Das falsche Opfer - Lukas Erler - E-Book
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Das falsche Opfer E-Book

Lukas Erler

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Zwischen Intrigen und falschen Wahrheiten: ein neuer Fall für Carla Winter Ein Geständnis, das keines ist. Ein Fall, der sich als Lüge entpuppt. Und eine Spur, die bis in den Tschetschenien-Krieg zurückreicht. In diesem Kriminalroman ist nichts, wie es scheint: Lukas Erler ist zurück mit einem weiteren brisanten Fall für die toughe Frankfurter Rechtsanwältin Carla Winter. An einem lauen Sommerabend findet Carla Winter auf den Stufen vor ihrem Haus eine Frau. Mit einem blutbeschmierten Küchenmesser in der Hand. Tief verstört gesteht sie, dass sie ihren gewalttätigen Freund umgebracht hat. Im Krankenhaus scheint sich die Geschichte von Natascha Berling zu bestätigen. Carla übernimmt die Verteidigung. Doch sie ist nicht die Einzige, die sich für den Fall interessiert. Auch die rechtskonservative Presse stürzt sich darauf, denn bei dem Toten handelt es sich um einen muslimischen Mann arabischer Herkunft, der schon früher durch Gewaltdelikte aktenkundig geworden ist. Während die rassistische Hetze in den sozialen Medien hochkocht, versucht Carla einen kühlen Kopf zu bewahren. Dann taucht plötzlich ein anonymer Hinweis in der Kanzlei auf: »Die Schlampe lügt wie gedruckt.« Carla setzt ihren neuen Mitarbeiter Ritchie Lambert auf die Sache an. Und tatsächlich: Natascha Berling ist nicht die, die sie zu sein vorgibt.

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Seitenzahl: 314

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Cover for EPUB

Lukas Erler

Das falsche Opfer

Ein Fall für Carla Winter

Tropen

Impressum

Das vorangestellte Zitat entstammt der Übersetzung von Franz Blei (1925).

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung mehrerer Abbildungen von © FinePic®, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Johanna Schwering

ISBN 978-3-608-50191-9

E-Book ISBN 978-3-608-12185-8

MOSKAU, JULI 2003

Bald ist es so weit. Als sie sich vor Stunden angestellt hat, war die Schlange so lang, dass sie das Kassenhäuschen kaum erkennen konnte. Jetzt sind noch zwölf Leute vor ihr.

Schwarze, braune und blonde Haarschöpfe, zwei Irokesenbürsten, ein glattrasierter Schädel. Keine Mützen oder Hüte. Auch sie trägt heute kein Kopftuch, Allah möge ihr verzeihen. Das Wetter hat sich überraschend gebessert. Nach viel Regen und kühlen Temperaturen in den letzten zwei Wochen ist der Sommer zurückgekehrt und sorgt für ausgelassene Festivalstimmung. Alle freuen sich auf ein gigantisches Event. Auf sechs Bühnen werden die besten Bands des Landes spielen. Abertausende Rockfans sind bereits eingetroffen, und noch immer strömen die Menschen zu den zahlreichen Kassenhäuschen am Rande des riesigen Geländes.

Die Konzerte haben bereits begonnen. Von weit weg dringen harte Beats und der Sound kreischender Gitarren herüber. Der junge Mann vor ihr in der Schlange vollführt ein paar ausgelassene Tanzbewegungen und rempelt sie dabei an.

Mit einem breiten Lächeln dreht er sich um. »Entschuldige, das war keine Absicht.« Er schnippt mit den Fingern. »Aber heute ist so ein fabelhafter Tag. Du weinst doch nicht etwa?«

»Nein, alles gut. Mir ist nur heiß«, sagt sie, aber der junge Mann hat sich schon wieder abgewendet.

Noch acht Leute vor ihr. Sie schwitzt jetzt immer stärker, und der Gurt um ihren Brustkorb erschwert das Atmen. Ihr Blick ist starr nach vorn gerichtet. Hinter der Abzäunung beginnen die Leibesvisitationen. Weiter als bis zur Kasse wird sie also nicht kommen. Dort scheint es eine Verzögerung zu geben. Ein Festivalbesucher will mit einem großen Geldschein bezahlen, den die Kassiererin nicht akzeptiert. Nach einem lautstarken Wortwechsel wird der Mann von der Security aus der Schlange herausgewunken.

Danach scheint die Abfertigung schneller zu laufen, vielleicht, weil die Besucher das Geld jetzt passend parat halten. Ein paar Worte Smalltalk, Bezahlen, Wechselgeld und Ticket entgegennehmen, Stempel auf die Hand … dreißig Sekunden pro Person, höchstens.

Der Schweiß auf der Stirn rinnt ihr in die Augen und vermischt sich mit ihren Tränen. Noch vier Leute vor ihr. Wenn es in dem Tempo weitergeht, wird sie in zwei Minuten sterben.

»Kein Mensch kann längere Zeit gegen sich ein anderes Gesicht tragen als gegen die Menge, ohne endlich irre zu werden, welches das wahre sei.«

Nathaniel Hawthorne, Der Scharlachrote Buchstabe

Eins

Sie sitzt auf der oberen Treppenstufe. So stark zusammengekauert, dass sie kaum als menschliche Gestalt zu erkennen ist. Der von einer Kapuze bedeckte Kopf ruht auf den Knien, die sie mit den Armen umklammert. Carla fragt sich, warum sie sofort gedacht hat, dass es sich um eine Frau handelt. Es könnte auch ein großes Kind sein. Ein Mann jedenfalls nicht.

Carla biegt in die kurze Einfahrt zu ihrem Haus ein, und die Lichtkegel der Scheinwerfer erfassen die Person, die jetzt langsam den Oberkörper aufrichtet. Sie hat die Hände seitlich an den Kopf gepresst, die Augen und der Mund sind weit aufgerissen und das langgezogene Oval des Mundes erinnert an Edvard Munchs Schrei. Die Ölfarben-Version des Gemäldes hat der Maler damals mit einem handgeschriebenen Kommentar versehen: »Kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein.« Carla vermutet, dass für den Gesichtsausdruck dieser Frau ebenfalls ein verrückter Mann verantwortlich ist.

Bei diesem Gedanken kann sie noch eine andere Abzweigung nehmen. Mit Leichtigkeit. Einfach im Auto sitzen bleiben, die Polizei anrufen und die Herrschaften ihre Arbeit machen lassen. Anschließend ein Bad mit einem Glas Chardonnay. Scheiß drauf. Wenn sie später jemand fragt, wie sie es geschafft hat, in die ganze irrsinnige Geschichte hineinzustolpern, wird sie vermutlich an diesen Augenblick denken. Verdammter Edvard Munch.

