Winter's Game - Lukas Erler - E-Book

Winter's Game E-Book

Lukas Erler

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Beschreibung

»Lukas Erler verbindet klassischen Krimi und Politthriller. So atemberaubend wie hochbrisant.« Nele Neuhaus Jemand will die Frankfurter Rechtsanwältin Carla Winter tot sehen. In der Tiefgarage ihrer Kanzlei lauert ihr ein Auftragskiller auf. In letzter Sekunde kann sie entkommen. Doch schon kurz darauf wird sie Opfer eines weiteren Anschlags: Auf offener Straße wird ihr Auto gerammt und sie selbst schwer verletzt. Im Krankenhaus erreicht sie eine neue Todesbotschaft: ein Strauß schwarzer Dahlien. Die Todesblume. Gemeinsam mit ihrem jungen Mitarbeiter Ritchie, der mit seinem Schulsprecherlächeln jeden zum Reden bringt, setzt sich Carla Winter auf die Spur des Täters – und stößt dabei auf ein grausames Verbrechen. DER NEUE THRILLER VON LUKAS ERLER FÄHRT IN DIE GLIEDER WIE EIN EISIGER WINDSTOSS. Eigentlich ist die Frankfurter Rechtsanwältin Carla Winter nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Doch nachdem sie zweimal nur knapp einem Mordanschlag entkommen ist, liegen ihre Nerven blank. Als sie dann auch noch einen Strauß schwarzer Dahlien ins Krankenhaus geliefert bekommt, weiß sie: Jemand will sie um jeden Preis zum Schweigen bringen. Nur wer? Und warum? Carla Winter bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken: Auf dem Krankenhausflur begegnet ihr eine Frau, die nach einem Schlag auf den Kopf unter einer seltenen Sprachstörung leidet. Sämtliche Gedanken und Wörter sind verdreht, doch scheint sie etwas über den Täter zu wissen. Nur was? Von einem Polizisten erfährt Winter, dass es sich wohl um den Drahtzieher eines international agierenden Menschenhändlerrings handelt. Er bittet sie bei den Ermittlungen um Hilfe. Ein Wunsch, den Carla Winter nicht abschlagen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Winter's Game« von Lukas Erler

Lukas Erler

Winter’s Game

Kriminalroman

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Tropen

www.tropen.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Rotebühlstr. 77, 70 178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: produktsicherheit@klett-cotta.de

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte inklusive der Nutzung des Werkes für Text und

Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © Mark Owen/Trevillion Images

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

Lektorat: Johanna Schwering

ISBN 978-3-608-50243-5

E-Book ISBN 978-3-608-12420-0

SOFIA — THESSALONIKI, MAI 2020

Sie bringt die Rückenlehne in eine bequeme Position, wirft einen Blick zur Seite und sieht, dass ihre Mutter eingeschlafen ist, kaum dass der Bus Sofia verlassen hat. Ihr Mund hat sich geöffnet und der Kopf ist auf die Brust gesunken, synchron mit den schnarchenden Atemzügen vibriert ihr Doppelkinn.

Ceija schließt ebenfalls die Augen und lässt ihre Gedanken herumwandern. Erst jetzt merkt sie, wie müde sie ist. Es ist alles so gekommen, wie der dicke Mann gesagt hat. Heute Morgen hat er sie in die Hauptstadt gebracht, ihrer Mutter ein Prepaid-Handy gegeben und ihr eingeschärft, dass sie anrufen muss, wenn sie Thessaloniki erreichen. Dann sind sie in den klimatisierten Bus gestiegen und waren fasziniert von der schicken Ausstattung und der guten Luft im Inneren. Ein grandioser Luxus. Obwohl fast alle Plätze besetzt sind und viele Fahrgäste bereits ihren Reiseproviant ausgepackt haben, riecht Ceija nichts. Keinen Käse, keinen Knoblauch, keinen Fisch, keine menschlichen Ausdünstungen. Der Kontrast zu ihrem gewohnten Alltag ist so überwältigend, dass ihr Puls beschleunigt.

Ceija Stojanov ist aufgewachsen mit meterhohen Abfallbergen an den Straßenrändern, deren Gestank im Sommer wie eine unsichtbare Kuppel über Stolipinowo hängt und im Winter mit der Kälte in jeden Teil des Körpers kriecht.

Das Ghetto, in dem sie lebt, ist ein Stadtteil von Plowdiw. Angeblich eine der schönsten Städte Bulgariens. Europäische Kulturhauptstadt, was immer das bedeuten mag. Sie ist nie da gewesen. Wieso auch. Leute aus Stolipinowo haben dort nichts zu suchen. Überall im Land hasst man die Roma, aber in Plowdiw ist es am schlimmsten. Die wollen nicht, dass wir dazugehören, hat ihr Großvater einmal gesagt. Für die ist unser Stadtteil wie ein Geschwür am Arsch der Venus von Milo. Keine Ahnung, wer diese Venus ist, aber Ceija weiß, was ein Geschwür ist. Egal … Großvater hat oft komische Sachen gesagt. Ihre Gedanken driften ins Abseits, und die Erinnerung an seine Stimme verblasst.

Dafür riecht sie auf einmal Blumen. Eine ganze Wiese. Das ist natürlich Unsinn. Wie soll man den Geruch einer Blumenwiese erkennen, wenn man noch nie auf einer gewesen ist. Doch die Wahrnehmung ist sehr real. Vielleicht sollte sie nachsehen, aber dafür ist sie zu müde. Gestern Nacht hat sie nicht viel geschlafen. Vorsichtig streicht sie mit den Händen über ihren kugelrunden Bauch. Ob das Baby von den Gerüchen etwas mitbekommt? Vergeblich versucht sie, darüber nachzudenken, die Frage irgendwie festzuhalten, doch sie verschwindet aus ihrem Kopf wie eine Traumsequenz nach dem Aufwachen. Ihre Gedanken kehren zurück zu dem dicken Mann und zu dem, was in den letzten sechs Wochen passiert ist.

