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Bernhard Aichner

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Beschreibung

Frühling der Wunder. Deutschland erlebt das Unfassbare. Ein Blinder kann plötzlich wieder sehen, ein Terroranschlag wird verhindert, und eine Prophezeiung erschüttert das ganze Land.

Verantwortlich dafür ist ein Mann, der aus dem Nichts kam. Ein Mönch, unscheinbar und bescheiden, das Volk glaubt an einen neuen Messias. Nur David Bronski und seine Kollegin Svenja Spielmann zweifeln. Sie machen sich auf die Suche nach der Wahrheit und decken den ungeheuren Plan eines Wahnsinnigen auf.

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Zum Buch

Frühling der Wunder. Deutschland erlebt das Unfassbare. Ein Blinder kann plötzlich wieder sehen, ein Terroranschlag wird verhindert, und eine Prophezeiung erschüttert das ganze Land.

Verantwortlich dafür ist ein Mann, der aus dem Nichts kam. Ein Mönch, unscheinbar und bescheiden, das Volk glaubt an einen neuen Messias. Nur David Bronski und seine Kollegin Svenja Spielmann zweifeln. Sie machen sich auf die Suche nach der Wahrheit und decken den ungeheuren Plan eines Wahnsinnigen auf.

Zum Autor

BERNHARD AICHNER (1972) schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke, er ist einer der erfolgreichsten Autoren Österreichs – aber er ist auch Fotograf. Bevor er sich der Werbefotografie zuwandte, war er jahrelang als Pressefotograf für den KURIER tätig. Bei der zweitgrößten Tageszeitung Österreichs erlernte er das journalistische Handwerk. Seine Aufgabengebiete waren vielfältig, im Besonderen war er von der Polizeifotografie fasziniert. Hier ging es um Unfälle, Mord und Naturkatastrophen. Aus diesem Grund siedelt Aichner nun seine neue Buchreihe genau in diesem Milieu an, in dem er sich jahrelang bewegt hat. Er weiß also aus erster Hand, worüber er schreibt. Für seine Kriminalromane wurde Aichner mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Burgdorfer Krimipreis 2014, dem Crime Cologne Award 2015 und dem Friedrich Glauser Preis 2017

BERNHARD AICHNER

BRENNWEITE

EIN BRONSKI KRIMI

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Copyright © 2022 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Bernhard Aichner; © Shutterstock/noolwlee; STILLFX; Inaoy

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27309-5V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.«

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

EINS

Erich Corga verlor den Verstand.

Er hatte die Kirche betreten und alle Türen abgesperrt. Den Haupteingang, die Tür zur Sakristei und auch den Aufgang zur Orgelkammer. Es war wie ein Sturm, der still und leise aufgezogen war. Wut, die sich plötzlich entlud. Unheil, das immer größere Ausmaße annahm. Bruder Erich Corga stürmte durch das Kirchenschiff und randalierte.

Es schien, als wäre der Teufel in ihn gefahren.

Er zerrte an Tüchern, riss Kerzenleuchter mit sich und warf Heiligenfiguren durch die Luft. Und als wäre das nicht genug, kletterte der Wahnsinniggewordene auch noch auf den Altar. Corga war wie von Sinnen. Er zerschlug, was noch heil war. Es war ein unwürdiges Schauspiel.

Und Bruder Hermann war Zeuge davon.

Er hatte die Orgel gespielt, Corga zuerst gar nicht bemerkt. Jetzt aber stand Bruder Hermann hilflos auf dem Chor und starrte nach unten. Konnte nicht fassen, was sein Mitbruder da machte. Er wollte ihn aufhalten, rief ihm beruhigende Worte zu.

Doch er konnte nichts tun.

Es war das traurige Ende einer Geschichte.

Eine, die vor vierzehn Jahren ihren Anfang genommen hatte.

Bruder Erich Corga war seit dem Tag, an dem er ins Kloster eingetreten war, immer ein friedfertiger Mensch gewesen. Niemandem hatte er je etwas zuleide getan. Er war scheu, zog sich gerne zurück, trotzdem war er hilfsbereit und freundlich, Aggression war ihm stets fremd gewesen. Umso entsetzter war Bruder Hermann, als er jetzt sah, wozu der stille und in sich gekehrte Pater fähig war. Der Zorn im Gesicht des Mannes, der jede Kontrolle über sich verloren hatte, machte Hermann Angst.

Dieses Gesicht. Diese Fratze.

Und Augen, die keine waren.

Denn Erich Corga war blind.

Bei einem Autounfall vor vierzehn Jahren hatte er sein Augenlicht verloren. Er war ins Kloster eingetreten, um Frieden zu finden.

Hermann hatte sich um ihn gekümmert, ihm das Ankommen leichter gemacht. Das bescheidene Leben am Berg, die Einsamkeit, die alltäglichen Rituale des Klosterlebens, Hermann hatte ihm alles nähergebracht. Er hatte Erich seine Freundschaft angeboten, ihm dabei geholfen, sich an ein Leben ohne Licht zu gewöhnen. Ihm die Wege gezeigt, ihn wochenlang durch die Gänge begleitet, ihm gesagt, worauf er achten müsse, welche Gefahren lauerten.

Hermann hatte sich um ihn bemüht. Von Anfang an.

Sein oberstes Ziel war es gewesen zu helfen.

In der Klosterbibliothek hatte er seine Bestimmung gefunden, bis zu diesem Zeitpunkt war er nur von der Liebe zu seinen Büchern erfüllt gewesen, Hermann hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dem armen Kerl das Leben im Kloster so leicht wie möglich zu machen. Erich sollte sich wie zu Hause fühlen. Aufgehoben und geliebt. Und Hermann verlor sein Herz.

Von Tag zu Tag mehr.