Sie schaltet Licht und Motor aus, zieht den Schlüssel ab und steigt langsam aus. Es ist Sonntagabend, noch nicht sehr spät. Die Luft um sie herum ist warm, erfüllt von Fliederdüften und Grillaromen, die von den Nachbargrundstücken herüberwehen.

»Ist es okay, wenn ich näher komme?«

Die Frau braucht einen Augenblick, um die Frage zu verstehen, dann nickt sie.

Carla geht ein paar Schritte auf sie zu. »Ich wohne hier. Das ist mein Haus.«

Die Frau nickt erneut. »Ich habe auf Sie gewartet.« Ihre leise Stimme zittert.

Als Carla weiter auf sie zugeht, springt einer der Bewegungsmelder an, und die Außenbeleuchtung des Hauses ermöglicht es ihr, die Besucherin näher in Augenschein zu nehmen. Eine Frau Anfang vierzig, die jetzt aufsteht. Nicht sehr groß. Zierlich. Schwarze Jeans, schwarzer Hoody, schwarze Sneakers. Unter dem Rand der Kapuze schauen ein paar dunkelblonde Haarsträhnen hervor, die ihr in die Stirn fallen. Das Gesicht ist schmal und bleich, die Nase gerade und der Mund jetzt fest zusammengepresst.

Ihr rechter Arm hängt locker herab, und in der Hand hält sie ein großes, braunfleckiges Küchenmesser, das eben noch nicht da war.

Carla weicht zum Auto zurück und zieht ihr Handy aus der Tasche. Ihre Finger huschen über das Display, dann blickt sie kurz auf und hält inne. Wieder hat die Frau in einem Ausdruck purer Verzweiflung Augen und Mund aufgerissen, aber jetzt sieht Carla die dunkle Verfärbung auf ihrer linken Gesichtshälfte, die sich von der Augenhöhle bis beinahe zum Mundwinkel erstreckt.

»Nein! Nein! Nein! Sie verstehen das falsch!«

»Gut möglich«, sagt Carla und tippt ungerührt die 110. »Legen Sie das Messer weg, und hocken Sie sich wieder hin. Wenn die Polizisten Sie so sehen, wird man womöglich auf Sie schießen.«

Die Frau gehorcht.

Nach dem dritten Klingeln kommt Carlas Anruf durch. »Rechtsanwältin Winter hier. Vor meinem Haus steht eine völlig verstörte Frau mit einem Messer. … Nein, nicht bedrohlich. Bringen Sie einen Notarztwagen mit.« Sie gibt die Adresse durch, unterbricht die Verbindung und wendet sich wieder der Fremden auf der Treppe zu. »In spätestens zehn Minuten ist die Polizei da. Ein Ambulanzwagen bringt Sie ins Krankenhaus. Jemand muss sich Ihr Gesicht anschauen. Wenn Sie wollen, komme ich mit.«

Im Ernst? Hat sie das gerade wirklich gesagt? Scheiße! Mathilde wird ihr die Hölle heißmachen, aber sie kann nicht anders. Das von einem harten Schlag gezeichnete Gesicht der Frau und das fleckige große Messer haben in Carlas Kopf eine rasche Abfolge von Bildern und eine leichte Übelkeit ausgelöst. Intuitiv weiß sie, was geschehen ist.

»Ich habe ihn umgebracht«, sagt die Frau leise. Carlas Worte sind offenbar nicht zu ihr durchgedrungen.

»Wir haben noch ein paar Minuten. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Das ist passiert!« Ihre Stimme klingt jetzt fester, beinahe etwas ungehalten.

Zwei

Die Stunde ist längst vorbei. Carla schaut sich im Wartezimmer der chirurgischen Notfallambulanz um und fragt sich, wie lange sie in diesem trostlosen Raum noch ausharren muss.

»Wird etwa sechzig Minuten dauern«, hat die muntere Ärztin gesagt, als sie die Frau zur Untersuchung abgeholt hat. »Wir machen Röntgenaufnahmen, nehmen Blut ab, und der Internist wird die Dame ebenfalls anschauen. Die Gynäkologin ist auf dem Weg. Ob eine Untersuchung hinsichtlich eines sexuellen Übergriffs gewünscht ist, wird sie mit der Patientin besprechen. Dann kommen die Kriminaltechniker: DNA-Proben, Substanzen unter den Fingernägeln, Kleidungsstücke, je nachdem. Kennen Sie ja aus’m Fernsehen. Alles in allem ’ne Stunde.«

Von wegen. Carla wirft einen frustrierten Blick auf ihre Armbanduhr. Es ist bereits 23 Uhr. Das wird ein schwerer Tag morgen.

Komisch, wie wenig Information man manchmal braucht, um zu wissen, was passiert ist. Wissen, nicht erahnen! Moritz hat ihr erzählt, dass Hemingway gerne wettete, er könne eine ganze Geschichte in fünf Worten erzählen. Er gewann jedes Mal mit: »For sale – babyshoes: Never worn!«

Ich habe nur zwei Bilder gebraucht, denkt Carla, um diese Geschichte zu kennen. Die Hämatome im Gesicht und das blutige Messer. Das Ende eines vermutlich ausgedehnten Martyriums. Wie lange dauert es, bis eine Frau der Quälerei ein gewaltsames Ende setzt, wenn sie es überhaupt tut? Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Klar, was sonst!

Carla hat schon mehrfach mit Prozessen wegen häuslicher Gewalt zu tun gehabt. Einmal hat sie eine Frau verteidigt, die ihrem schlafenden Ehemann nach zehn Jahren Psychoterror mit einem Baseballschläger beide Knie zertrümmert hat.

»Haben Sie Ihre Frau jemals geschlagen?«, hat die Richterin den Mann gefragt.

»Nein, das war nie nötig!«, hat er geantwortet. Dieser zynische Spruch hat Carlas Mandantin damals vor einer Gefängnisstrafe bewahrt.

Was hat die Frau von heute Nacht dazu gebracht, ausgerechnet bei ihr Hilfe zu suchen? Carla fällt auf, dass sie in all dem Trubel nicht mal nach ihrem Namen gefragt hat. Sie schiebt den Gedanken beiseite, als die Wartezimmertür geöffnet wird und die Staatsgewalt in Gestalt von Kriminalhauptkommissar Rossmüller den Raum betritt.