Er versprach, sie hierherzubringen, und er hat Wort gehalten. Sie dagegen hat heute Morgen endgültig beschlossen, ihn zu betrügen, aber das weiß er noch nicht.

»Es ist die richtige Entscheidung«, hat er gesagt. »Du kommst in ein gutes Krankenhaus in Griechenland. Nur Privatpatienten. Mach dir keine Sorgen.«

Sie hat Fotos gesehen. Ein modernes Gebäude an einer belebten Straße mitten in Thessaloniki. Die Texte in dem Flyer waren auf Griechisch und Englisch, womit sie natürlich nichts anfangen konnte. Um genau zu sein, gibt es überhaupt keine Sprache, in der sie wirklich lesen kann. Der Dicke sprach mit ihr Türkisch, was sie am besten beherrscht. Wie die meisten Horahane-Roma in ihrem Viertel ist sie mit dieser Sprache aufgewachsen. Niemand, den sie kennt, spricht im Alltag Romanes oder Bulgarisch.

Die richtige Entscheidung. Alle haben das behauptet. Vor allem ihre Mutter. Immer in diesem giftigen Tonfall, den sie speziell für Ceija reserviert hat. Was willst du machen, he? Wer sich mit sechzehn anbumsen lässt, hat keine große Auswahl. Ernähren kannst du es nicht, gefahrlos wegmachen kannst du es nicht, und wenn du es aussetzt, wird man dich erwischen und einsperren, so blöd, wie du bist. Soll doch irgendein reicher Gadjo das Balg bekommen.

Ceija hat nur geweint und genickt.

Später trafen sie in der Garage ihres Onkels noch einmal den dicken Mann. Er wollte ihre Zähne sehen und war offenbar zufrieden. Mit einem anerkennenden Lächeln hat er ihren Bauch getätschelt und ihrer Mutter zehn Fünfzig-Euro-Scheine in die Hand gezählt. Einen der Scheine hat ihre Mutter an sie weitergegeben, vermutlich, um später sagen zu können, dass ihre Tochter mit allem einverstanden gewesen ist. Nach kaum drei Minuten war das Geschäft abgeschlossen. Niemand wollte wissen, was sie davon hielt, und sie hätte auch nicht gewusst, was sie sagen soll. Nach dem Treffen hat sie gar nicht mehr gesprochen. Bis gestern Abend … da hat sie es zumindest versucht. Hat versucht, ihrer Mutter zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hat. Dass sie das Kind behalten will. Dass sie das schon irgendwie hinbekommt, dass … dreimal hat sie angesetzt und jedes Mal einen so bösen und vernichtenden Blick geerntet, dass ihr Magen krampfte und das Baby in ihrem Bauch zu treten begann.

In diesem Moment hat sie zum ersten Mal daran gedacht, abzuhauen. So wie Rana aus dem Nachbarhaus im letzten Jahr. Die ist per Anhalter nach Sofia gefahren und da in einen Bus nach Thessaloniki gestiegen. Dort ist sie blöderweise von der griechischen Polizei aufgegriffen worden, weil sie mit dem irrsinnigen Durcheinander am KTEL-Busbahnhof nicht klarkam. Die berühmte Macedonia Intercity Bus Station. Ceija hat davon gehört. Ein riesiges Gelände mit einer Halle darauf, alles voller Leute und Busse. Geschäfte, Restaurants und überall Bullen. Ich habe mich verlaufen … Rana hat ununterbrochen geheult, als sie erzählte, wie sie geschnappt wurde.

Gestern Nacht hat Ceija sich an das Gespräch erinnert und ein winziges bisschen Hoffnung geschöpft. Sie ist schlauer als Rana. Schlau genug, um sich das Chaos am Busbahnhof zunutze zu machen. Nach der Ankunft in Thessaloniki muss ihre Mutter den dicken Mann anrufen und wird einen Augenblick abgelenkt sein. Wenn Ceija diesen Moment nutzt und in der Menge untertaucht … Sie kann nicht gut rennen in ihrem Zustand, aber schneller als ihre Mutter ist sie allemal. Auch die Bullen werden sie nicht erwischen, und wenn sie es bis nach Athen schafft, kann sie bei der Schwester ihres Großvaters unterkommen. Die schickt sie bestimmt nicht zurück. Der Gedanke an die resolute Frau beruhigt sie und hilft ihr einzuschlafen. Die Busfahrt nach Thessaloniki dauert fünf Stunden. Mindestens vier davon hat sie noch …

Sie wird wach von dem lauten Gerede und Geschnatter der anderen Fahrgäste, die aufgestanden sind und sich zum Aussteigen bereitmachen. Der Bus hat an einer der zahlreichen Plattformen außerhalb der großen Halle gehalten, und die Türen öffnen sich mit lautem Zischen. Ihre Mutter schaut mürrisch auf sie herab. »Steh auf und nimm das Gepäck!«

Ceija greift nach der billigen Tasche und drängelt sich mit den anderen Reisenden durch den Mittelgang. Das Aussteigen fällt ihr schwer. Sie geht ein paar Schritte weg vom Bus und dreht sich um. Ihre Mutter ist hinter ihr, macht aber keinerlei Anstalten, zum Telefon zu greifen, sondern starrt sie wutentbrannt an. Sie weiß es … Ceijas Kopf ruckt wieder herum und in der wogenden Menschenmenge entdeckt sie einen Mann, der ein großes Pappschild mit ihrem Namen darauf in die Höhe hält. Jetzt hat er sie offenbar entdeckt und kommt zügig auf sie zu. Auch von links und rechts nähern sich jeweils zwei Männer, die winken und ihren Namen rufen. Alles wirkt wie eine fröhliche Willkommensszene. Ceija Stojanow dreht sich noch ein letztes Mal um.