Er verliebte sich in den Fremden, obwohl da dieser Makel war. Oder vielleicht gerade deswegen. Hermann war beeindruckt. Fasziniert von der Tatsache, dass es keine Schönheit mehr im Leben des Novizen gab.

Erichs Gesicht war entstellt.

Zerschnittene Haut an der Stirn, den Schläfen, im Augenbereich. Zusammengenäht und vernarbt. Der Unfall, bei dem auch seine Eltern gestorben waren, hatte Erich aus der Bahn geworfen. Er hatte es auch nach Monaten, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, nicht geschafft, zurück in die Spur zu finden. Sich wieder im Alltag einzuordnen.

Da war nur noch Dunkelheit gewesen.

Bitte hilf mir, hatte er zu Hermann gesagt, als er im Kloster angekommen war.

Und Hermann half. Über drei Jahre lang war er für Erich da. Hörte ihm zu, unterhielt ihn, teilte seinen Schmerz. Alles hätte er für Corga getan. Er konnte gar nicht anders. Für ein bisschen Zärtlichkeit wäre er sogar gestorben für ihn.

Für eine Berührung.

Einen Kuss.

Doch was sich Hermann wünschte, es geschah nicht. Weder damals noch später. Corga lebte in seiner Welt. Allein in seiner Zelle. Er verbrachte seine freien Stunden mit Beten und Singen, sprach wenig. Doch schien er die Geborgenheit des Klosterlebens stets zu genießen, die Tatsache, dass niemand ihn für sein Aussehen verurteilte, sich lustig über ihn machte. Er war dankbar für den geschützten Raum, den er betreten hatte, nachdem er für sein Aussehen verhöhnt und gedemütigt worden war. Da draußen auf den Straßen, als er die Klinik verlassen hatte. Erich hatte von Kindern erzählt, die ihn auslachten, von den Blicken, die er trotz seiner Blindheit auf sich spürte.

Die Welt da draußen ist schlecht, hatte Erich Corga gesagt.

Ich bin froh, dass ich nichts mehr sehen kann.

In der Gemeinschaft des Klosters fand er seinen Platz.

Hermann sorgte dafür, dass der Abt einen Lehrer bezahlte, der Corga die Blindenschrift beibrachte. Hermann verwendete sogar einen Teil seines Bibliotheksbudgets dafür, Werke in Brailleschrift anzuschaffen. Er half Bruder Erich dabei, sich daran zu gewöhnen, die Welt zu ertasten. Sie zu hören. Zu spüren.

Monate dauerte es. Aber Erich Corga lernte immer mehr, sich damit abzufinden, dass das Glück ihn allein und blind zurückgelassen hatte.

Corga fand Trost. Und Liebe.

Die Liebe Gottes.

Und auch jene von Xuan.

Dieser junge Mann aus Vietnam, der drei Jahre nach Corgas Einritt im Kloster das bekam, was Bruder Hermann sich all die Jahre gewünscht hatte. Die Aufmerksamkeit des Versehrten, die Gunst des Blinden. Zeit, die man heimlich miteinander verbrachte, still und leise in der Zelle des anderen. Verborgen und wundervoll. Zweisamkeit, Zärtlichkeit, Haut, die endlich berührt wurde. Sehnsucht, die gestillt wurde. Fantasien, die Wirklichkeit wurden.

Sexualität. Sünde. All die Jahre hatte Hermann gehofft, dass es geschehen würde, er hatte sich nach Corga verzehrt, darauf gewartet, dass er ihm ein Zeichen gab, sich endlich zu ihm hinwenden würde.

Hermann und Erich.

Es war ein Traum, der nie wahr werden sollte.

Nach Jahren des Gebens musste Hermann akzeptieren, dass all sein Bemühen vergeblich gewesen war. Anstatt die Früchte zu ernten, die er gesät hatte, musste er dabei zusehen, wie Xuan sich in Corgas Zelle einnistete. Bereits zwei Wochen nachdem der Neue angekommen war, verbrachten sie die erste Nacht miteinander. Vor dem Morgengebet sah Hermann den Vietnamesen aus Erichs Zelle schleichen. Eine Welt brach für ihn zusammen, er fühlte körperlichen Schmerz. Die Hoffnung, die Hermann angetrieben hatte, war mit einem Mal verschwunden. Xuan hatte sie für immer vom Tisch gewischt. Mit einer Selbstverständlichkeit, die Hermann erschreckte, hatte sich Xuan genommen, was eigentlich ihm gehörte.

I hope, it is no problem for you.

Xuan machte klar, dass er Corgas Zelle noch öfter betreten würde.

It is love, sagte er.

Don’t tell the abbot.

Er zwinkerte Hermann selbstbewusst zu. Machte jenen Mann zum Mitwisser, der alles in der Welt dafür getan hätte, mit Xuan zu tauschen. Mit diesem wesentlich jüngeren und schöneren Mann, der sich mit einer Leichtigkeit nahm, was eigentlich ihm zustand.

Der Vietnamese und der Blinde.

Natürlich blieb es kein Geheimnis im Kloster.

Nicht nur Hermann sah in den nächsten Monaten, wie wunderbar sich die beiden verstanden. Dass Corga sich öffnete, viel mehr, als er es Hermann gegenüber je getan hatte. Von einem großen Glück sprachen die Mitbrüder hinter vorgehaltener Hand. Sie freuten sich darüber, dass Corga endlich wieder Lebensfreude empfand, dass er sich selbst aus seiner Einsamkeit entließ.

Schön anzusehen war es.

Doch Hermann litt. Er fiel in ein Loch, aus dem er knapp elf Jahre nicht mehr herauskommen sollte. Das Einzige, das er sich gewünscht hatte, blieb unerreichbar.

Bis vor ein paar Tagen.