Was für ein beschissener Zufall. Sie haben sich vor einem Jahr kennengelernt. Rossmüller hat den Tod eines Mannes untersucht, der in Carlas Haus ermordet wurde, und schon damals keinen Zweifel daran gelassen, dass er sie nicht ausstehen konnte.

Möglicherweise, weil sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit provoziert hat.

Carla lässt einen schnellen Blick an ihm herabgleiten. Der Polizist hat seit ihrer letzten Begegnung weiter zugenommen und sieht aus, als hätte er seitdem auch nicht mehr geschlafen.

Sie schenkt ihm ein sonniges Lächeln, weil sie weiß, dass ihn das auf die Palme bringen wird. »Herr Rossmüller! So spät noch auf den Beinen?«

»Kriminaldauerdienst. Rund um die Uhr im Einsatz für den Bürger. Und die Bürgerin, versteht sich.« Rossmüller lässt sich schnaufend auf einem der Plastikstühle nieder und ist offenkundig zu müde für einen kleinen Zank. Mit einer Kopfbewegung deutet er auf die Tür zum Behandlungszimmer. »Ist sie Ihre Mandantin?«

»Noch nicht, aber wenn sie will, werde ich den Fall übernehmen.«

»Warum sollte sie das nicht wollen? Sie ist schließlich extra zu Ihnen nach Hause gekommen.«

Carla zuckt mit den Achseln. »Wenn ich Näheres weiß, kriegen Sie es mit.«

Rossmüller nickt. »Sie heißt Natascha Berling. Zweiundvierzig Jahre alt, Buchhalterin. Freiberuflich tätig für verschiedene kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe. Deutsche mit familiären Wurzeln in Kasachstan. Wir waren bei der Adresse, die sie den Kolleginnen genannt hat. Eine Wohnung im dritten Stock, die sie allein bewohnt. Wir haben dort tatsächlich einen Toten gefunden. Einen Mann Anfang fünfzig, arabischer Herkunft. Ahmad Abbas. Deutscher Staatsbürger seit 2011. Von Beruf war er vereidigter Dolmetscher für Arabisch, Deutsch und Englisch und hatte ein Büro im Westend. Keine Ehefrau, keine Kinder. Nicht wohlhabend, aber auch nicht arm. Er sah gut aus, war gut genährt, gut gekleidet und hatte im Hals eine tiefe Stichwunde, die offenbar tödlich war.«

»Ich hatte keine Zweifel, dass die Frau die Wahrheit sagt. Muss sie in U-Haft?«

»Heute Abend auf jeden Fall. Ich habe gerade mit der Haftrichterin telefoniert. Sie können Ihre Mandantin morgen früh um 10 Uhr besuchen und alle nötigen Schritte wegen eines Haftprüfungstermins in die Wege leiten. Die Richterin wird da sein, und ich werde in ihrer Anwesenheit eine ausführliche Vernehmung durchführen. Wenn Frau Berling das wünscht, gesellen Sie sich zu uns.«

Carla schüttelt entnervt den Kopf. »Was soll der Zirkus? Sie ist geständig, hat einen festen Wohnsitz, es besteht keine Flucht- oder Verdunklungsgefahr, warum wollen Sie sie einsperren?«

»Jetzt regen Sie sich ab! Irgendwo muss sie über Nacht bleiben. Familie hat sie keine, und das Krankenhaus behält sie nicht. Soll sie in die Wohnung zurück, in der sie gerade jemanden erstochen hat? Haben Sie eine Ahnung, wie viel Blut da ist? Oder wollen Sie sie aufnehmen? Na also! Sprechen Sie morgen mit der Richterin, und dann klärt sich alles.«

Bevor Carla antworten kann, öffnet sich die Tür zu den Behandlungsräumen, und die immer noch glänzend aufgelegte junge Unfallchirurgin kommt auf den Flur. Ihr Blick huscht von Carla zu Rossmüller und kehrt dann zu Carla zurück.

»Wir sind so weit fertig. Ein paar Infos gibt es jetzt schon, den Rest morgen schriftlich: Die dunkle Verfärbung auf der linken Gesichtshälfte haben Sie gesehen. Das Hämatom erstreckt sich von der Schläfe über die Augenhöhle bis zum Jochbein und in Richtung Kiefer und hat sich schon weitgehend zurückgebildet. Ein Schlag oder Stoß mit einem stumpfen Gegenstand, ausgeführt von einem Rechtshänder, nehme ich an, ziemlich großflächig. Vielleicht ein Bügeleisen. Vermutlich acht bis zehn Tage her. Erstaunlicherweise ist nichts gebrochen. Außer der Gesichtsverletzung hat sie Blutergüsse an den Oberarmen und an den Rippen unten links und Druckstellen an den Handgelenken, die offenbar jemand mit großer Kraft umklammert hat. Keine Anzeichen für Alkohol oder Drogen, keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff.« Der Blick der Ärztin wandert zu Rossmüller. »Die KTU-Ergebnisse Ihrer Kollegen bekommen Sie ja sowieso morgen.«

Rossmüller steht auf. »Ist sie fertig?«

Die Ärztin nickt. »Ich schicke sie raus. Der Schock klingt nur langsam ab, aber sie ist zeitlich und örtlich orientiert. Die Psychologin fand sie uneingeschränkt zurechnungsfähig und nicht akut suizidgefährdet. Keine Indikation für eine psychiatrische Einweisung.«

Augenblicke später betritt Natascha Berling den Warteraum. Sie ist blass und offenbar am Ende ihrer Kräfte. Rossmüller macht einen Schritt auf sie zu, sie ignoriert ihn und schaut Carla direkt an. Ihr linkes Augenlid hat angefangen, nervös zu zucken.

»Ich brauche einen Anwalt. Werden Sie mir helfen?«

»Wenn eine Anwältin es auch tut, ja.«

Natascha Berling starrt sie verständnislos an.

Rossmüller grinst spöttisch und zwinkert Carlas neuer Mandantin zu. »Gratuliere, da haben Sie genau die Richtige erwischt.«

Drei

Als Carla am nächsten Morgen um 8 Uhr ihre Kanzlei betritt, ist Mathilde Stein schon da. Eine ganze Stunde zu früh. Der Montag fängt bescheiden an.