»Denk nicht mal dran«, sagt ihre Mutter.

»Life is infinitely stranger than anything which the mind of man could invent.«

Sir Arthur Conan Doyle

FRANKFURT AM MAIN, DEZEMBER 2020

Eins

Der Schock klingt langsam ab, aber noch immer schwitzt sie und das Adrenalin pulsiert durch ihren Kreislauf.

Carla Winter wirft dem Mann auf dem Beifahrersitz einen unauffälligen Blick aus den Augenwinkeln zu. Er ist groß und athletisch gebaut, was ihr schon bei der ersten Begegnung in der Villa des alten Ekincis aufgefallen ist, macht aber ansonsten einen harmlosen Eindruck. Der schwarze kurzgeschnittene Bart, die Nerdbrille und das lange Haar, das er im Nacken zu einem straffen Zopf zusammengebunden hat, lassen ihn wie einen Kunststudenten oder Musiker aussehen. Irgendetwas Spezielles, intellektuell Angehauchtes, Zwölftonmusik vielleicht oder Free Jazz. Aber das ist Unsinn. Carla weiß, dass Brille und Frisur nur dazu dienen, ein Raubtier zu tarnen. Asan Ekincis hätte diesen Mann nicht eingestellt, wenn er nicht verdammt gefährlich wäre. So einfach ist das.

Diese Gefährlichkeit muss auch der Typ gespürt haben, der Carla vor zwanzig Minuten in der Tiefgarage aufgelauert hat, um sie zu verschleppen, weiß der Himmel wohin. Noch einmal sieht Carla die Heckklappe seines Autos wie einen Sargdeckel aufschwingen und hört seine ausdruckslose Stimme.

»Entweder Sie klettern jetzt freiwillig in den Kofferraum oder ich schieße Ihnen ins Knie und hebe Sie hinein.«

In diesem Augenblick ist wie aus dem Nichts der Mann aufgetaucht, der jetzt neben ihr sitzt, und ihr Angreifer hat seine Pistole in der Jackentasche verschwinden und Carla kommentarlos ziehen lassen. Ihr Beifahrer hat sie gerettet, daran besteht nicht der geringste Zweifel, und Carla weiß auch, in wessen Auftrag das geschehen ist.

Sie richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, sieht die Ampel an der großen Kreuzung vor ihr von Gelb auf Rot springen, bremst sanft und kommt an der Haltelinie zum Stehen. Die Start-Stopp-Automatik schaltet den Motor aus, Carla lässt ihren Fuß auf dem Bremspedal und bemerkt wieder ihren Schweißgeruch.

Das Schneetreiben, das sie vorhin schon von ihrem Bürofenster aus beobachtet hat, ist intensiver geworden und die dicken Flocken bleiben jetzt auf dem Asphalt liegen. Nicht lange, denkt Carla. Eine geschlossene Schneedecke in der Frankfurter Innenstadt ist ein seltener Anblick geworden. Genauso wie eine leer gefegte Straßenkreuzung. Tatsächlich ist ihr Auto in diesem Augenblick das einzige an der Ampel. Wo sind die alle? Es ist noch nicht mal halb neun. Ihre Gedanken wirbeln durcheinander wie die Flocken da draußen.

Schade, dass sie von dem alten Clan-Chef vor seinem Tod nicht mehr Abschied nehmen konnte. Nachdem sie ihn vor Jahren in einem aufsehenerregenden Prozess vertreten hatte, waren sie so etwas wie Verbündete geworden. Mit seiner Tochter Aleyna hat Carla sich sogar angefreundet. Und offenbar hat der alte Ekincis seiner Tochter vor seinem Tod etwas aufgetragen. Die Anwältin in Frankfurt, hat er gesagt. Pass auf sie auf! Das ist heute Abend wohl passiert.

Noch einmal wendet Carla den Kopf ein wenig nach rechts und betrachtet das Profil ihres Beifahrers. Ruhig und aufrecht sitzt er neben ihr, seine Hände ruhen auf den Knien. Ob er eine Waffe hat? Mit Sicherheit.

Aleyna lässt Sie grüßen. Bitte rufen Sie sie an. Wir müssen über die Zukunft reden. Ihre und unsere. Das waren seine Worte, nachdem er zu ihr in den Audi gestiegen ist. Ich begleite Sie nach Hause und nehme dann ein Taxi zurück in die Stadt. Danach hat er nicht mehr gesprochen.

Im Inneren des Wagens ist es plötzlich heller geworden. Carla schaut in den Rückspiegel und registriert zwei riesige aufgeblendete Scheinwerfer, die rasch näher kommen. Ein großes Fahrzeug, dunkel und schnell. Kein LKW, vielleicht ein Pick-up, der jetzt zu hupen beginnt. Die Hupe klingt wie eine Schiffssirene, ein langgezogenes, dröhnendes Geräusch. Der Mann neben ihr blickt in den rechten Außenspiegel und wirkt unmittelbar alarmiert.

»Fahren Sie los!«

»Es ist rot«, sagt Carla.

