Das letzte Grab - Lukas Erler - E-Book
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Das letzte Grab E-Book

Lukas Erler

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Rechtsanwältin Carla Winter steht unter Schock: Ihr Exmann ist in der Türkei ums Leben gekommen. Angeblich bei einem Autounfall. Als sie nach Hause kommt, findet sie die Leiche ihres Geliebten. Brutal ermordet. Schnell wird klar: Carlas Exmann hatte Verbindungen zum internationalen Raubkunstschmuggel. Und ihr selbst ist ein Killer auf den Fersen, der sie quer über den Erdball jagt. Die Frankfurter Rechtsanwältin Carla Winter führt ein angenehmes Leben: wohlhabende Mandanten, ein Haus am Stadtrand und ab und zu ein gutaussehender Lover. Doch dann erfährt sie, dass ihr Exmann in der Türkei bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Als sie heimkommt, ist ihr Haus verwüstet. Im Schlafzimmerschrank findet sie die brutal zugerichtete Leiche ihres Geliebten. Kurz darauf ist ihr selbst ein Killer auf den Fersen. Seine Forderung: Carla soll eine entwendete babylonische Statue aus dem Irak zurückbeschaffen. Ihr bleibt kaum Zeit, sich zu fragen, welche Verbindungen ihr Exmann zum internationalen Raubkunstschmuggel hatte und was das alles mit ihr zu tun hat. Wenn sie überleben will, muss sie in die Türkei und Antworten finden. Und sie muss einen alten Mandanten um Hilfe bitten, der auf der anderen Seite des Gesetzes steht. Ein hochbrisantes Katz-und-Maus-Spiel im globalen Raubkunst-Handel, dem Milliardengeschäft der organisierten Kriminalität. »Lukas Erler ist die Spitze der deutschen Thrillerszene.« Mike Altwicker, Deutschlandfunk Kultur

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Lukas Erler

Das letzte Grab

Ein Fall für Carla Winter

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung zweier Abbildungen von © Magdalena Russocka/Trevillion Images (Frau) und © FinePic®, München (Hintergrund)

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Claussen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50169-8

E-Book ISBN 978-3-608-11923-7

Bagdad, April 2003

Niemals zuvor hat er so viel Angst gehabt. Ahmad Khadim sitzt auf einem alten Stuhl in der Vorhalle des Nationalmuseums und lauscht der gespenstischen Stille. Normalerweise drängeln sich hier Besuchermassen und veranstalten einen Höllenlärm. Jetzt ist es im Gebäude völlig ruhig, und nur gelegentlich dringen gedämpfte Schreie und das Knattern vereinzelter Schüsse von der Straße herein.

Bald ist es so weit.

Die Kalaschnikow liegt quer über seinen Knien, aber sie beruhigt ihn nicht. Seit er aus dem Fenster gesehen hat, fürchtet er sich vor dem, was kommen wird.

Die Panzer auf dem Alawi-Platz sind verschwunden.

Er weiß, was das bedeutet.

Den verdammten Amerikanern ist das Museum scheißegal! Und allen anderen auch.

Mittags hat er von der Erstürmung des Al-Kindi-Hospitals gehört. Die Plünderer waren mit Gewehren bewaffnet. Sie haben Patienten aus den Betten gezerrt und die Matratzen mitgenommen, Nachttische, Kopfkissen, Stühle, Schläuche, alles.

Wenn sie vor dem Krankenhaus nicht zurückgeschreckt sind, werden sie auch das Museum nicht verschonen.

Und wenn er sich ihnen entgegenstellt? Gewiss, der Wert all dessen, was das Museum beherbergt, ist unermesslich, aber lohnt es sich, dafür zu sterben? Wer kümmert sich um seinen Sohn, wenn ihm etwas zustößt? Hamed ist ein Hitzkopf, der bei jeder Dummheit mitmacht. Stolz hat er zu Hause erzählt, wie seine Freunde und er die Statue vor dem Palestine Hotel mit Schuhen und Hämmern bearbeitet haben. Wie sie versuchten, Saddam Hussein mit einem Strick um den Hals zu Fall zu bringen, und am Ende doch die Hilfe der Eindringlinge nötig war, um den verhassten Hundesohn in den Staub zu zwingen. Was für eine Schande.

Wieder wandert sein Blick durch die gähnend leere Halle. Alle haben das sinkende Schiff verlassen. Der Direktor und die anderen Vorgesetzten sind gestern durch einen der Hintereingänge geflohen, als die Kämpfe näher kamen und nebenan Granaten einschlugen. Jetzt ist er allein verantwortlich für 170 000 Kostbarkeiten. Ausgerechnet er. Ein Wächter aus der Ausgrabungsabteilung. Mit vier Jahren Schulbildung und Gicht in den Gliedern. Ausgemergelt und fast sechzig Jahre alt.

Warum haut er nicht auch ab? Aber wohin? Er denkt an seine elende Wohnung in Sadr City und bleibt sitzen.

Dann sieht er die ersten Plünderer. Drei junge Männer, gut genährt und stark. Sie sind durch das Hauptportal hereingekommen und schlendern lässig auf ihn zu. Als sie näher kommen, hebt er die Kalaschnikow und zielt auf ihre Bäuche.

»Halt!«, sagt er. »Keinen Schritt weiter!«

Tatsächlich bleiben sie stehen, starren ihn verwundert an und wechseln ein paar ratlose Blicke. Er hat noch nie auf einen Menschen geschossen, und so Allah gnädig ist, wird das auch niemals geschehen, aber er hofft inständig, dass ihm diese Friedfertigkeit nicht ins Gesicht geschrieben steht.

Die Männer drehen sich um und trotten wortlos davon, al-hamdu li-llāh! Vielleicht hat er Glück.

Hat er nicht. Eine halbe Stunde später sind sie wieder da und haben zwanzig Freunde mitgebracht. Wieder bleiben sie stehen, als er das Gewehr in Anschlag bringt, aber er sieht auch, dass er sie diesmal nicht aufhalten wird. Sie fangen an, ihn zu umringen, er dreht sich mit, versucht Blickkontakt zu Einzelnen zu halten und starrt in wütende, entschlossene Gesichter.