Carla hat auf einen ruhigen Start allein im Büro gehofft. Die Beine hochlegen, Moritz in der Klinik anrufen, hören, wie sein Nachtdienst war, und ihm von ihrer neuen Mandantin erzählen. Ein bisschen quatschen, ein bisschen nachdenken. Langsam in die Woche hineinkommen. Das alles kann sie jetzt vergessen. Sie erwägt kurz, ihrem Ärger Luft zu machen, schüttelt dann den Kopf und kehrt auf den Boden der Tatsachen zurück. Ihre Sekretärin zu reizen, ist eine sehr schlechte Idee.

»Die Stein«, wie sie von vielen genannt wird, ist jetzt seit fünf Jahren bei ihr, und ohne den immensen Fleiß und die unverschämte Cleverness dieser Frau wäre Carlas Kanzlei längst den Bach runtergegangen. Mathilde hat vor nichts und niemandem Angst, verfügt über intuitive Menschenkenntnis und ist bestens vernetzt mit allen Schreibbüros der Staatsanwaltschaft im Frankfurter Raum. Sie kann Leuten in hochgestochenem Juristendeutsch jegliche Information entlocken und im nächsten Atemzug ein paar andere im breitesten Frankfurter Dialekt niedermachen. Wenn sie will, kann sie sogar ausgezeichneten Kaffee kochen, aber das kommt praktisch niemals vor.

»Möchten Sie einen Cappuccino vor dem Gespräch?« Mathilde ist in der offenen Bürotür stehen geblieben, und Carla sieht, wie schwer ihr diese Frage über die Lippen kommt. Überrascht nickt sie.

»Ja, Cappuccino wäre super. Aber was für ein Gespräch?«

»Der Vorstellungstermin. Ich habe Sie letzte Woche gefragt. Sie haben gesagt, Sie schauen sich den Jungen an. Er wartet schon im Besprechungsraum.«

Carla erinnert sich. Donnerstag, kurz vor Feierabend. Mathilde hat sie zwischen Tür und Angel angesprochen und nicht lange drum herumgeredet. »Ich habe eine Bitte. Der Sohn einer Freundin von mir braucht einen Job. Fürs Erste auch gerne als freier Mitarbeiter. Er hat mal Anwaltsgehilfe gelernt, aber nie in dem Beruf gearbeitet. Können wir da was machen?«

Das »wir« ist typisch für Mathilde.

»Eine gute Freundin?«

Ihre Sekretärin hat genickt. »Die allerbeste. Ich schulde ihr was. Helfen Sie mir, diese Schuld zu begleichen, und Sie werden es nicht bereuen.«

Bereuen werde ich es, wenn ich Nein sage. Carla hat keine Chance gesehen, die Bitte abzuschlagen. »Okay, er soll irgendwann in der nächsten Woche vorbeikommen.«

Irgendwann nächste Woche. Nicht Montagmorgen um acht.

»Betrachten Sie es als Investition«, sagt Mathilde, als sie Carla den Cappuccino in die Hand drückt, und bemüht sich um einen diplomatischen Tonfall. »Ich verspreche, mich zu revanchieren.«

»Ist ja gut«, murmelt Carla. Mathilde muss tatsächlich in der Klemme stecken. Die völlige Abwesenheit ihrer sonstigen Impertinenz wirkt beinahe besorgniserregend.

»Wie heißt er denn? Gibt es so was wie ein Bewerbungsschreiben? Zeugnisse, Lebenslauf?«

»Lambert. Richard Lambert. Eine normale schriftliche Bewerbung schien mir nicht … sagen wir mal, aussichtsreich. Er hat einen etwas gebrochenen beruflichen Werdegang. Nach einem mäßigen Abitur hat er die Ausbildung zum Anwaltsgehilfen abgeschlossen, aber das war’s dann auch schon. Eine Sackgasse.«

Mathilde unterstreicht den Satz mit einer zackigen Handbewegung und zieht die Luft scharf ein. »Er hatte keine Lust auf den Beruf, und die Kanzlei war froh, ihn wieder loszuwerden. Danach nur noch Gelegenheitsjobs: Er hat als Mädchen für alles in einem Bestattungsunternehmen gearbeitet, Versicherungen verkauft, Bürofassaden geschrubbt und für ein Detektivbüro Nachforschungen angestellt. Bei der Ermittlungstätigkeit war er wohl recht gut. Die Detektei hat seinen Vertrag nicht verlängert, weil sie keinen weiteren Mitarbeiter bezahlen konnten, aber der Chef war voll des Lobes. Er sagte, Ritchie könne aus dem Stegreif völlig glaubwürdige Lügengeschichten erfinden, in so ziemlich jede Rolle schlüpfen und sei ein begnadeter Hacker.«

Carla nickt resigniert. »Eine große Bandbreite zweifelhafter Talente. Wieso denken Sie, dass er hier reinpasst – der Ritchie?«

»Schauen Sie ihn an, und lassen Sie Ihr Herz sprechen.«

Eine blöde Floskel, die Carla zusätzlich erbost. Egal, was ihr Herz sagt, sie wird nicht umhinkönnen, sich des Jungen irgendwie anzunehmen. Der einzige Vorteil bei der Sache ist, dass Mathilde eine Weile in ihrer Schuld stehen und ihre Unverschämtheit ein wenig im Zaum halten wird. Wie lange auch immer diese Weile dauern mag.

Vier

Er sitzt in dem Besuchersessel und steht höflich auf, als Carla den Raum betritt. »Guten Morgen, Frau Winter. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«

Carla gelingt es nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Nach Mathildes Beschreibung hat sie einen Mann Mitte zwanzig erwartet. Mag sein, dass ihr Besucher so alt ist, aber er sieht wesentlich jünger aus. Glattes Gesicht, Hornbrille, Polohemd und Jeans, Mokassins ohne Socken. Mother’s finest.

Nur, dass seine Stimme nicht dazu passt.

Sie ist tief, rau und klingt eine Spur versoffen. Carla schließt für einen winzigen Moment die Augen und denkt daran, wie viele Stunden sie versucht hat, das grandiose Saxophon-Solo in Shelter me zu lernen. Richard Lambert hat das Aussehen eines Oberstufensprechers und die Stimme von Joe Cocker. Schauen Sie ihn an, und lassen Sie Ihr Herz sprechen, hat Mathilde gesagt. Unverschämtes Miststück.

Carla dreht sich um und ruft durch den Türspalt: »Mathilde, können Sie für unseren Gast auch so einen leckeren Kaffee machen?« Sie wartet, bis sie Mathildes empörtes Grummeln hört, schließt lächelnd die Tür und wendet sich wieder ihrem Besucher zu.

