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„Briefe an einen unbekannten Freund“ – Eine Reise durch Gedanken, Fragen und Abschiede In „Briefe an einen unbekannten Freund“ begibt sich der Autor auf eine stille, nachdenkliche Reise, die in Form von Briefen an einen unbekannten Freund verfasst ist. Diese Briefe sind nicht nur persönliche Reflexionen, sondern laden den Leser ein, sich auf eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und seinen innersten Gedanken einzulassen. Jeder Brief ist ein Dialog zwischen dem Autor und dem Leser, in dem Fragen zu Freundschaft, Selbstfindung, Abschied und der Natur des Lebens selbst gestellt werden. Die Themen des Lebens sind nicht klar umrissen, sondern erscheinen in einer leisen, fast meditativen Sprache, die Raum für eigene Gedanken und Interpretationen lässt. Die Worte sind durchzogen von einer sanften Melancholie und einer tieferen Sehnsucht nach Wahrheit und Verständnis. Das Buch entwickelt sich in einer Reihe von Briefen, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch unterscheiden. Jeder Brief folgt einer eigenen Dynamik, die durch die Tagesform des Autors beeinflusst wird – mal als philosophische Betrachtung, mal als Anekdote, die mit einem humorvollen Twist überrascht, oder auch in klarer, direkter Sprache, die das Wesentliche auf den Punkt bringt. So entsteht ein stilistisches Mosaik, das sowohl die Vielseitigkeit des Autors widerspiegelt als auch dem Leser ermöglicht, auf verschiedenen Ebenen mit den Gedanken und Erlebnissen des Autors zu resonieren. Doch „Briefe an einen unbekannten Freund“ ist mehr als nur eine Sammlung von Gedanken. In einigen Briefen öffnet sich der Autor auf intime Weise und gewährt dem Leser sehr persönliche Einblicke in sein Leben. Diese Momente der Offenbarung sind nicht nur ein Blick in die Seele, sondern auch eine Einladung, sich selbst in den Gedanken des Autors wiederzufinden. „Briefe an einen unbekannten Freund“ ist eine Einladung, sich auf eine Reise der Selbstreflexion und des Dialogs einzulassen, auf der der Leser zwischen den Zeilen liest und über das nachdenkt, was nicht gesagt wird. Es ist ein Buch, das nicht nur Fragen aufwirft, sondern den Leser dazu einlädt, seine eigenen Antworten zu suchen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Manchmal endet etwas, und wir wissen nicht, ob es wirklich vorbei ist – oder ob es nur innehält, um neu zu beginnen.
So fühlt es sich an, dieses zweite Buch zu öffnen. Wie ein vertrautes Zimmer, das man nach langer Zeit wieder betritt. Der Staub hat sich gelegt, das Licht fällt anders, aber etwas in der Luft erinnert an das, was einmal war. Worte, die gesprochen wurden. Fragen, die nie ganz verstummten. Gedanken, die leise weitergezogen sind.
Die hundert Briefe, die vorausgingen, waren wie Spuren im Schnee – nicht immer gerade, nicht immer erklärbar, aber stets ein Versuch, etwas Unsichtbarem zu folgen. Jetzt aber geht es nicht mehr darum, dieselben Schritte zu wiederholen. Dieses Buch beginnt dort, wo das andere endete: nicht mit einem Punkt, sondern mit einem leisen Komma. Ein Atemzug. Ein Weitergehen.
Vielleicht hast du den ersten Teil gelesen, vielleicht nicht. Beides ist in Ordnung. Denn alles, was wirklich wichtig ist, wird auch hier wieder auftauchen – vielleicht in anderer Form, vielleicht mit neuen Farben. Was zählt, ist deine Bereitschaft, dich auf das einzulassen, was zwischen diesen Seiten auf dich wartet.
Dies ist kein Handbuch. Kein Ratgeber. Kein Kompass. Es ist eher eine Sammlung von Fenstern. Einige stehen offen, andere musst du selbst aufstoßen. Was du dahinter findest, hängt nicht nur von meinen Worten ab, sondern auch von dem, was du mitbringst: deine Fragen, deine Müdigkeit, dein Staunen.
