Briefe an die Cyborgs - Judyth Vary Baker - E-Book

Briefe an die Cyborgs E-Book

Judyth Vary Baker

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Beschreibung

„Was ist menschlich?“, wird zur wichtigsten Frage in einer Zukunft werden, in der die Menschen zu 51 Prozent Maschinen sind. „Was geschieht, wenn die KI tausendmal intelligenter als jeder Mensch ist und ein ‚Ich-Bewusstsein‘ entwickelt?“ Mit dieser wegweisenden Sammlung an Kurzgeschichten werden genau jene Fragen gestellt, die Wissenschaftler, Politiker und Konzerne so gerne verdrängen. „Briefe an die Cyborgs“ zeichnet das Bild einer furchteinflößenden, gar nicht so weit entfernten Zukunft, die auf Erfindungen, Forschungen und Technologien der Gegenwart basiert. Jede Geschichte thematisiert die politische, soziale und ökologische Zerstörung unserer Welt, wenn die KI die Kontrolle über den Planeten übernimmt. Die Autorin analysiert humorvoll und mit fundiertem Wissen, was es bedeutet, als Mensch in einer von Cyborgs und Robotern beherrschten Welt zu leben. Die Bandbreite reicht von Weltuntergangsvisionen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, bis hin zu packenden Geschichten über die Macht der menschlichen Liebe. Die eingestreute lustige Elemente machen es einfacher, die Wahrheit zu ertragen.

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Judyth Vary Baker

Briefe an die Cyborgs

1. Auflage, 2018

Deutsche Übersetzung: Julia Pfliegl

Korrektorat: Dorothee Kremer

Layout: Inna Kralovyetts

www.mosquito-verlag.de

© Copyright 2018, Mosquito Verlag, Immenstadt

Titel der Originalausgabe: „Letters to the Cyborgs“© Copyright 2016, Judy Vary Baker

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buchs darf vervielfältigt, abgespeichert, in eine Datenbank bzw. ein anderes Datenabfragesystem eingefügt oder in irgendeiner Form mithilfe einer bereits bekannten oder erst in Zukunft entwickelten Methode ohne die vorherige ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Inhabers der Urheberrechte sowie des Herausgebers dieses Buchs verbreitet werden. Unter anderem fallen darunter alle mechanischen und elektronischen Verfahren und die Anfertigung von Fotokopien und Aufzeichnungen.

ISBN 978-3-943238-61-7

So heb den Schleier deiner AugenUnd sag, was siehst du dort?

Prospero, „Der Sturm“, Erster Aufzug, II. Szene

„Lee, dieses Sciencefiction-Buch widme ich dir. Ein Tribut an den, der du hättest sein können, hätte man dich nicht am 24. November 1963 vor meinen Augen und in Anwesenheit von 70 Männern der Dallas Police ermordet. Ich werde dich ewig lieben. Dieses Buch ist dir gewidmet für alles, was du warst, für deinen Mut und deinen Freigeist.“

Judyth Vary Baker

Berlin, 2016

Vorwort

Es gehört zu den großen Vergnügen im Leben, ein gutes Sciencefiction-Buch zu finden und zu lesen. Eines, das voller Phantasie steckt und uns nicht nur einen Blick auf unsere Gegenwart gewährt, sondern auch den in eine mögliche Zukunft. Von Judyth Vary Bakers „Briefe an die Cyborgs“ war ich positiv überrascht, besonders, da hier ein ausgesprochen brisantes Thema im Mittelpunkt steht.

Wir sind gerade dabei, die Weichen für unsere Zukunft zu stellen. Welche Regeln gelten für künstliche Intelligenz (KI)? Wo liegen die Grenzen der Medizin? Es ist eine Zeit, in der uns bedeutende Persönlichkeiten dieser Welt, wie Bill Gates, Warren Buffet und Stephen Hawking, vor den Gefahren der künstlichen Intelligenz warnen, davor, dass KI unser Wirtschaftssystem auslöschen, uns alle arbeitslos machen und die Weltherrschaft übernehmen könnten, wenn wir die Kontrolle über ihre Entwicklung verlören.

Es gibt andere, wie den für Google arbeitenden Zukunftsvisionär und Erfinder Ray Kurzweil, die das neue Zeitalter der KI als neue industrielle Revolution begrüßen, der sich niemand in den Weg stellen sollte. Es sei ein Zeitalter, in dem Arbeit abgeschafft wird, sodass sich die Menschheit anderen Dinge, etwa Kunst und Kultur, zuwenden könnte.

Was wird die Zukunft bringen? Wer, wenn nicht Sciencefiction-Autoren könnte uns das vorhersagen? Und genau darum ist „Briefe an die Cyborgs“ so ein bedeutendes Buch. Es eröffnet uns auf phantasievolle und unterhaltsame Art und Weise neue, von uns bisher vielleicht übersehene Wege.

Judyth scheint mir eine perfekte Kandidatin für eine Entdeckungsreise zu den Möglichkeiten der KI zu sein. Sie gewann zahlreiche Wissenschaftspreise; es gab in Florida einige Zeitungsberichte über sie als Wunderkind, dem eine außergewöhnliche Karriere in der Wissenschaft vorhergesagt wurde. Schon früh wurde sie für die Arbeit an medizinischen Projekten engagiert. Dort bewies sie ihren einzigartigen Verstand, indem sie rasch zum Wesentlichen vordrang und ausgezeichnete Resultate erzielte. Auch heute noch forscht und arbeitet sie selbstständig an einer vielversprechenden Heilmethode für Krebs.

Judyth kontaktierte mich erstmals, bevor ihre historischen Bücher veröffentlicht wurden. Den Kontakt zu ihr verdanke ich der Hartnäckigkeit unserer gemeinsamen, kürzlich verstorbenen Freundin Martha Rose Crow. Diese schrieb zusammen mit Judyth an einem Buch über Ponerologie. Martha war eine Naturgewalt: Sie glaubte an uns alle und trieb uns stets an, das Beste aus uns herauszuholen. Die Amerikanerinnen Judyth und Martha lebten im Exil in den Niederlanden, beide waren sie vor Verfolgung geflohen, und uns drei verband die gemeinsame Leidenschaft für Wissenschaft, Poesie, Bücher und Sciencefiction.

Meiner Meinung nach sind nicht nur Judyths offensichtliche Intelligenz, sondern auch ihre mit den Jahren erworbenen wissenschaftlichen Kenntnisse die Quelle ihrer Kreativität und Phantasie, die sich eines Iain M. Banks und Frank Herbert würdig erweisen. Judyth ist eine menschliche Datenbank aller jemals durchgeführten Forschungen auf jedem möglichen Gebiet, und das spiegelt sich auch in „Briefe an die Cyborgs“ wider.

Ich glaube, die Leser dieser ersten Sciencefiction-Kurzgeschichtensammlung von Judyth werden mir durchaus zustimmen, dass es sich hierbei um ein ausgezeichnetes Debüt mit großem Potenzial handelt. Ich finde die bis zu einem gewissen Grad miteinander verknüpften Kurzgeschichten ausgesprochen komplex und klug mit harten wissenschaftlichen Fakten verwoben – Sciencefiction in ihrer besten Form.

– Roland Michel Tremblay

Roland Michel Tremblay ist ein frankokanadischer Autor, Dichter und Drehbuchautor. Er finanziert Veranstaltungen und Entwicklungen in der IT und ist technischer Berater und Sciencefiction-Consultant für Autoren. Seine Sciencefiction-Website (www.themarginal.com) erstellte er für Fernsehdrehbuchautoren dieses Genres.

Eine Perfekte Frau

„Am 30. Juni 2015 fand die erste Roboter-Hochzeit der Geschichte statt. „Der eher klobige Bräutigam Frois […] heiratete die Androidin Yurikin, deren Äußeres dem japanischen Popstar Yuki Kashiwagi nachempfunden ist. […] Abgehalten wurde die Hochzeit von einem weiteren Roboter namens Pepper. Normalerweise berät Pepper die Kunden in den Handyläden von Softbank. Die Zeremonie wurde sogar mit einem Kuss besiegelt. Die Gäste […] erhielten eine von Robotern geschnittene Torte und einen Roboter-Ehering, berichtet RT. Der schönste Tag im Leben der Roboter wurde laut International Business Times vom japanischen Unternehmen Maywa Denki ausgerichtet […]. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Roboter ebenfalls den Bund fürs Leben schließen. Bereits im Vorjahr berichtete die New York Times, technikaffine Brautleute würden sie bereits als Ringträger und Priester engagieren.“1

–Huffington Post am 30.6.2015

Während Henry Wallet sich einen Weg über die stark befahrene Straße voller laut hupender Autos und dröhnender LKW bahnte, wurde seine Aufmerksamkeit von einem leuchtend bunten Schild gefesselt. Entdeckt hatte er es, als er gerade die gegenüberliegende Bordsteinkante erreichte. Seltsamerweise war es ihm bis dahin noch nie aufgefallen. Es wirkte auffällig und geschmacklos, doch Henry konnte seine Augen nicht von den leuchtenden, verschnörkelten Lettern abwenden. Er vergaß die Hektik der New Yorker rund um ihn herum, während er über die Botschaft der Buchstaben nachdachte. Er kniff die Augen zusammen und lehnte sich vor, um das Kleingedruckte lesen zu können.

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oder Sie besuchen uns zwischen 09:00 und 21:00

in der 5th Avenue, NY 10018.2

Eine Webseite im Civilian Web bedeutete, dass das Unternehmen staatlich geprüft, überwacht und legal war3. Seit die Weltregierung beschlossen hatte, das Internet in eine wirklich sichere und patriotische Zone zu verwandeln, waren drei Millionen zwielichtige Seiten verschwunden (und auch ein paar, die Henry für o.k. gehalten hatte, aber was wusste er schon?). Nun atmete er tief ein und dachte über den Text nach. Das war keine Betrugsmasche. Er schoss ein Foto von dem Schild, das eigentlich ein Hologramm war, und sah zu, wie es verschwand. Das Auftauchen ähnlicher Werbebotschaften in seiner Nähe war er gewohnt, doch dies war das erste Mal, dass ihn ein solches Schild auf offener Straße quasi ansprang. Nun ja, Werbung war überall, so war das einfach. Für ein geringes Entgelt konnte er wenigstens im Schlaf die Werbung aus seinen Gedanken verbannen. (Zumindest behauptete das sein AdBot Blocker. Vielleicht konnte er sich auch einfach nicht daran erinnern, was auf dasselbe hinauslief.) In der Zwischenzeit war das Verlangen, in einem Sunday Snackers Restaurant zu essen, übermächtig geworden. Warum ihm noch nie in den Sinn gekommen war, dort zu essen, konnte er sich nicht erklären. Eins stand jedoch fest: Er würde jetzt erst einmal bei Sunday Snackers speisen. Die schlagkräftige Werbung dafür war unwiderstehlich gewesen.