»Herr Lambert. Nehmen Sie Platz.« Carla setzt sich ebenfalls und beschließt, gleich zur Sache zu kommen. »Meine Sekretärin sagt, Sie suchen einen Job. Korrekt so weit?«

Lambert verzieht das Gesicht. »Meine Mutter sagt, sie wirft mich raus, wenn ich es nicht tue. Also, ja!«

»Sie wohnen bei Ihrer Mutter?«

»Vorübergehend.«

»Womit wäre Ihre Mutter denn zufrieden?«

Carlas Besucher blinzelt überrascht. »Eine halbe Stelle? Zwanzig Stunden die Woche? Ginge das?«

»Sie wissen, was Rechtsanwaltsfachangestellte ohne Berufserfahrung verdienen?«

»Wenn ich eine Wahl hätte, säße ich nicht hier.«

Carla nickt. »Gut. Zwanzig Wochenstunden, drei Monate Probezeit, flexible Arbeitszeiten …«

»Flexibel heißt …?«

»Sie stehen auf der Matte, wenn ich Sie brauche.«

Ein dynamisches Klopfen an der Tür unterbricht sie, Mathilde rauscht herein, serviert Lambert mit zuckersüßem Lächeln einen Cappuccino und verschwindet ohne Kommentar.

»Wie aufs Stichwort«, sagt Carla. »Sie müssen mit Mathilde klarkommen. Wenn Sie das nicht hinkriegen, können wir es gleich lassen. Jeder Job hat seine Härten.«

Lambert lacht. »Keine Sorge. Sie wird mich lieben.«

Tut sie schon, denkt Carla und grinst zurück. »Ich habe gehört, Sie hätten noch ein paar Spezialkenntnisse auf ungewöhnlichen Fachgebieten?«

»Ich bin ganz gut am Computer. Und ich verstehe etwas von Fotomontagen und Deep Fakes. Wie man sie macht, und wie man sie erkennt. Außerdem spreche ich gut Englisch, passabel Spanisch und habe einen LKW-Führerschein.«

»Mathilde erwähnte, Sie hätten in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet?«

»Ja, vor etwa zwei Jahren. Ich war Fahrer, habe saubergemacht, Botengänge erledigt, alles, was anfiel. Bis die Polizei den ganzen Laden hochgenommen hat.«

»Moment, reden wir von dem Unternehmen in Rüsselsheim?«

»Exakt. Aber ich schwöre, ich habe nicht gewusst, was da lief.«

Carla nickt. Sie erinnert sich gut an den Skandal, der bundesweit hohe Wellen geschlagen hat. Das Institut hat über Jahre sehr preisgünstige Feuerbestattungen angeboten, die niemals stattfanden. Stattdessen hat die Chefin ohne Wissen der Angehörigen die Leichen zerlegt und Arme, Beine und Köpfe an medizinische Ausbildungsunternehmen verkauft. Carla schüttelt sich. »Damit kann man tatsächlich Geld machen?«

»Ja. In Deutschland gibt es im Medizinbetrieb vor allem mit Formalin konservierte Leichen. Die eignen sich zwar für Anatomiekurse, aber nicht, um in der Chirurgenausbildung anspruchsvollere Operationen zu üben. Dazu braucht man ›freshly frozen bodies‹. Ihr Gewebe hat ähnliche Eigenschaften wie das einer lebenden Person.«

Carla schiebt ihre Kaffeetasse von sich und atmet tief durch. »Als Mathilde mir von Ihren Spezialkenntnissen vorschwärmte, hat sie nicht übertrieben.«

Ritchie Lambert lächelt bescheiden. »Danke.«

»Sie haben auch als privater Ermittler gearbeitet?«

»Ja, das hat mir am meisten Spaß gemacht. Ich weiß, wie man an Informationen kommt, bin anpassungsfähig und kann sehr unauffällig sein. Es kling vielleicht komisch – aber die Leute erzählen mir gerne was.«

Darauf wette ich, denkt Carla, vor allem alte Damen. Sie ist durchaus beeindruckt, doch immer noch unschlüssig. Der Junge gefällt ihr, aber sie braucht ihn nicht. Alles in ihr sträubt sich dagegen, Geld für einen weiteren Mitarbeiter auszugeben, nur weil Mathilde das möchte. Aber sie weiß auch, dass sie nicht mehr zurückkann. Also steht sie auf und beendet damit das Gespräch.

»Ich komme auf das Thema Ermittlungsarbeit später noch einmal zurück. Wegen des Vertrages meldet sich Mathilde bei Ihnen.« Sie schüttelt Lambert die Hand, wendet sich zur Tür und dreht sich dann noch einmal um. »Eine persönliche Frage hätte ich noch: Warum haben Sie mit der geilen Stimme keine Band gefunden?«

Ritchie Lambert antwortet mit seinem schönsten Schulsprecherlächeln. »Weil ich so unmusikalisch bin wie ein verdammter Backstein.«

Fünf

Auf dem Weg vom Besprechungsraum zu ihrem Büro schaut Carla kurz bei Mathilde vorbei, die sie fröhlich anlächelt.

»Danke. Das war sehr nett.«

Carla nickt. »Ein interessanter Junge.«

»Und wie! Sie werden überrascht sein.«

»Schade, dass er nicht singen kann.«

»Wie bitte?«

»Egal, er wartet im Besprechungsraum auf Sie. Setzen Sie einen Arbeitsvertrag auf, und erkundigen Sie sich, was Anwaltsgehilfen im Frankfurter Raum so verdienen.«

Mathilde lacht leise. »Ich glaube, wenn seine Mutter Ruhe gibt, ist ihm das Geld egal. Haben Sie heute irgendwelche Termine, von denen ich wissen sollte?«

»Ich muss um 10 Uhr in der JVA III sein. Vermutlich werde ich die Verteidigung einer Frau übernehmen, die ihren gewalttätigen Partner erstochen hat. Ihr Name ist Natascha Berling. Sieht nach Notwehr aus. Gestern Abend war sie so durcheinander, dass sie außer einem dürren Geständnis nicht viel auf die Reihe gekriegt hat. Mal sehen, ob eine Nacht in U-Haft daran was geändert hat. Die umfassende Vernehmung soll heute Vormittag stattfinden. Kümmern Sie sich um den Papierkram, Vertrag, Vollmachten und so weiter. Warum machen Sie schon wieder so ein Gesicht?«

