Bretonischer Zitronenzauber - Hannah Luis - E-Book
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Bretonischer Zitronenzauber E-Book

Hannah Luis

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Beschreibung

Das Geheimnis eines alten Kuchenrezeptes und der Zauber der Bretagne

Wenn Mona an ihre verstorbene Großmutter denkt, ist es noch immer, als läge der Duft von frisch gebackenem Kuchen in der Luft. In Oma Josefines Nachlass findet sie ein Rezept für eine ganz besondere Zitronentorte von ihrer Urgroßmutter Helene. Auf der Rückseite des vergilbten Papiers: eine Liste mit Mädchennamen – darunter auch Josefine – und der Hinweis auf eine Pension in der Bretagne. Könnte das endlich eine Spur zu ihrem unbekannten Urgroßvater sein? Spontan macht sich Mona mit Hund Flint auf nach Frankreich, um das Rätsel zu lösen. Umgeben von Crêpes, Tartes und Cidre wandelt sie auf den Spuren von Helene und sucht nach dem Ursprung des Rezepts. An der malerischen bretonischen Küste, wo die raue Brandung auf zerklüftete Felsen trifft, verliebt sie sich schließlich nicht nur in die wilde Landschaft …

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Seitenzahl: 578

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Zum Buch

Das Backen hat in Monas Familie eine lange Tradition. Das Pech mit den Männern leider auch, stellt sie traurig fest, nachdem sie sich von ihrem Verlobten getrennt hat. Dann entdeckt sie eine alte Rezeptsammlung ihrer Urgroßmutter Helene. Die Notizen für die berühmte Zitronentorte enthalten Hinweise auf Monas Urgroßvater, dessen Identität Helene nie preisgegeben hat. Spontan fährt Mona zu der Pension in der Bretagne, in der Helene gearbeitet haben soll, bevor sie mit Kind – aber ohne Mann – nach Deutschland zurückkehrte. In dem renovierungsbedürftigen Haus trifft Mona allerdings lediglich auf den schlechtgelaunten Louan, der sie nur widerwillig auf seinem Sofa übernachten lässt. Doch sie gibt nicht auf und kann ihn überzeugen, bei der Suche nach ihren Wurzeln zu helfen. Vielleicht ist er ja doch kein so übler Kerl. Schon bald ist Mona verzaubert von den verträumten Orten, den urigen Cafés und dem köstlichen bretonischen Gebäck. Und je näher sie Helenes Geheimnis kommt, desto mehr fragt sie sich, ob sie ihr Glück vielleicht schon längst gefunden hat.

Zur Autorin

Hannah Luis studierte Skandinavistik, Publizistik und Sozialanthropologie in Bochum und Kopenhagen. Nach verschiedenen Stationen in Australien, England und der Schweiz kehrte sie nach Deutschland zurück. Heute lebt und schreibt sie in Karlsruhe, aber es zieht sie noch immer regelmäßig in die Ferne. Sie liebt es, Rezepte aus anderen Ländern mitzubringen und zu Hause auszuprobieren.

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Originalausgabe 04/2021 Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Catherine Beck Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung von FinePic®, München Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-26615-8V001www.heyne.de

1

Das Blech mit dem Bienenstich sah seltsam aus zwischen all den Grabsteinen. Zartgelbe Creme und golden geröstete Mandelblättchen neben Moos und Flechten auf einem Untergrund in zahlreichen Grautönen. Schnurgerade geschnittene, köstliche Quadrate neben Engelstatuen mit gefalteten Händen und Kreuzen aus Marmor. Oma Fines Backclub hatte ganze Arbeit geleistet.

Mona schnupperte verhalten. Das süßzuckerige Aroma breitete sich in der Wärme der Maisonne aus, mischte sich mit dem Duft der Lilien und Chrysanthemen und sorgte für den einen oder anderen Seitenblick aus den Reihen der Trauergemeinde.

»Ach Mann, ach Mann«, murmelte Anneliese Rumborg neben ihr – sie war es nicht gewohnt, Gebäck nur anzustarren und nicht essen zu können. Vielleicht trauerte sie aber auch gerade einfach nur laut, da der Duft Erinnerungen in ihr weckte. Zumindest war es bei Mona so. Sie hätte nur die Augen schließen müssen, um sich in Oma Fines Küche wiederzufinden, direkt an dem großen Eichentisch, dem Herzstück des Raumes. Dort hatten sie so oft gesessen, gelacht, Karten gespielt … und Mona hatte dort backen gelernt. Einzelne Zutaten in kleine Wunderwerke verwandelt, die nicht nur schmeckten, sondern auch Seelen wärmten. Fast konnte sie die Hitze des Herdes auf ihrer Haut spüren – ihre Oma hatte es nie übers Herz gebracht, den alten Kohleofen hinauszuwerfen, selbst als sein Elektro-Gegenstück bei ihr eingezogen war.

Mona lächelte bei dem Gedanken, und es war ein merkwürdiges Gefühl, da gleichzeitig ihre Augen brannten. Sie vermisste ihre Oma so sehr!

Rasch blickte sie zum Pfarrer, um sich abzulenken. Sogar der schaffte es nicht, den Bienenstich zu ignorieren. Seine Stimme verlor stets an Kraft oder Tempo, wenn er zum Blech blinzelte, und die Botschaft in seinem Blick war deutlich: Kuchen gehörte zum Leichenschmaus, nicht auf den Friedhof. Aber er war zu rücksichtsvoll, um die Trauergemeinde, in der es hier und dort verhalten schluchzte, deshalb zu rügen.

Mona entfernte einen verirrten Grashalm von ihrer Strumpfhose und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, woraufhin Frau Rumborg ihr die Schulter tätschelte. »Ist schon gut, Mädchen, ist schon gut.« Dann starrte die energische Frau mit durchgestrecktem Rücken und ernstem Blick in den Himmel, als kämen die Worte des Pfarrers geradewegs von dort. Wahrscheinlicher war allerdings, dass sie ihrer alten Freundin Josefine eine stumme Gardinenpredigt hielt und ihr vorwarf, sich aus dem Staub gemacht und sie hier unten auf der Erde mit allem Drum und Dran alleingelassen zu haben.

Es tat gut, Frau Rumborg neben sich zu wissen, rundlich und in ihren Gummistiefeln unerschütterlich wie immer. Sie wohnte im Haus direkt neben Oma Fine. Es war orangefarben gestrichen, und durch die davor gestapelten, alten Blumentöpfe und Gartengeräte erinnerte es ein wenig an eine winzige Villa Kunterbunt. Jeden Tag um Punkt vier Uhr war Frau Rumborg zum Kaffee erschienen. An Monas anderer Seite stand ihre Mutter, die in ihrem Hosenanzug und mit den im Nacken zu einem Knoten zusammengebundenen, hellen Haaren ungewohnt streng aussah. Sie kämpfte mit einem Taschentuch und blickte wie hypnotisiert auf die Schleife des Kranzes vor sich.

Deine Schritte sind verstummt, doch die Spuren deines Lebens bleiben.

Hier würde bald der so vertraute Name auf einem Grabstein prangen: Josefine Wiedmann. Geboren 1932, gestorben … viel zu früh. Allzu viele sichtbare Spuren hatte Oma Fine nicht hinterlassen, wenn man sich umblickte: Neben Mona und ihrer Mutter bestand ihre Familie nur noch aus ihrer Tante Dora, die jedoch zu krank war, um zur Beerdigung zu kommen. Dafür hatte Oma Fine umso mehr Erinnerungen in ihrer aller Herzen hinterlassen. Mona wettete darauf, dass das Rezept für den Bienenstich von ihr stammte und irgendetwas, eine raffinierte Kleinigkeit, ihn zu etwas Besonderem machte. Vielleicht ein Gewürz, das auf den ersten Blick inmitten der Zutaten seltsam erschien, vielleicht aber auch ein gehöriger Schuss Whisky oder Likör. Anders als der Rest des vollzählig zur Beerdigung angetretenen Backclubs hatte sich Fine nie damit zufriedengegeben, stur Rezepte zu befolgen, sondern hatte stets etwas abgeändert, verfeinert, ausprobiert, eine persönliche Note hinzugefügt. Und das mit diesem verschmitzten Glitzern in den Augen, das sie jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde wieder in ein junges Mädchen verwandelt hatte.

»Ich hab es schon in der Schule nicht leiden können, in den Schönschriftstunden einfach nur einen Text abzuschreiben«, hatte sie einmal erzählt, ehe sie ein paar Tannenspitzen – nur die jungen, hellen Enden, aus denen sie sonst Likör herstellte – fein zerstampfte und in ihre Erdbeermarmelade mischte. »Ich habe immer etwas hinzugefügt, manchmal ein Gedicht oder eine kleine Geschichte. Die Lehrer fanden das nicht gut.«

Die Marmelade hatte sich als unsagbar lecker herausgestellt – die Tannenspitzen verliehen ihr eine ganz besondere, leicht herbe Frische, die den perfekten Kontrast zur Erdbeersüße bildete –, und anschließend hatte das Rezept die Runde unter Oma Fines Club-Freundinnen gemacht.

Mona sah sich verstohlen um, während sie eine Strähne hinter ihr Ohr schob, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. Sie war sicher, aus mindestens einer Handtasche den Schraubverschluss eines Marmeladenglases herausragen zu sehen, und stellte sich vor, dass die Gläser hinterher am Grab zurückbleiben würden wie Mitbringsel zu einem letzten gemeinsamen Kaffeeklatsch.