Wenn du bereit bist, ein Stück weiterzugehen – nicht unbedingt weiter weg, sondern vielleicht nur tiefer hinein – dann bist du hier richtig.
Mein lieber Freund,
du bist noch da. Das allein ist schon ein Wunder. Vielleicht nicht der gleiche wie damals, beim ersten Brief – aber wer wäre das schon? Auch ich habe mich verändert. Ich spüre es in der Art, wie ich jetzt schreibe: langsamer vielleicht, vorsichtiger – aber auch ehrlicher. Nicht, weil ich vorher nicht ehrlich war, sondern weil sich Wahrheiten mit der Zeit verwandeln. So wie Wasser, das irgendwann zu Licht wird, wenn es nur hoch genug steigt.
Ich frage mich, was du dir erhofft hast, als du dieses neue Buch aufgeschlagen hast. Einen Fortgang? Eine Antwort? Oder nur ein Weiteratmen? Ich kann dir nicht versprechen, dass ich mehr weiß als früher. Aber ich habe besser gelernt, zuzuhören – dem Unausgesprochenen, dem Zarten, dem, was leicht übersehen wird, wenn man zu sehr auf das Große achtet.
Vielleicht ist das, was jetzt kommt, weniger ein Brief und mehr ein Innehalten. Ein Moment, in dem wir uns nicht erklären müssen. Vielleicht genügt es, dass du liest und ich schreibe – dass wir in diesem schmalen Raum zwischen den Zeilen wieder aufeinandertreffen.
Früher wollte ich vieles sagen. Jetzt möchte ich eher fragen. Zum Beispiel: Wann hast du zuletzt gestaunt? Nicht bewundert – nein. Sondern wirklich gestaunt. So, wie Kinder staunen, wenn Schnee zum ersten Mal fällt. Dieses Staunen, das die Zeit anhalten kann. Nicht weil man etwas verstanden hat, sondern weil man aufgehört hat, es zu müssen.
Ich glaube, wir verlernen das mit der Zeit. Wir werden klüger, strukturierter, wir wissen Bescheid. Aber irgendwo auf dem Weg lassen wir das Staunen zurück. Und mit ihm verlieren wir vielleicht auch den Blick für das, was uns wirklich bewegt.
Ich schreibe dir heute, um dich daran zu erinnern, dass es noch da ist. Tief in dir. Vergraben vielleicht unter all den Gedanken, die man denkt, weil man sie denken soll. Aber es lebt noch – dieses kindliche Staunen, dieses "Oh", das einem entweicht, wenn man wieder sieht, was die Welt auch sein kann.
Vielleicht kannst du ihm heute begegnen. Ganz ohne Plan. Einfach so.
In stillem Staunen verbunden, dein Freund
Mein lieber Freund,
heute war einer dieser Tage, an denen man sich selbst beim Gehen zusieht – nicht aus freiem Willen, sondern weil das Verlangen lauter wurde als das, was man Vernunft nennt. Ich machte mich auf den Weg zu einem Freund, nicht aus Sehnsucht, nicht einmal aus Höflichkeit, sondern weil mir etwas fehlte. Etwas, das so klein wirkt – und doch mächtig genug war, mich hinauszutreiben: Tabak.
Wie leicht es klingt, wenn man es so sagt. Und doch war es schwer. Nicht das Gehen selbst, nicht das Gespräch – sondern die Geste. Die Kapitulation. Das stille Eingeständnis, dass etwas außerhalb von mir über mich herrschte.
Noch bevor ich die Tür hinter mir schloss, spürte ich einen Widerstand. Nicht in den Gliedern, sondern tiefer. Ein Zögern in der Seele. Ich hätte zurückgehen können. In mein vertrautes Nest, in meine Stille, in das halbwegs sortierte Chaos meiner Eigenheiten. Doch dort hätte mich das Verlangen erwartet – ungeduldig, mit kratzender Stimme. Und so ging ich weiter, den Kompromiss im Herzen.