»Scheißegal!«

Carla zögert noch einen Augenblick, dann nimmt sie den Fuß von der Bremse und tritt das Gaspedal durch. Der kleine Audi macht einen Satz nach vorn, beschleunigt tapfer, aber der Wagen hinter ihnen ist viel zu schnell. Die irrsinnig hellen Scheinwerfer im Rückspiegel leuchten wie die Augen eines Ungeheuers, das sie jetzt mit mörderischer Wucht attackiert und über die Kreuzung drückt. Carla stemmt sich gegen das Lenkrad, versucht, den Wagen auf der Straße zu halten. »Gas geben, nicht bremsen!«, schreit der Mann neben ihr, und die Angst in seiner Stimme dreht ihr den Magen um. Voller Panik gehorcht sie, tritt noch einmal auf das Gaspedal, kann sich ein paar Sekunden von der Stoßstange ihres Verfolgers lösen und den Audi stabilisieren. Dann beschleunigt der große Wagen hinter ihr erneut und trifft sie so hart, dass sie auf die Gegenfahrbahn gerät. Ein ihr entgegenkommendes Fahrzeug blendet warnend auf, scheint langsamer zu werden und ist doch immer noch viel zu schnell. Noch einmal versucht Carla, den Audi zurück auf ihre Fahrspur zu zwingen, dann rammt das Monster sie ein letztes Mal und schiebt sie endgültig in den Gegenverkehr. Gleißend helle Scheinwerfer rasen auf sie zu, ein Dampfhammer trifft ihre Brust, und die Welt versinkt in Finsternis.

Zwei

Die Schreie sind noch weit weg, aber sie kommen näher. Zumindest werden sie lauter. Als wenn man einen stufenlosen Regler immer ein wenig weiter aufdreht. »Gehen Sie weg! Weg von mir! Nicht anfassen! Fassen Sie mich nicht an!«

Die Stimme eines alten Mannes, wütend und panisch zugleich. Carla hört die Worte, aber es ist unmöglich zu sagen, woher sie kommen. Vielleicht sind sie auch nur in ihrem Kopf.

Wo auch immer sie sich befindet, es ist sehr heiß um sie herum, und ihre Zunge scheint am Gaumen festzukleben. Es gelingt Carla, die Augen ein wenig zu öffnen. Hoch über ihr, an einer weißen Zimmerdecke, verbreitet eine Neonröhre ein trübes Licht, das ihren Augen dennoch wehtut. Sie lässt die Lider wieder sinken, aber das ist vielleicht keine gute Idee. Halt die Augen offen. Nicht wieder einschlafen.

»Bitte, Herr Mertens. Haben Sie keine Angst. Wir wollen Ihnen helfen. Sie müssen etwas trinken.« Eine mütterlich klingende Frauenstimme. Warm und fürsorglich.

»Gehen Sie weg! Ich will nichts von Ihnen! Holen Sie meine Frau, sie soll mir Wasser bringen!« Der Mann ist mit jedem Satz lauter geworden und völlig übergangslos wird das ängstliche Greinen von einem boshaften, herrischen Tonfall abgelöst. »Hörst du nicht, was ich sage, blöde Kuh!? Hol meine Frau – und den Chefarzt. Ich will den Chefarzt sprechen!«

Wenn er nichts trinken will, gebt es mir. Ich verdurste. Carlas Gehirn versucht zu verarbeiten, was sie da hört. Sie muss sich bemerkbar machen, sprechen, schreien, irgendwas. Aber ist das klug? Sie weiß nicht, wo sie sich befindet. Was, wenn der Alte recht hat mit seiner Angst und es sicherer ist, sich weiterhin schlafend zu stellen?

»Ihre Frau ist nach Hause gefahren. Sie muss unbedingt ein paar Stunden ausruhen. Der Chefarzt wird gleich hier sein. Bitte beruhigen Sie sich.«

Chefarzt? Das Wort, dessen Bedeutung sie zunächst gar nicht erfasst hat, zündet jetzt wie eine Blendgranate in ihrem Kopf und befördert ihren Verstand ein gutes Stück an die Oberfläche. Chefärzte gibt es nur … Sie ist in einem Krankenhaus. Und die überaus geduldige Frauenstimme gehört einer … Ärztin oder Pflegekraft? Also ist es ungefährlich, um etwas zu trinken zu bitten. Kluges Äpfelchen. Irgendwer hat sie in ihrer Kindheit immer so genannt. Eine Frau, die zur Familie gehörte und damals schon ein altes Gesicht hatte. Eine Tante ihres Vaters, die oft zu Besuch kam und immer Kuchen … Was soll das jetzt?

Carla versucht, ihren Mund zu öffnen, was sich als sehr schwierig erweist, und als ihre Lippen endlich nicht mehr aneinanderkleben, bekommt sie dennoch keinen Ton heraus.

»Holen Sie meine Frau, holen Sie meine Frau, holen Sie …« Der alte Mann ist jetzt dazu übergegangen, diesen Satz in einer Endlosschleife herauszuschreien.

Carla möchte sich die Ohren zuhalten, aber sie kann ihre Arme nicht anheben. Einen kurzen Moment fürchtet sie, ans Bett fixiert zu sein, aber das ist nicht der Fall. Ihre Handgelenke liegen gut sichtbar vor ihr auf der Bettdecke. Keine Gurte, keine Stricke. Trotzdem hat sie das Gefühl, nicht ein einziges ihrer Glieder bewegen zu können.

»Holen Sie meine Frau, holen Sie meine Frau …!«

Der verrückte Schreihals hat definitiv mehr Energie als Carla und macht sie so wütend, dass sie unter Aufbietung aller Kräfte so tief wie möglich einatmet und einen einzigen geröchelten Satz herausbekommt. »Halten Sie endlich das Maul!«

Der Mann reagiert nicht, das Lamento geht unvermindert weiter, aber jemand anderes hat sie gehört. »Frau Winter ist wach. Ich schau mal nach ihr. Bleib du bei Herrn Mertens und gib Dr. Nikolai Bescheid.« Eine Frau in weißer Berufskleidung beugt sich zu Carla hinunter, wischt ihr den Schweiß von der Stirn und träufelt ihr kaltes Wasser auf die Lippen. »Schön, dass Sie wieder da sind. Zu trinken bekommen Sie etwas später. Ich will erst mit der Ärztin sprechen.«

Carla nickt erschöpft.