Die Trauergäste in der vorderen Reihe waren ausnahmslos weiblich – so ausnahmslos weiblich wie Monas Familie. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, welcher Fluch dafür sorgte, dass sämtliche Männer relativ schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Der Grabstein neben Oma Fines Ruhestätte trug die Inschrift Alfred Wiedmann. Das Weiß der Buchstaben war an manchen Stellen bereits verblichen, der Glanz verschwunden. Monas Opa war noch vor ihrer Geburt gestorben.

Mit einem letzten Blick in die Runde – ja, das waren ganz eindeutig Marmeladengläser! – atmete sie tief durch.

Die Schulter ihrer Mutter berührte ihre, und der Druck war zu stark, als dass es Zufall sein konnte: Marion Martinssen lehnte sich an ihre Tochter, und wahrscheinlich merkte sie nicht einmal, wie sehr. Am liebsten hätte Mona ihre Mutter umarmt, doch sie fürchtete, dass diese dann in Tränen ausbrechen würde – und sie gleich mit. Noch stand die dünne Mauer der Selbstbeherrschung, auch wenn sie bereits bröckelte.

Auch an Mona war der Fluch der Familie nicht vorbeigegangen: Ihr Vater war verschwunden und hatte Mona und ihre Mutter zurückgelassen, als sie sieben Jahre alt gewesen war. So hatte sie viel Zeit bei ihrer Oma verbracht, die ihre Tochter nach Kräften unterstützte. »Man schafft alles, wenn man zusammenhält«, hatte Fine stets gesagt, und es wäre Mona nie in den Sinn gekommen, ihr zu widersprechen. Schließlich lag eine Menge Wahrheit in ihren Worten.

Jetzt waren sie nur noch zu zweit, Tante Dora mal außen vor gelassen. Auch Monas beste Freundin hatte nicht kommen können – und die war einer Familie noch am nächsten. Aber Isa schleppte momentan ein riesiges Gipsbein durch die Gegend, da sie vor drei Tagen beschlossen hatte, auch bei rutschigem Untergrund die Treppen vor ihrem Haus hinabspringen zu können. Dafür passte sie jetzt auf Flint auf, worüber Mona heilfroh war. Für sie war er der liebste Vierbeiner der Welt, aber auf der Beerdigung hätte er sich tödlich gelangweilt. Und wenn er sich hier ganz nach Hundeart schwanzwedelnd und hechelnd auf den Bienenstich gestürzt hätte, wäre er wahrscheinlich mit empörten Schreien und geschwenkten Handtaschen davongejagt worden.

Die andere Person, von der sie sich Halt erhofft hatte … Mona versteifte sich, da etwas in ihr vor Empörung leise zu brodeln begann. Sie wollte jetzt nicht an Daniel denken!

Sie lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Mutter und spürte, wie sich eine Hand auf ihren Rücken legte und ihn tätschelte. Jetzt schämte sie sich ihrer Tränen nicht mehr.

Niemals zuvor hatte es einen so exquisiten Trauerkaffee gegeben, da war Mona sicher. Er erinnerte eher an einen Kuchenbasar oder Backwettbewerb inmitten der so vertrauten, dunklen Kirschholzmöbel, die stets säuberlich abgestaubt gewesen waren, so lange Mona denken konnte, der Knüpfteppiche sowie der Orchideenflut auf den Fensterbänken. Im Gegensatz zu den betretenen Gesichtern bei der Beerdigung hätte Oma der vollgepackte Tisch in ihrem Esszimmer gefallen. Eine Köstlichkeit wartete neben der anderen.

»Trockener Streuselkuchen kommt mir nicht ins Haus«, hatte Oma stets gesagt. »Der sieht aus, als wäre jemand drübergefahren, und hat so viel Pfiff wie ein nasser Strumpf.« Alle hatten sich daran gehalten – weit und breit keine Spur von einem Streuselkuchen. Stattdessen duftete es vor allem nach Zwetschgen, Zimt und Vanille, und Mona konnte nicht verhindern, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie seufzte leise, sah sich um und strich ihr schwarzes Kleid glatt. Natürlich war sie nicht die Einzige, die verstohlen auf die liebevoll angerichtete Gebäcksammlung schielte.

Es gab Zwetschgenböden, eine Käse-Sahne-Torte, einen Frankfurter Kranz, eine Mokkatorte, Orangenbaiserschnitten, eine Kuppeltorte in Pastell sowie eine Marzipan-Kirsch-Torte. Zusammen mit ihrer Mutter hatte Mona zwei Platten Donauwellen gebacken und dabei die Buttercreme nach Familientradition mit Whisky verfeinert sowie weiße statt dunkler Kuvertüre gewählt. Fast glaubte sie, das malzige Glenlivet-Aroma durch den betörenden Duft der Zwetschgen zu erahnen.

Immer nur ein Hauch, Simona. Das macht den Zauber aus. Wie ein Geheimnis, dem man auf die Spur kommen will.

Der Bienenstich war bereits am Grab verputzt worden, da mehrere Damen darauf bestanden hatten. Der arme Pfarrer hatte unter den energischen Blicken nicht gewagt abzulehnen. Es war ein wenig skurril gewesen, als die Frauen Kuchengabeln verteilten, um dann über das Gebäck herzufallen. Mona war nur froh, dass niemand einen Flachmann aus der Handtasche gezogen hatte, um auf Oma Fine anzustoßen.

Das wurde jetzt anscheinend nachgeholt, denn mindestens zwei Frauen schenkten eifrig aus kleinen Flaschen ein. Oma Fines gute Kristallgläser passten hervorragend zu dem Geschirr mit dem Rosenmuster, das sie nur sonntags aus dem Schrank geholt hatte. Niemand achtete auf Mona, alle schienen versorgt – die perfekte Gelegenheit, um Daniel kurz anzurufen. Vielleicht war sein Termin ja schon vorbei und er auf dem Weg von München nach Hause. Noch immer ärgerte sie sich, dass er das Meeting im Hauptsitz seiner Firma nicht hatte absagen können und damit bei Oma Fines Beerdigung fehlen musste.

Sie schlich zur Treppe und hinauf in den ersten Stock. Dort warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihr Gesicht wirkte schmaler als sonst, Nase und Wangen waren noch leicht gerötet. Sie hatte extra kein Make-up aufgelegt, da sie befürchtete, mit verschmierten Augen zurückzukehren, und jetzt erinnerte sie an das kleine Mädchen, das hier so oft gespielt hatte. Neben dem Spiegel hingen in alten Holzrahmen gestickte Bilder, die ein- und dieselbe Landschaft in allen vier Jahreszeiten zeigten. Sie fuhr über einen Rahmen und spürte feine Risse unter den Fingern.

In Omas Schlafzimmer stand der Zweitanschluss. Von hier aus konnte sie in Ruhe telefonieren – ihr Handy befand sich in ihrer Manteltasche an der Garderobe, und sie wäre niemals darangekommen, ohne in mindestens ein Gespräch verwickelt zu werden.

In der Tür blieb sie stehen und schluckte, als ihr Blick auf die Fotos an den Wänden und die gehäkelte Tagesdecke fiel. Wie in jedem Zimmer in Omas Haus gab es nur wenige Möbel in dunklem Holz, aber dafür umso mehr Dekorationen wie Bilder, Platzdeckchen oder kleine, gestickte Motive an den Wänden. Fine hatte Handarbeiten fast ebenso sehr geliebt wie das Backen.

Sie atmete tief durch, trat an die Kommode, nahm den Hörer und wählte die Nummer. Das Freizeichen ertönte vierzehn Mal, ehe abgehoben wurde.

»Hallo?« Eine fremde Stimme. Die Person am anderen Ende sagte noch etwas, aber Mona verstand kein Wort. Zu laut war die Musik im Hintergrund. Tiefe, schnelle Beats, die ihr in den Magen schlugen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ganz sicher die richtige Nummer gewählt.

»Hallo?«, fragte derjenige noch einmal. Es klang ausgelassen, überdreht und auch ein wenig betrunken. »Wer auch dran ist, Sie sind hier richtig bei Enricos krasser 24-Stunden-Megaparty!« Er lachte und hustete.

Enricos Party. Enrico, Daniels alter Schulfreund? Vier, fünf schreckliche Sekunden lang stockte Mona der Atem. Es war, als würde sie das Gleichgewicht verlieren und in der nächsten Sekunde fallen. In ihre Fassungslosigkeit mischte sich Wut, so abrupt, dass sie am liebsten wieder aufgelegt hätte.

»Ich möchte Daniel sprechen«, sagte sie so neutral und energisch sie konnte. »Ist er … da?« Ist er nüchtern, hatte sie fragen wollen.

»Klar«, sagte Wer-auch-immer. »Daniel, Partymaaan! Telefon!«

Es folgte ein lautes Plonk! – offenbar hatte der Fremde Daniels Handy irgendwo abgelegt. Mona grübelte, ob es nicht besser wäre, wieder aufzulegen, doch da dröhnte Daniels Stimme auch schon an ihr Ohr.

»Ja, Daniel hier!« Er klang so ausgelassen wie der andere Kerl, und auf einmal war alles in Mona still. So sehr, als wäre die Welt eingefroren, und daran änderte weder die schreckliche Hintergrundmusik noch Daniels leicht gelalltes Hallooowerisdennda etwas. Ja, er war definitiv angetrunken.