Die Männer um ihn herum haben keine Schusswaffen, sondern Hämmer und Eisenstangen mitgebracht und Schubkarren für ihre Beute. Es werden immer mehr. Sie haben die vor Tagen zugemauerten Nebeneingänge aufgebrochen und strömen jetzt in die große Vorhalle, mindestens einhundert Menschen.

Wieder fuchtelt er mit dem Gewehr herum, schimpft, schreit die Männer an. Er appelliert an ihren Anstand, an ihre Furcht vor Allah, dem Allmächtigen, er bittet, er fleht. Die Menge lacht ihn aus und umschließt ihn enger.

Jetzt hat er so viel Angst, dass er nicht mehr klar denken kann. Er reckt das Gewehr in die Höhe und jagt einen kurzen Feuerstoß in die Decke. Die Meute verstummt. Für einen winzigen Augenblick ist es vollkommen still. Dann entbrennt ein anschwellendes Wutgeheul. Zwei Männer springen ihn an und reißen ihm die Waffe aus der Hand. Sie schlagen ihm damit ins Gesicht, sein Kiefer bricht mit einem trockenen Knacken, dem ein entsetzlicher Schmerz folgt. Er geht zu Boden und landet auf den Knien. Von allen Seiten hagelt es Tritte und Schläge. Ein schwerer Schuh trifft sein Ohr, sein Schädel explodiert, und er weiß, dass er auf diesem Fußboden sterben wird.

Doch Allah steht ihm bei.

Bevor er das Bewusstsein verliert, ertönt aus der Menge heraus eine helle, gebieterische Stimme. Wie durch einen blutigen Nebel hört er Worte, ohne ihre Bedeutung zu erfassen, und erwartet den letzten, tödlichen Tritt, doch der kommt nicht. Die Tortur hat ein Ende. Ungläubig öffnet er die Augen und erblickt eine irritierend fremdartige Gestalt.

Der Mann, der sich zu ihm hinunterbeugt, ist noch jung, vielleicht Mitte zwanzig. Er trägt Jeans und eine helle Jacke. Um den Hals hat er eine Kufiya geschlungen, das Tuch der Palästinenser, und auf seinem Kopf sitzt eine schwarze Mütze mit dem Emblem der Al-Mustansiriyya-Universität. Er spricht Arabisch mit irakischem Akzent, aber seine blauen Augen und der kurzgeschnittene blonde Bart verraten, dass er Ausländer ist.

»Steh auf und geh hier weg«, sagt der Mann und streckt ihm die Hände entgegen. »Sonst bist du verloren!«

Ahmad Khadim kommt mühsam auf die Beine und fällt sofort wieder hin. Sein Körper scheint nur aus Schmerz zu bestehen, und sein Gesicht fühlt sich an, als sei es nach rechts verrutscht. Tränen laufen seine Wangen hinunter, doch er spürt sie nicht. In wenigen Sekunden hat er mehr Schläge und Tritte eingesteckt als in den vergangenen sechzig Jahren seines Lebens. Mag sein, dass sich sein Körper davon erholt, sein Stolz wird es nicht.

Noch einmal hilft ihm jemand hoch. Schwankend steht er inmitten der abwartenden Menge, die jetzt eine Gasse bildet und ihn durchlässt, als der Fremde erneut einen Befehl bellt. Mit zitternden Knien erreicht Ahmad Khadim das Hauptportal, während hinter ihm das Inferno losbricht. Er hört gellende Triumphschreie, das Krachen eingetretener Türen und das Rattern seiner Kalaschnikow. Und über allen Geräuschen das Klirren der zersplitternden Vitrinen. Er wankt hinaus auf den Vorplatz, kniet nieder und hält sich die Ohren zu. Kann es irgendeinen Zweifel geben? Der Allmächtige hat ein Wunder geschehen lassen. Allah hat ihn behütet und der Menge befohlen, diesem Ausländer zu gehorchen. Wie sollte es anders gewesen sein. Al-hamdu li-llāh!

Vermeide den Umgang mit Lügnern, aber wenn du das nicht kannst, glaube ihnen nicht.

ARABISCHES SPRICHWORT

Frankfurt am Main, im März 2019

Eins

I see a little silhouetto of a man, Scaramouch, Scaramouch, will you do the Fandango, Thunderbolt and lightning, very, very frightening me …

Carla schreckt aus dem Tiefschlaf hoch und verflucht Freddie Mercurys glasklare Schalmeienstimme. Ihre Neffen haben »Bohemian Rhapsody« als Klingelton für das neue Handy ausgesucht und schon hundertmal versprochen, den Song gegen irgendwas Sanftes von Frank Sinatra auszutauschen. Sie wirft einen Blick auf die andere Bettseite, wo die Gestalt unter der Decke sich keinen Millimeter gerührt hat, und greift dann nach dem Telefon. Das Display zeigt die Nummer ihrer Kanzlei und die Uhrzeit.

»Verdammt, Mathilde! Es ist 9 Uhr! Ich habe doch gesagt, dass ich heute erst um zwölf komme. Sie könnten auch noch zu Hause sein. Was machen Sie im Büro?«

»Arbeiten. Für mich ist Freitag immer noch ein Werktag.« Die Stimme ihrer Sekretärin klingt geschmeidig und arrogant wie immer. »Und es ist gut, dass ich hier bin. Sie haben nämlich Besuch.«

»Von wem?«

»Da kommen Sie nie drauf. Ein Herr vom türkischen Generalkonsulat will Sie unbedingt sprechen. In einer äußerst wichtigen Angelegenheit. Behauptet er jedenfalls. Ich habe versucht, ihn abzuwimmeln, aber er hat darauf bestanden, dass ich Sie anrufe.«

Carla Winter hält den Atem an und versucht das Hämmern in ihrem Kopf zu ignorieren. Der Kater ist überirdisch und lässt ihre Hand leicht zittern. Sie kann sich nur einen Grund vorstellen, warum das türkische Konsulat sich für sie interessiert: Asan Ekincis. Scheiße!

»Ich bin in vierzig Minuten da. Sagen Sie ihm das!«

Ihre Sekretärin legt kommentarlos auf. Carla bleibt auf der Bettkante sitzen und starrt auf das Telefon. Schließlich steht sie auf, um ins Bad zu gehen.