Ihr Zimmernachbar hat Atem geschöpft und legt jetzt wieder los. »Holen Sie meine Frau, holen Sie meine Frau …«

»Kommen Sie ein bisschen näher«, sagt Carla.

Die Pflegerin neigt ihren Kopf nach unten.

»Machen Sie, dass das aufhört. Holen Sie seine verdammte Frau oder drücken Sie ihm ein Kissen aufs Gesicht!«

Carlas Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen, aber die Pflegerin hat sie verstanden und lächelt schwach.

»Es geht ihm sehr schlecht. Er hat die Narkosemittel nicht vertragen und nach dem Aufwachen Angstzustände entwickelt. Dafür kann er nichts. Ich weiß, dass das schwer auszuhalten ist. Sobald die Ärztin grünes Licht gibt, bringen wir Sie hier raus.«

Carla berührt dankbar die Hand der Krankenschwester, schließt die Augen und dämmert ein bisschen weg.

»Gib Dr. Nikolai Bescheid«, hat die Frau an ihrem Bett eben gesagt, und Carla wird erst jetzt klar, was das bedeutet. Bedeuten könnte. Dass sie vielleicht in der Klinik gelandet ist, in der Moritz arbeitet. Ein wunderbarer Gedanke, der sie mit Wärme und Zuversicht erfüllt.

In einiger Entfernung hört sie eine sonore, halblaute Männerstimme, die versucht, den schreienden Patienten zu beruhigen. Das ist definitiv nicht Moritz. Vielleicht der vorhin angekündigte Chefarzt. Zumindest klingt er wie jemand, der von irgendetwas Chef ist. Ungeduldig und gereizt. Carla kann seine Worte nicht verstehen, aber besonders erfolgreich scheint er nicht zu sein. Der Patient hat seinen Wunsch, ihn zu sprechen, offenbar vergessen und konzentriert sich ganz auf das Schreien nach seiner Frau.

Carla spürt eine Berührung an der Schulter und öffnet die Augen. Offenbar die Ärztin, von der die Pflegerin gesprochen hat. Jung, kurze blonde Haare, weißer Kittel, Stethoskop. Sie misst Carlas Blutdruck, überfliegt das Krankenblatt und nickt zufrieden.

»Sie können jetzt runter auf die II. Dort ist es schön ruhig. Sie schlafen noch eine Runde und dann kommt Dr. Nikolai zu Ihnen. Sie sind befreundet, habe ich gehört?«

»Wenn er hier arbeitet, heißt das, ich bin in der Uniklinik, oder?«

Die Ärztin nickt.

»Aber warum?«

»Sie hatten einen schweren Autounfall.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Das ist normal. Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern?«

Carla denkt nach und hat große Mühe, die Frage zu beantworten. »Ich bin langsam an die Ampel herangefahren und habe über meinen Beifahrer nachgedacht …« Ein eisiger Schreck durchfährt sie und löst ein unkontrollierbares Zittern aus. »Wo ist er? Was ist mit ihm passiert? Ist er …?«

Die Ärztin ergreift Carlas Hand und hält sie fest. Dann schüttelt sie den Kopf. »Es tut mir leid. Er hat es nicht geschafft.«

Drei

Moritz sieht schrecklich aus. Er sitzt auf einem Stuhl neben Carlas Bett, und sie schämt sich, dass dies der erste Gedanke ist, der ihr bei seinem Anblick durch den Kopf schießt, zumal sie weiß, dass sie selbst der Grund dafür ist. Sein Gesicht ist schmaler geworden, Sorge und Erschöpfung haben ein paar neue Falten nachgezogen, und eine Rasur ist seit mindestens drei Tagen überfällig. Carla kann sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein, einen Menschen wiederzusehen.

Sie hat nach Verlassen des Aufwachraumes tatsächlich noch einmal schlafen können, danach hat man sie gewaschen, umgezogen und ihr einen Medikamentencocktail gegen die Schmerzen verabreicht, der sie ein wenig high gemacht hat, was sich gar nicht übel anfühlte. Dafür müssten Sie im Bahnhofsviertel achtzig Ocken hinlegen, hat der muntere Pfleger grinsend gesagt, als er ihr den Plastikbecher auf den Nachttisch stellte. Carla hat ihn angelächelt und sich artig bedankt. Die Droge hilft ein bisschen dabei, nicht an den Mann zu denken, der in ihrem Auto gestorben ist. Jetzt nimmt sie Moritz’ Hand und streichelt sie.

»Seit wann bin ich hier?«

»Seit fünf Tagen.«

»Was ist passiert?«

»Du bist frontal mit einem SUV zusammengestoßen, gegen den dein Audi keine Chance hatte. Der Airbag hat dir das Leben gerettet, aber du hast trotzdem ganz schön was abbekommen.«

Carla zerrt an seiner Hand. »Was genau abbekommen?«

Moritz nickt geduldig. »Ein HWS-Trauma, drei gebrochene Rippen und eine üble Prellung des Brustbeins. Lunge, Herz, Luft- und Speiseröhre sind zum Glück unverletzt geblieben. Die Kollegen haben dich nach der Diagnostik für fünf Tage aus dem Verkehr gezogen, um den traumatisierten Thorax zu stabilisieren und dir die Schmerzen zu ersparen. Aber das Atmen wird noch wochenlang wehtun, schlafen wird schwierig und lachen solltest du eine ganze Weile überhaupt nicht.«

»Gibt im Moment auch keinen besonderen Anlass dazu.«

»Dann hüte dich vor wohlmeinenden Leuten, die dich aufheitern wollen.«

»Die Ärztin im Aufwachraum hat gesagt, dass der Mann, der mit mir im Auto saß, tot ist.«

Moritz nickt erneut. »Leider ja. Ihm hat der Airbag nichts genützt. Wer war das überhaupt?«

»Ich kannte nicht einmal seinen Namen, aber er hat mir an dem Abend des Unfalls vielleicht das Leben gerettet.« Carla erzählt Moritz von dem Mann, der sie in der Tiefgarage entführen wollte, und wie das von ihrem Beifahrer im letzten Moment verhindert wurde. »Er hat mich im Auftrag von Aleyna Ekincis beschützt und eine halbe Stunde später sein eigenes Leben verloren.«

»Denkst du, dass er zu ihrer Familie gehört hat?« Moritz’ Gesichtsausdruck hat sich verdüstert. Carla weiß, dass er an die zahlreichen Warnungen denkt, die er hinsichtlich ihrer beruflichen Aktivitäten in den letzten Monaten geäußert hat.

