs Hudson. »Er ist in einer Konferenz.«

Sie hatte angefangen zu weinen, Gary sah ihre Schultern zucken und hätte gern etwas Tröstendes gesagt, aber in seinem Hals saß ein dicker Kloß, den er nicht hinunterbekam. Vor ein paar Sekunden hätte er noch umkehren können, jetzt war die Entscheidung gefallen. Er hatte angefangen zu schwitzen und die Angst drehte ihm den Magen um. Schließlich räusperte er sich lautstark.

»Klopfen Sie!«, sagte er heiser.