Mein Freund wusste, weshalb ich kam. Es gab keine Fragen, keine Vorwürfe, keine großen Worte. Und doch saß ich dort wie ein Schatten meiner selbst, freundlich, unauffällig, angepasst. Ich gab mich weniger, als ich war – nicht aus Scham, sondern aus Angst, das Falsche zu sein. Denn mir war der Tabak wichtiger als meine Wahrheit in diesem Moment.
Was für ein Preis für ein paar gerollte Gedanken.
Ich dachte nicht viel. Vielleicht, weil Denken an solchen Tagen zu viel Licht bringt. Ich fühlte – dumpf, schmerzlich, aber vertraut. Seit Jahren kenne ich diese inneren Ketten. Sie klirren nicht. Sie singen leise Lieder, die ich im Schlaf mitsummen kann. Hilfe anzunehmen ist nie mein Problem gewesen. Aber dieses Gefühl, mich dabei selbst ein Stück weit zu verlieren – das ist es, was mich ermüdet.
Auf dem Heimweg wurde es leichter. Der Himmel spannte sich weit über mir auf, als hätte er Verständnis. Ich hatte, was ich wollte. Ich war wieder unterwegs zu mir – nicht ruhmreich, aber aufrecht. Und in diesem Schritt, so widersprüchlich er war, lag auch etwas Wahres: Ich war schwach, ja – doch vielleicht war ich gerade darin mir selbst am nächsten.
Denn das Leben verlangt nicht nach Heldenmut. Es verlangt Ehrlichkeit. Und manchmal beginnt diese Ehrlichkeit mit einem Schritt zur falschen Tür – nur um zu erkennen, dass man sie nicht noch einmal öffnen möchte.
In stiller Verbundenheit, dein Freund
Mein lieber Freund,
es gibt Tage, an denen das Herz schwerer wiegt als der Körper. Tage, an denen wir uns klein fühlen, nicht wegen des eigenen Wertes, sondern weil jemand über uns steht, der diesen Wert nicht sieht – oder schlimmer noch: ihn mit Füßen tritt.
Ich sage dir offen: Mein Chef ist ein Arsch. So dachte ich heute. Es war kein lauter Gedanke, eher ein dumpfer Stoß gegen das Innere, wie ein Wind, der plötzlich gegen das Fenster schlägt. Es ging nicht um einen Streit, nicht um offene Feindseligkeit. Es war diese Art von Geringschätzung, die durch Blicke spricht, durch überhörte Worte, durch ein Lächeln, das nichts meint.
Ich fragte mich: Was macht einen Menschen dazu? War er schon immer so – oder wurde er erst durch die Jahre, durch das Spiel der Hierarchien, durch den trügerischen Geschmack der Macht zu dem, was er heute ist? Und wenn ja, wie weit bin ich selbst davon entfernt? Ist nicht jeder von uns fähig, in der falschen Rolle zu erstarren?
Es ist leicht, zu hassen. Aber schwerer ist es, zu erkennen. In ihm – meinem Chef – sah ich heute nicht nur den Mann, der mir das Leben schwer macht. Ich sah auch das Kind, das vielleicht nie gehört wurde. Den Jungen, dem man beigebracht hat, dass Stärke bedeutet, keine Schwäche zu zeigen. Den Erwachsenen, der gelernt hat, dass Kontrolle sicherer ist als Vertrauen.
Ich bin nicht hier, um ihn zu verteidigen. Ich schreibe dir, weil ich verstehen will, was solche Begegnungen mit mir machen. Was sie in mir wecken – an Wut, an Trotz, an Fragen nach meinem eigenen Wert. Und wie ich damit umgehe, ohne selbst zu verrohen. Es geht um die Würde, die man sich nicht nehmen lässt. Auch dann nicht, wenn sie niemand sieht.
Auf dem Heimweg, zwischen den Häusern, fragte ich mich, was mir meine Arbeit eigentlich bedeutet – und warum es so weh tut, wenn man sie kleinredet. Vielleicht, weil ich mehr als nur meine Zeit verkaufe. Vielleicht, weil ich mich dort auch zeige, in allem, was ich kann. Und wer mich dort verletzt, trifft mehr als nur den Beruf. Er trifft mich.