Mathilde zieht ihre skeptisch gerunzelte Stirn wieder glatt. »Gibt halt nicht viel zu verdienen an solchen Fällen.«

»Für Ihr Gehalt und den Grünschnabel reicht es schon noch. Außerdem wissen Sie, dass mir an solchen Fällen was liegt.«

»Okay«, sagt Mathilde. Carla sieht ihr an, dass es nicht okay ist, und ärgert sich. »Großer Gott, jetzt gucken Sie nicht so! Der Dreckskerl hat die Frau übel zugerichtet. Jemand muss ihr helfen. Lassen Sie Ihr Herz sprechen.«

Mathilde quittiert die Retourkutsche mit einem resignierten Nicken, ist aber noch nicht fertig. »Wie kommen Sie mit dem alten Mann zurecht?«

Carla zieht überrascht die Augenbrauen hoch. Der alte Mann ist Professor Tillmann Bischoff, noch jemand, den ihre Sekretärin in ihr Leben bugsiert hat. Ein Archäologe im Ruhestand, Witwer von Mathildes Tante, der vor etlichen Monaten vorübergehend bei ihr einzog und geblieben ist, nachdem er einen bewaffneten Einbrecher mit einem Saxophon-Koffer beinahe erschlagen hätte. Ein echter Gewinn.

Sie strahlt ihre Sekretärin an. »Es läuft super! Im Moment schläft er noch. Um 9 Uhr wird er aufstehen und ein phantastisches Frühstück vorbereiten. Er presst frischen Obstsaft, kocht wunderbaren Kaffee, brät Rühreier und schafft es, alles warm und frisch zu halten, bis ich um elf nach Hause komme. Und das, ohne sich jemals in irgendwas einzumischen.«

Mathilde lässt den Sarkasmus lächelnd an sich abprallen. »Weiß Ihr Vater von der WG?«

Carla zuckt ein wenig zusammen. Der zweite alte Mann in ihrem Leben ist ein permanent nörgelnder Ex-Gymnasiallehrer, der niemals begriffen hat, dass auch Ratschläge Schläge sind. »Wenn Sie ihm davon erzählen, schmeiße ich Sie raus. Und den Nachwuchs-Joe-Cocker gleich mit!«

»Oha!«, sagt Mathilde. »Ich seh’s direkt vor mir.« Sie schüttelt konsterniert den Kopf, steht auf und flitzt aus dem Zimmer.

Carla geht in ihr Büro, schließt die Tür und wählt Moritz’ Nummer in der Klinik.

»Dr. Nikolai ist noch in der Frühbesprechung«, sagt eine völlig genervt klingende Frauenstimme. »Soll ich was ausrichten?«

»Ja«, sagt Carla und imitiert den Tonfall der Frau. »Er soll seine Anwältin zurückrufen.«

Die Dame am anderen Ende legt kommentarlos auf.

Carla holt ihr Tablet raus und kämpft sich bis halb zehn durch die Online-Ausgaben von zwei überregionalen Tageszeitungen. Dann fährt sie hinunter in die Tiefgarage und macht sich auf den Weg in die JVA.

Sechs

Ritchie Lambert ist nach dem Vorstellungsgespräch nicht nach Hause gegangen, sondern in ein Café abgebogen, um den neuen Job zu feiern. Er bestellt ein üppiges Frühstück und lässt die Ereignisse des frühen Morgens Revue passieren. Das lief besser als erwartet.

Der Vorzimmer-Drachen hat ihn gerettet, so viel steht fest. Er genießt es, sie in Gedanken so zu nennen, weil er es niemals wagen würde, diesen Ausdruck laut zu gebrauchen. Die beste Freundin seiner Mutter, die für ihn seit seiner Kindheit Tante Tilde heißt, verfügt über ein Mundwerk, für das man in manchen Ländern dieser Erde einen Waffenschein benötigt.

»Ich habe mich für dich aus dem Fenster gehängt«, hat sie gesagt. »Und ich will nicht blamiert werden. Wenn du das hier versaust, landest du zum Burgerdrehen bei McDoof – und zwar schneller, als du Mindestlohn sagen kannst.«

Er hat nur genickt, weil Tante Tilde es nicht schätzt, wenn man sie unterbricht. »Carla Winter ist die beste Chefin der Welt, aber komm mir nicht auf die Idee, das auszunutzen. Wenn sie anruft, bist du da, und wenn sie sagt spring, dann fragst du nicht warum, sondern wie hoch. Das gilt übrigens auch, wenn ich was sage!«

Wieder hat er nur genickt, auf die Tischplatte gestarrt und den Sturm vorüberziehen lassen. Wenn er in den vergangenen Jahren etwas gelernt hat, dann, wann man am besten einfach die Klappe hält. Als dem Drachen das Feuer ausging, war das Vorstellungsgespräch beendet gewesen und der Kandidat hoheitsvoll entlassen worden.

Ritchie lehnt sich zurück und entspannt sich. Der Job verschafft ihm eine Atempause. Er kann zu Hause wohnen bleiben, hat keine nennenswerten Lebenshaltungskosten, und das Geld, das er verdient, wird für Benzin, Zigaretten und etwas Gras ausreichen. Vielleicht kann er sogar was zurücklegen. Und er hat genug Zeit, an seinem Plan zu arbeiten. In spätestens zwei Jahren will er sich mit einer eigenen Detektei selbstständig machen. Ein bescheidener Start mit nur einem Büroraum, aber das ist kein Problem. Er sieht die dunkle Tür mit der Milchglasscheibe und dem Schriftzug »Richard Lambert – Private Ermittlungen« vor sich, sobald er die Augen schließt. Hinter der Tür wird er an einem Schreibtisch sitzen, in einer der Schubladen hat er eine Flasche Bourbon und zwei Gläser verstaut, und nur der Computer auf dem Tisch unterscheidet ihn von Philip Marlowe. Ob er sich so einen Hut kauft, muss er noch überlegen. Der Rest des Plans steht. Endlich wird er das tun können, was er wirklich gut kann. Und bis dahin arbeitet er für die interessanteste Frau, die er jemals getroffen hat.