Als Xuan starb.

Als der Geliebte von Erich Corga vom Kirchturm sprang.

Ein schnelles, abruptes Ende. Niemand hatte damit gerechnet, es gab keine Vorzeichen, keinen Streit, alles war harmonisch gewesen wie immer am Ende der Welt. Knapp unterhalb der Waldgrenze war gebetet und gesungen worden. Es war ein makabrer Zufall, dass gerade Hermann es war, der den Leichnam fand. Im Gemüsegarten. Verdrehte Gliedmaßen, eine mächtige Wunde am Kopf. Xuans Schädel war auf einem Stein aufgeschlagen. Blut überall.

Hermann lächelte.

Und verabscheute sich dafür. Doch er konnte nicht anders. Anstatt Mitgefühl empfand er Freude. Der Mann, der ihm den Zugang zu seinem Seelenheil verwehrt hatte, lag tot vor ihm. Ein paar Augenblicke lang gab er sich diesem schändlichen Gefühl hin, Bruder Hermann vergaß in diesem Moment alles, was ihm heilig war. Er verspürte Genugtuung. Eine Minute lang, vielleicht zwei. Dann rief er nach den anderen.

Ein Aufschrei ging durch das Kloster.

Innerhalb weniger Minuten waren alle Patres im Hof versammelt und starrten auf ihren Mitbruder. Auch Erich Corga. Er kniete neben Xuan und berührte ihn mit seinen Fingern. Strich ihm über das vertraute Gesicht.

Lange hielt er seine Tränen zurück, seine Verzweiflung. Als die Polizei kam und der Bestatter die Leiche in einen Transportsarg legte, stand er einfach nur da, beantwortete gefasst die Fragen der Beamten.

Corga ließ sich seine Trauer nicht anmerken. Über drei Tage lang beherrschte er sich.

Doch alle wussten, dass es in ihm brodelte, dass sein Schmerz sich bald seinen Weg nach draußen bahnen würde. Hermann war sich sicher, dass Corga irgendwann explodieren und etwas Furchtbares tun würde. Er hatte Angst, dass er Xuan folgen könnte. Dass dieser Schicksalsschlag ihn endgültig aus der Bahn werfen würde.

Hermann wollte es verhindern.

Doch Corga wehrte ab.

Lass mich, flüsterte er.

Niemand kann mir helfen.

Auch du nicht.

Dankbar nickte er Hermann zu. Da waren so viel Trauer und Wut in seinen Gesten. Verzweiflung. Er presste die Lippen zusammen, legte die ohnehin schon zerfurchte Stirn noch mehr in Falten.

Hermann hörte all die Fragen, die Corga quälten.

Warum hat Gott mir das angetan?

Was für ein Gott tut so etwas?

Warum ich?

Corga sperrte sich in seiner Zelle ein. Kam nur mehr zu den Mahlzeiten in den Speisesaal. Niedergeschlagen und zornig zugleich setzte er sich zu Bruder Hermann. Sagte ihm immer wieder, dass er das Kloster verlassen wolle. Für immer. Dass es ihm überhaupt am liebsten wäre, sich aufzulösen, sich der grausamen Wirklichkeit nicht mehr stellen zu müssen. Völlig verloren war er.

Genauso wie Bruder Hermann.

Es war eine Folter für ihn, dem Mann nicht helfen zu können, den er liebte. Untätig zusehen zu müssen, wie die letzten Körner in der Sanduhr nach unten fielen.

Und wie Erich Corga schließlich in der Kirche Amok lief.

Hermann verfolgte alles von oben.

Sah zu, wie der Blinde zwischen den Bänken herumirrte, wie er immer wieder stolperte, sich stieß. Der trauernde Mönch, der die Kontrolle über sich verloren hatte und Gott dafür verantwortlich machte.

Du verdammter Scheißkerl.

Alles habe ich für dich geopfert.

Mein Leben habe ich dir gegeben.

Und du? Nimmst mir das Einzige, das mir wichtig war.

Seine Worte versetzten Hermann einen tiefen Stich.

Benommen beobachtete er, wie Corga unbeholfen auf den Hochaltar kletterte. Jeden Moment war damit zu rechnen, dass er fallen würde.

Doch er fiel nicht. Er fand einen sicheren Stand und begann an der mächtigen Marienfigur zu rütteln, zu deren Füßen die Mönche bei Prozessionen regelmäßig knieten, um sie zu küssen. Er riss den Schatz des Klosters aus seiner Verankerung. Die Muttergottes, hundertfünfzig Kilogramm schwer, kunstvoll von einem Schnitzer aus dem Grödental gefertigt.

Corga schrie, steigerte sich immer mehr in seinen Wahn hinein. Nichts konnte ihn mehr stoppen. Selbst wenn Bruder Hermann über die Brüstung geklettert und nach unten gesprungen wäre, er hätte es nicht verhindern können.

Die Skulptur kippte.

Riss Corga mit sich.

Er hatte das Gleichgewicht verloren, keinen Halt mehr gefunden, wie wild mit seinen Armen herumgerudert. Doch er stürzte und schlug wenige Sekunden später auf dem Steinboden auf.

Maria verletzte ihn.

Traf ihn am Kopf.

Brachte ihn zum Schweigen.

Plötzlich wurde es wieder still in der Kirche.

Corgas Brüllen war verstummt.

Das Bild, das sich Hermann bot, nahm auch ihm alle Worte.

Erich Corga.

Und die Muttergottes.

Nebeneinander.

Still und friedlich lagen sie da.

So, als würden sie schlafen.

Marias hölzerne Hand berührte die von Corga.

Sonne schien den beiden ins Gesicht.

ZWEI

SVENJA SPIELMANN & DAVID BRONSKI

– Wo warst du so lange?

– Toilette.

