Briefe an einen unbekannten Freund Teil 5 - Heiko Liauw - E-Book

Briefe an einen unbekannten Freund Teil 5 E-Book

Heiko Liauw

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dies ist kein normales Buch. Es ist ein Briefgewitter. Eine Sammlung von 100 Briefen, geschrieben von jemandem, der entschieden hat, den gesunden Menschenverstand in den Urlaub zu schicken – ohne Rückflugticket. Die Texte wirken wie Gespräche mit einem alten, leicht misanthropischen Freund, der zu viel Zeit beim Beobachten der Menschheit verbracht hat. Es geht um absurde Begegnungen, völlig sinnfreie Alltagsdialoge, bröckelnde Ideale, übergriffige Verkäufer, unnötig komplizierte Kaffeekapseln, die eigentliche Bedeutung von Tomatenmark und den Kampf gegen intelligentes Verpackungsdesign. In diesem fünften Buch der Briefreihe ist alles anders – frecher, schwarzhumoriger, bissiger. Wo die ersten vier Bücher eher zum stillen Nachdenken einluden, lädt dieses hier zum schallenden Kopfschütteln ein. Es ist ein literarischer Tobsuchtsanfall mit Augenzwinkern. Die Briefe sind kein Trost. Sie sind keine Handreichung. Sie sind ein Spiegelkabinett, in dem man sich ständig selbst begegnet – mal mit Witz, mal mit Zorn, oft mit beidem. Der Autor – längst am Punkt angekommen, an dem einem das Denken mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert – erzählt vom täglichen Scheitern an einer Welt, die von optimierten Prozessen, digitaler Kälte und allgegenwärtiger Unverhältnismäßigkeit dominiert wird. Der Ton ist flapsig, der Blick messerscharf, der Humor gnadenlos. Jeder Brief beginnt scheinbar harmlos, doch bevor man sich versieht, gerät man in einen Strudel aus Gedanken, der sich irgendwo zwischen Kabarett, Melancholie und gepflegtem Wahnsinn bewegt. Dabei nehmen die Briefe keine Rücksicht – weder auf politische Korrektheit noch auf schlechte Laune. Sie wollen nicht gefallen, sondern wirken. Sie entlarven den alltäglichen Unsinn, den wir längst für normal halten. Und sie tun das mit einer stilistischen Mischung aus präziser Alltagsbeobachtung, philosophischer Tiefenschärfe und einem Humor, der sich gerne dort aufhält, wo andere nur betreten schweigen. Man sollte dieses Buch auf keinen Fall ernst nehmen – es sei denn, man möchte sich ertappt fühlen. Denn trotz aller Überzeichnung, trotz aller Ironie liegt unter jedem Lacher ein leiser Gedanke: Was, wenn genau das hier unsere Realität ist? Ein Buch für alle, die wissen, dass man die Welt nur noch mit Humor erträgt – und dass ein bisschen Wahnsinn manchmal die einzige gesunde Reaktion auf den Zustand der Dinge ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorwort

- in dem sich der Autor ein paar Gedanken erlaubt, bevor der Wahnsinn beginnt -

Liebe Leserin, lieber Leser, du wunderbar fehlbares Wesen im Strudel der Wirklichkeit,

wenn du dieses Buch in Händen hältst, dann entweder aus Neugier, Masochismus oder weil dir jemand mit verdächtigem Humor ein Geschenk gemacht hat. Was du darin findest, sind keine Antworten. Auch keine Lösungen. Und schon gar keine Gebrauchsanweisung fürs Leben. Was du findest, sind Briefe. 100 davon. Jeder ein kleiner Abgrund, hübsch verpackt in Ironie, Absurdität und dem schimmernden Papier schwarzen Humors.

Ich bin kein Experte. Nicht für Psychologie, nicht für Lebenshilfe, und auch nicht für zwischenmenschliche Krisengebiete. Ich bin nur jemand mit einem Hang zum Gedankenchaos und einem Faible für alles, was schiefgeht. Diese Briefe sind mein Versuch, dem täglichen Irrsinn einen Namen zu geben. Und wenn nicht das, dann wenigstens eine Pointe.