Carla Winters Bild war im letzten Jahr oft in der Zeitung, aber heute Morgen hat er feststellen können, dass die Fotografien ihr nicht gerecht wurden. Sie ist mittelgroß, sehr schlank, ohne auch nur im Mindesten zerbrechlich zu wirken, und hat eine ausgesprochen coole Ausstrahlung. Kurze dunkle Haare, grüne Augen, eine gerade Nase und ein breiter, humorvoller Mund. Ein schmales, androgynes Gesicht, das ihm außerordentlich gut gefällt. Und offenbar nicht nur ihm. Seine Mutter hat gelästert, die neue Chefin habe ein Faible für alten Cognac und junge Liebhaber, die sie mühelos anzöge. Aber ist sie jetzt nicht fest liiert? Zumindest hat er das Tante Tilde neulich sagen hören. Ein Neurologe von der Uni-Klinik, namens Moritz. Er holt sein Smartphone raus, geht auf die Website der Klinik und googelt die Ärzte. Es gibt nur einen Moritz. Dr. Moritz Nikolai, leitender Oberarzt. Dunkelblond, Anfang vierzig, sieht ganz gut aus, aber nicht gerade der Typ »junger Liebhaber«. Und wennschon …

Ganz leise hört er die Stimme des Drachens in seinem Kopf, und sie klingt wie rostfreier Stahl. Wenn du das hier versaust, landest du …

»Okay, ich hab’s kapiert«, sagt er halblaut und erntet einen erstaunten Blick der Frau hinter der Kuchentheke.

»Ihr Frühstück kommt gleich«, sagt sie etwas verunsichert.

Ritchie lächelt und denkt dabei an Carla Winters entsetzten Gesichtsausdruck bei der Geschichte von den Bestattern in Rüsselsheim. Ein winziges Detail hat er bei der Erzählung ausgelassen. Dass nämlich der anonyme Hinweis, der das makabre Geschäft beendete, von ihm stammte. Warum hat er das verschwiegen? Er weiß es nicht, und es spielt auch keine Rolle. Eines Tages wird er ihr davon erzählen. Von der massiven roten Brandschutztür, die er niemals geöffnet sah – bis zu jenem Mittwochabend, als die Chefin das Abschließen vergaß.

Er hat an diesem Abend in dem großen Ausstellungsraum mit den zahlreichen Särgen den Boden gewischt und bemerkt, dass der Türdrücker sich in einer Position befand, die er noch nie gesehen hatte. Neugierig hat er daran gezogen, und die fast zehn Zentimeter dicke Metalltür war lautlos aufgeschwungen. Im Licht seiner Handy-Taschenlampe hat Ritchie die Tiefkühltruhen gesehen, die an der Wand aufgereiht waren. Die Versuchung hineinzuschauen war überwältigend.

Noch heute wünscht er sich, er hätte es nicht getan. Vor allem angesichts des formidablen Frühstücks, das jetzt von gleich zwei Angestellten des Cafés vor ihm aufgebaut wird.

Sieben

Als Carla die Tür zu dem Büroraum öffnet, in dem für gewöhnlich die Besprechungen zwischen Untersuchungshäftlingen und ihren Anwälten stattfinden, ist Natascha Berling schon da. Sie sieht blass und übernächtigt aus. Carla nickt ihr zu und setzt sich neben sie. Wenige Augenblicke später betreten Kriminalhauptkommissar Rossmüller und Haftrichterin Iris Brüggemann den Raum.

Frau Dr. Brüggemann steht kurz vor der Pensionierung, aber nicht in dem Ruf, altersmilde geworden zu sein. Graue Locken, grauer Hosenanzug, kühle graue Augen hinter dicken Brillengläsern. Sie lässt sich schwungvoll auf einen Stuhl fallen und knallt ihre Aktentasche auf den Tisch.

»Guten Morgen! Ich habe fünfundvierzig Minuten. Danach entscheide ich, wie es weitergeht. Diese Vernehmung wird wie immer aufgezeichnet. Herr Rossmüller, legen Sie los. Zunächst die Fakten!«

Rossmüller nickt, spricht Ort und Zeitpunkt der Vernehmung aufs Band, nennt die anwesenden Personen, blättert in einem dünnen Schnellhefter und wendet sich dann Carlas Mandantin zu. »Sie sind Natascha Berling, geboren 1978 als Tochter deutschstämmiger Eltern in Syrjanowsk, Kasachstan. Die Stadt heißt heute Altai. Ist das richtig?«

Die Frau an Carlas Seite nickt. »Auch meine Großeltern waren deutsch.«

»Das spielt hier keine Rolle«, sagt Rossmüller unfreundlich. »Wann sind Sie nach Deutschland gekommen?«

»Wie wäre es mit einem anderen Tonfall?«, mischt sich Carla ein.

Der Polizist ruckt den Kopf herum und schaut zur Richterin.

Die lächelt maliziös. »Ja, Herr Kriminalhauptkommissar, wie wäre es damit? Etwas Höflichkeit vielleicht? Oder Empathie?«

»Klar doch«, sagt Rossmüller. »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient …« Er strahlt Natascha Berling direkt an. »Also, wenn Sie uns bitte mitteilen könnten, wann Sie in dieses schöne Land …?«

»Im Herbst 2003.«

»Seitdem wohnen Sie in Frankfurt?«

»Ja. Ich habe eine Ausbildung als Steuerfachgehilfin gemacht und arbeite als freiberufliche Buchhalterin.«

»Familienstand?«

»Ledig. Keine Kinder.«

Rossmüller nickt. »Sie haben gestern angegeben, den Mann in Ihrer Wohnung getötet zu haben. In welcher Beziehung standen Sie zu ihm?«

»Ich habe ihn geliebt.«

»Bitte schildern Sie, was passiert ist.«

Berling schließt für ein paar Sekunden die Augen, und als sie sie wieder öffnet, laufen ihr Tränen die Wangen hinunter, die sie mit einer fahrigen Bewegung wegwischt. »Wir haben uns vor vier Monaten kennengelernt. Im Grüneburgpark. Ich saß mit meinem Buch auf einer Bank und genoss die Märzsonne. Er kam vorbei, sah, was ich las, und sprach mich darauf an. Wie sich herausstellte, war es eines seiner Lieblingsbücher.«

»Welches Buch war das?«, will Carla wissen.

Rossmüller wirft ihr einen giftigen Blick zu, lässt die Einmischung aber durchgehen. »Ein sehr komischer Science-Fiction-Roman von Douglas Adams: Macht’s gut und danke für den Fisch. Der vierte Teil der Serie Per Anhalter durch die Galaxis. Ahmad kannte alle Bände in- und auswendig. Er war ein echter Fan. Wir haben uns stundenlang unterhalten und zum Schluss für den nächsten Tag zum Essen verabredet. So fing alles an.«

»Wie verlief die Beziehung?«

»Sehr romantisch. Am Anfang jedenfalls. Wie in einem kitschigen Film. Er war Muslim und fast zehn Jahre älter als ich, aber das spielte keine Rolle. Ich hatte schon lange keine Beziehung zu einem Mann mehr gehabt und beinahe vergessen, wie sehr ich mich danach sehnte.«

»Wann fing es denn an, weniger romantisch zu werden?«, fragt Rossmüller.