Als Henry auf einen der bequemen Stühle des Restaurants glitt, stellte er fest, dass ihm sein Bauch im Weg war. Seit seiner Scheidung von Helen hatte er kontinuierlich zugenommen. Trotz der laufenden Kampagne gegen übergewichtige Menschen, trotz der verhängten Strafen und obwohl er im Begriff war, aufgrund seines massiven Übergewichts seinen Job zu verlieren, konnte Henry nicht anders. Anzeigen für Restaurants und Lebensmittelläden überschwemmten ihn permanent mit Bildern von billigem, schnellem Essen. Gemeinsam mit dem verführerischen Duft und bestimmten, sehr subtilen stimulierenden Signalen vermittelten sie seinem Gehirn ein ständiges Hungergefühl.4

Zwar hatte Henry zehn Kilo zugenommen, dennoch vermisste er das von Helen zubereitete, gesundheitsbewusste Essen mit großen Portionen an Bio-Gemüse. Begonnen hatte die Gewichtszunahme mehr oder weniger gleich nach der Scheidung. Da er keine Lust zum Kochen verspürte, durfte ihm nun von Gesetzeswegen dreimal statt nur einmal täglich Restaurant-Werbungen gezeigt werden. Um seine Depression zu bekämpfen (Helen war mit einem Mann davongelaufen, der wegen seiner zahlreichen Implantate noch weitere 50 Jahre sexuell funktionsfähig sein sollte), hatte Henrys Arzt ihm zusätzlich eine Behandlung seines mandelgroßen Hypothalamus mit Elektrotherapie im Schlaf verordnet.5 Mit reiner Logik konnte man dieses kleine, sehr primitive Stück Gehirn nicht erreichen.

Nachdem er mehr als beabsichtigt gegessen hatte und gerade dabei war, seine enorme Restaurantrechnung zu begleichen, tauchte vor seinem geistigen Auge der Vorschlag zum Besuch des nahegelegenen Süßwarenkiosks auf. Untermalt wurde die Anzeige vom Geruch frisch gebackener Donuts. Henry beschloss, erst einen gefüllten Donut zu kaufen, bevor er seinem ebenso dringenden Bedürfnis nachgab, bei PerfekteFrauen anzurufen. Dass es tatsächlich nur ein Donut war, erfüllte ihn mit Stolz. Außerdem beschloss er, dorthin zurück zu marschieren, wo er die PerfekteFrauen-Werbung das erste Mal gesehen hatte, es war ja nur ein Kilometer. „Ich brauche Bewegung“, sagte er zu sich selbst. In Wahrheit hoffte er, das ein oder andere Kilo zu verlieren, wenn er das Stück zu Fuß ging, anstatt mit einem der motorisierten Taxi-Sessel zu fahren.

Die nächtliche Menschenmenge war voller Kauflustiger und die Werbetafeln blinkten vor sich hin, als Henry sich auf den Weg dorthin machte, wo er die Werbung entdeckt hatte. Dabei schüttelte er amüsiert über sich selbst den Kopf.

„Perfekte Frau? Pah!“, sagte er und blieb am Erscheinungsort des Hologramms stehen. Trotzdem passierte gar nichts. Überrascht, dass es nicht auftauchte, und frustriert über seine engen Schuhe und den übervollen Bauch, legte er eine Pause ein, um sich zu beklagen. Statt eines potenziellen, anhand eines Marktforschungsprofils ausgewählten Kunden war er anscheinend ein zufälliges Ziel gewesen. „Alles klar, sie haben meine Vorlieben schon wieder falsch zugeordnet“, schimpfte er vor sich hin. „Ich hasse diese zufälligen, ungefragt auftauchenden Anzeigen!“ Er wollte schon eine Beschwerde beim Werbe-Ombudsmann einreichen, als er innehielt. Vielleicht war es schon nach 21 Uhr und PerfekteFrauen geschlossen? Das würde erklären, warum die Anzeige nicht nochmals erschienen war. Normalerweise hatte er die in sein Handgelenk eingebettete Uhr sichtbar geschaltet, doch nun hatte er sie abgedreht, während er den Donut hielt, aus dem Gelee mit Himbeergeschmack tropfte. Sie zeigte erst acht Uhr abends, er hatte also noch massenhaft Zeit. „PerfekteFrauen, ich komme!“, rief Henry laut, während er sich in Richtung 5th Avenue begab.

Augenblicklich tauchten in seinem Kopf unzählige Bilder schöner Frauen auf, die ihn ganz schwindlig machten. Irgendwie konnte sich Henry zwar auf den Beinen halten, wusste jedoch kaum, wo er sich befand, als eine gutaussehende und charmante Frau nach der anderen vor seinen Augen erschien. Lange bevor er die 5th Avenue erreichte, waren so Dutzende potenzielle Perfekte Frauen an seinen inneren und äußeren Augen vorbeigezogen, und sein Hirn hatte automatisch mehr oder weniger stark auf die jeweilige Kandidatin reagiert. Henry war so sehr in den Katalog von PerfekteFrauen vertieft, dass sein inneres Verkehrsleitsystem Alarm schlug: Er achtete zu wenig auf seinen Weg. Er hatte gegen das Gesetz verstoßen, weil er dreimal die Bordsteinkante übertreten hatte. Nun wurde ihm befohlen, in einem der (relativ billigen) Taxi-Sessel Platz zu nehmen, doch er achtete kaum darauf.

Nur noch drei Kandidatinnen waren jetzt in der engeren Auswahl: Eine davon hieß Lucy Lips und sollte ihn stets mit allen Neuigkeiten versorgen, die zweite hieß Mrs. Dines (sie konnte natürliche Nahrungsmittel göttlich zubereiten) und die dritte wurde Sexx Kitty genannt. Zu seiner Überraschung verschmolzen die drei Frauen in diesem Moment zu einer einzigen. Vor ihm stand die Perfekte Frau, lächelte ihn an und nistete sich in seinen Gedanken ein. Trotzdem kam er nicht umhin, ihre Idealfigur mit seinen Marshmallowman-Rundungen zu vergleichen. Wieso sollte sie sich für ihn interessieren? Während er noch darüber nachdachte, verschwand Lucy Sexx Dines. „Bis bald, mein Lieber!“, hörte er sie sagen, während sie sich auflöste, der Kussmund zu allerletzt. Ihr langsames Verschwinden erinnerte dabei an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.

Nach einem weiteren Blick auf die Uhr (die natürlich noch viele andere Funktionen besaß) wurde Henry in seinem die Straße entlang zuckelnden Taxi-Sessel vom Wunsch nach Entspannung übermannt. Also lümmelte er sich in den Sessel und das in selbigen integrierte Gerät für Gesundheitschecks unterzog ihn einer raschen Prüfung. Auf diese Weise erfuhr Henry, dass er vor kurzem 1,5 Kilogramm Nahrung – 3.900 kcal – mit ungenügendem Ballaststoffgehalt zu sich genommen hatte. Diese Information wurde auch an seine Toilette gesendet, die ihm später, wenn er sie aufsuchte, eine geringe Dosis eines Abführmittels spritzen würde. Das Ballaststoffproblem wäre somit gelöst. Hätte er Probleme mit dem Blutzucker, würde eine weitere kleine Spritze seinen Insulinspiegel ausgleichen. Heutzutage besaßen viele Menschen bereits künstliche Bauchspeicheldrüsen mit automatischer Insulinregulierung6, doch Henry müsste noch ein paar Kilo zunehmen und einen Diabetes Typ I entwickeln, um für ein solches Implantat in Frage zu kommen. Er freute sich bereits auf die Operation, konnte er doch danach essen, was er wollte, ohne sich um seinen Blutzuckerspiegel Gedanken machen zu müssen. Alles wäre gut.

Als Henry aus seinen Grübeleien über Essen und Insulin wieder auftauchte, stellte er fest, dass er vor dem Eingang zu PerfekteFrauen stand. Die Firma war in einem großen, beeindruckenden Bürogebäude untergebracht. Er bekam den gedanklichen Impuls, auf den Klingelknopf zu drücken. Gleichzeitig erhielt er eine Warnmitteilung, es würde auf sämtliche seiner persönlichen Daten zugegriffen, wenn er sich entschloss, Lucy zu treffen. Wollte er das wirklich? „Mir egal!“, rief er. „Ich möchte Lucy und ihre anderen Persönlichkeiten treffen. Es ist ein kostenloser Test, was kann da schon schiefgehen?“ Er drückte den Klingelknopf und spürte die elektrische Welle eines schnellen Scans durch seinen Körper gehen.

Herzlich Willkommen, Henry Wallet, klassisch B-gehemmter, heterosexueller Mann mit drohendem Verlust des Arbeitsplatzes! Ihre Arbeitgeber schätzen Sie sehr und haben eine Beteiligung von 42 % an den Kosten Ihrer Therapie zugesagt, sollten Sie Ihre Perfekte Frau nach dem 30-tägigen Test behalten wollen.

42 %! Henry staunte nicht schlecht. Er hatte gar nicht gewusst, wie sehr ihn seine Arbeitgeber schätzten. Man hatte ihm gesagt, die durchschnittliche Unterstützungsrate dieses Unternehmens betrüge nur 19 %. Er war also mehr als das Doppelte eines durchschnittlichen Mitarbeiters wert! Das erste Mal, seit ihn Helen verlassen hatte, begann Henry einen Anflug von Hoffnung zu spüren. Vielleicht mischte das Leben die Karten gerade neu, und er bekam die Asse?