»Dein Ernst?«

Sie dreht sich zu dem Mann um, mit dem sie die Nacht verbracht hat. Er hat sich aufgerichtet, stützt den Kopf mit dem Ellenbogen ab und starrt sie halb verärgert, halb gekränkt an. Carla muss sich eingestehen, dass sie seinen Namen nicht weiß. Entweder vergessen oder gar nicht danach gefragt. Jedenfalls sieht er gut aus. Groß, blond, Dreitagebart. Ein Surfer-Typ. Es war nicht nötig gewesen, ihn sich schönzutrinken. Was sie nicht davon abgehalten hat.

»Tut mir leid, ich muss in die Kanzlei.«

»Was ist mit Frühstück?«

Carla kniet sich auf die Bettkante und küsst ihn. »Träum einfach weiter, und wenn das böse Erwachen kommt, machst du dir einen Kaffee und fährst nach Hause.«

Sich zu ihm hinunterzubeugen, verursacht eine heftige Übelkeit. Rasch entzieht sie sich seiner Umarmung und streift einen Bademantel über. Als sie die Schlafzimmertür hinter sich schließt, hört sie ihn leise fluchen. Trotz ihrer schlechten Laune und der Kopfschmerzen muss sie grinsen.

Duschen, Zähne putzen, Aspirin schlucken, anziehen, ein Hauch von Make-up, dann steht sie kurz sinnierend vor dem Kleiderschrank. Hat ein unangemeldeter Besucher, der vermutlich kein Geld einbringt, Anspruch auf standesgemäße Anwaltskleidung? Sie schüttelt den Kopf, was den Schmerz darin erneut aufflammen lässt, und schlüpft in Jeans und Pullover.

Frage Nummer zwei: Soll sie wirklich ohne Kaffee aus dem Haus gehen? Schweren Herzens entscheidet sie sich dafür. Wenn ihre Vermutung zutrifft, wartet möglicherweise Ärger auf sie. Irgendetwas sagt ihr, dass es keine gute Idee ist, den Mann allzu lange warten zu lassen. Das türkische Konsulat hat ihr schon einmal eine Menge Probleme beschert. Sie tritt ins Freie und inhaliert die kalte und feuchte Märzluft. Der graue, wolkenverhangene Himmel scheint das Tageslicht zu verschlucken. Laut Wetterbericht steht die nächste Regenfront unmittelbar bevor.

Der Tag fängt beschissen an und wird exakt so enden. Einen winzigen Moment lang überlegt sie, einfach umzukehren. Zurück ins Bett zu Wie-heißt-er-noch. Wärme, entspannter Sex und anschließend zwei Stunden Tiefschlaf. Rausschmeißen kann sie ihn auch später noch.

Will sie aber nicht. Es macht ihr keinen Spaß, es wirklich auszusprechen. Sie hofft, dass der Mann in ihrem Bett genug Verstand hat, zu kapieren, dass dieser gemeinsamen Nacht keine weiteren folgen werden, und sein Stolz ihm rät, zu verschwinden, bevor sie zurückkommt. Leise zieht sie die Haustür zu, geht ein paar Schritte die Einfahrt hinunter und schließt den kleinen Audi auf, den sie zu Weihnachten angeschafft hat. Er riecht immer noch fabrikneu, was Carla, die vorher ihr ganzes Leben lang nur Gebrauchtwagen gefahren ist, äußerst faszinierend findet.

Wenig später fädelt sie sich in den schon sehr dichten morgendlichen Verkehr ein und fährt in Richtung Innenstadt. Sie muss daran denken, dass sie schon einmal einen Anruf aus dem türkischen Generalkonsulat erhalten hat. Einen sehr erbosten Anruf. Nachdem sie für den Kurden Asan Ekincis einen Freispruch erwirkt hatte. Was um Himmels willen hat der Mann diesmal angestellt?

Zwei

Ihre kleine Kanzlei liegt im fünften Stock eines Bürogebäudes, das Gott sei Dank über einen Fahrstuhl und eine Tiefgarage verfügt. Sie fährt mit dem Lift nach oben, zögert kurz und reißt dann die Tür zum Büro ihrer Sekretärin auf.

Mathilde schaut sie an und runzelt missbilligend die Stirn. »Oh!«, sagt sie.

»Wie wär’s mit ›Guten Morgen‹?«

»Sie sehen ziemlich … derangiert aus.« Mathilde beherrscht die Kunst der schonenden Abwertung perfekt.

»Das entspricht genau meiner Mörderlaune. Die Sie übrigens ausbaden dürfen, wenn Sie so weitermachen.«

Eine leere Drohung, wie beide wissen. Mathilde Stein ist die beste Sekretärin, die Carla je hatte. Clever, fantastisch organisiert, enorm fleißig und hemmungslos unverschämt. Sie zeigt mit dem Daumen auf die Tür hinter sich.

»Er sitzt im Besprechungsraum eins. Ein sehr gutaussehender Mann. Erinnert mich an Doktor Schiwago? Sie hätten sich ruhig ein bisschen zurecht…« Mathilde deutet den Gesichtsausdruck ihrer Chefin offenbar richtig und schenkt sich den Rest des Satzes.

Carla schluckt ihren Ärger hinunter und öffnet die Tür zum Besprechungsraum. Ihr Besucher steht höflich auf, als sie mit ausgestreckter Hand auf ihn zugeht.

»Günaydın! Tut mir leid, dass Sie warten mussten.«

Er ist groß, elegant gekleidet und sieht tatsächlich gut aus. Aber er lächelt nicht. »Frau Winter. Auch Ihnen einen guten Morgen. Wie geht es Ihnen? Mein Name ist Ömer Sahin, ich komme vom türkischen Generalkonsulat hier in Frankfurt. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hereinplatze. Aber es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.«

Carla nickt. Der Mann wirkt kühl und ernst, aber nicht feindselig, als er in einem Sessel Platz nimmt. Carla setzt sich ebenfalls und lässt sich Zeit mit der Antwort. Der Schmerz in ihrem Kopf ist auf dem Rückzug. Bald wird sie wieder klar denken können.