»Hier ist Mona«, sagte sie und bemühte sich nicht, das Eis in ihrer Stimme zu verbergen. »Hast du Spaß?«

»Oh. Scha… Schatz.« Sie wusste, dass er sich mit der freien Hand soeben den Nacken rieb, wie so oft, wenn er unsicher war. »Wollte dich noch anrufen. Der Termin ist schon vorbei, aber ich musste mit den Partnern im Anschluss was trinken, und … die lassen einen nicht gehen. Verpflichtungen, du weißt ja.« Er lachte gekünstelt.

Jede Silbe traf sie direkt in den Magen, aber überraschenderweise schmerzte es nicht. Die Eisschicht dort war bereits zu dick.

»Mit den Partnern was trinken«, wiederholte sie tonlos.

»Ja, ich bin morgen wieder da, versprochen.« Irgendwer brüllte im Hintergrund Daniels Namen. Weitere Stimmen gesellten sich dazu, ein regelrechter Chor aus einer Welt ohne Trauer und Verlust.

Eine Party! Dafür war er nicht zur Beerdigung ihrer Oma erschienen, einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Vielleicht hatte er aber auch beschlossen, ein Zeichen zu setzen. Zu demonstrieren, was sie insgeheim schon lange wusste: Sie passten einfach nicht mehr zusammen

Mona ballte die leere Hand zur Faust. »Und, wie alt ist Enrico geworden? Heute, am Tag der Beerdigung meiner Oma, falls du dich noch daran erinnerst?«

Trotz des Hintergrundlärms war die Stille am anderen Ende bezeichnend. Sie konnte förmlich sehen, wie Daniel nach einer Erklärung suchte, aber dann brachte er nur ein »Oh« heraus.

In dem Augenblick war ihr klar, dass sie nicht mehr reden mussten. Es gab nichts mehr zu sagen, sie lebten in zwei völlig unterschiedlichen Welten.

Den Schock spürte sie, aber keinen Schmerz. Sie fühlte sich verraten, aber es tat nicht weh. Zumindest nicht um seinetwillen. »Leb wohl, Daniel.« Sie legte auf, starrte noch eine ganze Weile auf das Telefon und war erleichtert, dass es nicht klingelte. Er rief nicht zurück, da er bereits weiter von ihr wegdriftete. Warum war sie nicht einmal verletzt? Was sagte das über ihre … ja, was? Ihre Beziehung? Hatten sie überhaupt noch eine gehabt?

Langsam ließ sie sich auf das Bett sinken und strich über die Häkeldecke aus dunkel- und hellroten Maschen.

Du würdest mir nun sagen, dass ich ihm die Leviten lesen und ihn anschließend in die Wüste schicken soll, damit er sich den Allerwertesten und noch etwas mehr verbrennt.

Bei der Erinnerung an Oma Fine, die so energisch und so liebevoll zugleich sein konnte, wurde ihr die Kehle eng.

Die Verlobung mit Daniel schien ein halbes Leben her zu sein. Damals war sie ganz aufgeregt gewesen, als er sich im Urlaub an der spanischen Küste vor sie gekniet hatte, einen Ring in den Händen. Vor allem, weil sie so lange von einem solchen Moment geträumt hatte. Das Schmuckstück glänzte in der Sonne, die Möwen schrien nur für sie, und sie bildete sich ein, dass sogar die Fischer auf dem vorbeiziehenden Boot andächtig zu ihnen herüberblickten. Das lag nun bereits fünf Jahre zurück. Allein die Tatsache, dass sie seitdem nicht einmal angefangen hatten, Hochzeitspläne zu schmieden, sagte schon alles.

Ja, natürlich hatte sie davon geträumt, von ihrem großen Tag, dem angeblich schönsten im Leben. Kleid und Schuhe hatte sie sich in sämtlichen Einzelheiten ausgemalt – weiß, mit Silberperlenstickerei –, und dazu wollte sie einen Kranz aus hellen Blumen im Haar tragen. Wie eine Frühlingsbraut, die mit dem Mann ihres Lebens unter freiem Himmel tanzte. Die irgendwann ihre Schuhe abstreifte und barfuß mit den Blumenmädchen um die Wette über die Wiese lief. Die ihren Brautstrauß so hoch und weit warf, dass er mit dem Himmel und den Schäfchenwolken darin verschmelzen würde. Und die eine dreistöckige Hochzeitstorte anschnitt und sich mindestens zwei große Stücke gönnte, weil sie so schlau gewesen war, ein locker sitzendes Kleid zu wählen. All diese Träume hatte sie von einem Jahr ins nächste mitgenommen, doch niemals in die Tat umgesetzt. Und Daniel ebenso wenig. Dabei hatte sie immer fest daran geglaubt, mit dreißig verheiratet zu sein. Tja, Pustekuchen, das würde sie jetzt wohl nicht mehr schaffen. Mittlerweile fragte sie sich, warum Daniel ihr damals überhaupt einen Antrag gemacht hatte.

»Ich tippe auf Drogen«, hatte Isa vor nicht allzu langer Zeit gesagt, als das Gespräch mal wieder auf das leidige Thema Hochzeit gekommen war. »Irgendein neuartiges Zeug, das man ihm untergejubelt hat. Immerhin haben die Möwen dich warnen wollen und gekreischt wie blöde, aber du wolltest ja nicht hören. Haben die Fischer nicht auch was gerufen? Hätte es eine Warnung sein können?«

Mona hatte gelacht und ihrer besten Freundin einen Vogel gezeigt.

Doch auch wenn sie für sich und Daniel tief in ihrem Inneren keine Zukunft gesehen hatte, hätte sie heute mit seinem Beistand gerechnet.

Sie stand auf und wollte gehen, doch ihr Blick blieb an einem Holzkästchen hängen, das in einem der beiden langen Wandregale halb unter einem Häkeldeckchen verborgen war. Ein Kerzenhalter stand darauf, alle drei Kerzen noch unbenutzt und sicher reine Dekoration. Mona trat näher und zog das Kistchen vorsichtig hervor. Es war aus dunklem Holz, einfach gearbeitet und gut zwanzig Zentimeter lang. In den Deckel waren wenige Verzierungen eingearbeitet, verschnörkelte Linien und kleine Vogelsilhouetten. Mona überlegte, dann hob sie ihn an.

Das Kästchen war leer.

Sie zögerte, dann versuchte sie ein Lächeln. »Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich darauf aufpasse, oder?«, flüsterte sie und strich noch einmal über die Bettdecke. »Ich hätte gern etwas von dir bei mir, und es sieht nicht so aus, als würdest du es sehr vermissen.«

Stille antwortete ihr. Mona presste das Holz an die Brust, sah sich noch einmal um und verließ leise das Zimmer. Sie ging zurück ins Untergeschoss, wo Stimmengemurmel sie umfing wie ein weiches Tuch. Die Gäste plünderten bereits das Tortenbüfett, und die Frauen strahlten etwas Beruhigendes aus. Mona atmete tief durch. Sie brauchte Daniel nicht.

»Ach, Kind.« Frau Rumborg trat zu ihr und drückte sie an sich. Sie roch wie immer nach Wald und ein wenig nach Hund – eine ebenso tröstliche Nuance wie der Kuchenduft.

Mona erwiderte die Umarmung und hielt mit der Linken ihr Holzkästchen umklammert. »Ist noch genug Kaffee für alle da?«, fragte sie leise. Die Damen waren nach jahrelangem, knallhartem Training zu Meisterinnen des Kaffeevernichtens geworden.

»Mach dir mal keinen Kopf, ich kümmer mich schon.« Frau Rumborg nickte und musterte die Szenerie, als wäre sie ein Sporttrainer, der die Leistung seiner Mannschaft bewertete. »Fine wäre ganz zufrieden damit.« Sie blickte zur Decke des Esszimmers und nickte knapp. »Sie würde sich allerhöchstens darüber beschweren, dass manche von uns lange Gesichter ziehen. Sieh dir Petrenka an! Nicht nur, dass sie sich gekleidet hat, als würde sie ins Kloster wollen, nein, sie jammert auch noch rum. Versteh mich nicht falsch, Kind, Fine fehlt mir ganz fürchterlich, und ich habe gestern so laut geflennt, dass mein Mann schon die Polizei rufen wollte, weil das die einzige Nummer ist, die er auswendig kennt. Aber von dem Geheule wird sie auch nicht wieder lebendig. Also, lass uns mal an die schönen Zeiten denken.«

Trotz allem musste Mona lächeln. Leicht nur, aber es war ein winziger Sonnenstrahl. Sie beugte sich vor und hauchte der alten Dame einen Kuss auf die Wange. »Das finde ich auch. Und danke«, flüsterte sie und machte sich trotz allem daran, die riesigen Kaffeekannen zu kontrollieren.

Es stimmte, ihre Oma hatte in den vergangenen Wochen, die sie im Krankenhaus hatte verbringen müssen, mehrmals augenzwinkernd betont, dass sie keinen Leichenschmaus mit Leichenbittermienen wollte, sondern ein Fest, bei dem gut gegessen und auch gelacht wurde. Anfangs hatten Mona und ihre Mutter reagiert, als wären diese Gedanken vollkommen abwegig. Im Nachhinein schämte sie sich beinahe dafür. Sie alle hatten geahnt, dass ihre Oma das Krankenhaus nicht wieder verlassen würde, aber Fine hatte es als Einzige ausgesprochen. Der Tumor war zwar nicht bösartig gewesen, aber so dicht an ihrem Herzen, dass eine Operation nicht möglich war. Nach und nach hatte die Geschwulst die Funktionen des lebensnotwendigen Muskels eingeschränkt.