Du wirst lesen von Fahrradfahrern mit AirPods, Autoposern mit testosterongetränkter Knatterwut, Menschen, die Zettel schreiben mit "Bin gleich zurück" und nie wieder gesehen werden. Du wirst Bekanntschaft machen mit der Angst vor Menschen mit unspezifischem Geschlecht, der stillen Verzweiflung über Tupperdosen ohne Deckel und dem kollektiven Verdrängen der Tatsache, dass "Ich bin kein Rassist, aber..." kein Satzanfang, sondern ein Warnsignal ist.

Diese Briefe belehren nicht. Sie beobachten. Und manchmal, wenn der Tag lang genug war, lachen sie auch. Über dich, über mich, über uns alle. Weil wir in diesem absurden Theaterstück namens Leben permanent unsere Rollen verwechseln – und trotzdem weitermachen, als hätte uns jemand engagiert.

Wenn du also das Gefühl hast, nicht ganz in diese Welt zu passen: Willkommen. Du bist hier genau richtig. Wahrscheinlich zu richtig.

Mit einem schiefen Lächeln und einem Herzen, das sich nicht zwischen Kopfschütteln und Mitgefühl entscheiden kann,dein Freund

P.S.: Dieses Buch eignet sich hervorragend als Geschenk für Menschen mit Resthoffnung. Und für solche, die man daran erinnern möchte, dass es normal ist, nicht normal zu sein.

1. Brief

Die Tupperdose im Jenseits

Mein lieber Freund,

heute Morgen, beim Versuch, eine Tupperdose aus dem obersten Küchenregal zu befreien, wurde mir wieder klar: Der Tod lauert überall. Besonders hinter schlecht gestapeltem Plastik. Ich stand auf einem Stuhl, wacklig wie meine mentale Gesundheit nach dem dritten Jobcenterbrief, und sah dem Schicksal ins Auge – bzw. dem transparenten Deckel einer alten Dose, die mir dann in Zeitlupe entgegensegelte wie ein liebevoll gemeinter Tritt Gottes in die Weichteile der Selbstachtung.

Ich dachte in dem Moment: So endet es also. Nicht mit einem Knall. Sondern mit einem „Plopp“. Und dann fiel mir ein, dass der letzte Wille meiner Mutter war, „bitte keine Blumen, lieber was Praktisches“ – was auf ihrer Beerdigung dazu führte, dass Tante Gisela eine Thermoskanne aufs Grab stellte. „Sie hat doch immer so gern Tee getrunken“, sagte sie. Ich glaube, meine Mutter hat sich im Grab umgedreht – um die Tasse zu holen.

Weißt du, mein Freund, ich frage mich oft, warum der Tod im Alltag nicht öfter vorkommt. Nicht der große, dramatische Tod mit Engelschören und dem Flackern in den Augen, sondern der kleine, lächerliche. Der, bei dem du mit heruntergelassenen Hosen vom Badewannenrand rutschst und auf einem Rasierapparat ausrutschst. Oder der, bei dem man im Schlaf erstickt – an einem Gummibärchen, das man noch schnell vorm Einschlafen naschen wollte, weil man dachte: Einer geht noch. Geht er. Aber halt du auch.

Und manchmal… habe ich den Verdacht, dass die Toten unter uns sind. In der U-Bahn. In der Warteschlange beim Bäcker. Auf Elternabenden. Man erkennt sie daran, dass sie mit glasigem Blick in die Leere starren und bei dem Wort „Bausparvertrag“ leise aufstöhnen.

Was mich betrifft, so glaube ich fest daran, dass der Himmel aussieht wie ein Flur voller Wartezimmer, mit abgewetzten Zeitschriften und einem Bildschirm, auf dem steht: Sie werden aufgerufen. Nur dass man nie aufgerufen wird. Und das Radio spielt ununterbrochen Phil Collins.

Und dennoch – in all dem liegt auch Trost. Denn wenn schon alles sinnlos ist, dann kann ich wenigstens selbst entscheiden, ob ich heute Nudeln esse oder mich in der Küche mit einer Suppenkelle duelliere. Ich gewinne meistens. Meistens.

In zärtlicher Ironie verbunden mit Dir, Dein Freund

P.S.: Vielleicht schreibe ich morgen über meine Beerdigung. Ich will, dass ein Clown dabei ist. Aber so ein richtig trauriger. Der sich selber hasst. Nur so zur Stimmung.