»Ja.«

»An was kannst du dich erinnern?«

»Ich weiß noch, wie ich an die Ampel herangefahren bin. Als Nächstes habe ich einen Mann im Krankenhaus nach seiner Frau schreien hören.«

Moritz sieht immer wütender und besorgter aus. »In dem SUV, mit dem du kollidiert bist, waren zwei Männer. Beide haben nur Bagatellverletzungen erlitten und konnten schildern, wie der Unfall abgelaufen ist.«

»Erzähl’s mir.« Carlas Stimme klingt leise und heiser. Trotz der Medikamente tut das Atmen weh, und das Sprechen fällt ihr von Minute zu Minute schwerer. »Aber du musst schnell machen. Ich kann nicht mehr.«

»Die beiden Männer sagen übereinstimmend, ein Pick-up sei hinter dir aufgetaucht, habe dich mit hoher Geschwindigkeit von hinten gerammt und in den Gegenverkehr gedrückt.«

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, flüstert Carla. »Das bedeutet …«

Moritz nimmt die Wasserflasche von ihrem Nachttisch und lässt Carla vorsichtig ein paar Schlucke trinken. Dann nickt er, und sein finsterer Gesichtsausdruck spricht Bände. »Ja. Das war kein Unfall. Jemand hat versucht, dich in aller Öffentlichkeit umzubringen. Die Polizei sieht das auch so. Morgen werden sie mit dir reden wollen. Bin gespannt, was die sagen, wenn sie von der versuchten Entführung kurz vorher hören.«

Carla nickt. »Kannst du Bischoff und Ritchie ausrichten, dass ich sie am Vormittag sprechen möchte? Sie sollen Mathilde mitbringen.«

Moritz beugt sich zu ihr hinunter und küsst sie. »Na klar, die wollten schon heute kommen. Deine Schwester und die Jungs auch. Ich habe ihnen das ausgeredet. Ach ja, und Aleyna Ekincis hat mehrfach angerufen. Ich habe sie informieren lassen, dass du wieder ansprechbar bist.«

»Bitte, sag Ellen und Aleyna, dass sie mit dem Besuchen noch ein paar Tage warten sollen. Ich weiß ihre Sorge zu schätzen, aber … Wir holen das nach, wenn ich rauskomme.«

Moritz nickt und scheint beinahe erleichtert. »Ich habe mich nicht getraut, es anzusprechen, aber ich würde dir am liebsten eine Woche absolute Ruhe verordnen.«

»Nicht gleich übertreiben«, sagt Carla und schließt die Augen.

Vier

Carla drückt die Klinke herunter und tritt hinaus auf den Gang. Rechts befindet sich der Aufenthaltsraum des Pflegedienstes. Die Richtung scheidet also aus. Jetzt einer Nachtschwester über den Weg zu laufen und womöglich irgendwelche Fragen beantworten zu müssen, wäre sehr ungünstig. Also besser nach links den Flur hinunter. Vielleicht hat sie Glück und kann unbehelligt ein wenig herumwandern.

Leise schließt sie die Tür hinter sich und lässt ihren Blick durch den endlos langen Korridor gleiten, von dem links und rechts die Patientenzimmer abgehen. Weiße Wände und Türen, blauer Linoleumfußboden, der unter ihren Füßen ein wenig nachzugeben scheint, an der Decke stark heruntergedimmte LED-Röhren, die ein mattes, schmuddeliges Licht abgeben. Carla holt tief Luft und spürt den vertrauten Schmerz im Brustkorb, der seit dem Crash jeden Atemzug begleitet. Die Pflegerinnen haben ihr empfohlen, möglichst flach zu atmen, aber sie hat das Gefühl, dass sie dabei einfach zu wenig Luft bekommt. Kann es sein, dass die Sauerstoffsättigung in ihrem Blut sich über den Tag verringert hat? Und dass sie dadurch so unruhig geworden ist?

Es ist schon nach Mitternacht. Nachdem Moritz gegangen ist, hat sie ein paar Stunden geschlafen und ist dann aufgewacht, weil sie auf die Toilette musste. Danach hat sie sich bis 23:00 Uhr auf dem Tablet eine Dokumentation über Schwarzstörche angesehen, die so langweilig war, dass sie dabei eigentlich prima hätte wieder einschlafen müssen, aber so war es nicht. Stattdessen hat sie den Film bis zum Schluss geguckt, dann das Licht ausgeschaltet und vergeblich versucht, flach atmend zur Ruhe zu kommen.

Doch an Schlaf ist nicht mehr zu denken gewesen. Alle psychischen Abwehrmechanismen, die sie bis zu diesem Punkt mobilisieren konnte, um zu verdrängen, was geschehen ist, und die Angst nicht an sich heranzulassen, haben gleichzeitig versagt, und unbarmherzig hat die Wahrheit, mit der Moritz sie konfrontiert hat, von ihrem Verstand Besitz ergriffen. Das war kein Unfall. Jemand hat versucht, dich in aller Öffentlichkeit umzubringen. In einer Endlosschleife zirkuliert dieser Gedanke seitdem durch ihren Kopf und weigert sich, irgendeinem anderen Platz zu machen.