Mona atmete tief durch. Hatte sie damals geglaubt, die Realität ändern zu können, wenn sie die Augen nur fest genug davor verschloss?

Sie drehte sich um, hielt Ausschau nach ihrer Mutter und entdeckte sie neben dem Büfett, im Gespräch mit zwei Mitgliedern des Backclubs, die ihre Hände hielten. Gut. Die Frauen würden für sie da sein.

Sie ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. Jetzt bemerkte sie, wie sehr ihre Füße pochten. Kein Wunder, sie war seit dem Morgen auf den Beinen. Nicht mal von den großartigen Torten hatte sie bisher probiert.

Gelächter drang aus einer Ecke, und auf einmal musste auch sie den Kopf heben und zur Decke blinzeln.

Was denkst du, Oma? Es sieht doch alles ganz gut aus. Aber findest du nicht auch, dass die Kuppeltorte ein wenig verunglückt ist? Wahrscheinlich wurde der Teig zu früh geschnitten und war noch zu warm. Ich habe Donauwellen gebacken, mit Whisky aus deiner Vorratskammer. Nicht der torfige, der wäre zu dominant und würde das Geheimnis verderben. Ansonsten sorgen deine Mädels für Stimmung, und ich glaube nicht, dass wir hier vor dem Abend rauskommen.

Es würde gut sein, den restlichen Tag in dieser Gesellschaft zu verbringen. Die Frauen würden Anekdoten aus Omas Leben erzählen, aber sich auch gegenseitig trösten, wenn die Traurigkeit kam. Einen besseren Ort würde es für sie heute nicht geben.

2

»Kommst du zurecht?«

Erst als ihre Mutter die Tür öffnete und sich stirnrunzelnd umblickte, merkte Mona, wie stickig die Luft geworden war. In ihrem hellen Sommerkleid wirkte Marion Martinssen viel zu zart für den Dachboden.

Mona war so sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass ihr nicht aufgefallen war, wie viel Staub sie aufgewirbelt hatte. Nun sah sie die winzigen Partikel in dem Licht flirren, das durch das Dachfenster einfiel und ein wenig Farbe mit sich brachte, und als sie sich bewegte, roch sie etwas, das in die Kategorie uralt und abgestanden gehörte.

Sie stand auf, streckte sich und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn, ehe sie an ihrer Bluse und der Leinenhose zupfte, um ein wenig Luft an ihre Haut zu lassen. »Ja, sicher. Ich komm hier aber nur langsam voran.«

»Es eilt ja nicht, Schatz. Wir können uns so viel Zeit lassen, wie wir wollen. Mach ruhig eine Pause.« Ihre Mutter sah sich um, zog den Kopf ein, als sie eine der Dachschrägen passierte, und lief Slalom um die Kartons, die bereits gepackt oder sortiert waren. Der Bereich hier oben war lediglich als Lagerraum genutzt worden, aber da er gut isoliert war, befand sich alles in hervorragendem Zustand.

Oma Fine hatte ihren beiden Töchtern je die Hälfte ihres Hauses am Rand von Detmold vererbt, und man war übereingekommen, dass Tante Dora hier einziehen sollte. Immerhin würde sie dann wieder in der Nähe wohnen und nicht Stunden entfernt in Heidelberg, wo sie sich ohnehin nur einigelte und selten das Haus verließ, da sie schlecht laufen konnte.

Erst jetzt bemerkte Mona, dass ihre Mutter eine Tasse in den Händen hielt. »Oh, Kaffee?«

»Ich dachte, du könntest etwas Heißes gebrauchen.«

Zwar war es auf dem Dachboden nicht nur stickig, sondern auch beinahe unangenehm warm, aber Mona wusste genau, was ihre Mutter meinte. Seit Omas Tod fröstelte sie manchmal innerlich, so als hätte die fehlende Nähe eines geliebten Menschen eine kalte Stelle in ihrer Seele hinterlassen.

»Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.«

»Wirklich?« Da war er wieder, dieser zweifelnde Blick, den sie in den vergangenen Wochen so oft an ihrer Mutter gesehen hatte. »Mona, ich weiß, dass du versuchst, stark zu sein. Aber erst Mamas Tod und dann die Sache mit Daniel … du hast dir nicht einmal Urlaub genommen, obwohl die Firma es dir angeboten hat. Schatz, du musst das nicht alles allein stemmen.«

Mona stutzte kurz, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter noch immer glaubte, ihre Tochter würde vor den Trümmern ihres Lebens stehen. Sie trat zu ihr und legte einen Arm um ihre Schultern. »Was muss ich tun, damit du verstehst, dass ich wirklich froh bin, die Sache mit Daniel endlich hinter mich gebracht zu haben? Und dass die Arbeit und meine Kollegen mich ablenken, und zwar auf eine gute Weise? Ich liebe meinen Job, ich mag es, Projekte zu managen, und dass ich das ausgerechnet für Geschenkartikel machen darf, finde ich besonders schön. Da habe ich täglich mit Dingen zu tun, mit denen Menschen anderen eine Freude machen. Das ist so viel besser, als mir ein paar Tage freizunehmen und allein zu Hause zu sitzen. Ich hab doch eh demnächst Urlaub. Mir tut nur weh, dass Oma weg ist. Wobei«, sie zwinkerte, »ich, ehrlich gesagt, ganz schön oft mit ihr rede. Oder sie um Rat frage. Von da oben hat sie schließlich alles gut im Blick.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, dann schmunzelte sie und reichte ihr die Tasse. »Du bist und bleibst eben unsere Sonne.«

So hatte auch Oma Fine sie manchmal genannt – da sie schon als Kind stets versuchte, in jeder schwierigen Situation das Positive zu finden. Bisher hatte sie es stets geschafft vielleicht auch einfach nur, weil sie fest daran glaubte, dass die Welt sonst aus dem Gleichgewicht geriet.

Dankbar atmete Mona den Duft ein, der von der Tasse aufstieg. Kaffee, Mandel und ein Hauch Karamell. »Hm …« Sie trank einen Schluck.

»Und?« Ihre Mutter blickte sich um.

Es hatte Wochen gedauert, bis sie verkündete, dass es Zeit sei, Omas Haus in Angriff zu nehmen. Mit der Entscheidung war ihr Feldwebel-Gen aktiviert worden, und sie hatte Mona zuallererst auf den bis zum letzten Quadratmeter vollgestopften Dachboden geschleppt. Hier oben lagerten Dinge, die sie noch nicht kannte, Erinnerungen, die nicht ihre waren, und Geschichten, so lange vergangen, dass sie nur wenig schmerzten. Oma Fine hatte alles schön übersichtlich und nach Jahren sortiert in Kisten und Kartons verpackt. Einzig Willy Brandt, der Kater der Nachbarn, hatte die Ordnung gestört und ein Chaos aus Blättern und Fotos hinterlassen, als er, durch Mona aufgescheucht, fauchend aus seinem Versteck geschossen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Wahrscheinlich war er über die Kastanie neben dem Haus geklettert und hatte sich durch das halb geöffnete Fenster gequetscht, um den Dachboden zu seinem Reich zu deklarieren … bis heute.

Mona stellte die Tasse ab. »Hier, das wird dich interessieren.« Sie griff nach der Kladde, die sie in einem der Kartons gefunden hatte, dunkelbraun und mit eingedellten Ecken. Am Rücken wurde sie mit einem Satinband zusammengehalten. Die Blätter im Inneren waren im Laufe der Jahre dunkler geworden und hatten sich an den Rändern gewellt, aber die Schrift war noch gut zu erkennen. »Das ist eine Rezeptsammlung von Omas Mutter, Helene, zumindest steht ihr Name vorne drin. Sie ist handgeschrieben und an manchen Stellen mit Kommentaren versehen, die ich aber nicht alle entziffern kann.«

Ihre Mutter zog eine Kiste heran und setzte sich. »Lass mal sehen.« Sie nahm die Kladde und betrachtete sie eine Weile, ehe sie vorsichtig darüberstrich und sie dann noch vorsichtiger öffnete. Mona trank einen weiteren Schluck Kaffee und beobachtete, wie ihre Mutter die Zeilen mit einem Finger entlangfuhr und dabei lautlos vor sich hin murmelte. Dann hob sie den Kopf und lächelte. »Ja, die alte Handschrift. Gar nicht mal so einfach. Aber die meisten Rezepte kenne ich nur zu gut. Du übrigens auch.«

Mona nickte und erwiderte das Lächeln. Plötzlich war es ganz leicht, so als würde es sich verstärken, da es zwischen zwei Menschen hin und her tanzen durfte. Sogar der Raum wirkte auf einmal heller, und das nicht nur, weil der Kater bei seiner Flucht das Fenster ganz aufgestoßen hatte.

Sie hatte nur die ersten Seiten durchgeblättert und sämtliche Rezepte wiedererkannt, da sie bis heute zum Backrepertoire der Familie gehörten. Sogar die Himbeer-Baiser-Torte, die ihr nie so richtig gelang, war dabei.