2. Brief

Der Tod trägt Hausschuhe

Mein lieber Freund,

heute war der Tod bei uns im Treppenhaus. Also… nicht in voller Montur, mit Sense und allem drum und dran. Nein. Der Tod trug Hausschuhe. Und roch nach Mottenkugeln und abgestandener Enttäuschung. Er kam in Form von Frau Kowalski aus dem zweiten Stock, die mir im Vorbeigehen zuraunte, dass „der Herr Lindner von ganz oben gestern abgeholt wurde“. Abgeholt. Was für ein schönes, passiv-aggressives Wort für: „Er hat das Zeitliche gesegnet, vermutlich beim Versuch, seine Satellitenschüssel im Morgenmantel neu auszurichten.“

Ich mochte Herrn Lindner. Er hatte diese Art von Gesicht, bei dem man nie wusste, ob er gerade über etwas nachdachte oder schon leicht verwest. Und doch – irgendwie hatte er Stil. Er trank morgens Doppelkorn mit einem Stück Zartbitterschokolade. Er sagte, das helfe beim Blutdruck. Ich glaube, es half ihm vor allem beim Vergessen.

Weißt du, mein Freund, es macht mir Angst, wie leise Menschen verschwinden. Kein Drama, kein Licht, kein orchestraler Abgang mit Nebelmaschine und Gong. Nur ein sanftes „Oh?“ aus dem Nachbarflur, gefolgt von einem hastig gezückten Müllsack und dem Satz: „Dann kann ich ja endlich seine Parklücke haben.“

Ich frage mich, ob man beim Tod eigentlich auch warten muss. So mit Nummer ziehen und dann stundenlang auf einem kalten Klappstuhl sitzen, bis jemand ruft: „Lindner, Doppelkorn, 79 – bitte zur Endstation.“ Und während du da wartest, sitzt der Tod dir gegenüber, schmatzt genüsslich ein Leberwurstbrot und fragt: „War’s schön, oder soll ich dir noch was streichen aus dem Lebenslauf?“

Und was ist mit all den Dingen, die man nie gesagt hat? Oder schlimmer: den Dingen, die man gesagt hat, aber besser geschwiegen hätte. Wie damals, als ich meiner Tante auf der Trauerfeier sagte: „Immerhin ist er jetzt in einer besseren Gesellschaft.“ Nur, dass ihr Mann gerade gestorben war – und sie das offenbar nicht ganz so aufmunternd fand, wie ich es meinte.

Der Tod ist, so scheint mir, wie eine alte Putzfrau. Er kommt, wenn’s gerade gar nicht passt, räumt alles weg, und wenn du Pech hast, fehlt danach die Hälfte deiner Erinnerungen.

Aber heute… heute trug er Hausschuhe. Und das hat mich beruhigt. Denn ein Tod in Hausschuhen kann kein schlechter sein. Der lässt einem noch Zeit, den Wasserkocher auszumachen, bevor man sich verabschiedet.

In absurder Zärtlichkeit und mit einem letzten Blick auf Herrn Lindners Parklücke, dein Freund

P.S.: Ich habe jetzt vorsichtshalber meine Hausschuhe an die Tür gestellt. Man weiß ja nie, wer sie braucht.

3. Brief

Die Erbtante lebt noch

Mein lieber Freund,

stell dir meine Enttäuschung vor, als ich erfuhr, dass Tante Hildegard immer noch lebt. 92, blind auf einem Auge, schwerhörig auf beiden Ohren, aber offenbar mit einem Herz wie ein russischer Panzer. Und genau diese Tante hat meiner Mutter einst versprochen, ich bekäme „alles, was übrig bleibt“. Nun, aktuell ist das vor allem sie selbst.

Ich hatte mich ehrlich gesagt innerlich schon ein wenig eingerichtet in der Vorstellung, ihre altmodische Wohnung zu erben: mit den Möbeln aus der Vorkriegszeit, dem Perserteppich, auf dem vermutlich mal ein Reh geopfert wurde, und dem Kühlschrank, der Geräusche macht, als würde er atmen. Ich hätte alles genommen – sogar den Porzellandackel auf der Fensterbank. So verzweifelt bin ich.