– Muss ich mir Sorgen machen, Bronski?

– Alles gut.

– Männer in deinem Alter haben gerne Probleme mit der Prostata. Solltest du mal anschauen lassen.

– Männer in meinem Alter?

– Du gehst auf die fünfzig zu, während ich noch das blühende Leben bin. Was aber trotzdem nicht bedeutet, dass du mich hier stundenlang allein herumsitzen lassen kannst.

– Hast dich also nach mir gesehnt?

– So weit würde ich nicht gehen. Wobei ich schon sagen muss, dass ich das hier alles sehr genieße. Mit dir Zeit zu verbringen. Kein Stress, nur die schöne Aussicht. Gute Luft und Berge. Könnte mich dran gewöhnen. Ist wirklich schön, deine Heimat.

– Stimmt. Trotzdem werden wir beide froh sein, wenn wir in zwei Wochen wieder zurück nach Berlin fahren.

– Ernsthaft? Du vermisst die Arbeit?

– Du nicht?

– Spinnst du, Bronski? Die Redaktion ist wirklich das Letzte, woran ich jetzt denke. Wenn wir zurück sind, geht der Wahnsinn ohnehin sofort wieder los. Also genieß die Zeit mit deiner schönen Freundin und entspann dich.

– Vielleicht gibt es auch hier in Tirol interessante Geschichten, über die wir berichten könnten.

– Du kannst ja ein bisschen die Landschaft fotografieren, wenn du auf Entzug bist. Eichhörnchen oder Murmeltiere. Aber bitte hör mir auf mit Mord und Totschlag. Ich bin froh, dass wir mal ein wenig Abstand haben.

– Hast du schon genug? Dachte eigentlich, dass du länger durchhältst. Nach allem, was wir beide schon durchgemacht haben, ging ich davon aus, dass wir das hier durchziehen. Also nicht nur privat, meine ich.

– Klingt so, als würdest du mich loswerden wollen.

– Ganz im Gegenteil. Eigentlich wollte ich dir sagen, dass es verdammt viel Spaß macht, mit dir zu arbeiten. Du machst dich wirklich gut als Polizeireporterin.

– Aber?

– Nichts aber.

– Da ist doch irgendwas im Busch.

– Was soll denn im Busch sein?

– Ich kenn dich, Bronski. Also sag schon.

– Auf dem Weg zur Toilette habe ich kurz mit dem Wirt geredet. Ich kenne ihn von früher, er betreibt diese Alm schon seit über fünfundzwanzig Jahren. Ein feiner Kerl. Kocht gut. Und ist immer gut informiert. Ist quasi ein Glücksfall, dass er mir das erzählt hat. Klingt nach einer ziemlich irren Geschichte.

– Was hat er dir denn erzählt?

– Ich habe übrigens noch zwei Bierchen bestellt. Und einen Kaiserschmarren. Wird dir schmecken, wirst sehen.

– Um welche Story geht es, Bronski?

– Neugierig geworden?

– Entweder du redest jetzt, oder wir werden während unseres gesamten Aufenthalts keinen Sex mehr haben. Auch wenn mir das schwerfallen wird, ich schwöre dir, ich ziehe das durch.

– Marienstein. Es geht um das Kloster. Nur ein paar Kilometer entfernt von hier. Liegt wunderschön am Waldrand, eingebettet zwischen den Bergen, ein traumhaftes Plätzchen. Wird dir gefallen. Die haben wunderbaren Schnaps dort. Im Klosterladen verkaufen sie Selbstgemachtes, wir könnten doch kurz dort vorbeischauen, bevor wir wieder runter ins Tal fahren.

– Kommst du jetzt zum Punkt?

– Der Wirt sagt, dort ist ein Wunder passiert.

– Ein Wunder?

– Ich weiß, das klingt blöd. Aber er schwört, dass da was dran ist, der Pater, der dort Schnaps brennt, ist ein Freund von ihm. Bruder Hermann. Im Vertrauen hat der dem Wirt heute Vormittag erzählt, was dort gestern passiert ist.

– Was, Bronski?

– Einer der Pater hat den Verstand verloren. Hat in der Kirche randaliert. Statuen und Gemälde von den Altären gerissen. Eine Marienstatue hätte ihn beinahe erschlagen.

– Er hat also überlebt, und das willst du mir jetzt als Wunder verkaufen?

– Der Mann war blind. Vor vierzehn Jahren hat er bei einem Autounfall sein Augenlicht verloren.

– Und jetzt ist er nicht mehr blind, oder was?

– Maria soll ihn auf wundersame Weise berührt haben. Klingt verrückt, nicht wahr? Aber anscheinend kann er tatsächlich wieder sehen.

– Und du glaubst diesen Mist?

– Der Wirt sagt, dass dieser Bruder Hermann absolut vertrauenswürdig ist. Der würde so etwas nicht erzählen, wenn nicht etwas dran wäre. Außerdem halten sie das Ganze noch unter Verschluss. Keiner weiß davon, außer dem Vatikan, der das bereits prüft. Sie wollen keinen Staub aufwirbeln, bevor nicht alles wasserdicht ist. Dass dieser Bruder Hermann seinen Mund nicht halten konnte, katapultiert uns quasi in die Poleposition.

– Deine Schwester hatte recht.

– Womit?

– Dass du keine drei Tage stillhalten kannst. Sie meinte, du hättest ein Entspannungsproblem.

– Anna hat keine Ahnung. Es geht hier nur darum, dass ich uns die Zeit ein bisschen vertreiben will. Das Wandern wird doch auf Dauer langweilig. Ein bisschen Action könnte uns nicht schaden, oder?