Während sich ihre Mutter in Helenes Aufzeichnungen vertiefte, griff Mona nach dem nächsten Papierstapel, den sie zuvor zusammen mit einem alten Mantel und mehreren Deko-Dosen aus einer Holzkiste gefischt hatte. Der Mantel war ungefähr knielang, aus heller Wolle, mit einem riesigen Kragen und altmodischem Schnitt, aber er gefiel ihr. Sie hatte daran geschnuppert und seitdem das Gefühl, dass eine ganze Wollmaus-Familie in ihrer Nase hauste. Sie rieb kräftig darüber und griff nach einem großen Umschlag. Er war vergilbt und unbeschriftet, nicht verschlossen, aber die Lasche ordentlich festgesteckt. Mona löste sie und schüttete den Inhalt vorsichtig auf ihre Knie.

Ganz oben lag eine Postkarte, die eine wunderschöne, wenn auch sehr blaustichige Landschaft zeigte: endlose Wiesen und Felder, voneinander getrennt durch niedrige Steinmauern oder Hecken. Daneben gab es einen Getränkeuntersetzer aus Pappe sowie eine zusammengefaltete Papierserviette. Auf beiden war die stilisierte Abbildung eines Hauses mit einem rauchenden Schornstein und zwei Vögeln zu sehen. Darunter prangten der Schriftzug Mariot – Jacques & Gaelle Briant sowie eine Adresse in einem Ort namens Plédéliac.

Sie drehte Deckel und Serviette um, aber die Rückseiten waren leer, daher nahm sie sich das nächste Dokument vor. Ein Briefbogen. Er musste einst zartgelb gewesen sein, hatte sich im Laufe der Jahre jedoch zu einem blassen Ockerton verfärbt. Trotzdem fühlte sich das Papier noch immer weich und glatt an, beinahe wie Seide.

Fasziniert strich Mona darüber. Es war rundum mit wunderschönen Blätterranken und winzigen Zitronen bedruckt. Die Handschrift darauf war dieselbe wie in der Kladde, stammte also vermutlich von Uroma Helene. Hier war sie ordentlicher, die Ober- und Unterschlaufen gleichmäßiger, als hätte sich Helene besonders viel Mühe gegeben. Trotzdem, es war in Sütterlin geschrieben – jener Schrift, die wohl eigens dafür entwickelt worden war, junge Frauen nachfolgender Generationen in den Wahnsinn zu treiben.

Immerhin war der Aufbau der Zeilen unmissverständlich: Sie hielt ein weiteres Rezept in den Händen, so viel war sicher. Nachdem sie eine Weile überlegt hatte, wettete sie Daniels dämlichen Verlobungsring darauf, dass ganz oben Cehes Zitronentorte stand. Sie hielt sich nur kurz mit den Zutaten auf, erinnerte sich an die ungewöhnliche, aber so herrlich frische Kombination der Zitronen- und Basilikumcremes und an die kandierten Zitronenscheiben, die sie stets als Allererstes gegessen hatte, und drehte das Papier dann um.

Auf der Rückseite, gar nicht mal so ordentlich, hatte Helene nur wenige Wörter notiert – eventuell eine Einkaufsliste? Mona wollte den Bogen bereits beiseitelegen, als ihr auffiel, dass es sich um Namen handelte. Frauennamen. Sie runzelte die Stirn und kniff die Augen ein wenig zusammen, bis sie endlich den obersten entziffern konnte.

Maelys.

Das klang hübsch. Der Name war als einziger unterstrichen. Darunter hatte Helene weitere notiert, und allmählich gewöhnte sich Mona an diese seltsame, eckige Schreibschrift: Anna, Hildegard, Lieselotte, Erika, Elisabeth und … Josefine! Um den Namen ihrer Oma war mit Schwung ein Kreis gezogen worden. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht hatte Helene hier mögliche Namen für ihre Tochter notiert.

Mona griff nach den nächsten Papieren – ebenfalls Rezepte, jedoch ohne Zitronenranken. Die Überschriften waren Französisch oder klangen fremdartig: Kouign-amann oder Gâteau Breton.

Breton wie Bretagne?

»Mama?«

»Hm?«

»Hat Uroma Helene sich besonders für Rezepte aus Frankreich interessiert? Oder sogar aus der Bretagne? War sie mal dort?« Sie nahm den Stapel und schwenkte ihn. »Ich habe hier eine Adresse und diverse Rezepte, alles klingt französisch, und hier steht breton. Oder sagt dir ein Ort namens Plédéliac etwas?«

Ihre Mutter hob die Augenbrauen. »Nein, noch nie gehört.« Sie starrte zur Seite, ins Nichts, wie so oft, wenn sie versuchte, sich an etwas zu erinnern. »Das wird doch wohl nicht die alte Tabu-Geschichte sein«, murmelte sie.

»Die bitte was?«

Nach einem letzten Blick auf die Kladde in ihren Händen räusperte sich ihre Mutter, legte sie beiseite und rieb sich mit den Fingern über den Blumendruck auf ihrem Kleid.

Mona setzte sich aufrechter hin. »Oha, Mama! Was war da los?«

»Deine Oma hat nicht oft darüber geredet und wenn, dann äußerst ungern, und sie hat auch nicht gewollt, dass jemand außer Dora und mir davon erfährt. Nur Anneliese Rumborg hat noch Bescheid gewusst.«

Das klang ziemlich mysteriös! Die Haut in Monas Nacken begann zu kribbeln, leicht nur, aber auf jene Weise, die einem verriet, dass man nun besser genau aufpassen sollte. »Was gewusst?«

»Das mit deinem Uropa«, sagte ihre Mutter und schielte nach oben, als wollte sie sich vergewissern, ob Oma Fine einverstanden war oder ihr jeden Moment einen Blitz ins Hinterteil jagen würde. »Warum … na ja, warum wir ihn nie kennengelernt haben.«

Mona fühlte einen winzigen Stich der Enttäuschung. Ach, darum ging es hier. »Du meinst, weil Omas Eltern sich damals getrennt haben?«

Das musste zu Jugendzeiten ihrer Uroma unverzeihlich gewesen sein und wurde seitdem in der Familie vehement totgeschwiegen. Immer wenn Mona mehr über ihren Uropa hatte erfahren wollen – wie war er gewesen? Wie hatte er ausgesehen? Hatte sie ihr kastanienbraunes Haar vielleicht von ihm? –, hatte ihre Oma das Thema gewechselt oder Mehl aus dem Schrank geholt, um einen Teig anzurühren. Mona glaubte ihr Leben lang, dass sich Fines Eltern im Streit getrennt hatten und sie ihren Vater für immer aus ihrem Gedächtnis streichen wollte.

Das war ihr gutes Recht und zudem nicht ungewöhnlich für diese Familie. Auch Monas Mutter redete am liebsten auf eine ganz bestimmte Weise über ihren Ex-Mann – nämlich gar nicht.

Mona hatte sich daher sehr früh vorgenommen, sich möglichst freundschaftlich zu trennen – wenn überhaupt. Bisher hatte das ganz gut funktioniert, nur Daniel machte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung.

Nachdem er von seinem München-Trip zurückgekehrt war, hatte er sich dafür entschuldigt, die Beerdigung vergessen zu haben, während er sich quer durch Netflix zappte. Mona hatte ihm daraufhin freundlich mitgeteilt, dass er den Müll runterbringen und sich dabei überlegen sollte, wo er die kommenden Tage zu wohnen gedachte. Schließlich war dies ihre Wohnung, in die er nur wenige Monate nach ihrem Kennenlernen eingezogen war. Er hatte versucht, um einen Schlafplatz auf dem Sofa zu pokern, doch sie war hartnäckig geblieben. Bisher hatte er nicht einmal seine restlichen Sachen abgeholt.

Eine große Lücke hatte er nicht in ihrem Leben hinterlassen – weder dort, wo sich leere Stellen in der Wohnung abzeichneten, da sie sein Zeug zusammengepackt und in die Kammer gestellt hatte, noch in ihrem Tagesablauf.

Der gemeinsame Urlaub fiel nun natürlich ins Wasser. Wie gut, dass sie ausnahmsweise noch nichts geplant hatten – Mona, weil sie wegen Oma Fine andere Dinge im Kopf gehabt hatte, und Daniel, weil … nun. Warum auch immer. Es interessierte sie nicht. Nicht mehr. Der Gedanke an die zwei freien Wochen, die vor ihr lagen und zu schade waren, um sie komplett zu Hause zu verbringen, war ungewohnt, wie derzeit so vieles in ihrem Leben. Aber darum würde sie sich später kümmern.

Sie musterte ihre Mutter, die gedankenverloren an den Papieren in ihren Händen knibbelte. »Also? War es so? Wissen wir nichts über Uropa, weil er und Helene sich getrennt haben?«

Marion schüttelte den Kopf. »Nein, darum ging es nicht. Oder vielleicht doch. Dora und ich sind uns nicht sicher.«

»Wie meinst du das? Ihr wisst nicht, wie Helene und ihr Mann sich getrennt haben?«

Ihre Mutter zögerte. »Das auch, ja. Aber … ach, jetzt, wo Mama weg ist, kann ich es dir ebenso gut erzählen.« Sie verzog den Mund. »Wir wissen nichts über diesen Mann, unseren Großvater. Mehr noch: Sogar deine Oma wusste nichts über ihren Vater. Ihre Mutter hat nie auch nur ein Wort über ihn fallen lassen.«

Mona riss erstaunt die Augen auf. Es stimmte, Oma Fine hatte immer dichtgemacht, wenn man sie nach ihren Eltern fragte, aber Mona glaubte stets, dass alte Streitigkeiten der Grund dafür waren, in Kombination mit Fines ausgeprägtem Dickkopf. Dabei hätte sie so gern mehr über ihre Wurzeln herausgefunden, beispielsweise, ob es irgendwo dort draußen weitere Verwandte gab. Vielleicht Großtanten oder Großcousins.