Doch gestern rief ihre Pflegerin an – die junge, polnische, die sie „meine bessere Hälfte“ nennt – und sagte: „Tante Hildegard macht wieder Kreuzworträtsel. In Tinte.“ Was, wie du weißt, bedeutet: Sie lebt nicht nur, sie plant offensichtlich noch eine Zukunft. Ich habe aufgelegt und mir sofort einen Schnaps eingeschenkt. Auf mein nicht vorhandenes Erbe.

Weißt du, es ist erstaunlich, wie viel Leben in einem Menschen stecken kann, der nach Fischstäbchen riecht und glaubt, dass die Kanzlerin noch Angela Merkel heißt. Tante Hildegard ist wie Schimmel: Du denkst, es ist vorbei – und plötzlich wächst sie wieder. Und wenn du versuchst, sie zu ignorieren, wird sie stärker.

Ich habe lange überlegt, was mich so wütend macht. Und ich glaube, es ist nicht das fehlende Erbe. Es ist die Unberechenbarkeit. Man rechnet doch mit gewissen Dingen im Leben: Dass der Kaffee morgens bitter ist. Dass das Jobcenter dich hasst. Und dass die Erbtante irgendwann den Löffel abgibt, möglichst zügig und bitte nicht mitten in der Steuererklärung.

Aber Tante Hildegard lebt. Und ich muss akzeptieren, dass ich sie vielleicht nicht beerben, sondern am Ende noch pflegen muss. Dann sitze ich da, reiche ihr Grießbrei, während sie mir zum tausendsten Mal erzählt, wie sie 1957 auf dem Opernball einem Herrn mit Monokel die Hand geschüttelt hat – und ich denke nur: „Möge dieser Herr zurückkommen und sie endlich holen.“

In tief empfundener Groteske, dein Freund

P.S.: Ich habe heute mein Testament geschrieben. Darin steht: „Verbrennt alles. Auch den Porzellandackel.“

4. Brief

Die Friedhofsrunde

Mein lieber Freund,

heute war ich spazieren. Auf dem Friedhof. Nicht, weil ich jemanden besuchen wollte – eher aus sportlicher Perspektive. Schließlich ist das der einzige Ort, wo ich regelmäßig Leute treffe, die weniger Lebensfreude ausstrahlen als ich montagmorgens ohne Kaffee.

Es gibt auf jedem Friedhof diesen einen Weg, der besonders beliebt ist. Nicht etwa wegen der Aussicht – es sei denn, man steht auf verwitterte Engel mit Moos am Knie. Nein, es ist der Weg, den die Witwen nehmen. Jeden Dienstagvormittag. Ich nenne sie die Rentnerinnen-Gang. Sie tragen bequeme Schuhe, sprechen im Flüsterton – und haben das Charisma von Spülmittel. Heute hörte ich eine sagen: „Die Frieda war immer so ordentlich. Sogar beim Sterben hat sie noch abgestaubt.“ Woraufhin die andere nickte, als ginge es um die Backreihenfolge von Biskuitböden.

Weißt du, ich mag Friedhöfe. Sie sind die ehrlichsten Orte der Welt. Kein Smalltalk, kein Social Media, keine Spotify-Werbung. Nur Stille. Und Tauben mit einem Blick wie meine Mutter, wenn ich 'Vegetarier' sage.

Aber was mich heute wirklich zum Grübeln gebracht hat, war ein Grabstein, auf dem stand: „Endlich Ruhe.“ Oh ja. Ich meine, wie laut muss dein Leben gewesen sein, dass du auf deinem letzten Marmorschild um Ruhe bittest? Warst du Schlagzeuger in einem Kindergarten? Oder mit 87 noch im WhatsApp-Gruppenchat der Familie aktiv?

Ich blieb stehen. Und dann passierte etwas Unerhörtes: Ein Eichhörnchen kletterte auf das Grab. Mit einem Stück Brötchen im Maul. Es setzte sich auf den Stein und kaute. Ich schwöre dir, in diesem Moment war ich kurz davor, religiös zu werden. Denn wenn Gott Humor hat – dann in Form eines Eichhörnchens, das auf deinem Grab frühstückt.

Ich stand da also, mitten zwischen den Toten, neben einem gotteslästerlich entspannten Nager, und dachte: Vielleicht ist das das ganze Geheimnis. Nicht warten, bis du endlich Ruhe bekommst. Sondern zwischendurch schon mal ein bisschen – still werden. Oder wenigstens still schmunzeln, wenn das Leben dich auf den Friedhof schickt – und du mit einer Tüte Salzstangen zurückkommst.