Die Sicherheitstür schwang auf und zeitgleich wurde Henry mitgeteilt, dass nun sein komplettes Profil, inklusive seiner DNS (selbstverständlich!) und Lebensgeschichte, in das System von PerfekteFrauen geladen war. Am Ende des Flurs leuchtete an einem Fahrstuhl das Hologramm-Schild auf, also nahm Henry diesen. Während er eintrat, packten ihn zwei Roboterarme und die Türen schlossen sich hinter ihm. Trotzdem presste ihn die Geschwindigkeit des Fahrstuhls7 fast zu Boden. Nach zwei Sekunden war der 20. Stock erreicht. Die sich öffnenden Türen gaben den Blick auf glänzend schwarzen Marmor und einen hell erleuchteten, weiß getünchten Korridor frei. Zwei schöne Frauen erschienen, als Henry den Fahrstuhl verließ. Sie nahmen ihn sanft am Arm und führten ihn zu einer halb geöffneten Tür ein Stück den Flur hinunter.

„Wir freuen uns sehr, dass Sie gekommen sind, Henry!“, sagte die Blondine zu seiner Rechten beim Betreten des Raums. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Henry!“, kam es von der Brünetten, die auf einen roten Ledersessel zeigte. Henrys Uhr schimmerte grün: Beide Frauen waren Roboter. Genauer gesagt waren es eigentlich Cyborgs, da sie an den richtigen Stellen genügend natürliche menschliche Zellen hatten. Die modernen Uhren konnten heute ja den prozentuellen Anteil von Mensch und Maschine analysieren.

Die Blondine servierte Henry einen gesetzeskonformen Entspannungsdrink, während die Brünette einen graumelierten Herrn in den Raum führte.

„Darf ich vorstellen, Mr. Landry? Henry Wallet, Therapieversuchsteilnehmer Nr. 21“, erklärte sie.

„Versuch?“ Henry wurde rot vor Zorn. „Ich nehme an keinem Experiment teil.“ Er stand auf und wollte schon zur Tür gehen, doch Landry sagte im Kommandoton: „Setzen Sie sich, Henry! Reden wir übers Geschäft. Die finanziellen Vorteile, die mit der Absolvierung dieses Versuchs einhergehen, werden Ihnen gefallen. Ihre Firma schätzt Sie als Mitarbeiter und hat zugestimmt, Ihnen als Dank für Ihre Kooperation und Einwilligung eine brandneue, für Sie kostenlose Bauchspeicheldrüse zu spendieren. Ihre eigene ist übrigens hinüber.“

Henry dachte nach. Er wusste, dass seine Bauchspeicheldrüse hochgradig krebsgefährdet war und wollte sie unbedingt ersetzt haben, also setzte er sich wieder. Für dumm verkaufen ließ er sich deswegen aber noch lange nicht.

„Wird es denn gefährlich?“, fragte er.

„Nur für Ihre Perfekte Frau, nicht für Sie.“

Henry blickte erstaunt auf und Landry legte eine schmale, sommersprossige Hand auf die Schulter des dicken Mannes. „Manche Leute wollen nichts mit Cyborgs zu tun haben. Ein paar Mitglieder der Weltregierung sind nicht besonders erfreut über unsere neue Art der Geburtenkontrolle mittels Cyborgs. Stattdessen wollen sie lieber das gegenwärtige Programm zur Geburtenkontrolle ausweiten, die zwangsweise Sterilisierung von Kriminellen und Außenseitern.“

„Was heißt das, neue Methode zur Geburtenkontrolle mittels Cyborgs?“, blieb Henry hartnäckig. „Und warum höre ich erst jetzt davon? Ich arbeite zufällig in der Abteilung für Geburtenkontrolle der BioTest Labors.“

„Ich weiß“, nickte Landry. „Ich weiß aber auch, dass Sie geschieden sind und nun aufgrund Ihres Übergewichts Ihren Job verlieren könnten.“

„Nicht, wenn ich das Bauchspeicheldrüsenimplantat bekomme“, entgegnete Henry. „Ich kenne meine Rechte!“

„Sie wurden gar nicht auf die Warteliste gesetzt, weil man Sie bei nur einem weiteren Kilo Gewichtszunahme hätte entlassen können“, teilte ihm Landry mit. „Wir haben Sie gerettet, mein Lieber. Hochzeiten und Scheidungen sind heute ziemlich selten geworden, wie Sie wissen.“

„Helen war in dieser Hinsicht recht altmodisch“, erklärte Henry. „Und ich war verliebt genug, um sie zu heiraten.“

„Wie sich herausstellte, wollten Sie aber keine Kinder, solange Sie bei BioTest Labors arbeiteten“, sagte Landry freundlich. „Das war allerdings Teil Ihres ursprünglichen Ehevertrags.“

„War es. Aber wer kann sich heute schon ein Kind leisten? Und dann kam dieser junge Gockel daher und versprach ihr nicht nur eines, sondern sogar zwei Kinder“, antwortete Henry bitter. „Als ich dann meine Spermienzahl testen ließ, erfuhr ich, dass ich da nicht mithalten konnte. Sie hatte also das Recht, sich von mir scheiden zu lassen und eine Ausgleichszahlung zu verlangen. Damit hat sie mich beinahe ruiniert.“

„Wie dumm von Ihnen, die Spermienzahl nicht vor der Hochzeit testen zu lassen“, meinte Landry. „Dass Sie bei Ihrem Job so nachlässig sein konnten, macht mir ein wenig Sorgen.“

„Ich machte mir keine Gedanken, weil ich begonnen hatte, zusätzliches Testosteron zu nehmen“, erwiderte Henry. „Als Nebenwirkung machten mich die Hormone aber aggressiver. Wir fingen an, uns zu streiten …“ Henrys Stimme brach. „Wir stritten bei fast allen Dingen. Damals begannen meine großen Probleme.“

„Und wenn ich Ihnen nun sagte, PerfekteFrauen hätte die Lösung für alle diese Probleme?“

Henry dachte gründlich darüber nach. Er war intelligent, hatte seinen Verstand aber eine Zeitlang brachliegen lassen. Als die Kluft zwischen ihm und Helen immer größer geworden war, hatte er aufgehört, Schach zu spielen, alte Bücher zu sammeln und sie zu lesen, seine Münzsammlung zu erweitern und über die Zukunft der Welt zu diskutieren.

„Es muss doch einen Haken bei diesem Experiment geben“, sagte er dann. „Denn Sie benehmen sich nicht wie ein Vertreter, der mich zum Kauf überreden will. Das passiert mir oft genug. Das ist auch kein richtiges Büro – ich sehe keine Schreibtische oder Computerbildschirme. Hierher gebracht wurde ich von zwei teuren Robotern –“

„Sie sind Cyborgs“, berichtigte ihn Landry.

„Sie müssen so etwas wie der Geschäftsführer dieser Firma sein.“

„Richtig. Ich sitze auch im Aufsichtsrat der BioTest Labors. Ich bin einer Ihrer Chefs.“

Landrys stahlgraue Augen blinzelten kein einziges Mal. Es musste also stimmen, beschloss Henry für sich. Jedenfalls, er –

Bevor Henry den Satz zu Ende denken konnte, leuchtete in seinem Kopf eine beeindruckende Liste mit Landrys Leistungen und Funktionen auf. Landry benutzte dafür dasselbe hochwertige Programm, das einst für die Nutzung durch Politiker zugelassen worden war. Henry wusste den Stil und die Kosten dahinter zu würdigen. Er selbst repräsentierte eine Million Wahlberechtigte. Seit „Der Kampagne“ musste er an ihrer Stelle wählen. Die Megawerbeveranstaltung hatte den erwachsenen Teil der Weltbevölkerung einem 30-tägigen Sperrfeuer beinahe endloser Politwerbespots ausgesetzt. Einzelne Bürger gingen nun nicht mehr wählen: Sie nahmen nur noch an täglichen Meinungsumfragen teil. Diese wurden dann an den jeweiligen Repräsentanten geschickt. Henry war einer davon. Am Ende der Kampagne führten die Repräsentanten eine abschließende Meinungsumfrage durch. Anschließend gab der Repräsentant seine Stimme für den Gewinner der Abschlussumfrage ab. Die mehr oder weniger permanente Flut politischer Werbung, von der Henry als Repräsentant glücklicherweise verschont blieb, hatte Massen von Wählern an den Rand des Selbstmords getrieben, nur um einen Sieger zu küren. Währenddessen kam die weltweite Produktion von Waren und Dienstleistungen in den letzten Tagen des Präsidentschaftswahlkampfs beinahe zum Stillstand.

Die ausgefeiltesten Anzeigen waren die teuersten und brachten die besten Ergebnisse. Aber die alte Angst, politische Ämter könnten einfach gekauft werden (wie dies bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten 2036 der Fall gewesen war), veränderte das Wahlsystem nachhaltig. Im Jahr 2048 durften nur noch die Repräsentanten von jeweils einer Million Menschen und die Geschäftsführer der 1000 wichtigsten Unternehmen wählen. Ihre Stimmen wurden in Räumen ausgezählt, in denen bewusstseinsverändernde Werbung verboten war. Selbstverständlich verfügten die größten Unternehmen auch über die meisten Stimmen.

Seit damals lief jedoch alles glatt.

„Meine Arbeitgeber behandeln mich viel zu gut“, meinte Henry schließlich, als er sich die zu unterschreibenden Verträge durchsah. „Und warum ist meine Funktion als Repräsentant so wichtig für diese Verträge?“

„Wir wollen eine ganz bestimmte Perfekte Frau testen“, antwortete ihm Landry. „Wenn das funktioniert wie gewünscht, haben wir damit die gesuchte Lösung. Und übrigens, Sie haben doch in der letzten Woche ein paar Spielschulden angehäuft, oder?“

„Ja, ich war deprimiert. Ich hoffte, ich würde vielleicht eine Menge Geld gewinnen und mir ein Bauchspeicheldrüsenimplantat und eine verbesserte Männlichkeit leisten können. Aber was genau ist diese ,Lösungʻ ? Und warum ich?“

„Wahrscheinlich haben Sie ,Idiocracyʻ8 nie gesehen, oder? Diesen alten Film aus dem Jahr 2010 oder so?“

Hatte Henry nicht. Wer sah sich schon alte Filme an? Sie enthielten keine Gerüche, keine Empfindungen, keine Möglichkeiten, das Hirn mit entorhinalen Reizen zu stimulieren, um das Gesehene mit den wichtigsten Lebenserfahrungen zu verknüpfen.9 Man konnte nicht einfach Teil des Films werden und alles aus verschiedenen Perspektiven ansehen. In solchen altmodischen Filmen konnte man auch nicht virtuell sterben. Nur Intellektuelle sahen sich noch alte Filme an.