Aber ich bin nicht dieser Schmerz. Und ich bin nicht seine Meinung. Ich bin das, was bleibt, wenn der Ärger verraucht ist. Ich bin die Stille nach dem Sturm. Und vielleicht – vielleicht bin ich auch der, der sich entscheidet, nicht ebenso hart zu werden.
In dieser Entscheidung liegt meine Freiheit. Und in ihr vielleicht auch ein kleines Stück Heilung.
In aufrechter Verbundenheit, dein Freund
Mein lieber Freund,
es gibt Tage, an denen die Welt wie eine Bühne wirkt – und alle Schauspieler darin haben ihre Rollen vergessen. Man steht am Rand, sieht zu, hört zu, und kann kaum glauben, was man sieht und hört. Man fragt sich: Bin ich der einzige, der das alles nicht mehr versteht?
Der reale Irrsinn, mein Freund, ist nicht der Wahn eines Einzelnen. Es ist das, was passiert, wenn Normalität so laut wird, dass sie uns taub macht für das Wesentliche. Wenn das Absurde zur Gewohnheit wird und man mit einem Lächeln Dinge hinnimmt, über die man eigentlich nur weinen möchte.
Ich sehe Menschen, die um Dinge kämpfen, die sie nicht brauchen. Die sich aufreiben in Strukturen, die sie verformen. Ich sehe Führungskräfte, die führen, ohne zu hören. Und Systeme, die sich selbst erhalten, aber nicht mehr den Menschen, denen sie einst dienen sollten. Der reale Irrsinn hat viele Gesichter: Bürokratie ohne Herz. Fortschritt ohne Seele. Gespräche ohne Zuhören.
Oft denke ich, wir leben in einer Zeit, in der der Wahnsinn zur Norm geworden ist, und die Stille – ja, sogar das einfache Innehalten – wie ein Akt des Widerstands wirkt. Vielleicht ist es genau das, was uns wieder aufrichten kann: der Mut, still zu sein inmitten des Lärms. Der Mut, Fragen zu stellen, wo alle meinen, die Antworten längst zu kennen.
Ich ertappe mich selbst manchmal dabei, wie ich mitspiele, mitmache, mitschaue – obwohl es mich innerlich zusammenzieht. Es braucht Kraft, sich dem zu entziehen. Nicht aus Arroganz, sondern aus Wahrhaftigkeit. Um nicht zu werden wie das, was einen so oft anwidert. Es braucht die leise Entscheidung: Ich bleibe bei mir.
Vielleicht ist der reale Irrsinn nicht der Untergang. Vielleicht ist er der Spiegel, in dem wir erkennen, wie weit wir uns von uns selbst entfernt haben. Und vielleicht ist er die Gelegenheit, wieder zurückzufinden – nicht zur Welt, wie sie ist, sondern zu uns, wie wir sein könnten.
In Zeiten wie diesen tut es gut, einen Freund zu wissen, der zuhört – nicht, um zu urteilen, sondern um zu verstehen. Und wenn ich schreibe, dann nicht, weil ich eine Lösung habe. Sondern weil ich glaube, dass wir einander brauchen, um nicht irre zu werden an dem, was uns umgibt.
In leiser Aufrichtigkeit, dein Freund
Mein lieber Freund,
es gibt Dinge, über die man nicht leicht spricht – nicht, weil sie beschämend wären, sondern weil sie so tief in uns wurzeln, dass jedes Wort zu wenig scheint. Meine eigene Sexualität gehört zu diesen Dingen. Nicht als Thema für Diskussionen, sondern als leises, inneres Fragen: Was will ich wirklich? Was zeigt sich, wenn ich mir selbst begegne – nackt, nicht nur im Körper, sondern im Wollen?
Ich habe lange geglaubt, Sexualität sei etwas, das man besitzt. Etwas, das feststeht, das sich benennen lässt wie eine Farbe oder ein Beruf. Aber je mehr ich mich selbst befrage, desto klarer wird mir: Sie ist nichts Festes. Sie ist ein Fluss. Mal ruhig, mal wild, mal stockend – aber immer in Bewegung.