Sie träumte von riesigen, fröhlichen Feiern, für die man einen Raum oder besser noch eine ganze Scheune oder einen Partysaal mieten musste, wo die Familie einmal im Jahr aus der gesamten Welt zusammenkam und gemeinsam feierte, tanzend in die Nacht hinaus und lachend in den Morgen hinein. Wo der Großcousin aus Amerika beschwipst genug war, um sich von sämtlichen Kindern mit Filzstift-Schnurrbärten und – Herzen verschönern zu lassen – auf Wangen, Stirn und Handrücken.

So ähnlich wie bei Isa und ihrer Truppe, wie sie es nannte. Mona würde nie vergessen, wie begeistert sie gewesen war, als ihre Freundin sie zum ersten Mal mit zu einem Familienfest geschleppt hatte. Wie alt waren sie da gewesen? Dreizehn? Vierzehn? »Du kommst mit, damit ich mich nicht zu Tode langweile«, hatte Isa gesagt. Mona hatte den Spaß ihres Lebens gehabt und war irgendwann auf einer Bank eingeschlafen, den Kopf auf den Knien von Isas kurzsichtigem Onkel Camillo, der sie für einen Hund gehalten und ihre Haare gekrault hatte. Seitdem war sie Dauergast bei Wagners. Trotzdem … mit der eigenen Familie war es etwas anderes.

Und jetzt das!

»Aber habt ihr denn nie nachgefragt? Oma muss doch versucht haben, was aus Helene herauszubekommen.«

»Das hat sie. Glaub mir, sie muss als Kind regelrecht frustriert gewesen sein, aber Helene war sehr energisch … und sehr verschwiegen, wenn sie wollte. Irgendwann hat Mama das wohl akzeptiert oder einfach resigniert. Wir wissen nur, dass Helene als junge Frau für eine Weile fortgegangen ist, und als sie zurückkam, hatte sie ihre kleine Tochter bei sich. Allerdings keinen Mann. Ihre Eltern müssen getobt und gebohrt haben, sie waren ja sehr strenggläubig. In ihrem Haus hing ein riesiges Kreuz, das Helenes Vater aus Schlesien mitgebracht hatte, und jeden Morgen wurde davor gebetet. Trotzdem hat Helene niemals auch nur ein Wort darüber verloren, was im Ausland geschehen war oder von wem das Kind stammte. Und überleg dir mal, wie lange das her ist. Deine Oma wurde ja 1932 geboren. Das waren noch ganz andere Zeiten damals! Ein Kind und keinen Mann zu haben war für eine Frau eine regelrechte Schande.«

»Kann ich mir vorstellen«, murmelte Mona und versuchte, sich ihre Uroma vorzustellen. Sie kannte Helene nur von wenigen Bildern, auf denen sie ihr dunkles Haar aufgesteckt trug. Oma Fine hatte nie viel von ihr erzählt, aber Mona wusste, dass sie eine sehr starke Frau gewesen sein musste, die oftmals ernst gewirkt und stets ihre Meinung durchgesetzt hatte. Ungewöhnlich für die damalige Zeit.

»Sie war sehr eigen, besonders wenn es um ihr Haar ging«, hatte Oma Fine einmal gesagt. »Sie hat es immer streng hochgesteckt. Niemand durfte es anfassen, aber manchmal habe ich zugesehen, wie sie es am Abend auskämmte.« Dieses Detail war Mona im Gedächtnis geblieben, da Helene pechschwarzes Haar besessen hatte – ein Merkmal, das nicht weitervererbt worden war. Als Teenager hatte sie das bedauert, aber mittlerweile war sie mit ihrem Braunton versöhnt, der in der Sonne rötlich schimmerte.

»Wann ist sie denn aus Detmold weggegangen?«

Ihre Mutter überlegte. »Das muss Anfang der Dreißigerjahre gewesen sein. Sie hat deine Oma mit neunzehn bekommen.«

Ein Funke zündete in Monas Kopf, und sie griff nach den Papieren. »Also kann es sein, dass sie in Frankreich war? Ich meine in der Zeit, in der sie weg war?«

Ihre Mutter lächelte. »Du meinst, wegen dieser Rezepte hier?«

»Nicht nur.« Mona stand auf und drückte ihr den kleinen Stapel in die Hand. Auf einmal schlug ihr Herz schneller vor Aufregung, obwohl es dafür keinen direkten Anlass gab. Sie deutete auf die Serviette. »Das hab ich in der Kiste dort gefunden. Ich glaube, es sind Helenes Sachen. Auf der Serviette und dem Pappdeckel steht eine Adresse in Plédéliac, und dort befindet oder befand sich das Mariot. Vielleicht ein Restaurant oder ein Hotel? Und hier«, sie deutete auf die Rezeptsammlung, »hier hat Helene Rezepte notiert, und eines ist ein bretonischer gâteau. Also ein Kuchen.« Ihre Französischstunden in der Schule waren zwar schon eine Weile her, aber kaum rief sie sich manche Vokabeln ins Gedächtnis, brachten sie einen Schwall weiterer mit. Vielleicht, weil sie die elegante Sprache damals so gemocht hatte. Isa und sie hatten nachmittags manchmal Französisch gesprochen und sich dabei vorgestellt, sie befänden sich in einem Urlaub in Paris und würden den Eiffelturm und den Louvre besuchen, um am Abend in einem kleinen Café oder an der Seine zu sitzen.

Sie nahm die Rezepte wieder an sich und blätterte sie durch, bis sie den Briefbogen mit den Zitronenranken fand. »Und hier, sieh mal! Eine Namensliste, und Josefine ist darunter. Da muss Helene einen Namen für ihre kleine Tochter gesucht haben. Immerhin wissen wir nun, dass Oma Glück gehabt hat, sie hätte auch als Lieselotte oder Hildegard enden können.«

Ihre Mutter las die Liste durch, ehe sie das Blatt sinken ließ. »Also, ja, auch wenn ich nicht sehr viel mehr weiß als das … aber du hast recht, es war Frankreich. Sogar die Bretagne. Helene hat dort knapp zwei Jahre in einer Pension gearbeitet. Zunächst als Hausmädchen, später in der Küche, vermutlich als Bäckerin. Die Sachen hier stammen sicher aus der Zeit.«

»Also war sie dort? In einer Pension oder einem Hotel namens Mariot? Warum hast du mir nicht zumindest das irgendwann mal erzählt?«

»Weil deine Oma es nicht wollte, mein Schatz, und ich weiß auch nicht, ob die Pension Mariot hieß. Je weniger über ihre Mutter geredet wurde, desto lieber war es ihr. Helene war sehr verschwiegen, und es sollten keine Gerüchte die Runde machen. Weniger Nährboden, weniger Gerede, hat deine Oma immer gesagt. Wie das nun mal mit Tratsch so ist.«

Mona nickte. Ja, das kannte sie nur zu gut. Isas Beziehung mit ihrem letzten Freund war an Gerüchten zerbrochen, und selbst als sich herausgestellt hatte, dass sie nicht stimmten, war das alte Vertrauen nicht zurückgekehrt. Es war erschreckend, welche Macht Gerüchte hatten, wenn sie sich einmal in der Welt festgebissen hatten.

»War Oma denn dann zur Hälfte Französin?«

Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Wenn, dann Bretonin«, sagte sie mit gespielter Strenge. »Um Himmels willen, sag niemals einem Bretonen, dass er Franzose sei, hat sie mir mal gepredigt. Dabei war sie niemals in Frankreich oder der Bretagne, sie muss das also von Helene gehört haben.«

»Ich werde es mir merken. Aber nun sag schon. War sie?«

Schulterzucken. »Keine Ahnung. Deine Oma wusste es selbst nicht. Und ich glaube, sie wollte auch deshalb nicht, dass mehr Leute davon erfahren. Weil es ihr zu schaffen gemacht hat, dass ihre eigene Mutter ihr nichts Handfestes über ihre Herkunft verraten mochte.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Mona. »Jeder will doch wissen, woher er stammt und ob er noch Familie hat. Überleg mal, vielleicht haben wir Verwandte in der Bretagne!« Aufregung pulsierte in feinen Vibrationen durch ihren Bauch.

»Ja, wer weiß.« Der Blick ihrer Mutter ging ein letztes Mal in die Ferne, dann schlug sie sich auf die Oberschenkel und stand auf. »Aber sollten wir hier nicht weitermachen?«

»Ich begreife nicht, warum du das nicht total spannend findest, Mama! Ob es das Mariot wohl noch gibt? Ich bin sicher, dass Helene dort gearbeitet hat. Warum sollte sie diese Unterlagen sonst aufbewahrt haben?« Mona hatte Feuer gefangen. Möglicherweise konnten sie herausfinden, was ihre Uroma Helene in Plédéliac erlebt hatte. Oder wer Oma Fines Vater war! Es gab eine Spur, der sie folgen konnte, und es musste einfach weitere geben. Auf einmal fühlte sie sich wie Flint, der bei einer Fährte manchmal so unter Dauerspannung stand, dass er sogar gegen Hindernisse wie parkende Autos oder Bäume lief. Hier hatte sich eine Tür aufgetan, und dahinter wartete womöglich eine Geschichte, die lange Zeit unter Verschluss gehalten worden und schließlich in Vergessenheit geraten war. Aber wollten nicht alle Geschichten erzählt werden? Das machte sie doch erst lebendig.