„Sie sind das Experiment, genauso wie Pvt. Joe Bauers in diesem Film. Nach all unseren Nachforschungen waren Sie hier, direkt vor unserer Nase. Was die Erwartungen an eine Frau betrifft, sind Sie der absolute Durchschnittsmann. Wir zahlen alle Ihre Rechnungen. Sie haben nichts zu verlieren. Noch Fragen?“

„Sie scheinen zu wissen, was Sie tun. Ich denke, ich habe keine Fragen mehr“, erwiderte Henry. Kaum hatte er den Satz beendet, erschien Lucy Sexx Dines noch einmal vor seinem inneren Auge. Sie lächelte ihn mit ihren süßen, sinnlichen Lippen an. Dann deutete sie auf den wichtigsten Vertrag und zwinkerte ihm zu. Henry versuchte diesen zu lesen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er musste sich zusammenreißen, sonst würde seine Unterschrift nicht akzeptiert werden. Seine mangelnde Konzentration wurde mit Sicherheit ausgewertet. Der Vertrag besagte, er sei über alles aufgeklärt, gäbe sein informiertes Einverständnis und stimme zu, der Perfekten Frau nicht zu schaden. Diese würde ihrerseits allen seinen Wünschen gehorchen und ihn auf jede erdenkliche Art befriedigen, die ihr ihre Anatomie und ihr Intellekt erlaubten. Alle seine bisherigen Schulden würden getilgt und er hätte die Option, seine Perfekte Frau nach der 30-tägigen Testperiode zu behalten. Bei einer Rückgabe der Perfekten Frau vor Ende der 30 Tage müsste er seine Schulden anteilsmäßig wieder übernehmen. Mit Lucys rauchigem, femininem Duft in der Luft fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Schlussendlich hatte er aber genug graue Zellen beisammen, um die ganze Sache zu verstehen, inklusive des Kleingedruckten, und nickte zustimmend. Augenblicklich wurde seine Unterschrift codiert und zu Henrys dauerndem Bürgerprofil hinzugefügt.

„Bringen Sie LSD herein, Marcy“, befahl Lee Landry dem brünetten Cyborg.

„Ja, Herr.“

Schüchtern ob ihrer völligen Nacktheit betrat Lucy Sexx Dines den Raum. So gut es ging, versuchte sie ihre Blöße zu bedecken, senkte auf Landrys Befehl jedoch die Hände.

„Prüfen Sie sie“, sagte Landry. „Inspizieren Sie ihre Genitalien, die Festigkeit ihrer Brüste, ihre Zähne – was immer Sie wollen. Wenn Ihnen das Produkt gefällt, befehlen Sie ihr, sich anzuziehen.“

„Das Produkt?“

„Haben Sie es nicht verstanden? Sie ist zu 100 % Cyborg. Sollten Sie allerdings etwas an ihr entdecken, das roboterhaft wirkt, teilen Sie uns das bitte mit. Berühren Sie sie. Küssen Sie sie. Testen Sie ihre diversen Öffnungen.“

Während Landry sprach, errötete LSD und begann zu zittern. „Sie weiß, dass sie Ihnen gehorchen muss. Anderenfalls wird sie zerstört“, stellte Landry so beiläufig fest, wie er an seinem Getränk nippte.

Als Henry LSD in die Augen sah, erkannte er Panik, doch irgendetwas fehlte. Er konnte nicht genau sagen, was, aber der Rest von ihr wirkte verängstigt, verlegen und elend. „Lucy“, sagte er so sanft er konnte, „zieh dich an. Ich bringe dich nach Hause.“

***

Seit der Nacht, in der Henry Lucy mit nach Hause genommen hatte, sprach ihn jeder, der ihn kannte, auf seine Verwandlung an. Der alte, zerstreute Vielfraß Henry war Geschichte. An seine Stelle trat ein selbstbewusster, strahlender, freundlicher Kollege. Sein Geist war mit einem Mal zum Leben erwacht: Er machte wichtige Anmerkungen und brachte neue Ideen ein, sehr zur Freude seiner Vorgesetzten (auch der unsichtbaren wie Landry). Seine Ängste, seine Schweigsamkeit und die sinnlosen Fehler waren verschwunden. Er meldete sich sogar freiwillig für die Inspektion des Geburtenkontrollprojekts in Tansania, basierend auf neuen Fossilienfunden durch Paläoanthropologen.

Die BioTest Labors sollten, schlug er vor, die neu entdeckten fossilen DNS-Abschnitte zu den Fortpflanzungszellen der Überlebenden des Olduvai-Schlucht-Geburtenkontrollprojekts hinzufügen. Er argumentierte erfolgreich, dass die bisher (aus verschiedensten Gründen) zur Entsorgung vorgesehenen Babys der Tansanier sehr urtümlich und faszinierend sein würden. Die Olduvai-Schlucht würde sich dadurch schließlich als profitable Weltkulturerbe-Region erweisen und in den kommenden Jahren selbst amortisieren.

„Stellen Sie sich das vor!“, meinte er zu seinen Vorgesetzten, „diese tansanischen Hybriden haben kleinere Gehirne, ein Fell und sind kaum in der Lage, zu kommunizieren. Aber sie gehen auf zwei Beinen und sichern ihren Eltern ein Einkommen, das sie für den Rest ihres Lebens unterstützt. Der weltweit erste Zoo für Höhlenmenschen! Wir könnten auch weitere Attraktionen hinzufügen, sie beispielsweise von Säbelzahntigern jagen lassen. Die Veranstaltungen könnten wir weltweit als Realityshows vermarkten und so noch mehr Gewinne erzielen. Höhlenmenschen gegen Tiger! Ein umwerfendes Erlebnis aus dem Pliozän für alle zahlenden Besucher.“

Eine perfekte Idee für die BioTest Labors. Das Projekt würde die unerwünschte menschliche Bevölkerung in Tansania noch weiter reduzieren. Die war Tanzanite Mines, Global Inc. ohnehin im Weg. Das Unternehmen war im Moment damit beschäftigt, die gesamten 947.158 Quadratkilometer auf der Suche nach natürlichem Tansanit sowie Gold, Uran, Diamanten, Nickel und Kupfer zu roden.10 Die Ausbeutung des Bodens dort könnte ohne einen weiteren Krieg vonstattengehen, es wären nur knapp 1.800 Quadratkilometer für die Zucht von Höhlenmenschen zu Ausstellungszwecken reserviert. Kriege waren spannend zu beobachten, konnten aber schmutzig werden. Und während sie im Gange waren, konnten Aktivitäten wie Bergbau teilweise ein Problem darstellen.

Henrys Seelenverwandte Lucy hatte ihm diesen Vorschlag gemacht. Sie hatte nach berühmten Personen mit dem Namen „Lucy“ gesucht und war dabei auf fast vergessene Informationen über einen 3,2 Millionen Jahre alten Hominiden gestoßen. Das in Tansania gefundene Exemplar war sogar noch älter, und die Region war Teil von Henrys Geburtenkontrollprojekt. Als Lucy entdeckte, dass in einem Teil der Knochen DNS gefunden worden war, benachrichtigte sie Henry. Zwei Wochen später zog Henry in ein Eckbüro mit Aussicht ein, nachdem er eine mitreißende Rede bei dem zu seinen Ehren veranstalteten Essen gehalten hatte.

Henry wusste, dass jede Unze seines Erfolgs dem Zusammenleben mit LSD entsprang. Er hatte abgenommen, machte Sport und als der 30. Tag näherkam, überlegte er, Lucy zu heiraten. Er wollte sie für immer bei sich haben! Am Abend des 29. Tages kaufte Henry einen Verlobungsring, gekrönt mit einem großen Tansanit. Er hielt sogar bei einem Blumenhändler und kaufte ein Dutzend rote Rosen. Heute würde er um Lucys Hand anhalten. Nicht, dass sie perfekt war, ganz im Gegenteil.

Wenn ihn jemals etwas an ihr gestört hatte, dann war es Lucys Gehorsam. Egal, was er verlangte, solange es ihr möglich und gesetzlich erlaubt war, tat sie es. Gerne sogar. Manchmal nagte das an ihm.

„Was möchtest du abends essen?“, würde sie beispielsweise fragen, wenn er wie jeden Tag mittags anrief, um seine Abende mit ihr zu planen (meist ging es dabei um Sex und romantische Filme). „Überrasche mich!“, würde er antworten. „Was möchtest du abends essen?“, würde sie nochmals fragen. Darauf würde er sagen: „Such dir zur Abwechslung aus, was du möchtest.“ „Das kann ich nicht“, wäre ihre Reaktion. „Ich bin nicht dafür programmiert, selbst etwas zu wollen. Es könnte deinen Wünschen entgegenstehen.“

Henry wusste, er hatte nicht den besten Geschmack und wählte auch nicht die passende Kleidung für sie. Mit seiner Auswahl sah sie zu sehr wie ein Bardamenroboter aus, die Kleider zeigten zu viel Brust und Bein. Nachdem sie bei gemeinsamen Restaurantbesuchen einmal zu oft angestarrt worden waren, kleidete er sie in Matrosenanzüge, Abendkleider und die Trikots von Sportmannschaften. Aber auch das stand ihr nicht. Schließlich wandte er sich an PerfekteFrauen. Die Firma installierte daraufhin ein Programm in Lucys Kopf, sodass sie ihre Kleidung selbst auswählen konnte. Ihr Geschmack war zwar manchmal teuer, dennoch würde Henry bald schuldenfrei sein. In jener 29. Nacht war sein Schuldenstand so nahe an null, dass er sich als reicher Mann fühlte.

Als er jetzt in das von Lucy penibel sauber gehaltene Appartement trat, fand er sie weinend auf dem Sofa vor. Henry war bestürzt.

„Was ist denn, Schatz?“, fragte er.

„Sie werden mich morgen zerstören“, antwortete sie ihm.