Es ist schwer, zwischen dem zu unterscheiden, was in uns selbst erwacht, und dem, was von außen auf uns gelegt wurde: Bilder, Normen, Rollen. So vieles, was man angeblich zu sein hat – Mann, Frau, begehrenswert, zurückhaltend, kontrolliert, verlässlich, wild. Und irgendwo dazwischen stehen wir selbst, oft unsicher, oft still.
Ich habe gelernt, dass meine Sexualität kein Ziel braucht. Keine Definition, keinen Vergleich. Sie ist nicht dafür da, um sich einzuordnen. Sie ist da, um gefühlt zu werden – ganz und ohne Entschuldigung. Und ja, manchmal schäme ich mich. Für ein Begehren, das ich nicht verstehe. Für ein Nicht-Wollen, das ich nicht erklären kann. Für das Staunen über meinen eigenen Körper, als wäre er mir fremd geworden.
Aber vielleicht ist genau darin ihre Wahrheit: Dass sie nicht auf Antworten wartet, sondern auf Nähe. Auf Ehrlichkeit. Auf ein Berührtwerden – im Denken, im Fühlen, im Dasein.
Ich schreibe dir das nicht, um dir etwas zu bekennen. Sondern um dir Mut zu machen, auch deine eigene Reise zuzulassen. Vielleicht brauchst du keine Landkarte. Vielleicht reicht der Mut, still zu sein mit dir selbst – und dir zu erlauben, dich zu mögen, genau so, wie du gerade bist.
Denn nichts an uns ist so ehrlich wie das, was uns bewegt, wenn niemand zuschaut.
In leiser Nähe dein Freund
Mein lieber Freund,
manchmal stehe ich an der Supermarktkasse, und vor mir schiebt sich die Zeit wie ein alter Einkaufswagen mit einem blockierten Rad. Es dauert. Alles dauert. Und vor mir: ein Rentner. Oder zwei. Mit Kleingeld, mit Fragen, mit Vergesslichkeit. Und ich? Ich merke, wie es in mir brodelt. Wie die Ungeduld meine Gedanken übernimmt. Wie ich genervt bin, so sehr, dass es mir selbst unangenehm wird.
Warum eigentlich? Was genau stört mich? Dass es länger dauert? Oder dass ich mir die Langsamkeit nicht mehr leisten kann?
Vielleicht ist es nicht der Rentner vor mir, der mich wütend macht – sondern die Ahnung, dass ich eines Tages selbst dort stehen werde. Langsamer. Unsicherer. Vielleicht einsam. Und vielleicht auch ein bisschen verloren in einer Welt, die schneller geworden ist als ich selbst.
Die Ungeduld ist ein seltsames Tier. Sie tritt uns von innen. Sie will nach vorn, sofort. Aber oft ist sie nur ein Deckmantel für etwas Tieferes: Angst. Angst, Zeit zu verlieren. Angst, nicht genug vom Leben zu bekommen. Angst, am Ende festzustellen, dass wir immer nur gewartet haben – auf etwas, das nie kam.
Ich frage mich, wie es wäre, in solchen Momenten einen Schritt zurückzutreten. Nicht körperlich – nur im Kopf. Nicht zu bewerten, nicht zu drängen, sondern zu beobachten. Vielleicht sogar zu verstehen. Dass dieser Mensch vor mir, der so langsam das Portemonnaie zückt, ein ganzes Leben mit sich trägt. Geschichten. Verluste. Siege. Und vielleicht ist er heute einfach froh, jemanden zu sehen, auch wenn es nur die Kassiererin ist.
Ich sage das nicht, um mich selbst besser darzustellen. Ich bin oft nicht geduldig. Ich fluche auch. Aber ich versuche zu lernen. Nicht nur zu warten – sondern mich im Warten zu erkennen.
Denn manchmal ist die Schlange an der Kasse kein Hindernis, sondern ein Spiegel.