– Deine Schwester hat mich vor dir gewarnt. Ich soll deine Kamera vor dir verstecken, hat sie gesagt. Wenn ich nicht will, dass dieser Urlaub in einer Schufterei endet, solle ich auf sie hören. Habe ich aber leider nicht. Ist echt ein Jammer.

– So schlimm?

– Es stört mich, dass ich so verdammt naiv bin manchmal. Dass ich wirklich daran geglaubt habe, wir könnten ein paar schöne Tage miteinander verbringen.

– Aber das können wir doch.

– Nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.

– Und wie hast du es dir vorgestellt?

– Ach, Bronski. Ich wollte einfach hier mit dir sitzen und die Sonne genießen. Ich habe mich darauf gefreut, dich mal nur für mich allein zu haben.

– Es geht um Judith, oder?

– Nein. Doch, irgendwie schon. Ist nicht immer leicht, dich teilen zu müssen.

– Sie ist meine Tochter.

– Aber sie ist zweiundzwanzig Jahre alt. Und sie wohnt bei dir. Kommt dir das nicht irgendwie komisch vor?

– Sie hat ziemlich viel hinter sich.

– Ich weiß. Trotzdem sollte sie auf eigenen Beinen stehen.

– Du weißt, dass ich sie lange nicht gesehen habe. Dass ich jede Minute genieße, die ich mit ihr verbringen kann.

– Das weiß ich, ja. Und das ist vielleicht auch genau das Problem. Entweder du verbringst Zeit mit Judith, oder du arbeitest. Ich bekomme dich nur zu Gesicht, wenn wir irgendwelche Verbrecher jagen oder über Unglücke und Naturkatastrophen berichten. Es gibt uns beide entweder bei der Arbeit, oder es gibt uns zu dritt. Dass Judith jetzt auch noch bei der Zeitung arbeitet, macht es nicht besser.

– Du beschwerst dich?

– »Beschweren« ist vielleicht das falsche Wort.

– Was dann?

– Ich möchte dir sagen, dass mich das alles sehr traurig macht. Dass ich nicht weiß, wie das weitergehen soll, wenn sich nichts ändert. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich das noch kann.

– Mit mir zusammen sein?

– Dich lieben.

– Tut mir leid, Svenja.

– Was genau tut dir da leid? Die Wahrheit ist, dass du nicht den leisesten Schimmer hast. Und weißt du auch, warum? Weil du am Ende ja nur versuchst, ein guter Vater zu sein. Dabei aber leider mich vergisst.

– Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

– Du musst jetzt nichts sagen.

– Du weißt, dass ich dich liebe, Svenja.

– Lassen wir das, Bronski. So wie es aussieht, sind wir an einer heißen Story dran. Das ist am Ende das Einzige, das zählt, oder?

– Vergiss es, Svenja. Wir ignorieren einfach, was der Wirt mir erzählt hat. Wir fahren zurück nach Innsbruck, gehen schön essen, dann verkriechen wir uns mit einer Flasche Wein im Hotelzimmer.

– Das schaffst du nie.

– Wetten?

– Lass gut sein, Bronski. Ich weiß doch, dass du nicht aus deiner Haut kannst. Außerdem klingt die Sache mit dem blinden Mönch tatsächlich sehr interessant. Du musst dich also nicht quälen. Ich fahr gern mit dir dorthin.

– Bist du dir sicher?

– Bierchen und Kaiserschmarren, dann sind wir weg.

DREI

Ich hätte alles für Judith getan.

Wenn Svenja mich an diesem Nachmittag vor die Wahl gestellt hätte, ich hätte mich für meine Tochter entschieden. Ohne Zögern. Ich wollte sie nicht ein zweites Mal verlieren.

Judith war im Dezember 1999 entführt worden. Sie war damals vier Monate alt gewesen. Nach über zwanzig Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, lebte sie jetzt wieder bei mir. Sie war eine erwachsene Frau, eine Fremde, der ich von Tag zu Tag näherkam. Schön war es. Auch wenn es mir nicht leichtfiel und ich wusste, dass ich ohne Svenjas und Annas Hilfe längst gescheitert wäre. Sie waren verantwortlich dafür, dass Normalität in unser Leben kommen konnte, dass ich nach Judiths Auftauchen irgendwann damit aufgehört hatte, mich mit ihr zu verkriechen. Ich hatte begonnen, wieder zu vertrauen. Darauf, dass sie nicht erneut verschwinden würde. Dass nicht noch ein Unglück über mich hereinbrechen würde.

Ich hatte versucht, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Meine Tochter war bei mir eingezogen, ich hatte mich sogar dafür eingesetzt, dass sie in der Redaktion einen Job bekam. Ich hatte gedacht, dass ich alles unter Kontrolle hatte. Und dass alle anderen das Leben, das ich führte, ebenso schön fanden wie ich.

Die Arbeit. Judith. Svenja. Ab und zu ein Treffen mit meiner Schwester Anna. Ihren Kindern Ronja und Paul. Ihrem Mann Robert.

Ich hatte wirklich gedacht, dass alles in Ordnung war.

Doch ich hatte mich getäuscht.

Was Svenja gesagt hatte, traf mich. Ich wusste sofort, dass sie recht hatte. In meinem Privatleben herrschte Chaos.

Ich arbeitete zu viel, verbrachte zu viel Zeit mit Judith und zu wenig mit der Frau, die in den letzten Monaten alles für mich getan hatte. Mehr als jemals ein anderer zuvor.

Svenja war ein Geschenk, das ich nicht annahm. Ihre Beharrlichkeit war selbstverständlich geworden. Erst als sie mich spüren ließ, dass ihre Geduld ein Ablaufdatum hatte, hörte ich zum ersten Mal zu.

Ich war ein gottverdammter Idiot.