In liebevoller Ironie und mit dem Duft von frischer Erde in der Nase, dein Freund

P.S.: Ich überlege, mir auf den Grabstein schreiben zu lassen: „Hör auf zu glotzen. Ich war zu Lebzeiten auch nicht unterhaltsam.“

5. Brief

Wasser mit Verfallsdatum

Mein lieber Freund,

ich habe heute etwas erlebt, das mich so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht hat, dass ich versehentlich einen Joghurt mit der Gabel gegessen habe. Es geschah im Supermarkt, im Gang für Getränke – genauer gesagt bei den stillen Wassern. Und ich sage dir: Die waren nicht mehr ganz so still, nachdem ich auf ihr Etikett geblickt habe.

„Mindestens haltbar bis: 03.11.2026“

Wasser. Das wahrscheinlich langlebigste Element in der Geschichte des Universums. Verdampft, gefriert, regnet runter, plätschert rum, existiert seit Milliarden von Jahren. Aber bei REWE – haltbar bis 03.11.2026. Danach? Was dann? Explodiert es? Wird es sauer? Ruft es bei dir an und fragt, warum du es vergessen hast?

Ich stelle mir das ernsthaft vor: Du kommst nach Hause, durstig wie eine Topfpflanze in der Sahara, greifst nach der Wasserflasche – und plötzlich hörst du eine Stimme: „Tut mir leid. Ich bin abgelaufen.“ Und dann zerfällt sie einfach. Staub. Feuchtigkeit. Enttäuschung.

Weißt du, ich hab mal gelesen, dass Menschen zu 70 % aus Wasser bestehen. Das bedeutet, wir alle tragen ein Mindesthaltbarkeitsdatum in uns herum – nur leider ohne Aufdruck. Vielleicht ist das der wahre Grund für Midlife-Crisis, Nervenzusammenbrüche und Menschen, die ab 50 anfangen, beim Frühstück laut über Immobilienpreise zu sprechen: Wir spüren innerlich das Verfallsdatum, aber keiner will es offen sagen.

Dabei wäre es doch so einfach. Stell dir vor, jeder hätte einen Aufkleber hinten am Nacken: „Ungekühlt haltbar bis 2043 – danach leicht reizbar und neigt zum Zynismus.“ Oder: „Nach dem Öffnen bitte innerhalb von 15 Jahren verbrauchen.“ Oder ganz ehrlich: „Nicht geeignet für große Höhen, emotionale Nähe oder Elternabende.“

Aber nein. Stattdessen laufen wir alle herum, als wären wir ewig haltbar. Und wundern uns dann, wenn irgendwas kippt: das Knie, der Job, die Stimmung. Vielleicht, mein Freund, ist das Leben wie eine Flasche Wasser mit Verfallsdatum – nur dass du vorher nie weißt, ob es Sprudel ist oder still. Oder ob jemand reingespuckt hat.

Bleiben wir also wachsam. Trinken wir bewusst. Leben wir so, als würde jeden Tag ein neues Etikett draufkommen: Heute noch genießen. Morgen eventuell ungenießbar.

In durstiger Dankbarkeit für deine Aufmerksamkeit, dein Freund

P.S.: Ich habe die Flasche übrigens trotzdem gekauft. Ich bin Rebell. Und dehydriert.

6. Brief

Können Sie mal kurz das Schwein halten? Ich telefoniere gerade.

Mein lieber Freund,

manchmal glaube ich, dass der moderne Mensch eine Art technikgestütztes Chamäleon ist – ständig wechselnd zwischen Multitasking und Wahnsinn. Heute jedoch, da wurde ich Zeuge einer Szene, die so surreal war, dass selbst Kafka gesagt hätte: „Nee, das ist mir jetzt zu viel.“

Ich stand an der Fleischtheke. Ja, ich weiß, das ist schon ein schwieriger Einstieg für einen Brief, den du vielleicht beim Frühstück liest – verzeih mir. Aber ich verspreche, es wird dir den Kaffee nicht vermiesen. Nur dein Vertrauen in die Menschheit ein wenig.