»Irgendwann nach ein paar Wochen. Weil er immer … dominanter wurde.«

»Wie äußerte sich das?«

Berling schnieft in ein Taschentuch und lässt sich Zeit mit der Antwort. »Zum Beispiel sind wir oft ausgegangen, dauernd lud er mich in gute Restaurants oder ins Kino ein. Wir besuchten Konzerte und Sportveranstaltungen. Es hat Spaß gemacht. Am Anfang ist mir gar nicht so aufgefallen, dass immer er entschied, was wir unternahmen, und als ich es merkte, hat es mich auch nicht weiter gestört. Schließlich bezahlte er ja auch. Aber nach und nach ist mir klargeworden, was für ein Kontrollfreak er war. Immer häufiger wollte er wissen, was ich den ganzen Tag über gemacht hatte, wen ich traf und mit wem ich telefonierte. Er fing an, mir nachzuspionieren, wurde immer eifersüchtiger und warf mir vor, ihn heimlich zu betrügen.«

»Warum haben Sie den Blödsinn mitgemacht?«, unterbricht Dr. Brüggemann. »Sie waren nicht verheiratet und finanziell unabhängig. Sie hätten ihn einfach verlassen können.«

Natascha Berling starrt die Richterin an und beginnt wieder zu weinen. Carla holt ein Päckchen Papiertaschentücher heraus und reicht ihr eines. Ihre Mandantin wischt die Tränen ab und schnieft ausgiebig.

»Das habe ich versucht. Vier mal. Jedes Mal hat er eingelenkt, hat gebettelt und mich angefleht, bei ihm zu bleiben. Dass er ohne mich nicht leben kann, hat er gesagt, und dass er mich braucht. Ich glaube, das hat den Ausschlag gegeben. Wenn ich gebraucht wurde, konnte ich noch nie Nein sagen. Am nächsten Tag hat dann wieder das Kommandieren und Beschimpfen angefangen. Und beim letzten Streit hat er mich geschlagen.« Berling zeigt mit dem Finger auf das große Hämatom unter ihrem linken Auge.

»Worum ging es bei dem Streit?«

»Eine Bagatelle. Lächerlicher Mist. Er hatte vor meiner Wohnung auf mich gewartet, und ich bin ein bisschen zu spät gekommen. Das hat ihn so aufgeregt, dass ich ihn erst gar nicht mit hochnehmen wollte …« Berling schweigt einen verbitterten Augenblick. »Aber dann habe ich doch wieder nachgegeben.«

»Womit hat er Sie geschlagen?«, will Rossmüller wissen.

»Mit einer Flasche Jack Daniel’s.«

»Er hat Alkohol getrunken? Als Muslim?«

Natascha Berling nickt. »Nicht oft, aber wenn, dann immer zu viel. Das Trinken hat ihn launisch und noch unberechenbarer gemacht. Aggressiv, eifersüchtig, sentimental – manchmal auch liebesbedürftig und lustig. Es war schwer, damit umzugehen.«

»War die Flasche leer?«

»Fast.«

Rossmüller kramt ein Tablet aus seiner Aktentasche, ruft offenbar die Fotogalerie auf und hält das Display in Richtung Dr. Brüggemann. Dann wendet er sich wieder Carlas Mandantin zu und zeigt ihr das Bild.

»Ich habe hier die Tatortfotos, die unsere Kollegen gemacht haben. Im Mülleimer Ihrer Küche war diese Whiskeyflasche. Ist das die, mit der Sie geschlagen wurden?«

»Ja, ich habe sie nach dem Streit weggeworfen.«

»Es waren Ihre Fingerabdrücke darauf. Und die des Toten. Wie genau hat er Sie geschlagen?«

»Was meinen …?«

»Wie hat er die Flasche gehalten? Am Hals – und dann wie mit einer Keule zugeschlagen?«

Berling schüttelt den Kopf. »Nein. Sie sehen ja, die Flasche ist nicht rund, sondern rechteckig. Er hat sie wie ein Holzscheit in der Hand gehalten und mir die Breitseite … ins Gesicht … es war mehr wie ein harter Stoß. Hat sehr wehgetan. Ich hab’s nicht kommen sehen.«

»Wie ging es dann weiter?«

»Wir saßen am Tisch, als das mit der Whiskeyflasche … ich habe mir den Kopf gehalten und konnte nicht glauben, was da passiert ist, ich war ganz benommen, da kam er schon, hat mich hochgezerrt und mir in die Rippen geboxt. Hier links.«

Carla erinnert sich, dass die Unfallchirurgin von einem Bluterguss an dieser Stelle gesprochen hat.

»Wie lange ist das jetzt her?«, fragt Rossmüller weiter.

»Zehn Tage.«

»Was haben Sie nach dem Angriff gemacht?«

»Irgendwie habe ich den Schock überwunden und ihn angebrüllt. Hab geschrien, dass jetzt Schluss ist und ich ihn nicht mehr wiedersehen will. Dann bin ich aus der Wohnung gerannt. Er hat versucht, mich festzuhalten, aber ich konnte mich losreißen und abhauen. Als ich mich nach zwei Stunden getraut habe, in die Wohnung zurückzukehren, war er verschwunden.«

»Wie hat er Sie festgehalten?«

»An den Handgelenken.«

»Sind Sie zur Polizei oder zu einem Arzt gegangen?«

Natascha Berling schweigt eine Weile und schüttelt dann den Kopf. »Ich habe mich geschämt.«

»Warum das?«, will Dr. Brüggemann wissen. »Zu diesem Zeitpunkt waren Sie nur Opfer.«

Carla weiß, dass die Haftrichterin erfahren genug ist, um die Antwort auf diese rhetorische Frage zu kennen, und Carla kennt sie auch.

Natascha Berling ist noch blasser geworden und schluckt mit Mühe ihren Speichel hinunter. Trotzdem schafft sie es, zu antworten. »Ich habe mich geschämt, dass ich mich in einen Mann verliebt habe, der mir wehtut. Und dafür, dass ich mir das gefallen lasse. Vor allem aber habe ich mich gefragt, was an mir