Zu Tode erschreckt ließ Henry die Blumen fallen. „Was zum Teufel …?“, rief er. „Das können sie nicht. Ich möchte dich behalten. Sie sagten, ich hätte eine 30-tägige Probezeit und könnte danach entscheiden, ob ich dich behalten will oder nicht. Und ich möchte mehr als dich nur behalten. Ich möchte dich heiraten!“

„Heiraten?“

„Ja, süße LSD, ja! Du hast mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.“

Er ging vor ihr auf die Knie und wischte ihr eine Träne weg. Dann zog er den Ring mit dem hübschen violetten Stein aus der Tasche und fragte mit lauter, klarer Stimme: „Willst du mich heiraten?“

Sie sah ihn wortlos an. „Wenn ich dich heirate, dürfen sie dich nicht zerstören. Ich habe den Vertrag gelesen“, platzte er schließlich voller Frust heraus.

„Hast du das Kleingedruckte gelesen?“

„Natürlich habe ich das.“

Darauf antwortete sie nur: „Du hast mich sehr glücklich gemacht. Und ihnen war, glaube ich, nicht bewusst, dass ein Cyborg glücklich werden kann.“

***

Sie mussten ihn stützen, als er mit Lucy auf dem Arm in das Gebäude auf der 5th Avenue wankte. Sie war schlaff, reagierte nicht, ihre offenen Augen starrten blicklos ins Leere und waren von einem weißen Film überzogen. Ihre Haut hatte sich in eine weiche, nachgiebige Substanz verwandelt, die sich nicht länger menschenähnlich anfühlte. Es war der 30. Tag und Henry weinte. Gleichzeitig war er unglaublich wütend.

Angesichts ihres Zustandes zwang man ihn, Lucy ihrer Obhut zu überlassen. Sie wurde irgendwohin gebracht und man versicherte ihm, er würde sie in jedem Fall bald wiedersehen. „Immerhin“, wurde ihm gesagt, „ist sie Ihr Eigentum. Sie haben Rechte.“ Die beiden Cyborgs, die er beim ersten Mal am Fahrstuhl getroffen hatte, versuchten ihn zu beruhigen, als er nach Landry verlangte. „Er kommt ja, nur nicht sofort“, sagten sie ihm immer wieder. Henry musste eineinhalb angstvolle Stunden warten, bis Landry endlich erschien. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass Landry angespannt war und schwitzte.

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte dieser zu Henry.

Henry beugte sich zu Landry vor. Dabei konnte er weder seine krampfhaft die Knie umklammernden Hände noch sein von Angst und Sorge erfülltes Gesicht verbergen. In seinen Augen schimmerten Tränen.

„Es tut mir leid, Henry“, meinte Landry endlich. „Erinnern Sie sich, dass wir Ihnen sagten, Sie sollten eine ganz bestimmte Perfekte Frau ausprobieren?“

„Natürlich“, antwortete Henry. „Und das war sie auch. Fast perfekt.“

„Wissen Sie auch noch, dass wir sagten, wenn sie funktionierte wie gedacht, hätten wir die Lösung für ein Problem, das uns beschäftigt?“

Henry nickte. „Ich weiß, es war ein Experiment. Aber Sie sagten mir auch, ich könnte sie nach Ablauf der 30 Tage behalten, wenn ich das wollte. Dass sie sterben würde, haben Sie mir nicht gesagt!“

„Sie erinnern sich auch, dass ich den Film ,Idiocracyʻ erwähnte? Und dass wir Sie gezielt ausgewählt haben, weil Sie der typische, intelligente, heterosexuelle Mann sind, der praktischerweise bei BioTest Labors arbeitete?“

Auch daran erinnerte sich Henry. „Was hat das mit Lucy zu tun?“, knurrte er.

„Sie, mein Lieber, sollten von allen Menschen am besten wissen, wie wir die Bevölkerung dezimiert haben. Wir haben die Unsportlichen, die Außenseiter und die Überflüssigen aussortiert. Aber unsere Lösungen waren zeitweise brachial.“

„Sagen wir einmal, die jahrzehntelange Kriegstreiberei hat uns an der Macht gehalten“, meinte Henry. „Lucy lehrte mich aus ihren Büchern, A.J.P. Taylor hätte gesagt: ,Unabhängig von allen politischen Gründen für einen Krieg ist der eigentliche Grund immer Geld.ʻ“ Landry lächelte, nicht im mindesten erschüttert. „Sie haben, denke ich, noch nicht verstanden, dass wir uns am Beginn eines goldenen Zeitalters befinden. Wir werden keine Morde mehr erlauben. Aus keinem Grund. Ich habe Einfluss, und ich bin nicht allein. Die meisten Cyborg-Intelligenzen stimmen mir zu.“

„Ich traue Cyborgs nicht“, murmelte Henry.

„LSD ist ein Cyborg“, erinnerte Landry ihn.

„Sie ist kein wandelnder, sprechender, menschenähnlicher Computer!“

„Wenn Sie meinen“, sagte Landry. „Wir widmen uns gleich Ihrer netten Idee. Davor möchte ich Ihnen aber noch von meinem Lieblingsfilm als Kind erzählen.“

„Filme sind nicht real“, erklärte Henry.

„Sie bilden Möglichkeiten ab, wenn auch nur solche der Phantasie. Wenn Sie sich vorstellen, jemanden zu töten oder Ihren besten Freund mithilfe eines Zauberstabs in eine Pizza zu verwandeln, erschaffen Sie etwas, das die Realität beeinflussen könnte. Und dieser Film hat mich beeinflusst. Wir denken darüber nach, Verbrecher wie im Film ,Demolition Manʻ einzufrieren. Heute haben wir die Technologie dafür. Ohne sie dabei zu töten. Ohne sie ernähren und irgendwo unterbringen zu müssen. Wir könnten auch Anführer einfrieren, wenn sie uns im Weg sind. Oder Wissenschaftler mit den falschen Ideen.“

„Was hat das mit Lucy zu tun?“

Auf eine kleine Geste von Landry schenkte ihm der brünette Cyborg eine rote Flüssigkeit in ein Glas. „Probieren Sie“, forderte er Henry auf. „Cranberrysaft. Von meiner eigenen Plantage.“

Obwohl er keine Lust zu kosten verspürte, nahm Henry einen Schluck. Währenddessen fuhr Landry mit seiner Erzählung fort, inspiriert und begeistert von dem, was er zu beschreiben versuchte. „Da gab es Sylvester Stallone“, sagte er. „Sie werden sich nicht an ihn erinnern, aber er schrieb seine eigenen Drehbücher und spielte dann die Hauptrollen in den Filmen. Keine Ahnung, ob dieses auch aus seiner Feder stammt, doch er spielt den brutalen Polizisten John Spartan. Dieser ist als ,Demolition Manʻ bekannt, weil er die Gewaltprobleme der Gesellschaft mit Gewalt löst. Dafür wird er schlussendlich in einer Kryo-Kammer eingefroren. Während er eingefroren ist, taut Wesley Snipes in der Rolle des Superschurken auf und befreit seine gesamte böse Gang. Sie wollen die Weltherrschaft übernehmen, und nur John Spartan kann ihn noch stoppen, denn niemand weiß mehr, wie man Verbrecher bekämpft. Die Menschen sind passiv und sanftmütig geworden. Also wird auch John Spartan aufgetaut, um das Problem zu lösen. Sandra Bullock spielt im Film eine Polizistin, die Relikte von Gewaltverbrechen der Vergangenheit sammelt. Sie ist die einzige, die überhaupt noch mit John Spartan kommunizieren und ihm helfen kann, die Superschurken ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“

„Also noch einmal: Was hat das mit Lucy zu tun?“, fauchte Henry. „Sie ist tot! Sie hat mir etwas bedeutet, war perfekt für mich, und nun ist sie tot! Oder wird sie wieder aufwachen? Gibt es Hoffnung für sie?“

„Die Pointe an meiner Geschichte ist, dass wir mit den BioTest Labors einen großen Vertrag für die Kontrolle der aufkommenden Cyborg-Population an Land gezogen haben. Sie verbrauchen zu viel Energie, ein paar von ihnen sind zu unabhängig geworden. Und dann sind da noch die Cyborg-Rebellen.“

„Ich dachte, alle Rebellen wären bekannt?“, antwortete Henry. „Sind wir die nicht vor ein paar Jahren losgeworden?“

„Wir wissen es nicht“, gestand Landry ein. „Obwohl die neuesten Cyborg-Modelle einfach toll sind – wie Lucy Ihnen bewiesen hat –, haben sich die Rebellen dennoch in unser neuronales Werbesystem gehackt und sind über dieses in die Köpfe einiger Wissenschaftler und Techniker eingedrungen. Die sitzen nun in den Besprechungen und entscheiden, was den Cyborgs gestattet werden kann, während die Cyborg-Rebellen ihre Gedanken kontrollieren.“

„Ist das denn nicht nur ein Gerücht?“, fragte Henry.

„Ich wünschte, das wäre es. Das alles erzähle ich Ihnen, weil Sie ein Recht darauf haben, das Geschehene zu verstehen. Aber keine Sorge, wir löschen Ihr Gedächtnis wieder, bevor Sie gehen. Sie werden nicht zum Sicherheitsrisiko für uns und dürfen Ihr Eckbüro mit der schönen Aussicht behalten.“

„Ich möchte aber nicht vergessen“, widersprach Henry. „Ich habe einige gute Ideen. Das habe ich doch gerade bei dem Projekt in Tansania bewiesen. Setzen Sie mich nicht auf die Ersatzbank!“

„Ich denke darüber nach, mein Lieber“, meinte Landry wenig überzeugend. „Verstehen Sie doch, die BioTest Labors bekommen finanzielle Mittel, um die Cyborg-Rebellen auszurotten. Die Mittel stammen von den Unternehmen, die ängstlich auf den Erhalt ihrer Privilegien für Werbung im Kopf bedacht sind. Sie wollen keine Beschränkungen auferlegt bekommen. Stellen Sie sich vor, die Anzeigen dürften nicht mehr in Ihren Kopf gelangen! Der entgangene Gewinn würde nie dagewesene Höhen erreichen.

„Also beschäftigen wir uns weniger mit Geburtenkontrolle als mit der Kontrolle der Cyborg-Rebellen?“

„Bingo“, sagte Landry. (Was zum Teufel war Bingo?) „Wissen Sie, die sind sehr schlau. Sie sind mehr und mehr in der Lage, menschliche Güte, menschliches Wohlwollen und menschliche Liebe nachzuahmen …“ Er starrte in sein Saftglas und schüttelte dann den Kopf. „Sex-Cyborgs gibt es schon länger. Mittlerweile seit 50 Jahren. Und sie werden immer besser, möchte ich hinzufügen. LSD war mit einem dieser Profile ausgestattet, bereit, Sie zu befriedigen.“

„Das tat sie tatsächlich“, erwiderte Henry. „Sie verwandelte mich in einen neuen Menschen.“

„Mit Hilfe einer Dosis an Medikamenten und Sudra-Testosteron, die sie Ihnen verabreicht hat, nebenbei gesagt“, konstatierte Landry trocken.