Ihre Mutter sah sie erstaunt an. »Möglich. Aber es lebt doch schon lange niemand mehr, der Helene gekannt haben könnte. Was würde es dir bringen zu wissen, was aus der Pension geworden ist?«

»Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen. Aber es ist etwas aus Helenes Vergangenheit. Ein Puzzleteilchen. Wer weiß, vielleicht gibt es dort, wo eines ist, noch andere. Man muss ja schließlich mit einem Punkt anfangen, wenn man eine Linie ziehen will«, zitierte sie einen der Lieblingssprüche ihrer Oma.

Ihrer Mutter zauberte sie damit ein Lächeln auf die Lippen. Dann widmete sich Marion Martinssen wieder dem Papier in ihrer Hand und drehte es um, sodass die Zitronenranken zu sehen waren. »Das hier ist auf jeden Fall Mamas spezielle Zitronentorte«, sagte sie dann. »Die kam öfter auf den Tisch, als du noch klein warst, Mona. Sie hat einen Teil der Früchte stets selbst kandiert, und neben der Zitronencreme gab es eine weitere Schicht mit frischem Basilikum. Das hat manche abgeschreckt, aber ich mochte es furchtbar gern. Es war ein ganz besonderer Geschmack. Er hat mich immer an den Sommer erinnert.« Sie fuhr die Ranken auf dem Papier mit einem Finger entlang. »Es gab dazu endlose Diskussionen mit Frau Rumborg. Basilikum als Gewürz gehört in Tomatensoße, aber nicht auf Torten, hat sie mal gesagt. Aber deine Oma hat nur gelacht und demonstrativ ein weiteres Stück gegessen. Frau Rumborg dann natürlich auch – damit das Zeug nicht schlecht wird.«

»Typisch Frau Rumborg. Später hat Oma die Torte nicht mehr so oft gebacken, oder?«

»Jetzt, wo du es sagst … nein. Vermutlich, weil damals der Backclub entstanden ist, da war sie damit beschäftigt, alles Mögliche auszuprobieren. Aber zu besonderen Gelegenheiten kam Cehes Torte immer noch auf den Tisch.«

»Ja, ich erinnere mich. Immer wenn ich an Zitrone und Basilikum denke, muss ich auch an Oma denken. Warum heißt sie eigentlich Cehes Torte? Was ist Cehes?«

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hat sie das Rezept so von irgendwem übernommen.«

»Hm«, sagte Mona, war aber mit den Gedanken schon ganz woanders. »Vielleicht finden wir hier auf dem Speicher noch weitere Hinweise auf Helene und ihre Zeit in Frankreich.«

»Der Bretagne.«

»Ja, okay. Wo liegt Plédéliac wohl genau?«

»Gute Frage«, murmelte ihre Mutter, schon wieder in das Rezept vertieft.

Mona schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Mutter kein Interesse daran zeigte, Helenes Spuren zu folgen. Denen der eigenen Oma! Für sie selbst war das nur schwer vorstellbar. Gut, sie hatte stets zu hören bekommen, dass sie nicht weiter nachfragen solle, was Helene und ihren Opa betraf, womöglich hatte sich das in ihr festgesetzt, als sie noch ein Kind gewesen war.

Monas Herz schlug schneller, als ihr Blick auf die übrigen Kartons und Kisten fiel, und sie malte sich aus, was sie alles herausfinden würde. Weitere Puzzlestücke aus Oma Fines Leben und vielleicht sogar aus Helenes! Sie trank ihren Kaffee aus, hauchte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und machte sich wieder an die Arbeit.

Zwei Sekunden genügten. Zwei Sekunden, in denen Mona sich mehr auf den Bildschirm konzentrierte als auf das Brot in ihrer Hand. Eine blitzschnelle Bewegung, ein Schnappgeräusch und ein kurzer, warmer Atemhauch an ihren Fingern, dann waren sie leer. Flint sprang von ihrem Schoß zu Boden. Er war schlau genug, um auf Sicherheitsabstand zu gehen, nachdem er sie um einen Teil ihres Abendessens betrogen hatte.

Mona starrte ihn so lange an, bis er zumindest den Anstand hatte, so zu tun, als täte es ihm leid. »Dir ist hoffentlich klar, dass das Konsequenzen haben wird und du dein Leckerli-Verbot soeben um mindestens zwei Tage verlängert hast?«

Die Antwort bestand in einem Dackelblick aus Terrieraugen, der zumindest Reue heuchelte. Aber sie war selbst schuld, wenn sie das Brot so einladend in die Luft hielt. Üblicherweise achtete sie auf solche Dinge, wenn ihr Hund im Raum war, aber sie hatte sich zu sehr auf ihre Suche im Internet konzentriert.

Leider ohne Erfolg. Weder über die Pension – oder das Hotel – Mariot noch über die damaligen Besitzer Jacques und Gaelle Briant hatte sie irgendwas gefunden. Auch nicht über andere Briants in diesem Zusammenhang. Entweder gab es das Mariot nicht mehr, oder es hatte, was Mona für weniger wahrscheinlich hielt, keinen Webauftritt. Das konnte höchstens sein, wenn es von älteren Leuten geführt wurde, die nichts mit dem Internet anfangen konnten. Aber würde es dann nicht zumindest Hinweise oder Bewertungen ehemaliger Gäste auf Online-Portalen geben? Selbst als sie die Adresse der Pension auf der Karte gesucht hatte, war sie nicht fündig geworden. Ihr wurde zwar die Straße angezeigt, nicht jedoch die Hausnummer, und als sie auf die Satellitenansicht umschaltete, fand sie eine Menge Wald und einzelne Häuser, die keine weiteren Hinweise lieferten.

Plédéliac selbst war nicht allzu groß mit seinen knapp tausendfünfhundert Einwohnern. Der Ort lag im Nordwesten des Landes und besaß einige hübsche historische Gebäude wie eine Klosterruine, eine sehr eindrucksvolle Kirche, ein Schloss, das sie an ein großes Herrenhaus erinnerte, sowie die Ruine einer Burg mit dem klangvollen Namen La Hunaudaye. Sie stammte aus dem dreizehnten Jahrhundert, war rund und trutzig und besaß alles, was Mona von einer stilechten Burg erwartete: Türme, eine Zugbrücke und sogar einen Wassergraben, der die Insel umschloss, auf der das Bauwerk in die Höhe ragte. Es erinnerte Mona an alte Filme, die sie als Kind zusammen mit Oma Fine gesehen hatte. Geschichten von Rittern und Edelleuten, deren Schicksal sie stets vor große Herausforderungen stellte. Fast so, als würden die massigen, grauen Steinmauern nichts anderes zulassen als eine Welt voller Abenteuer.

Plédéliac hatte Touristen also durchaus etwas zu bieten und lag zudem nicht weit von der Küste entfernt. Es gab einige Hotels und Pensionen im Ort, aber keine konnte das Mariot sein – und zu allen fand man zumindest Bewertungen von ehemaligen Gästen auf den einschlägigen Plattformen. Bedeutete das, die Pension existierte tatsächlich nicht mehr?

Sie hatte Reiseblogs durchforstet und Foren von Bretagne-Fans, aber nichts gefunden. »Keine Infos und auch kein Käsebrot mehr für dich«, teilte sie Flint mit, der daraufhin mit dem Schwanz wedelte, sodass die weiße Spitze wie ein Leuchtfeuer wirkte. Das konnte er am besten: zu spontan sein und danach so tun, als wäre nichts passiert. Vielleicht hoffte er, dass die anderen vergaßen, was vorgefallen war, wenn er mit gutem Beispiel voranging.

Mona seufzte und klappte den Laptop zu. Sie hatte gerade erst mit ihrer Suche begonnen, da konnte sie doch nicht schon wieder aufgeben. Immerhin hatte sie herausgefunden, dass einige der Rezepte vom Dachboden wirklich aus der Bretagne stammten. Bei dem Kouign-amann beispielsweise handelte es sich um eine Art Butterkuchen. Es hatte ihr in den Fingern gekribbelt, ihn zu backen, aber dann hatten die Recherchen sie doch mehr gereizt.

Sie schlenderte in die Küche, um sich ein weiteres Brot zu machen und ein Glas Wein einzuschenken. Während sie Butter, Käse und den Riesling aus dem Kühlschrank holte, grübelte sie über Plédéliac und die Bretagne im Allgemeinen.