Inmitten der Minuten, dein Freund
Mein lieber Freund,
„Brüll mich nicht so an!“ – ein Satz, der wie ein Schild hochgerissen wird, wenn der Sturm zu laut wird. Wenn Stimmen zu Waffen werden. Wenn Worte, statt Brücken zu schlagen, Mauern errichten. Und wir plötzlich einander gegenüberstehen wie Fremde im eigenen Leben.
Ich habe diesen Satz schon gehört. Und auch schon selbst geschrien. In Momenten, in denen etwas zerbrach – nicht außen, sondern innen. Etwas, das vielleicht zu lange geschwiegen hatte, zu lange auf Verständnis gehofft, zu lange gegen das eigene Gefühl gelebt hatte. Und dann bricht es heraus. Laut. Ungelenk. Roh.
Wie oft geschieht es uns, dass wir uns in der Hitze eines Augenblicks selbst verlieren? Dass wir den anderen nicht mehr sehen, sondern nur noch seine Stimme, sein Gesicht, sein Fehler. Und wie oft wünschen wir uns später, wir hätten anders gesprochen – oder geschwiegen.
Es ist schwer, in der Wut sanft zu bleiben. Schwer, in der Erschütterung der eigenen Würde nicht selbst zum Erschütternden zu werden. Doch vielleicht liegt gerade darin die Kunst: nicht zu siegen im Streit, sondern sich selbst zu halten im Sturm.
Was bleibt, wenn der Lärm sich legt? Ein schlechtes Gewissen? Ein leiser Zweifel? Oder auch: die Erkenntnis, dass wir alle verletzlich sind. Dass wir oft nicht gegen den anderen kämpfen, sondern gegen das, was uns in uns selbst überfordert.
Ich glaube, wir sollten lernen, uns auch im Zorn zu erinnern: an das Menschliche. An die Zerbrechlichkeit hinter dem Gebrüll. Und daran, dass hinter jedem „Spinnst du?!“ oft nur ein „Ich habe Angst“ steht.
Vielleicht sind es gerade die schwierigen Gespräche, die uns zeigen, wie viel noch in uns heil werden möchte.
Mit leiser Stimme, dein Freund
Mein lieber Freund,
ich weiß nicht, ob es Mut war oder bloß das Ende eines langen inneren Krieges. Ich war 16 Jahre alt. Meine Mutter saß am Küchentisch, ihre Hände um eine Tasse gelegt, als suchte sie darin nach etwas, das Halt verspricht. Und ich? Ich stand einfach da – nicht groß, nicht heldenhaft. Nur da. Ein einziger Satz kam über meine Lippen, und ich weinte, während ich ihn sagte: „Ich bin schwul, Mutti.“
Es war kein Moment von Triumph. Kein „Jetzt bin ich frei“. Es war eher ein Moment der Entblößung, der Ohnmacht – und doch auch der Wahrheit. Vielleicht ist es genau das, was solche Sätze mit sich bringen: Sie nehmen dir den Schutzpanzer, aber sie geben dir dich selbst zurück. Stück für Stück.
Seit diesem Tag sind viele Jahre vergangen. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, und doch höre ich noch immer von Menschen, die diesen einen Satz nicht aussprechen können. Die schweigen, weil die Angst in ihren Knochen wohnt. Weil sie gelernt haben, dass Liebe gefährlich ist, wenn sie nicht der Norm entspricht. Und ich frage mich oft: Wieviel kostet es, sich selbst zu sagen, wer man ist – und es dann auch noch anderen zu zeigen?
Ich habe damals nicht gewusst, was auf mich zukommt. Keine Vorstellung davon, wie viele Gespräche folgen würden. Wie oft ich erklären müsste, dass meine Liebe nicht anders, nur eben meine ist. Dass ich nicht auf der Suche nach einem Etikett war, sondern nach einem Ort in der Welt, an dem ich einfach sein darf.
Und weißt du, was das Schwierigste war? Nicht das Außen. Nicht die Reaktionen. Sondern das Innen. Dieses permanente Hinterfragen: Bin ich richtig? Darf ich so sein? Wird mich jemand lieben? Diese Fragen nisten sich ein. Sie schlafen unter deiner Haut und flüstern dir zu, wenn du am verletzlichsten bist.