Vor mir eine Dame – Typ: "Ich trage Funktionskleidung, weil ich überall funktionieren will." Sie hielt ein eingeschweißtes Schweinefilet in der Hand und ein Handy am Ohr. Laut. Sehr laut. Und sie sagte gleichzeitig zu zwei verschiedenen Wesen Folgendes:

1. Ins Telefon: „Nee, der Peter hat das wieder nicht gebacken gekriegt. Der ist wie sein Vater, der konnte auch nicht mit Zahlen. Und dann noch die Tabletten! Die darf er nicht auf nüchternen Magen!“

2. Zur Fleischfachverkäuferin: „Also das Filet… das riecht irgendwie streng. Haben Sie da noch was Frischeres? Oder wenigstens ein anderes Schwein?“

Und ich stand da. Zwischen Mettwurst und seelischer Erschütterung. Weil ich nicht wusste, ob ich lachen oder eine Intervention starten soll.

Ich meine – was ist das bitte für ein Moment? Wie zur Hölle riecht ein Filet in Folie „streng“ DURCH DIE VERPACKUNG hindurch? Hat es mit ihr gesprochen? Hat es „Hilf mir!“ geflüstert?

Und dann dieser Satz: „Ein anderes Schwein“ – als wäre das ein Wunschkonzert. „Oh, ja klar – ich hab hier noch eins, das Yoga gemacht hat und mit einem Labrador zusammengelebt hat. Sehr entspannt im Fleischbild.“

Weißt du, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, mein Freund? Wir haben uns so sehr an das Absurde gewöhnt, dass es uns nicht mal mehr auffällt. Da stehen Menschen, halten totes Tier in der Hand, diskutieren gleichzeitig über Medikamente von Peter und erwarten von einer Kassiererin eine metaphysische Antwort auf Schweingeruch. Und das alles, ohne einmal zu blinzeln.

Früher hätte man sich für so eine Szene ein Drehbuch ausgedacht. Heute ist es einfach Dienstag bei EDEKA.

Ich bin dann gegangen. Nicht aus Protest. Nicht aus Verzweiflung. Einfach, weil ich das Gefühl hatte, dass ich zwischen diesen beiden Welten – Schwein und Peter – nichts mehr beitragen konnte.

Und weil mein Joghurt inzwischen wieder mit dem Wasser flirtete. Das mit dem Ablaufdatum, du erinnerst dich.

In staunender Erschütterung über das Alltägliche, dein Freund

P.S.: Ich wünsche dem Schwein, dass es wenigstens posthum nicht mehr streng riecht. Und Peter wünsche ich – einen Kalender. Und einen Magen.

7. Brief

Die elektrische Zahnbürste hat mehr Charakter als ich

Mein lieber Freund,

ich stehe morgens oft vor dem Spiegel und denke: „Das mit dem Leben krieg ich schon irgendwie hin.“ Und dann schalte ich meine elektrische Zahnbürste ein. Und weiß plötzlich: „Ich habe die Kontrolle verloren.“

Sie hat sieben Programme. SIEBEN. Für einen einzigen Mund. Da gibt es „Tiefenreinigung“, „Aufhellung“, „Zahnfleischpflege“, „Sensitiv“, „Zungenreinigung“, „Politur“ – und mein persönlicher Favorit: „Intensiv Plus“ – für Menschen mit Schuldgefühlen.

Ich meine… was denkt sich der Hersteller? Dass ich morgens aufwache und denke: „Hach, heute ist Zungenreinigungstag! Ich zieh mir was Schickes an!“ Oder: „Oh, heute poliere ich mir das Zahnfleisch, wie ein Oldtimer aus den Fünfzigern.“

Und dann hat sie dieses Beleuchtungssystem. Grün heißt: Alles super. Rot heißt: „Zu stark gedrückt! Hör auf, du Berserker!“ Und Blau… das weiß ich bis heute nicht. Vielleicht will sie mir dann einfach sagen, dass sie traurig ist.

Jedenfalls blinkt sie in einem epileptischen Rhythmus, wenn ich irgendwas falsch mache. Und das ist ungefähr immer. Denn ich bin kein Zahnarzt, kein Roboter, kein Buddhist mit perfekter Handhaltung – ich bin einfach nur ein Mensch mit Kaffeeatem und zwei linken Händen vor dem ersten Kaffee.