Dass sie überhaupt noch mit mir zusammen sein wollte, erstaunte mich. Sie fühlte sich schlecht behandelt, zurückgewiesen, zu wenig geschätzt. Ein Desaster war es. Unerträglich, weil ich es plötzlich verstand. Sehen konnte, wovon sie sprach. Sie hatte mich kalt erwischt. Mir zum Kaiserschmarren den aktuellen Stand unserer Beziehung serviert.

Ich war beschämt.

Weil ich bisher wenig gegeben hatte. Und mir Svenja weiterhin mehr gab, als ich verdiente.

Ich mache es wieder gut, sagte ich.

Es wäre schön, wenn du noch eine Zeit lang durchhältst.

So wie es aussieht, bin ich ziemlich aus der Übung.

War wohl zu lange allein.

Aber ich bekomme das hin, Svenja.

Ich küsste sie. Bat sie, mir zu vertrauen.

Man sollte die Hoffnung nie aufgeben, erwiderte sie.

Vielleicht geschieht bei uns ja auch noch ein Wunder.

Svenja nahm es mit Humor. Kehrte ohne weitere Umwege zu ihrer gewohnten Form zurück. Die Verletztheit in ihrer Stimme war verschwunden, ihre Bedürftigkeit, die Sorge, dass ich vielleicht doch nicht derjenige war, der sie auf Dauer glücklich machen würde.

Anstatt mich zu beschimpfen und mit mir zu streiten, fuhr sie mit mir zu diesem Kloster. Sie war großherzig. Und beschämte mich dadurch noch mehr.

Mir ist klar, dass ich dich nicht verdient habe, sagte ich.

Dann beendeten wir das Thema.

Svenja tat es.

Halt jetzt die Klappe, Bronski.

Konzentrier dich lieber auf die Straße.

Ich mag Tirol, aber sterben will ich doch lieber in Berlin.

Wir lachten.

Näherten uns dem Kloster.

Und damit der Story des Jahres.

Was wir uns erhofften, würde in den nächsten Tagen und Wochen bei Weitem übertroffen werden. Das Wunder, von dem der Hüttenwirt gesprochen hatte, uns überrollen. Wir wurden von dieser Geschichte umgerissen, aufgesogen, wir konnten uns nicht mehr entziehen, nicht zurück in diesen Urlaub, auf den Svenja sich so gefreut hatte. Plötzlich war da etwas, das all unseren Raum einnahm. Von unserem ersten Besuch im Kloster an wussten wir, dass diese Sache größere Kreise ziehen würde. Wir ahnten, dass wir mit der Berichterstattung über das, was sich in der Klosterkirche abgespielt hatte, einen großen Erfolg einfahren würden.

Wir waren die Ersten vor Ort, außer uns wusste noch niemand von der Sache. Der Abt, der uns auch auf unser Drängen hin nicht empfangen wollte, hielt alles unter Verschluss. Es war ein Mantel des Schweigens, der sich über Marienstein ausbreitete.

Wir spürten sofort, dass ein großes Geheimnis das Kloster umgab. Keiner wollte mit uns sprechen.

Dass wir für eine der größten Tageszeitungen Deutschlands arbeiteten, verschreckte die Mönche und schüchterte sie ein. Man behandelte uns wie gefährliche Eindringlinge, die man so schnell wie möglich loswerden wollte. Wir waren das Virus, mit dem sich niemand infizieren wollte.

Die deutsche Journalistin machte ihnen genauso Angst wie die beiden Fotoapparate, die über meine Schultern hingen. Man wollte nicht, dass ich Bilder machte, dass Svenja Fragen stellte. Von einem Wunder durfte niemand etwas wissen. Dass sich am Ende doch noch jemand erbarmte, mit uns zu reden, war nur der Tatsache geschuldet, dass ich Tiroler Dialekt sprach. Ich verbrüderte mich, sendete das richtige Signal aus, bemühte mich, einer von ihnen zu sein.

Freundlich, kantig, verlässlich.

Wir Tiroler müssen zusammenhalten, sagte ich.

Die Berlinerin an meiner Seite amüsierte sich. Zum ersten Mal bekam Svenja mit, wie es klang, wenn ich tief in meiner Heimat ankam. Sie kannte mich so nicht. Ich hatte mich immer bemüht, ein schönes Deutsch zu sprechen, in Berlin nicht als Österreicher aufzufallen. Ich passte mich gerne an, wollte meine Herkunft nicht zum Thema machen. Den neueren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Redaktion war es noch nicht mal aufgefallen, dass ich kein Deutscher war, es machte mir Freude, sie an der Nase herumzuführen. Manchmal imitierte ich das Bayerische, manchmal das Schwäbische, und mit ein paar satten Berliner Sprüchen machte ich die Verwirrung komplett. Sie konnten mich nicht einordnen, und das war mir nur recht. Je weniger die Menschen von mir wussten, desto lieber war es mir.

Nur Svenja ließ ich an mich heran. Ihr zeigte ich jetzt meine rustikale Seite. Es war mir zwar peinlich, aber es führte uns ans Ziel. Direkt in die Schnapsbrennerei des Klosters.

Nachdem wir an der Pforte abgewiesen worden waren und uns auch die Anrufe direkt im Büro des Abtes nicht weitergebracht hatten, gingen wir zum Klosterladen und starrten durchs Fenster. Er hatte geschlossen. Einem glücklichen Zufall sei Dank kam aber gerade, als wir wieder gehen wollten, jener Mann um die Ecke, der den Stein ins Rollen gebracht hatte.

Bruder Hermann.

Wir lächelten und falteten unsere Hände.

Nur ein paar Köstlichkeiten für den Weg, sagten wir.

Dass er uns eine große Freude machen würde, wenn er uns auch außerhalb der Öffnungszeiten Speck und ein paar Äpfel verkaufen könnte. Man habe uns den Klosterladen empfohlen, wir hätten extra einen langen Umweg gemacht.