„Dass sie mir etwas gab, wusste ich“, wehrte Henry ab. „Und?“

„Wie gesagt, sie sind immer mehr in der Lage, menschliche Güte, menschliches Wohlwollen und menschliche Liebe nachzuahmen …“

Eine Mischung aus Entsetzen und Angst verstopfte Henrys Kehle wie ein harter Klumpen, den er nicht schlucken konnte. „Nein!“, brach es aus ihm heraus, während er aufsprang. „Niemals, nicht sie!“

„Es tut mir leid“, sagte Landry. „Einen Tag später hätte sie den Befehl erhalten, in Ihr Hirn einzudringen. Und sie hätte es getan. Sie hätte keine Wahl gehabt. Die Rebellen haben sie nur zu diesem Zweck konstruiert. Erinnern Sie sich, sie verhalf Ihnen zu einer höheren Position bei BioTest. Damit hätten Sie an all den Geheimkonferenzen teilgenommen.“

„Die Rebellen?“ Henry schnaubte verächtlich. „Hätten Sie die Cyborg-Rebellen wirklich so nah an die geheimen Besprechungen von BioTest herankommen lassen? Ich glaube Ihnen nicht.“

„Nur so konnten wir ihre Vorgehensweise beobachten.“

„Sie kannten Lucy nicht so gut wie ich“, beharrte Henry. „Sie war tatsächlich eine Perfekte Frau. Wir standen uns nahe. Sehr nahe sogar. Sie hätte niemals die Kontrolle über meinen Geist übernommen!“

„Sind Sie sich da wirklich sicher?“

„Ja. Ich habe sie gestern Nacht geheiratet. Wir haben uns gegenseitig unser Herz geschenkt. Ich schwöre Ihnen, unsere Liebe war echt!“ Während Henry das sagte, rief er sich ins Gedächtnis, wie er Lucy den Ring mit dem Tansanit an den Finger gesteckt und sie an den Rosen gerochen hatte. Dann hatte sie die Rosen beiseitegelegt, ihn stürmisch umarmt und ihn ein Dutzendmal geküsst. Beim Gedanken daran, wie sie sich in seine Arme geschmiegt hatte, liefen ihm Tränen über die Wange. Unfähig, weiter darüber nachzudenken, bedeckte Henry sein Gesicht mit den Händen und wandte sich von Landry ab.

Während er weinte, überfiel ihn Hass auf den älteren Mann. „Und jetzt?“, fragte er zwischen den Schluchzern. „Sie ist erst vor ein paar Stunden kollabiert, flüsterte ,Leb wohlʻ und brach zusammen … ihr Körper wurde innerhalb von Minuten kalt und starr. Ich konnte keinen Puls finden. Das Krankenhaus wies sie ab, weil sie kein Mensch war.“ Henry wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte Landry an. „Also … musste ich sie hierher zurückbringen … zu euch! …“

„Wir geben Ihnen ihren Körper“, sagte Landry plötzlich.

„Dann … ist sie wirklich tot?“

„Ich fürchte, ja.“ Er wartete, während Henry erneut in Tränen ausbrach, und reichte ihm schließlich ein paar Taschentücher. Mit rot geweinten Augen flüsterte Henry: „Aber warum ist sie tot? Sie sagten, ich könne sie nach den 30 Tagen behalten!“

„Das werden Sie“, nickte Landry. Während er sprach, wurde Lucy zurück in den Raum gebracht. Sie wirkte beinahe lebendig, doch Henry konnte sehen, dass kein Leben mehr in ihr war. Dennoch ging er zu ihr, kniete neben ihr nieder, nahm ihre Hand und küsste die kalte Kunsthaut.

„Sie war eine von ,DENENʻ“, betonte Landry. „Sie wusste nicht, dass wir sie durchschaut hatten. Ihr Auftrag lautete, in Ihr Gehirn einzudringen, es unter Kontrolle zu bringen und deren Spion zu sein … wir hätten nicht gewagt, länger als 30 Tage zu warten. Verstehen Sie das?“

„Nein, tue ich nicht!“, rief Henry. „Sie hat nie etwas in dieser Richtung versucht. Überprüfen Sie mein Gehirn, verdammt! Oder werden Sie mich auch töten?“

„Wir haben sie nicht getötet, mein Lieber“, meinte Landry langsam, während er beobachtete, wie Henry Lucys weiche Locken streichelte. „Und sie muss Sie wirklich geliebt haben. Denn anstatt in Ihr Gehirn einzudringen, als sie den Befehl dazu bekam, hat sie sich selbst zerstört.“

Henry erstarrte, ließ ihre Hand fallen und stand auf. „Sie … hat sich selbst zerstört?“

„Cyborg-Rebellen haben diese Möglichkeit. Statt Informationen preiszugeben, wenn sie gefasst werden, können sie sich selbst zum Wohle der Kolonie, wie sie es nennen, zerstören. In diesem Fall hat sie es getan, um Sie zu schützen. Die letzte Gehirnwelle, die wir finden konnten, beweist das.“ Landry sprach langsam und bedacht. „Sie dachte: ,Er hat mich glücklich gemacht, also werde ich ihn nicht unglücklich machenʻ … und dann hörten ihre Neuronen auf, zu funktionieren … sie war tot. Wir konnten sie nicht retten.“

Er bekam die Erlaubnis, sie wieder mit nach Hause zu nehmen. Obwohl er seine Tätigkeit bei BioTest Labors fortsetzte, verlagerte sich sein Interesse auf den Zweig des Unternehmens, der sich mit Cyborg-Ethik befasste. Irgendwann im Laufe der folgenden Wochen begrub er sie. Nach einem harten Kampf durfte Henry sie in einem ursprünglich nur für Menschen bestimmten Friedhof bestatten. Und in seinem Bett lag immer eine einzelne Rose auf dem nun unbenutzten Kissen neben seinem.

Endnoten

www.huffingtonpost.com/2015/06/30/robot-wedding_n_7696666.html; aufgerufen 13.07.2017Merkwürdigerweise war 420 5th Avenue, NY NY 10018 im Jahr 2016 die Adresse der Rockefeller FoundationLeetaru, Kalev: „How The Internet Of Things Will Turn Your Living Room Into The Future Cyber Battleground“, in Forbes : Tech, 6.11.2015, 09:18

„Die Vereinigten Staaten kündigten vor kurzem ein 500 Millionen Dollar teures Programm zur Entwicklung ‚tödlicher‘ Cyberwaffen an. Diese könnten ‚in einem Kraftwerk die Kernschmelze auslösen; die Schleusen eines Staudamms oberhalb eines besiedelten Gebietes öffnen; oder Verkehrsleitsysteme lahmlegen, mit Flugzeugzusammenstößen als Folge‘. Besonders problematisch daran ist, dass solche Waffen für Chancengleichheit sorgen. Ein einzelner Terrorist oder Hacker verfügt damit über dieselbe Offensivkraft wie eine ganze Nation […] Vielleicht am beängstigendsten: Die Ausbreitung sogenannter ‚smarter‘ Geräte für Privathaushalte schafft eine noch nie dagewesene Landschaft an Zielen. Die Systeme für automatisiertes Wohnen stellten sich als ausgesprochen angreifbar heraus. Hacker können von überall auf der Welt Alarmanlagen oder das Licht ausschalten, die Raumtemperatur ändern und sogar Türen entsperren oder öffnen. Heutige Fernseher enthalten oft Kamera und Mikrophon. Diese können aus der Ferne gehackt und in globalem Ausmaß dazu genutzt werden, Durchschnittsbürger durch einen Blick in die Wohn- und Schlafzimmer auszuspionieren oder falsche Informationen am Bildschirm anzuzeigen. Auch wenn sie nicht gehackt werden, senden die Fernseher mancher Marken private Unterhaltungen zurück an den Hersteller und seine Partner. Das soll Funktionen wie etwa eine Sprachsteuerung unterstützen. Der Zugriff auf Tausende private Überwachungskameras und Kameras für Babyphones, die oft sehr intime, private Situationen aufnehmen, ist problemlos möglich. Gleichzeitig machen spezialisierte Suchmaschinen wie Shodan die Suche nach angreifbaren Geräten so einfach wie eine Keyword-Suche …“;

www.forbes.com/sites/kalevleetaru/2015/11/06/how-the-internet-of-things-willturn-your-living-room-into-the-future-cyber-battleground/#2bfe87317ec6.