Warum war Helene damals weggegangen? Hatte sie in Deutschland keine Arbeit gefunden? Das passte in die Zeit der Weltwirtschaftskrise, die nach dem berühmten Schwarzen Freitag neben den USA vor allem Deutschland hart getroffen und die Frauen vom Arbeitsmarkt gedrängt hatte. War Helene deshalb losgezogen, hatte sie ihr Glück in der Bretagne gesucht? Aber wenn schon Frankreich, warum dann nicht Paris oder Marseille? Waren die Umstände oben im Norden besser gewesen, in einer ländlichen Gegend, wo sich die Umbrüche womöglich nicht so stark bemerkbar gemacht hatten? Auf dem Land konnten die Menschen so gut es ging weiter Obst und Gemüse anbauen. Oder war es einfach Zufall gewesen, und Helene hatte sich treiben lassen und die erstbeste Arbeitsstelle angenommen, über die sie gestolpert war?

Eine seltsame Vorstellung, die so gar nicht zu ihrer Familie passte. Man zog nicht einfach los und wartete, wohin das Leben einen leitete, sondern plante so viel im Voraus wie möglich. Aber vielleicht hatte Helene ja auch etwas Bestimmtes an genau diesen Ort gezogen, vielleicht hatte sie den bretonischen Vater ihres Kindes in Deutschland kennengelernt und war ihm in seine Heimat gefolgt, ohne jemandem davon zu erzählen?

Viel zu viele Fragen, zu viele Vielleichts! Grübeln würde ihr keine Antworten bringen. Und da leider auch das sonst so allwissende Internet versagt hatte, war sie am Ende ihrer Weisheit.

»Das soll es schon gewesen sein?«, fragte sie Flint, der sich beim Klang der Kühlschranktür wie beiläufig neben ihr niedergelassen hatte und nun die Ohren aufstellte. Vielleicht hätte er Erfolg gehabt und noch einen Happen bekommen, wenn er so höflich gewesen wäre, sie und nicht das Brot in ihrer Hand anzustarren.

Ihr Handy meldete sich und ließ Flints Ohren zucken. Mona warf einen Blick auf das Display und nahm ab. »Hallo Isa.«

»Na, was macht die Recherche?«, lautete die gebrüllte Antwort. Seit Isa eine Spinning-Klasse unterrichtete, kam sie von dieser Lautstärke manchmal nur schwer herunter.

Mona grinste. Natürlich wusste ihre beste Freundin Bescheid. Sie hatte ihr von den Kisten auf dem Dachboden berichtet und eine Verbündete gefunden: Isa war von der Vorstellung, Detektivarbeit zu leisten, ebenso fasziniert.

»Nicht viel. Leider. Ich finde überhaupt nichts über das Mariot oder Leute, die Nachfahren von Jacques und Gaelle Briant sein könnten. Und auch nichts über ein öffentliches Gebäude unter der Adresse.«

»Na, du wirst doch wohl nicht schon aufgeben?«

Mona hielt das Handy ein Stück weg, um ihre Gehörgänge zu schonen. »Natürlich nicht. Nur weiß ich gerade nicht weiter.«

»Ich schon.«

Mona griff nach ihrem Weinglas und trank einen Schluck. »Dann lass mal hören.«

»Also: Ich hab den Ort auf Wikipedia aufgerufen. Der hat süße tausendfünfhundert Einwohner! Selbst wenn du jedem einzelnen die Hand schütteln würdest, hättest du die wahrscheinlich an einem Tag durch. Vielleicht an zweien. Aber spätestens dann wirst du wissen, ob es noch eine Pension Mariot gibt oder was aus ihr geworden ist.«

Mona lachte. »Wie stellst du dir das denn vor?«

»Na ja, so wie man halt Leuten die Hand schüttelt.«

Mona brauchte einen weiteren Schluck, dann begriff sie. »Du meinst, ich soll da hin?«

»Natürlich sollst du! Los, los!« Schneller! Keine Verschnaufpause! In die Pedalen!

»In die Bretagne?« Der Gedanke wirkte wie ein sanfter Stromschlag. Bisher hatte Mona ihre Urlaube nach der Sonne gewählt – den Landstrich im Nordwesten Frankreichs hätte sie nie in Betracht gezogen. Was gab es dort? Kühlen Wind, steile Küsten, raue Landschaften und Steinkreise aus längst vergangenen Zeiten. Pittoreske Dörfer und gutes Essen, ja, das ganz sicher. Und Helenes Spuren, die es aufzudecken galt! Mona fing die Idee ein, drehte und wendete sie, und auf einmal erschien sie ihr gar nicht mal so abwegig. Warum fuhr sie nicht wirklich? Schließlich musste sie nur noch bis Freitag ins Büro, dann lagen zwei freie Wochen vor ihr.

Sie hatte ihren Urlaub nicht storniert, da ein paar Tage fernab von ihrem geregelten Leben ihr guttun würden. Pläne hatte sie allerdings nicht – die meisten ihrer Freundinnen steckten in Beziehungen und fuhren lieber mit ihren Partnern weg, oder es war ihnen einfach zu kurzfristig, um sich freizunehmen. Verständlich. Mona hatte sich bereits mit dem Gedanken angefreundet, eine entspannte Zeit zu Hause zu verbringen oder Tagesausflüge zu machen. Sie würde backen, lesen, ab und zu mit ihren Freunden essen oder ins Kino gehen oder ihrer Mutter Gesellschaft leisten. Ein, zwei Mohnzöpfe mit ihr backen.

Aber jetzt? Quasi mit einer Mission im Gepäck? Wenn sie nichts herausfand, konnte sie sich immer noch die Bretagne ansehen und genießen, was auch immer der Landstrich zu bieten hatte.

»Mona?«

»Ich bin noch da! Ich denke nach.« Mittlerweile hatte das Stromschlag-Gefühl für eine feine Gänsehaut gesorgt und brachte ihre Gedanken in den Überhol-Modus. Es fühlte sich komisch an, da sie wie ein D-Zug durch ihren Kopf rasten. »Das wäre ganz schön kurzfristig. Ich habe mich ja noch nicht einmal um einen Reiseführer gekümmert, ganz zu schweigen von einer Übernachtung.«

Ein langer Seufzer kroch durch die Leitung. »Süße, dann mach doch mal was Neues, plane so gut wie nichts, und lass die Projektmanagerin einmal zu Hause. Die gibst du schon oft genug in der Firma, findest du nicht? Du fährst allein, ohne Daniel, der dich eh wieder an einen langweiligen Pool eines noch langweiligeren Hotels geschleppt hätte. Ich weiß, du willst es nicht hören, aber ich darf es trotzdem sagen, weil ich deine beste Freundin bin: Sei froh, dass du ihn los bist. Und das bist du auch, ansonsten würdest du nämlich jetzt heulend in deinem Bett liegen, einen Taschentuchberg anhäufen, und ich müsste dich dazu bringen, überhaupt dein Schlafzimmer zu verlassen. Jetzt reden wir aber darüber, dass du das Land verlässt. Was sagt uns das?«

Mona zögerte. »Ich weiß es nicht.« Dabei wusste sie es ganz genau. Isa hatte recht. Nach der Wut über Daniels Lüge war zwar die Trauer gekommen, aber sehr schnell wieder verflogen. Insgeheim hatte sie schon lange geahnt, dass etwas nicht stimmte, und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie sich sogar darauf eingestellt, dass die Beziehung irgendwann im Sande verlaufen würde. Allerdings still und leise, nicht mit einem solchen Paukenschlag.

»Mona.« Nun brüllte Isa nicht mehr. »Natürlich weißt du es. Vermisst du ihn?«

»Das hast du mich schon gefragt.« Mehrmals. Jedes Mal hatte sie in sich hineingehorcht und erstaunt festgestellt, dass sie es nicht tat. Sie begriff nur nicht, wie sehr die Gewohnheit sie hatte täuschen können. Warum sie noch mit Daniel zusammengeblieben war, wenn sie ihn nicht mehr liebte – und er sie offenbar auch nicht.

»Und, hat sich daran was geändert?«

»Isa …«

»Hat es?«

Mona atmete tief durch. »Nein. Ich denke immer, da muss doch noch etwas kommen nach all den Jahren. Aber …« Sie zuckte die Schultern, auch wenn Isa es nicht sehen konnte.

Die schien wie so oft ihre Gedanken zu lesen. »Ich kann mir vorstellen, dass das seltsam sein muss, Süße. Gerade deshalb finde ich, dass du mal ein Abenteuer wagen solltest. Pack deine Sachen, setz dich in deinen Wagen und fahr los. Ich bin sicher, in der Bretagne gibt es viele schöne Unterkünfte, in denen du direkt vor Ort anfragen kannst, ob noch ein Zimmer frei ist. Gib dir mal einen Ruck!«

Mona fuhr leicht zusammen. »Ich bin noch nie einfach so irgendwo hingefahren.«

»Dann wird’s mal Zeit. Du sprichst doch noch Französisch, oder hast du etwa alles vergessen?«

»Das nicht, aber …«

»Überleg es dir. Ich meld mich nach dem Kurs noch mal, und dann reden wir über deine Reise!« Isa legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Mona trank das Glas mit dem nächsten Zug halb aus. Isas Vorschlag klang auf seltsame Weise logisch. In den vergangenen Wochen hatte sich schließlich einiges in ihrem Leben gewandelt. Da blieb es nicht aus, dass auch sie sich veränderte, oder? Immerhin steckte in jedem Ereignis etwas Positives, man musste manchmal nur ein wenig danach suchen.

»Demnach«, sagte sie zu Flint, der ihr seine Lacknase entgegenhob, »ist es an der Zeit, auch mal etwas anders zu machen, vielleicht kommt ja was Schönes dabei rum. Denkst du nicht auch?«