Neulich dachte ich, ich probiere mal „Aufhellung“. Nach 30 Sekunden hatte ich das Gefühl, mir schäumt jemand mit einem Presslufthammer den Schädel aus. Und dann kam mein Mann ins Bad, sah mich da stehen – zitternd, sabbernd, mit Zahnpasta im linken Ohr – und fragte: „Willst du das Haus exorzieren oder nur deine Zähne putzen?“

Ich weiß es nicht mehr. Wirklich nicht.

Weißt du, was ich vermisse, mein Freund? Diese alten Handzahnbürsten. Klar, die waren auch nicht sexy. Aber sie haben nie versucht, dich zu überfordern. Man nahm sie, schrubbte ein bisschen, spuckte aus – und fühlte sich wie ein Sieger.

Heute muss man vor dem Zähneputzen eine Firmware aktualisieren. Und wehe, die App hat wieder einen Bug – dann putzt du plötzlich nach dem „Algorithmus für nordkoreanische Zahnzwischenräume“.

Vielleicht sollten wir uns alle wieder öfter mit einfachen Dingen begnügen. Ein Kamm. Ein Seifenstück. Eine Zahnbürste ohne WLAN. Und vielleicht ein Lächeln – echt, nicht geweißlicht.

In leichtem Schaum und tiefer Überforderung, dein Freund

P.S.: Ich glaube, meine Zahnbürste will mich verlassen. Heute früh hat sie sich einfach nicht mehr bewegt. Passiver Widerstand. Ich respektiere das.

8. Brief

Die Tupperdose und das Schweigen der Deckel

Mein lieber Freund,

du kennst diese Schublade. Wir alle kennen sie. Die Schublade der Scham. Sie quietscht, sie klemmt – und sie enthält: Dosen. Deckel. Aber nie zueinander. Nie. NIE!

Ich bin mittlerweile überzeugt, dass Tupperdosen einem geheimen Paarungsritual folgen, das nur nachts in völliger Dunkelheit funktioniert. So wie Frösche. Nur ohne Sex-Appeal.

Tagsüber aber… verschwinden sie. Deckel verschwinden. Böden verschwinden. Oder noch schlimmer: sie verwandeln sich. Plötzlich passt der Deckel von 1997 nicht mehr zur Dose von gestern, obwohl beide angeblich zur Serie “Modul-Symmetrie 3000” gehören.

Ich habe schon Beziehungen gehabt, die stabiler waren als diese Verbindungen.

Und dann diese Geräusche. Wenn man versucht, einen Deckel aufzudrücken, der nicht passt, klingt es wie das letzte Stöhnen eines leidenden Orcas. Man schwitzt, man flucht, man denkt: „Vielleicht liegt es an mir.“ Aber nein. Es liegt an ihnen. Sie LÜGEN. Diese Dosen tun so, als wären sie stapelbar. Sind sie aber nicht. Es ist ein perfides Spiel, und ich bin nur ein müder Mitspieler in dieser Schachtel-Hölle.

Mein Mann hat neulich einen neuen Vorratsbehälter mitgebracht. Stylish, quadratisch, durchsichtig – mit so einem Click-Deckel. Ich schaute ihn an, wie man eine Geliebte ansieht, die man sofort betrügen möchte. "Endlich Ordnung!", sagte er. Zwei Tage später war der Deckel verschwunden. Er lebt jetzt vermutlich mit einer Socke und einem Kugelschreiber in der vierten Dimension des Haushalts.

Und weißt du, was das wirklich Makabere daran ist? Es gibt in Deutschland Menschen, die GEZIELT zu Tupper-Partys gehen. Freiwillig! Sie sitzen dort, trinken Sekt, lächeln sich an – und kaufen stapelbare Plastikdosen in Rosa mit einem Belüftungssystem für Schnittlauch. Ich beneide diese Menschen. Nicht um die Dosen. Aber um den Glauben, dass das Leben sortierbar sei.

Vielleicht liegt die Wahrheit ja genau darin: Wir suchen Deckel, weil wir Halt brauchen. Weil wir Ordnung wollen in einer Welt, die sich nicht deckeln lässt. Und manchmal… reicht dann auch einfach ein Stück Kuchen auf einem Teller. Ohne Deckel. Ohne Anspruch auf Ewigkeit. Nur warm. Und jetzt.

In zerbrechlicher Unordnung und mit offenen Klappen im Herzen, dein Freund

P.S.: Falls du einen flachen, hellblauen Deckel mit leichtem Zitronengeruch findest – ich vermisse ihn. Sag ihm, ich war nie böse.