»Kein Problem«, sagt sie schließlich und überlegt, ob sie ihrem Gast einen Kaffee anbieten soll. Sie selbst könnte jedenfalls einen vertragen, aber sie möchte Mathilde jetzt nicht um etwas bitten, und im Grunde hat sie auch keine Lust, höflich zu sein. Zum Teufel mit dem diplomatischen Geplänkel. »Ich bin ausgesprochen neugierig zu erfahren, was Sie zu mir führt. So früh und so dringend. Es geht doch hoffentlich nicht noch einmal um Asan Ekincis?«

Carlas Gegenüber hebt die Augenbrauen und scheint angesichts ihrer Direktheit ein wenig unangenehm berührt zu sein. Sie hat ein Thema angesprochen, das innerhalb von drei Sätzen eskalieren kann. Scheinbar möchte er das nicht, aber er kann ihre Bemerkung auch nicht einfach so passieren lassen.

»Sie wissen schon, was für ein Mann das ist, den Sie damals vertreten haben?«

»Sie meinen, womit er sein Geld verdient? Sicher, das weiß ich. Drogenhandel, Glücksspiel, Schutzgelderpressung und einiges mehr. Die Liste ist lang und eindrucksvoll.«

»Was Sie offenbar nicht gestört hat.«

»Doch, schon. Nur dass er bei der Sache mit dem illegalen Tabak für die Shisha-Bars tatsächlich unschuldig war. Sie erinnern sich daran, dass zwei Duisburger Ermittler die Beweise manipuliert hatten? Was offensichtlich Sie nicht gestört hat. Für das Konsulat war nur wichtig, dass manche kurdischen Clans im Ruhrgebiet Anteile ihrer Einkünfte der PKK zukommen lassen und somit in Ihren Augen Terrorismus finanzieren. Und deutsche Anwälte ihnen angeblich dabei helfen.«

»Was zweifellos der Fall ist.«

»Mag sein. Es gibt nur keine Beweise dafür, und ich habe mir diese Vorwürfe jetzt auch oft genug angehört. Sind Sie wirklich deswegen gekommen?«

Der türkische Beamte schüttelt langsam den Kopf, und sein Gesicht zeigt einen betrübten Ausdruck, den Carla nicht deuten kann. Er scheint nicht recht zu wissen, wie er beginnen soll, was ihn offenbar nervös macht. Sie wirft einen dezenten Blick auf ihre Armbanduhr, und ihr Besucher gibt sich einen Ruck.

»Nein, es geht nicht um Asan Ekincis.«

»Sondern?«

»Sagt Ihnen der Name Felix Winter etwas?«

Carla zuckt zusammen und vergisst vor Überraschung das Atmen. Mit allem hat sie gerechnet, aber diese Frage trifft sie unvorbereitet wie ein heimtückischer Schlag in den Magen. Eine Extradosis Adrenalin schießt durch ihren Kreislauf, und auch der Kopfschmerz ist sofort wieder da.

Ihr Besucher sieht besorgt aus. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch, geht schon.« Carla reißt sich zusammen. »Ich war mal mit einem Felix Winter verheiratet. Vor etlichen Jahren.«

Sieben, um genau zu sein. Im Februar ist die Scheidung sieben Jahre her gewesen. Sie hat kein verdammtes Detail vergessen. Was hat dieser türkische Beamte mit ihrem Exmann zu tun? Und wie kann es sein, dass in ihrem Gehirn nach so vielen Jahren immer noch alle Warnlichter aufblinken, wenn auch nur Felix’ Name fällt?

»Ich habe möglicherweise eine sehr schlechte Nachricht für Sie. Je nachdem, wie nahe Sie sich noch gestanden haben.«

Carla wischt ihre schwitzenden Hände an der Jeans ab. »Was ist passiert?«

»Vor zehn Tagen ist ein deutscher Staatsbürger bei einem schweren Autounfall in der Türkei ums Leben gekommen. In Anatolien, nahe der syrischen Grenze. Sein Wagen ist auf einer Landstraße bei Mardin von der Fahrbahn abgekommen und anschließend völlig ausgebrannt. Keine Zeugen, keine Hinweise auf Fremdverschulden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass …«

»… der Fahrer des Autos Felix Winter war?«

Ömer Sahin nickt. »Leider ja. Obwohl er bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Die Gegend dort ist recht einsam, es hat Stunden gedauert, bis jemand den Unfall gemeldet hat. Zu löschen gab es nichts mehr.«

»Wie konnten sie wissen, wer der Mann ist?«

»Ausweispapiere wurden nicht gefunden. Falls er welche mit sich führte, sind sie verbrannt. Die Polizei konnte jedoch das Autowrack als Leihwagen identifizieren. Das Fahrzeug war sechs Tage vorher von einem Ausländer, der sehr gut Arabisch und Türkisch sprach, angemietet worden. Er hat der Mietwagenfirma einen Pass und einen internationalen Führerschein vorgelegt. Beide Dokumente wurden fotokopiert. Sie weisen ihren Inhaber als einen Deutschen namens Felix Winter aus. Die Behörden in Mardin haben uns die Kopien geschickt.«

Carla nickt. Selbstbeherrschung ist keine ihrer Stärken, und lange wird sie nicht mehr durchhalten. Im Grunde sind nur zwei erbarmungslose Wörter wirklich zu ihr durchgedrungen, doch die schnüren ihre Kehle zu und erzeugen im Kopf ein weißes Rauschen: verbrannt und Unkenntlichkeit.

»Darf ich Ihnen die Kopien zeigen?«

Wieder nickt sie nur.

Der türkische Beamte streckt ihr zwei DIN-A4-Blätter entgegen. Sie nimmt sie nicht in die Hand, das braucht sie nicht, um Felix auf den Passfotos zu erkennen.

»Ja«, sagt sie.

Ömer Sahin steckt die Blätter wieder in seine Aktentasche.