Aber irgendwann – und das ist die leise Hoffnung in allem – wird es ruhiger. Nicht still, aber ruhiger. Die Fragen hören nicht auf, aber sie schreien nicht mehr. Und in dieser neuen Stille findest du vielleicht etwas, das kostbarer ist als jede gesellschaftliche Anerkennung: dich selbst.
Wenn du, mein Freund, diesen Brief liest und dich in irgendeiner Weise angesprochen fühlst, dann weiß: Du bist nicht allein. Wir sind viele. Und selbst wenn du noch schweigst – dein Schweigen ist Teil einer Geschichte, die auf ein neues Kapitel wartet.
Denn am Ende, so glaube ich, ist es nicht der Satz, der uns befreit. Es ist der Moment, in dem wir aufhören, uns selbst zu verstecken.
In der Hoffnung, dass du dich selbst liebevoll entdeckst, dein Freund
Mein lieber Freund,
„Was soll ich heute kochen?“ Eine Frage, die uns allen wohl nur allzu bekannt ist, und doch geht sie über das bloße Befriedigen eines Bedürfnisses hinaus. Manchmal ist diese Frage mehr als nur die Suche nach einer Antwort auf den Hunger des Körpers – sie ist die Suche nach einem Moment der Erfüllung, einer Antwort auf das ungesagte Bedürfnis, etwas zu schaffen, das für uns selbst Bedeutung hat.
Es ist erstaunlich, wie wir jeden Tag vor dem Kühlschrank stehen und eine Entscheidung treffen müssen, die größer erscheint, als sie eigentlich ist. Was koche ich? Soll es etwas sein, das mich an einem anderen Tag erinnert? Etwas, das mir eine Erinnerung wachruft – an ein einfaches Abendessen mit einem Freund, an den Duft von frisch gebackenem Brot bei Oma, an das unvergessliche Aroma einer warmen Suppe, die den ganzen Raum erfüllt hat. Oder soll es heute etwas Neues sein, etwas Unbekanntes, ein Rezept aus einer fremden Kultur, das uns in eine andere Welt entführt, auch wenn es nur für eine Stunde ist?
Ich frage mich oft, ob wir nicht auch in unseren Leben auf der Suche nach dieser Art von „Rezept“ sind – nach der Antwort auf die Frage, wie wir uns nähren können. Wir stehen jeden Tag vor einer Auswahl von Möglichkeiten, und manchmal wissen wir nicht, welches Gericht wir wählen sollen. Soll es das vertraute, das Beruhigende sein, oder das Ungewisse, das aufregende Abenteuer?
Es gibt Tage, da ist die Entscheidung einfach. Da greift man zum Altbewährten – zu dem, was einem gut tut, was den Magen füllt und die Gedanken beruhigt. Aber an anderen Tagen gibt es diese Frage: „Was möchte ich wirklich?“ Und sie bleibt schwerer, als sie sich anhört. Denn so wie das Kochen von Zutaten abhängt, die wir zusammenfügen, so hängt auch unser Leben von den Momenten ab, in denen wir die verschiedenen Teile zu etwas Neuem zusammensetzen.
Vielleicht geht es beim Kochen nicht nur um das Endergebnis, sondern um den Prozess – die Zubereitung, die Freude am Tun, das Hantieren mit den Händen. Die Entscheidung, was man heute kocht, kann eine Metapher für das eigene Leben sein. Welche Zutaten fügen wir zusammen? Welcher Geschmack wird uns heute begleiten? Ist es die Schärfe der Herausforderung oder die Süße des Genusses? Vielleicht liegt die Kunst im Balanceakt zwischen beiden.
Doch auch das Einfachste kann erfüllend sein. Ein Stück Brot, ein Ei, ein bisschen Butter – manchmal sind es gerade die unscheinbaren Dinge, die uns den größten Trost spenden. Vielleicht ist es so auch im Leben. Die großen Fragen und Erwartungen verlieren sich manchmal im Angesicht der einfachen, alltäglichen Dinge, die uns das Gefühl geben, angekommen zu sein.