Der Hypothalamus kann zur Appetitanregung stimuliert werden, siehe: www.humanneurophysiology.com/hypothalamus.htm

Ebenso ist eine Stimulation zur Förderung der Langlebigkeit möglich. Theoretisch sollte Manipulation des Hypothalamus über elektrische Impulse, Hormongaben etc. verboten sein, da dies zur Geburtenkontrolle eingesetzt werden könnte.

http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1000194810600044, aufgerufen 13.07.2017

Ebd.New York, 03.07.2015: Forscher entwickelten ein künstliches Bauchspeicheldrüsenimplantat für Diabetiker. Dieses misst permanent den Glukosespiegel einer Person und kann bei Bedarf automatisch Insulin abgeben […] Ein Leben mit Typ-1-Diabetes erfordert eine ständige Beobachtung des Blutzuckerspiegels und tägliche Insulinspritzen […] Forscher entwarfen daher einen Algorithmus, der den Blutzuckerspiegel überwacht, die Insulindosis berechnet und sie im Bedarfsfall automatisch und schnell ausschüttet […] Dieser ist auf den Einsatz in Implantaten, besonders künstlichen Bauchspeicheldrüsen, ausgerichtet […] In einem Computertest simulierten sie die Schwankungen im Glukosespiegel entsprechend der Einnahme von Mahlzeiten und einer nächtlichen Schlafperiode. Die künstliche Bauchspeicheldrüse hielt den Blutzuckerspiegel beinahe 80% der Zeit im gewünschten Bereich. Die Forscher gaben an, das Gerät bald an Tieren testen zu wollen. Die Studie wurde im American Chemical Society Journal Industrial & Engineering Chemistry Research veröffentlicht.

http://timesofindia.indiatimes.com/home/science/Artificial-pancreas-­in-insulin-jabs-out/articleshow/47918253.cms; aufgerufen 13.07.2017

„Ein Wolkenkratzer in Guangzhou, China, besitzt nach seiner Fertigstellung 2016 die schnellsten Fahrstühle der Welt. […] Hitachi behauptet, die Fahrstühle würden in rund 43 Sekunden vom ersten in den 45. Stock des Guangzhou CTF Finance Center schießen. Die Spitzengeschwindigkeit von rund 72,5 km/h liegt dabei 24 km/h über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit in New York City. Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Aufzug bewegt sich mit etwa 8 bis 35 km/h“; http://mashable.com/2014/04/26/worlds-­fastest-elevator/ Henrys Aufzug fuhr doppelt so schnell.Der Film „Idiocracy“ (2006) ist vielfach als Befürwortung von Eugenik und Angriff gegen in Armut Lebende verschrien, wo wir doch einfach nur eine Sozialreform bräuchten, um uns vor uns selbst zu retten („Idiocracy ist grausam, wer gefallen daran findet, sollte sich schämen.“; http://paleofuture.­gizmodo.com/idiocracy-is-acruel-movie-and-you-should-be-ashamed-fo-1553344189). Dabei berücksichtigt „Idiocracy“ lediglich Darwins Gesetze der natürlichen Auslese und zeigt uns das mögliche Ergebnis nach 500 Jahren. Der Held, Mr. Durchschnittsamerikaner-mit-Durchschnitts-IQ, ist nun der intelligenteste Mensch einer zerbröckelnden und verrottenden Welt. Der Film beginnt mit den Worten:

„Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stand die Evolution der Menschheit an einem Wendepunkt. Die natürliche Auslese, ein Prozess, in dem die Fittesten und Klügsten sich stärker vermehrten als der Rest, ein Prozess, der einst die nobelsten Eigenschaften des Menschen gefördert hatte, begünstigte nun andere Merkmale. Die Sciencefiction der damaligen Zeit sagte meist eine zivilisiertere und intelligentere Zukunft voraus. Im Laufe der Jahre schien sich allerdings eine gegenteilige Entwicklung abzuzeichnen – eine Verdummung. Wie es dazu kam? Die Evolution belohnt nicht notwendigerweise Intelligenz. Ohne natürlichen Feind, dem ungeeignete Exemplare zum Opfer fielen, bevorzugte die Evolution schlicht diejenigen, die sich am stärksten vermehrten, und machte intelligente Menschen zur gefährdeten Spezies.“

Ein Filmkritiker entgegnete: „Glaubt man ‚Idiocracy‘, ist der Grund für unseren bevorstehenden Abstieg Richtung Idiotie, dass dumme Menschen mehr Kinder haben als kluge […] Eine provokante neue Studie deutet auf eine Reduktion der menschlichen Intelligenz hin. Tatsächlich zeigt die Studie eine Verringerung des Durchschnitts-IQs der westlichen Bevölkerung um 14 Punkte seit dem viktorianischen Zeitalter. […] Dr. Jan te Nijenhuis, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität von Amsterdam und Co-Autor der Studie, streicht heraus, dass hochintelligente Frauen tendenziell weniger Kinder bekommen als Frauen geringerer Intelligenz“; uproxx.com/movies/2014/10/the-manysigns-that-mike-judges-idiocracy-is-almost-upon-us/; Seite nicht mehr verfügbar 13.07.2017

Am 9. Februar 2012 berichteten Forscher im New England Journal of Medicine, dass „der mediale Bereich des Temporallappens, inklusive des […] entorhinalen Cortex, von zentraler Bedeutung für die Übertragung täglicher Erfahrungen in das Langzeitgedächtnis ist […] Entorhinale Stimulation der Versuchsobjekte […] verbesserte nachfolgend deren Gedächtnis“; http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1107212, aufgerufen am 13.07.20172015 übernahm die Tanzanite One Group in Tansania die Kontrolle über die weltweit einzige Quelle für Tansanit (http://www.tanzanitejewelrydesigns.com/tanzanite-prices-per-carat.html#.VaLcJLvAIqQ).

Betreffend „Lucy“: Der älteste [menschliche] mitochondriale DNS-Strang stammt aus Uganda. Der DNS-Strang wird nur über die mütterliche Linie weitergegeben und ist bis zur ersten Frau rückverfolgbar, […] unter Wissenschaftlern als „Mitochondriale Eva“ bekannt. […] 1960 entdeckte das Leakey-Team das Exemplar (OH 7), nach dem die Spezies benannt ist, in der Olduvai-Schlucht in Tansania. […] Hier befinden sich auch die Überreste von Homo habilis, Homo erectus und Australopithecus Boisei“; http://www.nok-benin.co.uk/history_africa.htm, aufgerufen 13.07.2017

Donald Johanson und sein Team entdeckten am 30.11.1974 ein zu 40 Prozent erhaltenes, 3,2 Millionen Jahre altes weibliches Skelett in Äthiopien. Sie tauften es Lucy, nach dem Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“; http://www.pbs.org/wgbh/aso/databank/entries/do74lu.html, aufgerufen 13.07.2017. Die von Mary Leakey in Tansania entdeckten Überreste waren noch älter. Lucys Becken zeigt, dass sie, trotz ihres kleinen Gehirns, aufrecht gehen konnte.

Grausames Grün

„Gleich werden wir für Sie vollständig rekonstruieren, warum das primitive Subjekt hier in Haft ist“, erklärte der Cyber-Richter den internationalen Cyber-Geschworenen vor Millionen von Zuschauern. „Wie jeden Dienstag wird Ihnen diese Verhandlung präsentiert von Primitive Tours, UW Productions. Auch Sie können ein Leben ‚Wie Damals‘ vor der Cyborg-Revolution genießen. Auch Sie können Unfälle, Schmerzen, ungeplante Freuden, Liebe in den Armen eines Primitiven und noch viel mehr erleben. Wir geben eine 100-prozentige Zufriedenheitsgarantie inklusive Versicherung für die Löschung schlechter Erlebnisse aus Ihrem Gedächtnis. Was die hier gezeigten Verbrechen betrifft: Sie sind real. Die Menschen darin sind real. Aufgrund Ihrer Abstimmung können die Geschworenen ihre gegenwärtige Entscheidung ändern.Die heutige Sendung beginnt mit Subjekt 1234. Er ist, wahrscheinlich wegen der leicht zu merkenden Nummer, recht bekannt. Zur Erinnerung, liebe Zuschauer: Die Geschworenen entscheiden aufgrund Ihres Zuschauervotings, wie lange der Angeklagte noch in Haft bleibt. Sie müssen sich wie immer sowohl die Eröffnungsrede des Angeklagten als auch seine Version der Geschichte zwingend anhören. Bei der offiziellen Version des Ganzen ist das nicht unbedingt erforderlich. Stattdessen können Sie auch Ihre Stimme abgeben und den Gerichtssaal jederzeit verlassen. Oder Sie beschließen, sich für einen geringen Aufpreis den tatsächlichen Ablauf aller Ereignisse anzusehen, zusammengestellt aus unseren genauesten Untersuchungen, Drohnenbeobachtungen und Gedächtnis-Bots. Wenn Sie bis zum Ende der Sendung zuschauen, hat Ihre Stimme mehr Gewicht. Wer weiß? Vielleicht wird der Verbrecher Tony eines Tages aufgetaut und freigelassen. Bis dahin wünsche ich viel Spaß mit der Wiederholung!“

Der Cyber-Richter schaltete einen riesigen Bildschirm ein, auf dem ein männlicher Primitiver, der sich offenbar in der Blüte seines Lebens befand, in ein Mikrophon sprach. „Lehnen Sie sich zurück“, meinte der Richter. „Gleich nach einer kurzen Werbeeinschaltung geht’s los!“

***

„Danke, dass ich das Tonbandgerät nutzen darf. Noch dankbarer wäre ich allerdings, wenn Sie mich aus dieser Zwangsjacke befreien könnten.1 Vielleicht hilft es, wenn ich das hier als Geschichte erzähle, wie ich es versprochen hatte. Schließlich war ich vor der Revolution Journalist. Aber wie konnte es so weit kommen? Wie konnten wir zulassen, dass Robocop-Typen Wohnungen betreten und normale Leute ohne ein Verfahren einsperren, bloß weil diese die Beherrschung verloren haben? Ich verstehe das einfach nicht. Was ist aus der Unschuldsvermutung geworden? Mit der Verhaftung von Lee Harvey Oswald wurde sie über Bord geworfen, oder? Mir ist egal, ob mein Fall als geklärt oder ungeklärt gilt. Und wenn ich meine Hände frei hätte, würde ich euch Hurensöhnen dorthin schlagen, wo es am meisten weh tut …, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, wo das ist, nachdem ihr alle Cyborgs seid.“

„Bedenken Sie bitte“, unterbrach der Richter an dieser Stelle, „Tony ist wegen der Zwangsjacke sehr aufgebracht. Deswegen wurde seine Drohung auch nicht zensiert. Als Primitiver konnte er einfach nicht anders. Aber lassen Sie uns fortfahren …“

„Hmmm!“, machte Jodie Standish, während er seine Waffe zog und auf mich richtete. „Hmmm!“

Das zweite „Hmmm“ gefiel mir noch weniger als das erste.

„Leg’ die Waffe weg, Jodie“, meinte ich so sanft und locker ich konnte. „Bedenke, du bewirbst dich gerade für ein Amt.“

„Ein schöner Wahlkampfmanager bist du mir, du Verräter.“

Ich tat entspannt, doch zwischen meinen ergrauten Schläfen spürte ich, wie alles stieg: Temperatur, Puls, Cholesterinspiegel und Versicherungsprämien.