Carla räuspert sich. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«

»Die Behörden in Anatolien wussten nach Abschluss der Untersuchungen nicht, was mit dem Leichnam geschehen sollte. Also haben sie die deutsche Botschaft in Ankara angerufen, und die hat versucht herauszufinden, ob ein Herr Felix Winter hier Familienangehörige hat, die eine Beisetzung in Deutschland wünschen und für die Überführung aufkommen möchten. Die Suche nach nahen Verwandten verlief allerdings ergebnislos. Nur Ihre Eheschließung und Scheidung waren amtlich registriert. Normalerweise hätten wir es den deutschen Behörden überlassen, Sie zu informieren, aber da Sie hier in Frankfurt leben und wir schon einmal miteinander zu tun hatten, wurde ich gebeten, die traurige Nachricht persönlich zu übermitteln.«

»Danke.«

»Und, werden Sie es machen?«

»Was?«

»Die Kosten für die Überführung des Leichnams und seine Bestattung in Deutschland übernehmen?«

Carla zögert nur kurz. »Natürlich.«

Der türkische Beamte wirkt erleichtert. »Dann muss ich Sie bitten, diese Verpflichtungserklärung zu unterschreiben. Den Rest organisiert das Konsulat. Wir unterrichten Sie über die Details und die genaue Ankunftszeit.«

Er reicht ihr ein Formular, und sie unterschreibt es, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben. Er verstaut das Blatt in seiner Tasche und scheint es jetzt sehr eilig zu haben.

»Ich muss mich verabschieden und möchte Ihnen auch im Namen des türkischen Generalkonsulats mein herzliches Beileid ausdrücken. Leben Sie wohl, Madame.« Diesmal verzichtet er auf den Handschlag und hat sich bereits zur Tür gewandt, die er offen stehen lässt, als er mit einer kurzen Bemerkung zu Mathilde verschwindet.

Carla bleibt einfach sitzen und rührt sich nicht. »Noch mal danke«, sagt sie tonlos, obwohl sie weiß, dass ihr Besucher längst weg ist. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, während ihre Gedanken in die Vergangenheit rasen und nicht wissen, an welcher Stelle sie anhalten sollen.

Wie immer landen sie im Jahr 2008. Ihr Schicksalsjahr, in dem alles gut wurde. Zumindest hat sie es damals so gesehen. In diesem Jahr hat die vornehme Kanzlei Sterneis, Hooge & Partner ihren befristeten Arbeitsvertrag in einen unbefristeten umgewandelt und ihr Gehalt kräftig erhöht. Und am selben Tag, der zufällig ihr einunddreißigster Geburtstag war, hat Felix ihr den Antrag gemacht. Ein grandioses Timing. Auf eine feierliche und altmodische Weise hat er um ihre Hand angehalten, was sie rührend und unwiderstehlich fand. Allerdings hätte sie ihn auch genommen, wenn er einfach »Wie wär’s mit Heiraten?« gesagt hätte.

Keinen Augenblick hat sie gezögert. Alles war perfekt. Ein exzellent bezahlter Job und der großartigste Ehemann unter der Sonne. Was wollte sie mehr? Na ja, schön wäre gewesen, wenn ihre Familie Carlas Begeisterung für den Auserwählten geteilt hätte. Unbegreiflicherweise war das nicht der Fall. Sie hatte Felix bei einer Familienfeier vorgestellt, und es war ein Fiasko geworden. Ihre Schwestern hatten ihn ungeniert nach Herkunft, Beruf, Verdienst, Zukunftsplänen, Kinderwunsch und Gesundheitszustand befragt, und Felix hatte nur mit seinem Ingenieur-Diplom und dem Fachgebiet Meerwasserentsalzung überzeugen können. Bei allen anderen Punkten waren seine Antworten ein wenig vage ausgefallen. Carla fand das Verhör so peinlich, dass sie es schließlich abgebrochen hatte. Dennoch war das Urteil ihrer Schwestern einhellig: »Er hat die ganze Zeit herumgeeiert!«

Ihre Eltern waren ebenfalls nicht erfreut gewesen. Ihre Mutter, die auf dem Weg von der Melancholie in die Depression damals schon ein gutes Stück vorangekommen war, hatte nur traurig gelächelt. »Also, hübsch ist er schon.« Ihr Vater hatte offen ausgesprochen, was alle dachten: »Tut mir leid, Liebes, aber das ist definitiv kein Mann zum Heiraten.« Was für eine gequirlte Scheiße. Die Ignoranz ihrer Familie hatte sie unfassbar wütend gemacht. Warum konnte niemand sehen, was sie sah? Vor ihr lag ein fantastisches Leben mit einem wunderbaren Mann.

Felix war humorvoll, einfallsreich und gutaussehend, und die ersten zwei Jahre ihrer Ehe hatte Carla in vollen Zügen genossen, obwohl er so viel unterwegs war. Sie hatte sich nach ihm gesehnt, wenn er manchmal zwei Monate lang wegblieb, und die langen Phasen des Alleinseins waren schwer auszuhalten, doch auch sie hatte viel gearbeitet und war auf dem besten Weg gewesen, eine erfolgreiche Wirtschaftsanwältin zu werden. Vor allem aber hatte sie restlos darauf vertraut, dass er mit der Zeit sesshafter werden würde und sie nur etwas Geduld haben müsste.

Dann musste irgendetwas geschehen sein, über das er nicht sprechen wollte. Er blieb länger und länger fort und entfernte sich auch emotional immer mehr von Carla. Eine Art Riss schien durch ihre Beziehung zu gehen und Felix immer mehr von ihr zu entfremden. Vermutlich hatte er eine andere Frau kennengelernt. Dieser Gedanke war sofort in Carlas Kopf aufgetaucht und hatte sich dort mit zahlreichen Widerhaken festgesetzt. Irgendwann hatte sie den Verdacht als Gewissheit betrachtet, obwohl es nie einen Beweis gab. Wenn sie Felix gegenüber etwas in dieser Richtung andeutete, war er wütend und verletzt gewesen. Er hatte ihr dann von extremem beruflichem Stress erzählt, von nervenzermürbenden Verhandlungen mit arabischen Regierungsstellen, internationalem Konkurrenzkampf und dergleichen mehr. Und immer schwor er, dass es nur sie gab. Sie hatte zugehört und versucht, ihm zu glauben. Hatte sich eingeredet, dass er den Nahen Osten und das ewige Herumreisen irgendwann satthaben und mit ihr und zwei Kindern in ein gemütliches Haus am Taunusrand ziehen würde.