Wir logen.

Und Bruder Hermann ließ uns eintreten.

Ein Kinderspiel war es.

Svenja schwärmte von dem Geruch der frisch gebackenen Brote, und ich interessierte mich für den Selbstgebrannten. Wir packten Bruder Hermann bei seinem Stolz. Und ermutigten ihn, dort weiterzumachen, wo er auf der Walderalm aufgehört hatte. Ich erinnerte mich daran, dass der Hüttenwirt davon gesprochen hatte, dass der Pater ein großes Redebedürfnis hätte. Darauf bauten wir.

Wir haben den guten Tropfen auf der Walderalm verkostet.

Ein wahrer Genuss. Der Wirt hat uns von Ihnen vorgeschwärmt.

Bruder Hermann strahlte.

Und er hat uns auch von dieser Sache in der Kirche erzählt.

Sie haben von einem Wunder gesprochen, ist das richtig?

Schnell wich er wieder zurück. Erschrak. Wollte schweigen wie die anderen, doch es gelang ihm nicht. Weil wir ihm vorgaukelten, dass wir gekommen waren, um eine Story über den Klosterladen und die Brennerei zu machen. Wir sagten ihm, dass man uns diesen Ort sehr ans Herz gelegt und ihn als Gesprächspartner wärmstens empfohlen hätte. Mit einem freundlichen Lächeln bat ich ihn, Fotos machen zu dürfen, Svenja sprach von einem schönen Artikel in der Sonntagsbeilage zum Thema Genussregion Österreich. Wir lockten Bruder Hermann in sichere Gefilde.

Still und heimlich führte er uns durch den Obstgarten zur Brennerei. Wir schwärmten, gaben ihm die Anerkennung, die ihm oft verwehrt zu bleiben schien. Wir tranken gemeinsam einen Schnaps. Dann noch einen. Und schließlich beschloss Bruder Hermann, die Regeln, die der Abt ausgegeben hatte, zu brechen.

Ich kann uns eine Jause machen, sagte er.

Und Ihnen von dem Wunder erzählen.

Keiner kann das so wie ich.

Bruder Hermann wurde plötzlich euphorisch. Die zwei Schnäpse, die wahrscheinlich nicht die ersten an diesem Tag gewesen waren, lockerten seine Zunge. Je länger wir in dem schummrigen Keller saßen, desto mehr öffnete Bruder Hermann sich.

Lass mich mit ihm reden, flüsterte ich Svenja zu.

Sie nickte. Verstand, warum ich das Interview führen wollte. Auch sie hatte gemerkt, dass der Pater wesentlich stärker auf Männer ansprach als auf Frauen. Er hatte Svenja die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal angesehen. Er ignorierte sie, duldete ihre Anwesenheit, sein Hauptaugenmerk galt allein mir.

Svenja fand das äußerst lustig.

Kam näher und flüsterte mir ins Ohr.

Zog mich auf.

Jetzt weißt du, wo du hinmusst, falls es mit uns beiden nicht klappt.

Der scharfe Pater nimmt dich sofort.

Sie grinste. Nahm ihr Handy aus der Tasche und schaltete das Aufnahmegerät ein.

Sie legte es auf den Tisch.

Lehnte sich zurück.

Und hörte zu.

VIER

BRUDER HERMANN & DAVID BRONSKI

– Und?

– Das Talent zum Brennen scheint Ihnen in die Wiege gelegt worden zu sein. Diese Vogelbeere hier ist sensationell. In ganz Berlin kann man so etwas Köstliches nicht finden, das können Sie mir glauben.

– Schön, das zu hören. Aber bitte duzen wir uns. Innerhalb der Klostermauern ist das so üblich.

– Gerne. Ich bin David.

– Hermann.

– Und das ist Svenja.

– Sehr erfreut. Schön, dass ihr beide den Weg zu mir gefunden habt. So eine Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage. Ein deutsches Qualitätsmedium interessiert sich für meine Arbeit, ich darf euch sagen, dass mich das mit Stolz erfüllt. Wahrgenommen zu werden ist nämlich eine Sache, aber von wem, eine andere. Die Provinzblätter hier haben schon öfter über mich geschrieben, aber meistens war es eine Enttäuschung. Ich wurde falsch zitiert, und die Fotos, die gemacht wurden, waren fürchterlich.

– Wir werden uns bemühen, versprochen.

– So kompliziert ist die ganze Sache ja eigentlich gar nicht. Alles, was ihr über die Brennerei wissen müsst, steht in diesem Buch da. Tiroler Schnapsroute. Seite vierundfünfzig und folgende. Kann man bei mir im Klosterladen erwerben.

– Wunderbar, das Buch kaufen wir natürlich gerne. Trotzdem wäre es gut, wenn du uns ein bisschen von eurem Alltag hier erzählst. Wie schaut euer Tagesablauf aus? Welche Pflichten gibt es? Wie viele Mönche leben hier?

– Er heißt Erich Corga.

– Wer? Wen meinst du?

– Wegen ihm seid ihr doch hier. Das Wunder. Darüber wollt ihr mit mir reden, oder?

– Natürlich würden wir auch gerne darüber etwas erfahren. Wir wollten dich aber nicht bedrängen oder in Schwierigkeiten bringen. Wir haben ja bereits mitbekommen, dass die Bewohner dieses Hauses nichts zu diesem Thema sagen dürfen. Zumindest hatten wir diesen Eindruck.

– Worüber ich rede und worüber nicht, entscheide immer noch ich.

– Wir möchten nicht, dass du Schwierigkeiten mit dem Abt bekommst.