Also, was soll ich heute kochen? Vielleicht die Antwort auf diese Frage liegt nicht in dem, was wir zubereiten, sondern in dem, wie wir den Moment des Kochens erleben – als einen Augenblick der Achtsamkeit, der Verbindung mit uns selbst und der kleinen Freude, etwas für uns zu tun.
In dieser einfachen Entscheidung finde ich manchmal den Frieden, den ich in den großen, ungestellten Fragen des Lebens so oft suche. Und vielleicht liegt darin die wahre Kunst des Lebens – im Zubereiten, im Erschaffen und im Genießen.
Und um die Frage auch zu beantworten, mein lieber Freund: Heute koche ich Spaghetti Carbonara. Ein Gericht, das mich immer wieder an die einfache Freude erinnert, die ein gutes Essen mit sich bringen kann. Es ist mein Lieblings-Nudelgericht, und heute soll es mir den Tag versüßen. Manchmal braucht es eben nur diese kleinen Dinge, um den Moment zu genießen und sich wieder mit sich selbst zu verbinden.
In stiller Verbundenheit, dein Freund
Mein lieber Freund,
es gibt Dinge im Leben, die wir alle kennen, aber niemand wirklich gern tut. Für mich gehört das Putzen zweifellos dazu. Es ist eine dieser Tätigkeiten, die sich wie eine unendliche Wiederholung anfühlen – nie wirklich abgeschlossen, immer nur ein Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern.
Ich hasse es zu putzen. Und ganz ehrlich, man sieht es mir an. Wenn du durch meine Wohnung gehen würdest, würdest du es spüren – das Chaos, das sich wie ein unsichtbares, aber dennoch erdrückendes Gewicht durch den Raum zieht. Staub, der sich in den Ecken sammelt, Wäsche, die sich türmt, und der Boden, der immer eine Staubschicht mehr trägt, als er sollte. Irgendwo dazwischen lebt man, atmet man, aber man lebt nicht in dieser perfekten Ordnung, von der man so oft hört.
Und doch frage ich mich – ist das Chaos nicht auch ein Teil von mir? Vielleicht ist es nicht nur die Abneigung gegen das Putzen, die mich von der Ordnung abhält, sondern auch etwas, das in mir selbst zu finden ist. Eine Art von Unruhe, die nicht immer in die Norm passen möchte. Vielleicht ist es das, was mich anzieht: das Unvollkommene. Denn irgendwie finde ich mich selbst mehr im Chaos als im perfekten Zustand. Vielleicht ist der Zustand der Unordnung auch der wahre Zustand der Freiheit – der Freiheit, in meinen eigenen Momenten zu leben, ohne die ständige Sorge, alles unter Kontrolle zu haben.
Ich will nicht sagen, dass ich das Chaos glorifiziere. Es ist kein Zustand, der mich erfüllt. Aber manchmal frage ich mich, ob es nicht einfach ein Spiegelbild meines inneren Zustands ist. Ein Zustand der Unruhe, der noch nicht in eine feste Form gegossen werden kann. Vielleicht sind auch wir Menschen nie wirklich "sauber", nie wirklich "fertig". Vielleicht ist es die Reise zu uns selbst, die immer unvollständig bleibt, die nie wirklich abgeschlossen ist.
Und so lasse ich das Putzen sein, denn was wäre der Sinn, in einer Welt der ständigen Veränderung, die Form und Ordnung zu erzwingen? Vielleicht finde ich ja in der Unordnung mein eigenes Gleichgewicht. Oder vielleicht nicht. Aber es gibt da dieses Gefühl der Freiheit, das man nur in einem Raum findet, der gerade nicht perfekt ist. Vielleicht ist es auch einfach das Leben, das sich mir zeigt – unvollständig, chaotisch und unperfekt.
Und so bleibt der Staub, der sich langsam absetzt, während ich mit einem Lächeln in die Ecken meiner Gedanken blicke, die genauso unaufgeräumt sind wie mein Raum.