Allerdings deutete nichts in seinem Verhalten auf eine solche Absicht hin. Stattdessen war er im dritten Ehejahr von seinen Auslandsreisen immer seltener und unwilliger nach Frankfurt zurückgekehrt und zum Schluss über einen Monat lang überhaupt nicht mehr erreichbar gewesen. Damals hatte sie begriffen, dass ihr Ehemann bei aller Liebenswürdigkeit in erster Linie ein narzisstischer Abenteurer und Herumtreiber war, der sich niemals ändern würde. Furchtlos, sprachbegabt, notorisch unzuverlässig und völlig unberechenbar. Kein schlechter Mensch, der andere absichtlich verletzte, sondern jemand, der außerstande war, wegen der Bedürfnisse eines anderen auch nur einen Millimeter von seinen eigenen Plänen abzurücken. Was im Ergebnis auf das Gleiche hinauslief.

Also hatte sie nach knapp vier Jahren Ehe die Reißleine gezogen und den Gedanken an eine gemeinsame Zukunft begraben. Kein Haus, keine Kinder, kein Vorgarten. Nicht mal ein verdammter Hund. Zum Glück! Am Telefon hatte sie Felix das endgültige Aus mitgeteilt, und er hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, sie umzustimmen. Dafür hatte sie ihn gehasst.

Und nun war er in einem Auto in Anatolien verbrannt. Was für eine elende Scheiße.

»Alles okay mit Ihnen?« Mathilde ist hinter ihr im Türrahmen aufgetaucht, und in ihrer Stimme schwingt tatsächlich so etwas wie Anteilnahme mit.

Carla zieht den Rotz hoch und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Mein Exmann ist tot.«

»Was?!« Ihrer Sekretärin scheinen einen Moment lang die Worte zu fehlen, aber wie immer ist dieser Moment kurz. »Das tut mir leid«, sagt sie. »Ist er in der Türkei gestorben?«

»Ja.«

»Und es kommt jemand vom Konsulat hierher, um Ihnen das persönlich mitzuteilen?«

»Ja, sehr freundlich, oder?«

Mathilde schweigt eine Weile. »Mhm …«, sagt sie dann, »und sehr, sehr ungewöhnlich. Die Herrschaften haben doch gegenüber den Medien damals behauptet, Sie seien so was wie die Hausanwältin der kriminellen Kurdenclans im Ruhrgebiet.«

»Das ist vier Jahre her.«

»Hat Ihnen der Tote noch etwas bedeutet?«

Carla zögert. »Ich weiß es nicht«, sagt sie schließlich. »Ich glaube, er war der, der es gewesen wäre.«

Drei

Konzentrier dich, verdammt! Wenn sie nicht langsamer fährt, wird sie noch vor Felix auf einem deutschen Friedhof landen. Die Rückfahrt zu ihrer Wohnung kommt ihr endlos lang vor, weil ihre Tränen unaufhörlich fließen und sie mit den Gedanken bei ihm ist. Wie mag er in den letzten Jahren ausgesehen haben? Immer noch blond und schlaksig? Mit diesem herausfordernden Grinsen? Auf den schwarzweißen Passfotos, die man ihr gezeigt hat, war nicht viel zu erkennen gewesen.

Und zum Schluss hat es ja auch keine Rolle mehr gespielt. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, hat Doktor Schiwago gesagt. Sie wird diese niederschmetternden Worte nicht mehr aus dem Kopf bekommen. An einer roten Ampel fährt sie beinahe auf den Wagen vor ihr auf und nimmt beim Rechtsabbiegen erst im letzten Augenblick einen Radfahrer wahr, der sich mit einem wütenden Tritt gegen ihre Beifahrertür revanchiert.

Warum nimmt Felix’ Tod sie so mit? Seit der Scheidung haben sie, abgesehen von einem kurzen Telefonat, keinen Kontakt mehr gehabt. Aber sie hat oft an ihn gedacht. In den ersten Jahren voller Groll, Enttäuschung und Selbstzweifel. Als diese Emotionen schwächer wurden, waren auch ein paar schöne Erinnerungen zurückgekehrt, doch nach und nach war er immer seltener in ihrem Kopf aufgetaucht. Die Sache war gelaufen. Schluss, aus, abgehakt! Felix war, wie er war, und er hatte in ihrem Leben nichts mehr zu suchen. Zumindest hat sie sich das so zurechtgelegt. Was also soll die verdammte Heulerei?

Eine Woche nach ihrer Heirat hatte er einen Vertrag bei einem Kraftwerksbetreiber in Dubai unterschrieben, dessen gigantische Meerwasserentsalzungsanlage täglich Millionen Liter Frischwasser aus dem Persischen Golf gewann, und einen Monat nach der Hochzeitsreise war er dort hingeflogen. Sie hatte keine Vorstellung gehabt, was ein Projektmanager genau tat, aber offenbar ließ ihm die Firma viele Freiheiten und vor allem Zeit zum Reisen. Lange hatte sie sich nichts dabei gedacht, wenn sie Anrufe und SMS aus Ländern bekam, in denen es gar keine Wasserentsalzungsprojekte gab. Auf jeden Fall verdiente er gut. Pünktlich zum Ersten jedes Monats hatte Jebel Ali Power and Desalination Plant eine stattliche Summe auf ihr Frankfurter Konto überwiesen, und wenn er zu ihr zurückkehrte, hatten sie das Geld zusammen mit vollen Händen ausgegeben. Das waren die schönen Zeiten in ihrer Ehe gewesen. Wenn er zurückkam.

Der Regen hat wieder eingesetzt und macht den Scheibenwischern des Audi schwer zu schaffen. Die erheblich verschlechterte Sicht stresst sie zusätzlich.

Als sie den Wagen schließlich vor ihrem Haus im Nordend parkt, ist sie in Schweiß gebadet. Sie steigt nicht gleich aus, sondern bleibt noch einen Augenblick im Auto sitzen, um ihre Nerven zu beruhigen.