„Komm schon, Jodie“, sagte ich so langsam wie möglich. „Was, wenn ich herausgefunden habe, dass du dir auf Staatskosten Wege im Wert von vier Millionen Dollar auf deiner Ranch hast anlegen lassen?“

„Muss ich dir von jeder der unzähligen Kleinigkeiten in der Vergangenheit berichten, nur weil ich mich um ein öffentliches Amt bewerbe?“

„Ja, Jodie, musst du. Zur Hölle, ja.“

„Ich höre dich zum ersten Mal fluchen, Tony.“

„Du richtest auch zum ersten Mal eine Waffe auf mich.“

Jodie legte die Waffe auf den grün lackierten Tisch zwischen uns. Er war es gewohnt, zu töten. Vielleicht machte es ihm sogar Spaß. Der Beweis hing rund um uns an den Wänden: eine auf ein Brett geschraubte Bergziege, eine schwarze Antilope, ein Elchkopf. Quasi zwischen meinen Beinen hatte ein Löwenfell samt Kopf mit aufgerissenem Maul seine letzte Ruhestätte. Die einst so athletischen Beine lagen nun seitlich weggestreckt auf dem Marmorboden.

Jodie Standish bewarb sich um die Wiederwahl zum Richter eines korrupten ländlichen Bezirks in der Nähe von Houston, Texas. Texas hatte sich während der Cyborg-Revolution gut behauptet und blieb, wie es immer war: gewalttätig, wild und unabhängig. Wir lebten in einem der wenigen Primitivstaaten der Welt, wo das Leben noch normal verlief und nicht von Zombies aus Städten unter Glaskuppeln reglementiert wurde. Jodie hatte sich der Öffentlichkeit stets als ehrenwerter Familienvater präsentiert, bei dem die Anliegen der Gemeinde an erster Stelle standen, egal welche privaten Probleme er auch haben mochte.

Ich starrte in seine ruhigen grünen Augen. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht hatte ich ganz selbstverständlich als Lachfalten betrachtet. Jetzt erkannte ich, dass sie nur eine erzwungene Radierung über einer alten Landkarte der Bösartigkeit waren. Ich wusste, wenn Jodie mich ansah, sah er keinen ehemaligen Lokaljournalisten oder seinen Wahlkampfmanager. Er sah das Ende seiner Karriere.

„Was hast du noch verbrochen, Jodie?“

„Sehe ich aus, als wäre ich dumm genug, dir das zu erzählen?“

Jodie war etwa 1,90 Meter groß, sein rustikaler 100-Kilogramm-Körper das Ergebnis vieler Steaks, guten Whiskys, viel landwirtschaftlicher Arbeit und zahlreicher Jagdausflüge, üblicherweise nach Afrika oder Alaska.

„Die Chinesen warten“, erinnerte mich Jodie. „Du hast dich verpflichtet, mich und Wendy mit den verdammten Cyborgs zu fotografieren. Ob es dir nun passt oder nicht.“

„Ein Grund mehr, die Waffe wegzulegen.“

Er hatte den chinesischen Cyborg-Touristen gerade erst ein paar der produktivsten landwirtschaftlichen Betriebe der Gegend gezeigt, darunter seinen eigenen. Dann war er in sein Büro zurückgekehrt, um sicherzustellen, dass ich ein paar PR-Fotos von ihm und seiner Frau Wendy neben den Cyborgs machte. Diese sollten beweisen, dass die Revolution vergeben und vergessen war. Jodie hatte sogar vor, den Cyborgs Samenportionen von wilden Bullen anzubieten, zur Aufwertung der Exemplare in ihren Zoos. Das wäre ausgezeichnete PR und brächte mehr zahlende Touristen in Jodies Gebiet. Schließlich war seine Ranch die letzte ihrer Art auf dieser Seite des Brazos Rivers.

„Mach die Fotos“, nickte Jodie, „und benimm dich anständig. Danach machen du und ich vielleicht noch einen kleinen Ausflug.“

Gomez betrat den Raum. Der übertrieben muskulöse, von Narben übersäte Kubaner verbarg seine bösartigen kleinen Augen immer hinter einer silbernen Sonnenbrille. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, um herauszufinden, ob Gomez meine Schwierigkeiten mit Jodie erkannt hatte. Das schiefe Grinsen auf Gomez‘ vernarbtem Gesicht jagte eiskalte Schauer meinen Rücken hinab.

Plötzlich übertönte meine Stimme die sich entfaltende Geschichte …. „Ich kann meine Frau erkennen. Sie sieht mich durch ein Beobachtungsfenster an! Warum, zur Hölle, lasst ihr sie weitere 150 Jahre leben, während ich immer noch in dieser eisigen Zwangsjacke stecke? Das ist mehr als unfair! Schickt sie weg oder ich mache nicht weiter!“

„Wir schicken sie weg“, stimmte der Richter zu. „Fahren Sie nun bitte mit Ihrer Schilderung fort.“

Nachdem der Fototermin vorüber war, gingen die Chinesen gemeinsam mit Jodie weg, der lachte und mithilfe eines Übersetzers Witze erzählte (die Cyborgs in der Gruppe lächelten bei jedem Witz höflich). Gomez packte mich am Arm. Selbstverständlich folgte ich ihm. In letzter Zeit hatte ich unter gewaltigem Druck gestanden, musste ich doch für einen bilderbuchmäßigen Ablauf von Jodies Wahlkampf sorgen. Bis hierher hatte alles so reibungslos funktioniert, dass ich mein kleines Problem fast vergessen hätte – bis Gomez mich packte.

„Du tust mir weh!“, jammerte ich.

Das erinnerte mich an meine Streitigkeiten mit Sharon. Diese Frau wusste, wie man den Arm eines Mannes fest im Griff behielt. Bei all ihrem Karatetraining und Ninja-Zeug musste ich froh sein, dass sie mir die Arme noch nicht gebrochen hatte. Seit kurzem war sie stolze Besitzerin eines passenden Paares kybernetischer Roboterarme (eingeschmuggelt von eben jenen Chinesen) und damit noch beeindruckender.

Ein ängstliches Raunen ging durch die Cyber-Geschworenen. „Es mag Ihnen unbekannt sein“, meinte der Cyber-Richter, „aber laut der neuen Gesetze dürfen die Primitiven bis zu 49 % ihres Körpers ersetzen. Wir versichern Ihnen, jeder Primitive, auf den Sie treffen, in allen Primitivzonen, ist zumindest zu 51 % Primitiver. Einige sind sogar 100-prozentige Primitive. Eine Sache von gelebtem Mitgefühl und Gnade.“

„Sie sollten aber unverändert bleiben“, wandte einer der Geschworenen ein.

„Für den Fall …“ – „Für welchen Fall?“, entgegnete der Richter, während sein Gesicht vor Zorn rot anlief. „Für welchen Fall? Sie wissen sehr wohl, dass wir verbesserten Cyborgs von Gesetzes wegen als perfekt gelten. Primitive dienen lediglich der Unterhaltung und dem Vergnügen, ihr genetisches Material ist voller falscher Codes. Sie stellen keinen fehlerfreien Genpool dar, der geschützt werden muss. Sie haben beschlossen, an ihren Genen herumzupfuschen und sind kolossal gescheitert. Alte Gewohnheiten halten sich hartnäckig, nicht wahr?“

Sharon ist schon lange Geschichte und Inhaberin ihres eigenen Selbstverteidigungsinstituts für Frauen.

Nun war ich mit Clara verheiratet, einer sanften und wohlhabenden Frau. Sie war mir gegenüber nie laut geworden und hatte mein Vertrauen gewonnen. Weil sie als Journalistin arbeitete und ich einmal einer gewesen war, hatten wir ein gemeinsames Interesse. Ich konnte mir gut vorstellen, was sie mit einem Skandal ähnlich dem Jodies anfangen würde. Und Jodie konnte das vermutlich auch.

Gomez schob mich zurück in Jodies Lager, wo ich eine halbe Stunde warten musste. Ich hatte genug Zeit, um darüber zu sinnieren, wie ich acht Stunden zuvor einen der Straßenbautrupps des Countys bei der Fertigstellung einer zweispurigen Straße als Anbindung an den Highway erwischt hatte. Das Problem war nur, dass sowohl der Bautrupp als auch die riesige Ladung schnell trocknenden Betons sich nicht wie geplant in der Vaclavstraße befanden. Stattdessen schufteten sie an der Privatstraße auf Jodies Ranch.

„Ach Tony!“ Der holländischstämmige Bauleiter senkte den Blick, als ich nach dem schriftlichen Arbeitsauftrag fragte. „Warum willst du mich in Schwierigkeiten bringen? Du brauchst den Auftrag doch gar nicht zu sehen.“

„Hier ist aber nicht die Vaclavstraße“, antwortete ich, nachdem ich einen Blick darauf geworfen hatte.

„Das sind die Reste der Vaclavstraße“, sagte Henri missmutig.

„So früh am Morgen?“, erwiderte ich. „Ihr müsst mit den Arbeiten hier schon vor der Morgendämmerung begonnen haben. Und schnell trocknender Beton? Der kostet ein Vermögen. Sieht aus, als hättet ihr den gesamten Weg bis zu Jodies neuem Stall damit betoniert. Stimmt das?“

Henri war ein guter Mann, der nicht das geringste bisschen Cyborg-Erweiterung an seinem rechtschaffenen Körper duldete. Er verbrachte sogar seine Samstagabende daheim bei Frau und Kindern. „Komm schon“, beschwichtigte er mich. „Das sind doch nur ein paar Reste. Was sollten wir mit dem bisschen Rest hier und dem bisschen Rest da machen? In den Straßengraben kippen?“

„Das ist schnell trocknender Beton“, meinte ich zu ihm. „Ihr habt die ganze Nacht den verdammten Weg betoniert, richtig?“

„Ich muss eine Familie ernähren“, flüsterte Henri. Ich betrachtete die lange, glatte Oberfläche der neuen Betonstraße. Sie begann zu meinen Füßen, wand sich den Hügel hinauf und verschwand dann hinter dem Horizont in Richtung Jodies neuer Ställe. Im morgendlichen Zwielicht wirkte die Zufahrt zum Highway genauso grau, weich und schlank wie Jodies Lieblingsvollblut, ein Nachkomme des „Grauen Geists“ der Pferderennen, Native Dancer. Allerdings war dies hier keine Fata Morgana. Ein zweiter Bautrupp erschien. Auf der Farm arbeitende Gefängnisinsassen malten die Leitlinien auf die Straße. Jodies Stolz hatte ihn ein wenig unvorsichtig gemacht: Er wollte die Chinesen beeindrucken. Bis sie die Straße benutzten, würde sie steinhart getrocknet sein.