– Ich bekomme keine Schwierigkeiten, ich bin schließlich derjenige, der die ganze Sache ins Rollen gebracht hat. Ich sehe nicht ein, warum ich darüber schweigen soll. Ein Wunder ist geschehen, und die Menschen sollen es erfahren. Je eher, desto besser.

– Wir kümmern uns gerne darum, Hermann.

– Wir sollten rüber in die Kirche gehen. Am besten, du fotografierst mich dort, wo ich gestanden bin, als es passiert ist. Außerdem zeige ich dir, wo er gelegen ist. Wo Maria ihn berührt hat. Die Heiligenfigur, die ihn beinahe erschlagen hat, weil er auf dem Altar herumklettern und randalieren musste.

– Erich Corga?

– Seine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Erich hatte ihn verursacht. Er selber hat glücklicherweise überlebt, aber sein Augenlicht verloren. Blind und orientierungslos ist er hier eingetreten. All die Jahre hat er nichts gesehen. Für das, was hier passiert ist, gibt es keine wissenschaftliche Erklärung.

– Was genau ist denn passiert?

– Zuerst dachte ich, er wäre tot. Die Holzfigur hat ihn mitgerissen und vom Altar gestürzt. Er rührte sich nicht mehr. Die Madonna lag neben ihm am Boden. Sie hielt seine Hand.

– Seine Hand?

– Erich war ohnmächtig. Lag so da, dass seine Hand von der Holzhand Marias berührt wurde. Es war so ein wunderschönes Bild. Ich wusste in diesem Moment, dass etwas Großes im Gange war. Dass etwas geschah, das alles verändern würde.

– Inwiefern?

– Ein Wunder in Marienstein. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was das bedeutet. Was in den nächsten Jahren hier los sein wird. Gläubige aus der ganzen Welt werden hierher pilgern. Unser kleines bescheidenes Kloster wird Weltruhm erlangen. Und ich werde Zeugnis von diesem Wunder ablegen. Berichten, was passiert ist.

– Was hast du zu diesem Zeitpunkt in der Kirche gemacht?

– Ich habe Orgel gespielt. Zumindest habe ich es versucht. Ist ein Hobby von mir, macht mir Freude. Unser Organist meint, ich schlage mich ganz ordentlich.

– Du und Erich Corga wart also allein in der Kirche?

– Keiner sonst hat gesehen, was ich gesehen habe.

– Er ist also aus seiner Ohnmacht erwacht und konnte plötzlich wieder sehen?

– Als er die Augen aufschlug, war es mir sofort klar. Etwas war anders. Für gewöhnlich starrte er immer irgendwie ins Leere, plötzlich aber hatte ich das Gefühl, dass er mich ansieht. Dass er genau in meine Richtung schaut. Zu mir auf den Chor hinauf. Es war ein heiliger Moment.

– Ihr kennt euch gut? Seid befreundet?

– Ja, das sind wir. Sehr sogar.

– Was kannst du uns noch über Erich Corga erzählen? Wie würdest du ihn beschreiben?

– Das ist schwer. Würde ich nur nach dem Äußeren gehen, müsste ich ein fürchterliches Bild von ihm zeichnen. Ich müsste euch sagen, dass er hässlich ist. Sein Gesicht ist komplett entstellt. Der Unfall hat ihm seine äußere Schönheit genommen. Menschen außerhalb dieser Klostermauern würden sich von Erich abwenden, niemand würde Kontakt zu ihm suchen, manche würden sich sogar vor ihm fürchten. Wohl auch deshalb hat er sich damals entschieden, ins Kloster zu gehen. Hier ist er in Sicherheit. Und seine innere Schönheit leuchtet.

– Du magst ihn sehr?

– Er ist ein großartiger Mensch. Ich habe ihn immer dafür bewundert, wie er das alles meistert.

– Du meinst seine Blindheit? Wie ist er damit umgegangen?

– Wir haben ihm dabei geholfen. Nach ein, zwei Jahren hatte er den Bogen raus. Die meiste Zeit haben wir gar nicht mehr daran gedacht, dass Erich nicht sehen konnte. Außerdem kennt er dieses Kloster in- und auswendig. Wenn man all die Wege seit so vielen Jahren geht, dann ist einem jeder Schritt vertraut, jeder Mauersims, jede Stufe, jedes Möbelstück. Wenn du ihn im Kreise unserer Mitbrüder gesehen hättest, wärst du nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er blind ist.

– Warum ist Corga auf den Altar gestiegen? Wie ist es dazu gekommen?

– Er hatte Kummer.

– Welcher Art?

– Sein Freund hatte sich umgebracht.

– Sein Freund?

– Du hast mich schon richtig verstanden. Bruder Xuan. Er hat vor vier Tagen sein Leben beendet. Für Erich ist dadurch eine Welt zusammengebrochen.

– Die beiden waren zusammen?

– Ja. Ist Homosexualität ein Problem für dich?

– Nein, nein. Ich wundere mich nur, dass du so offen darüber sprichst. Wir sind hier immerhin in einem katholischen Kloster.

– Trotzdem haben wir Bedürfnisse.

– Und Xuan war es egal, dass Corgas Gesicht entstellt war?

– Muss wohl so gewesen sein. Xuan und ich hatten nicht viel miteinander zu tun, keine Ahnung, was in ihm vorgegangen ist. Es hat mich auch, ehrlich gesagt, nicht interessiert. Was er gefühlt hat. Warum er sich umgebracht hat.

– Hast du eine Idee?

– Ich hatte immer den Eindruck, dass es ihm gut geht. Aber am Ende kann man in niemanden hineinsehen. Die Tiefen einer Seele sind schwer zu ergründen.

– Stimmt.

– Er hat Erich das Herz gebrochen, aber ihm, so gesehen, auch sein Augenlicht wieder zurückgegeben. Das Opfer seines Todes hat alles erst in Gang gebracht.

– Opfer?