Hoffentlich ist der Typ aus ihrem Bett verschwunden. Eigentlich müsste er wach genug gewesen sein, um begriffen zu haben, dass sie ihn bei ihrer Rückkehr nicht mehr antreffen will. Sich auch noch mit einem gekränkten und anhänglichen Liebhaber herumzuschlagen ist so ziemlich das Letzte, wonach ihr der Sinn steht.

Was sie jetzt wirklich braucht, ist ein heißes Bad. Allein sein, mit niemandem reden müssen, nicht mehr an Felix denken. Und Kaffee. Viel Kaffee. Vielleicht einen Film ansehen. Und nicht mehr an Felix denken. Sie schaut durch das Seitenfenster hinaus in den strömenden Regen. Das wird noch ewig so weitergehen. Fluchend öffnet sie die Fahrertür, sprintet die zwanzig Meter bis zum Haus und wird trotzdem komplett durchnässt, weil das Türschloss etwas schwergängig ist und sie wie immer den Schlüssel verkantet und drei Anläufe braucht, um die Tür zu öffnen. Im Flur streift sie die Schuhe und ihre klatschnasse Jacke ab, schüttelt die triefenden Haare wie ein Hund – und sieht die Kommode.

Alle Schubladen sind bis etwa zur Hälfte herausgezogen, und ihr Inhalt ist auf dem Boden verteilt.

Dieser Dreckskerl!

Vier

Er hat es nicht verkraftet, ein One-Night-Stand zu sein. Ein Mann, der nach dem Sex ohne Trara wieder zu verschwinden hat. Offensichtlich war das zu viel für sein kostbares Ego, und bevor er abgehauen ist … Was für ein mieses Arschloch.

Sie geht ein paar Schritte weiter und wirft einen Blick in Bad und Küche, die beide vom Flur abzweigen. Auch hier ein Bild der Verwüstung. Schranktüren wurden geöffnet und Schubladen herausgerissen, Geschirr, Besteck, Kosmetikartikel auf den Boden geworfen. Wohn- und Schlafzimmer bieten den gleichen Anblick. Er hat außerdem die Sessel und das Sofa aufgeschlitzt. Der Teppich ist übersät mit dicken Bündeln des Füllmaterials.

Mit geballten Fäusten steht sie mitten im Zimmer. Immer noch nass und zitternd vor Kälte und Wut. Schließlich holt sie ihr Handy heraus und beginnt, das Chaos zu fotografieren. Nach zwanzig Fotos fragt sie sich, warum sie das eigentlich tut. Ihre Wohnung ist ein Tatort. Die Polizei wird mehr als genug Fotos schießen und jede Kleinigkeit dokumentieren. Sie muss sie nur rufen und den Drecksack anzeigen. Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf schießt, bemerkt sie, dass er einen gewaltigen Haken hat.

Sie kann das Schwein nicht anzeigen, weil sie seinen Namen nicht weiß. Um genau zu sein, weiß sie überhaupt nichts über ihn. Sie könnte der Polizei den Pub in Sachsenhausen nennen, wo sie ihn abgeschleppt hat, aber was soll das bringen? Wie groß ist die Chance, dass er dort namentlich bekannt ist? Oder sich jemand an ihn erinnert. Die irische Kneipe ist rappelvoll gewesen, wie beinahe jede Nacht. Das Guinness floss in Strömen, es gab Livemusik und Karaoke. Niemand wird ein knutschendes Paar in der hintersten Ecke des Pubs beachtet haben.

Und da ist noch ein weiterer Punkt, an den Carla bisher nicht gedacht hat und der ihr unmittelbar Übelkeit verursacht. Wenn die Polizei sich diese Schweinerei hier ansieht und sie den Surferboy anzeigt, muss sie einräumen, dass sie die Nacht mit einem Mann verbracht hat, von dem sie nicht einmal den Namen kennt. Und der halb so alt ist wie sie selbst. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die Blicke und das anzügliche Grinsen der Beamten vorzustellen. Klar, wenn sie ein Mann Anfang vierzig wäre, der eine Zwanzigjährige mit nach Hause genommen hätte, sähe die Sache anders aus …

Scheißegal! Sie ist Single, erwachsen und in jeder Hinsicht unabhängig. Sie kann schlafen, mit wem sie will.

Stimmt. Allerdings kann sie nur schwer einschätzen, wie sehr ihr diese Geschichte beruflich schaden würde, wenn sie die Runde macht. Und das wird sie. Die Bullen werden sie genüsslich weitererzählen, und sie weiß, dass auch die Frankfurter Juristenszene ein redseliger Haufen ist. Gegen den Tratsch wird sie völlig wehrlos sein.

Ihr Magen hat angefangen im Zehnsekundenrhythmus zu krampfen. Als sie merkt, dass ihr schwindlig wird, setzt sie sich vorsichtig auf den Fußboden und beginnt mit den Fingerspitzen ihre Schläfen zu massieren. Sie muss das hier zu Ende denken, eine Entscheidung treffen.

Soll sie auf eine Anzeige verzichten? Wenn sie das tut, wird sie keinen Cent von der Versicherung sehen. Kommt nicht in Frage. Die Polizei rauszuhalten, ist keine Option. Aber was, wenn sie den Typen verschweigt? Den One-Night-Stand einfach unter den Tisch fallenlässt. Das ginge vielleicht. Jemand ist während ihrer Abwesenheit in ihr Haus eingedrungen, hat keine Wertgegenstände gefunden und aus Frust alles verwüstet. Ein Wohnungseinbruch mit Vandalismus. Keine wirklich gute Geschichte, aber eine, die funktionieren könnte. Trotz der fehlenden Einbruchsspuren an der Haustür?

Wieder fängt sie an zu zittern. Sie muss endlich raus aus den nassen Sachen. Mühsam kommt sie auf die Beine, schleppt sich ins Bad und zieht sich aus. Sie schlüpft unter die Dusche, und während sich der kleine Raum mit Wasserdampf füllt, betrachtet sie ihr rasch undeutlicher werdendes Spiegelbild. Die dunklen, kurzgeschnittenen Haare, die gerade Nase, der breite Mund. Ein schmales, irgendwie androgynes Gesicht, das viele Männer ausgesprochen attraktiv finden. Felix hatte behauptet, sie sähe aus wie Jamie Lee Curtis in Ein Fisch namens Wanda. Vor zehn Jahren vielleicht, denkt sie mit einem Anflug von Bitterkeit und registriert mit einem Seitenblick, dass sogar der Deckel des Wasserkastens an der Toilette entfernt wurde. Was für eine blinde, krankhafte Wut muss hier am Werk gewesen sein.