Sie hat angefangen zu schwitzen und am ganzen Körper zu zittern. Ihre Hand wollte nach dem Klingelknopf tasten, um den Pflegedienst zu rufen, aber sie hat sie zurückgezogen. Die Weißkittel würden ihr etwas spritzen, das ihr zwar einen tiefen Schlaf, aber auch einen vollkommenen Kontrollverlust bescheren würde. Das will Carla auf keinen Fall. Sie wird das allein in den Griff kriegen.

Eine Stunde später hat sie kapituliert und überlegt, die Nachtschwester doch um ein Beruhigungsmittel zu bitten. Und dann ist ihr – wie aus dem Nichts – der Gedanke gekommen, dass es vielleicht gut wäre, sich ein bisschen zu bewegen. Irgendwie die Initiative zu ergreifen, ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen und nicht länger wie ein hilfloses Wrack auf dem Rücken zu liegen. Ihr schießt ein Satz durch den Kopf, den ihre Schwester Ellen ihr vor Monaten entgegengeschleudert hat. Kontrolle war immer schon dein Ding.

Und wenn schon! Warum soll sie nicht aufstehen? Sie ist nicht verpflichtet, die ganze Zeit in ihrem Zimmer zu verbringen, oder? Nacht hin oder her. Wenn sie leise ist und niemanden stört, kann sie auch auf den Gängen ein wenig … wandeln? Was für ein wunderbar altmodisches Wort. Wenn sie draußen eine junge Pflegerin träfe, die sie fragt, was zum Teufel sie hier macht, könnte sie es sogar einmal laut aussprechen. Ich wollte nur ein wenig … wandeln. Weil ich so eine gottverdammte Scheißangst habe. Vielleicht würde sie den zweiten Satz auch weglassen. Und dann könnte sie dabei zuschauen, wie die junge Dame sich eine patzige Antwort verkneift, weil sie wie alle anderen hier genau weiß, dass Carla mit dem Oberarzt der Neuro liiert ist. Verdammt schade, dass der jetzt nicht hier sein kann. Moritz ist jederzeit bereit, bei bescheuerten Blödeleien mitzumachen, und allein seine Anwesenheit würde Carla beruhigen.

Je länger sie über einen kleinen nächtlichen Ausflug nachgedacht hat, desto vernünftiger ist ihr die Idee vorgekommen – und nun steht sie auf dem Gang und denkt ernsthaft darüber nach, ob sie nicht doch lieber zurück ins Bett soll. Was, wenn der Fußboden weiter nachgibt? Blödsinn, das hat sie sich eingebildet. Und einen einmal gefassten Plan einfach aufzugeben, nur weil sie ein wenig unsicher auf den Beinen ist, gehört nicht zu ihren Angewohnheiten.

Sie stützt sich kurz mit der linken Hand an der Wand ab und setzt sich dann langsam, aber entschlossen in Bewegung. Schritt für Schritt, nur nichts übereilen. Der Moment der Schwäche geht vorüber, und Carla ist froh, dass sie sich zusammengerissen hat. Das funktioniert doch ganz gut. Wie weit soll sie gehen? Bis zum Ende des Ganges, der an einer Fahrstuhltür im rechten Winkel nach links abbiegt. Das sind vielleicht noch fünfzig Meter. Absolut zu schaffen. Sie bleibt stehen, macht eine kleine Pause und setzt dann wieder einen Fuß vor den anderen.

Noch dreißig Meter. Ihr Kreislauf schlägt ein paar hübsche kleine Kapriolen, die sie noch einmal innehalten lassen. Dann die letzte Etappe. Die breite, metallisch glänzende Fahrstuhltür ist jetzt direkt vor ihr. Ein typischer Klinikaufzug, der auch für den Transport von Krankenhausbetten ausgelegt ist. Carla macht einen Schritt darauf zu, sieht ihr etwas verzerrtes Spiegelbild in der polierten Metalloberfläche und dann in einiger Entfernung hinter ihr etwas Rotes. Etwas Rotes, das dort definitiv nicht hingehört. Und dieses Rote löst eine Bildsequenz in Carlas Kopf aus, an die sie seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hat. Dann beginnt das Deckenlicht zu flackern, erlischt und springt eine Sekunde später wieder an.

Sie fährt herum und holt so tief und hastig Luft, dass ihr ramponierter Brustkorb vor Schmerz zu explodieren droht. In dem nach links abzweigenden Gang steht auf dem blauen Linoleum eine mittelgroße Gestalt in einem leuchtend roten Kapuzen-Cape, das Carla an den gruseligsten Film erinnert, den sie jemals gesehen hat. Sie versucht, sich zusammenzureißen, lässt die Luft langsam und kontrolliert entweichen, was ebenfalls verdammt wehtut, und zwingt sich, noch einmal hinzusehen. Vor ihr steht eine schlanke Frau in mittleren Jahren. Sie trägt einen roten Bademantel mit Kapuze, der ihre schmale Gestalt wie eine etwas zu große Mönchskutte umschließt. Unter der Kapuze lugen ein paar schwarze Haarbüschel hervor, und die Füße der Frau stecken in ebenfalls roten halbhohen Filzstiefeln.

»Ui, jui, jui«, sagt die Frau und lächelt zaghaft.

Auch Carla bringt so etwas wie ein Lächeln zustande. »Sie haben mich zu Tode erschreckt. Was machen Sie hier? Konnten Sie auch nicht schlafen?«

Die Frau nickt. »Was soll ich sagen … ui, jui, jui, kein Schwein und dann zack – könn’se sich vielleicht vorstellen. Eins und zwei und drei und vier. Und ich kein Telefon.« Die Frau begleitet ihre Worte mit lebhafter Gestik und Mimik, die unterstreichen, dass sie von einer schwierigen Lage berichtet, in der sie sich womöglich befunden hat.