9. Brief

Über das stille Leiden des Klodeckels

Mein lieber Freund,

ich möchte heute über einen Gegenstand sprechen, der wie kaum ein anderer unsere häusliche Zweisamkeit auf die Probe stellt: den Klodeckel.

Es gibt in meiner Beziehung kaum etwas, das so regelmäßig zu schweigendem Passiv-Aggressionsverhalten führt wie seine Stellung im Raum-Zeit-Kontinuum. Offen. Geschlossen. Halb offen. Ganz leicht zu. Schräg. Zu schnell. Zu laut. Zu spät. Der Klodeckel ist, wenn man so will, das IKEA-Regal unserer Beziehung – man kann sich nur falsch verhalten, und am Ende wackelt immer etwas.

Wenn ich nachts zur Toilette gehe – also nachts in dem Sinne von 3:47 Uhr, wenn der Körper noch träumt, aber die Blase bereits sozialisiert ist –, dann tue ich alles, um dieses empfindliche Biotop des Hausfriedens nicht zu stören. Ich hebe den Deckel mit der Achtsamkeit eines tibetischen Mönchs, setze mich mit der Anmut einer müden Katze, vermeide jedes Geräusch, das an Spülung erinnert, und lasse den Deckel am Ende langsam, fast erotisch, wieder hinabsinken.

Und trotzdem höre ich am nächsten Morgen nur ein trockenes: „Hast du den Klodeckel etwa geknallt?“

Ich? Geknallt? Ich, der Mann, der nachts die Klobrille langsamer senkt als ein Opernsänger sein Kinn? Ich, der sich beim Spülen mehr zurückhält als bei Familienfesten mit Kartoffelsalat? Ich sage dir: Es ist eine Falle.

Der Klodeckel ist der Lügendetektor des Alltags. Er verrät alles. Wer da war. Wie lange. In welcher Stimmung. Und ob man noch eine Beziehung führt – oder bereits nur noch ein Mietverhältnis mit emotionaler Untermiete.

Ich habe übrigens herausgefunden, dass es „Soft-Close“-Deckel gibt. Die schließen sich langsam von selbst, wie eine traurige Pointe. Ich habe ihn gekauft. Installiert. Und dann voller Stolz meinem Mann gezeigt. Er sagte nur: „Zu langsam. Das dauert ewig.“ Seitdem rede ich nicht mehr mit dem Deckel. Ich senke ihn nur noch. Wortlos. Wie ein Hund, der weiß, dass er das Sofa nicht betreten darf – und trotzdem drauf geschlafen hat.

Vielleicht, mein Freund, ist der Klodeckel am Ende eine Metapher für alles, was uns aneinander aufreibt. Zu laut. Zu leise. Zu schnell. Zu gleichgültig. Und doch sitzen wir alle irgendwann wieder drauf und denken: Hoffentlich hört das keiner.

In diesem Sinne – bleib achtsam, bleib weich, und schließ ab und zu einfach mal die Augen, wenn dir das Leben wieder einen Deckel fallen lässt.

In leiser Verbundenheit, dein Freund

10. Brief

Vom tragischen Leben eines Küchenschwamms

Mein lieber Freund,

es gibt Dinge im Leben, die nur zwei Möglichkeiten kennen: entweder du liebst sie… oder du hast einfach nicht genau genug hingesehen.

Der Küchenschwamm ist so ein Fall. Ein gelb-grünes Wesen, dem seine Existenz nicht einmal bewusst ist, aber das täglich mehr Berührung bekommt als die meisten Menschen in Fernbeziehungen.

Er beginnt sein Leben in Stolz und Sauberkeit. Frisch aus der Verpackung, die Ecken noch kantig wie ein Kommentar auf Facebook. Man legt ihn an den Rand der Spüle, als wäre er ein Kunstwerk der praktischen Vernunft. Und man schwört sich: diesmal… diesmal werde ich ihn rechtzeitig ersetzen.

Doch dann beginnt sein langsamer Verfall.

Am Anfang ist er noch der Held der Küche. Rettet Teller, befreit Gläser von Lippenstiftresten, kämpft tapfer gegen Bratensoßen, die wie ein Ölgemälde an der Pfanne kleben.

---ENDE DER LESEPROBE---