Als das Wasser nach fünfzehn Minuten abzukühlen beginnt, trocknet sie sich ab und streift einen Bademantel über. Sie hat entschieden, wie es jetzt weitergeht. Schritt für Schritt. Sie wird sich etwas Bequemes anziehen, ihre Haare föhnen und die Polizei verständigen. Und dann die Einbruchsversion vortragen, in der das Arschloch nicht auftaucht. Es tut ihr leid, ihn einfach so davonkommen zu lassen, aber es geht nicht anders.

Wenn die Bullen alles aufgenommen haben, lässt sie den ganzen verdammten Mist hinter sich und fährt übers Wochenende zu ihrer Schwester nach Mainz.

Barfuß geht sie ins Schlafzimmer und öffnet den Kleiderschrank. Als die Tür aufschwingt, weiß sie, dass alles anders kommen wird.

Fünf

Jemand hat ihn mit großer Kraft in den Schrank gestopft. Dorthin, wo die Jacken und Blusen auf Bügeln hängen.

Ihr Gast von heute Nacht trägt nur ein T-Shirt, und die Nacktheit zwischen seinen Beinen wirkt im Tod abstoßend und obszön. Sein Kopf ist extrem nach rechts verdreht, sodass sie ihm nicht wirklich ins Gesicht schauen kann, aber dennoch nimmt sie etwas von dem Entsetzen wahr, das seine Züge im Augenblick des Todes gezeichnet hat. Die aufgerissenen blutunterlaufenen Augen und der weit geöffnete Mund, den vielleicht kein Schrei mehr verlassen hat. Der getrocknete Blutfaden, der sich von seiner aufgeplatzten Unterlippe aus in den blonden Bartstoppeln auf dem Kinn verliert.

Sie weiß, dass er tot ist, ohne ihn anzufassen oder den Puls zu fühlen. Es braucht keinerlei medizinische Kenntnisse, um zu sehen, dass die abartige Verdrehung seines Kopfes mit dem Leben nicht vereinbar ist. Und dass sich kein Mensch auf der Welt so etwas selbst antun könnte. Ihr erster Impuls ist, die Schranktür wieder zuzuschlagen. Sie will das nicht sehen, will nicht wahrhaben, was einem Menschen zugefügt wurde, dessen Wärme und Leidenschaft sie vor weniger als zwölf Stunden noch genossen hat. Auch wenn er ihr ansonsten herzlich egal gewesen war.

In diesem Augenblick realisiert sie die ganze Wucht und Tragweite dessen, was sie da sieht. Was es bedeutet: Während sie die Nachricht vom Tod ihres Exmannes bekommen hat, ist jemand in ihr Haus eingedrungen und hat ihren Liebhaber ermordet. In ihrem Haus, großer Gott! Vermutlich, weil er ihn gestört hat bei dem, was er vorhatte. Und das war nicht einfach die Ruinierung der Wohnungseinrichtung gewesen. Sie sieht den abgeschraubten Deckel des Wasserkastens ihrer Toilettenspülung vor sich. Kein Vandalismus. Der Mörder hat etwas gesucht.

In ihrem Kopf ist wieder dieses Rauschen, das immer lauter wird. Ihr Herzschlag beschleunigt noch einmal, und im Brustkorb breitet sich ein sengender Schmerz aus. Vorsichtig geht sie in die Hocke, kniet sich dann hin und übergibt sich vor dem Kleiderschrank. Ausgiebig und immer wieder.

Als nur noch Galle kommt, wählt sie den Polizeinotruf.

Sechs

Die erste, vorläufige Vernehmung findet in ihrem Arbeitszimmer im oberen Stockwerk statt, in dem zwar alles durcheinandergebracht, aber nichts zerstört wurde. Die Kriminaltechniker sind schon hier gewesen. Carla setzt sich hinter ihren Schreibtisch und versucht, nicht an den Mann im Schrank zu denken. Ein Polizeibeamter, der sich als Kriminalhauptkommissar Rossmüller vorstellt, nimmt ihr gegenüber Platz. Seine uniformierte Kollegin hockt sich auf einen Stuhl in der Ecke und zückt einen Notizblock.

»Sind Sie einverstanden, dass unser Gespräch aufgezeichnet wird?«

»Ja, sicher.«

Der Beamte auf der anderen Seite des Schreibtisches spricht das Datum, den Ort der Vernehmung, seinen eigenen Namen und den seiner Kollegin ins Mikrofon und richtet es dann wieder auf Carla aus.

»Nennen Sie bitte für das Protokoll Ihren vollständigen Namen, Ihre Anschrift und Ihren Beruf.«

»Carla Marie Winter. Geborene Bellmann. Wohnhaft in der Gabelsbergerstraße 15. Ich bin Rechtsanwältin. Strafverteidigerin, um genau zu sein. Hier in Frankfurt.«

Sie ist müde und abgenervt, was man ihrer Stimme anmerkt. Eineinhalb Stunden sind vergangen, seit sie die Schranktür geöffnet hat. Neunzig Minuten, in denen ihr Leben komplett aus den Fugen geraten ist.

Sie haben das volle Programm durchgezogen. Ein Notarztteam, das nach einem Blick auf den Toten gleich wieder abgerückt ist, eine übellaunige Gerichtsmedizinerin, Kriminaltechnik, Spurensicherung. Und sie sind noch lange nicht fertig.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wird ihr Haus auf den Kopf gestellt. Von Männern und Frauen in futuristischen Plastikoveralls, die alles Mögliche fotografieren, untersuchen, bepinseln und eintüten. Eine routinierte Maschinerie, die weitgehend ohne Anweisungen und Gequatsche auszukommen scheint. Alle wissen, was zu tun ist, und niemand hat sich für Carla interessiert. Bis jetzt.