Eine Verrückte! Das hat ihr gerade noch gefehlt. Carla schüttelt entnervt den Kopf. »Es tut mir leid, ich verstehe nicht, was Sie sagen.«

Carlas hilfloser Gesichtsausdruck scheint die Frau zu ärgern, denn ihr Tonfall wird ein wenig schriller. »Der weiße König in dem Drahtverhau, ui, jui, jui … ich ins Lad, ins Bad, ins Rad und zack, könn’se sich vielleicht vorstellen. Eins und zwei und drei und vier.« Sie wackelt heftig und angewidert mit dem Kopf.

Carla entdeckt hinter der Frau eine weißgekleidete Gestalt, die mit großen Schritten und wehendem Kittel über den Gang auf sie zueilt, und winkt erleichtert. Es ist Moritz. Er winkt zurück und begrüßt Carla und ihre Gesprächspartnerin mit einem freundlichen Lächeln.

»Guten Abend, die Damen. Sie sind ja ganz schön spät noch unterwegs. Und Sie, Frau …« Moritz zieht sein Handy aus der Kitteltasche und liest den Namen vom Display ab. »Frau Yannakakis, Sie sind ziemlich weit weg von Ihrer Station.« Er drückt eine Kurzwahltaste. »Ja, ich habe Frau Yannakakis getroffen. Auf der II. Ich schick sie euch hoch.« Er lässt das Telefon wieder verschwinden und lächelt die Patientin an. »Die Kolleginnen von der VI suchen Sie schon. Finden Sie allein dorthin zurück?«

»Natürlich! Denken Sie, ich bin nicht richtig im Kopf, ui, jui, jui und dann zack?« Sie geht würdevoll an Carla vorbei zum Fahrstuhl, steigt ein und die glänzende Tür schließt sich hinter ihr.

»Großer Gott, das war jetzt heftig.« Carla atmet lange und hörbar aus. »Die hat mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt. Ich habe mein Spiegelbild in der Fahrstuhltür gesehen und auf einmal stand sie wie hingetupft mitten im Gang. Eine blutrote Gestalt, ein paar Meter hinter mir. Wie in dem Film, Wenn die Gondeln Trauer tragen. Kennst du den? Ein Klassiker! Schon sehr alt, aber immer noch verdammt gruselig.«

Moritz nickt. »Die zwergenhafte Kreatur im roten Kapuzen-Cape, die Donald Sutherland am Ende die Kehle … dein Nervenkostüm ist ganz schön angeschlagen.«

»Ja, halt mich mal ein bisschen.«

Moritz legt vorsichtig einen Arm um sie und gemeinsam machen sie sich auf den Rückweg zu Carlas Zimmer.

»Was ist mit der Frau? Ist sie geisteskrank?«

»Nein, sie hat eine Wernicke-Aphasie. Eine neurologisch bedingte Störung des Sprachsystems. Ihre Gedankengänge sind ziemlich klar – soweit man das beurteilen kann.«

»Kann man denn Denken und Sprache so trennen?«

»Die Neurolinguisten behaupten es.«

»Was ist ihr zugestoßen?«

Moritz senkt die Stimme, obwohl weit und breit niemand zu sehen ist. »Du weißt genau, dass ich dir das nicht sagen darf.«

»Ach, komm! Nur ganz grob und ungefähr. Das eben war sowas von bizarr!«

»Okay! Ganz grob und ungefähr: Es ist nicht endgültig klar und bewiesen, aber ich glaube, jemand hat ihr fürchterlich auf den Kopf geschlagen.«

Carla nickt, schweigt eine Weile und wechselt dann das Thema. »Wieso bist du gerade eben auf dem Flur aufgetaucht?«

»Ich war in deinem Zimmer, um nach dir zu sehen, und als du nicht da warst, bin ich den Gang runtergegangen und habe dich gesucht.«

»Gut gemacht. Ich muss mich wieder hinlegen.«

»Du hättest gar nicht aufstehen sollen.«

»Ist ja gut, Herr Doktor. Du kannst dich gerne neben das Bett hocken, meine Hand halten und aufpassen, dass ich brav bin.«

»Ich könnte dich auch fixieren lassen«, sagt Moritz und grinst schwach.

Carla bleibt abrupt stehen. »Nicht ohne mein schriftliches Einverständnis. Und das weißt du ganz genau.« Sie verpasst ihm mit dem Ellenbogen einen kräftigen Stoß in die Rippen. »Vergiss nicht, dass du es mit einer Anwältin zu tun hast. Ich verklage dich bis ans Ende deiner Tage. Also, immer schön vorsichtig.«

Moritz beugt sich herunter und küsst sie. »Geht klar, Schatz.«

Carla funkelt ihn an. »Keine Scherze mehr«, sagt sie. »Bis auf weiteres keine Scherze!«

Fünf

Carla lässt ihren Blick über die drei Personen gleiten, die neben ihrem Bett Platz genommen haben, und verspürt ein warmes Gefühl von Zuneigung und Zufriedenheit.

Mathilde Stein, die weit mehr ist als eine Sekretärin, arbeitet jetzt seit fünf Jahren für sie, und Carla weiß, dass ihre Kanzlei ohne den enormen Einsatz und die Cleverness dieser Frau das erste Jahr nicht überstanden hätte. Dass sie sich im Gegenzug dafür die eine oder andere Unverschämtheit herausnimmt, ist in Carlas Augen ein geringer Preis für die absolute Loyalität, die Mathilde ihr entgegenbringt. »Die Stein« und ihr Mundwerk genießen in der Frankfurter Juristenszene einen handfesten Ruf, und wer einmal am Telefon von ihr abgebügelt wurde, vergisst es so schnell nicht mehr.



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