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Antonio Gramsci

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Beschreibung

Die hier vorgelegte Auswahl der Briefe, die der italienische Philosoph und Politiker Antonio Gramsci aus den Gefängnissen des faschistischen Italien an Familienangehörige und Freunde schrieb, verfolgt in erster Linie das Ziel, das Interesse an der Person und dem Werk des Mannes zu wecken, der neben Georg Lukács der wohl bedeutendste marxistische Philosoph der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Antonio Gramsci

Briefe aus dem Kerker

Herausgegeben von Gerhard Roth

Aus dem Italienischen von Gerhard Roth

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortBiographische NotizMeine liebste Julka, [...]

Vorwort

Die hier vorgelegte Auswahl der Briefe, die der italienische Philosoph und Politiker Antonio Gramsci aus den Gefängnissen des faschistischen Italien an Familienangehörige und Freunde schrieb, verfolgt in erster Linie das Ziel, das Interesse an der Person und dem Werk des Mannes zu wecken, der neben Georg Lukács der wohl bedeutendste marxistische Philosoph der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war und der zugleich, wenn auch post mortem, den Prozeß der Befreiung des Marxismus aus den erstarrten Formen der stalinistischen Orthodoxie entscheidend mitbestimmte. Erstaunlich ist, daß das Studium und die kritische Rezeption der Philosophie und politischen Theorie Gramscis in der Bundesrepublik einen im Vergleich mit vielen anderen Ländern immer noch bescheidenen Umfang einnimmt. Ein wesentlicher Grund scheint in der besonderen Natur der Philosophie Gramscis zu liegen, insofern diese nicht ein in sich geschlossenes und leicht applizierbares System darstellt, sondern ein Mosaik zahlloser Einzelaufsätze, Notizen und Anmerkungen, das Gramsci während seiner Gefängnishaft zwischen 1929 und 1935 in den ›Gefängnisheften‹ zusammentrug. Aus diesem Mosaik die spezifische Deutung des Marxismus und das daraus resultierende Modell gesellschaftlich-politischer Veränderung herauszuarbeiten, dazu bedarf es großer philologischer und interpretatorischer Mühe, und von hier aus werden die großen Divergenzen innerhalb der vorliegenden Gramsciinterpretationen verständlich. Die Briefe aus dem Kerker sind angesichts dieser Tatsache sehr geeignet, den Zugang zur Phiolsophie Gramscis zu erleichtern und ihr Verständnis zu vertiefen und zugleich wichtige Aufschlüsse über die Entstehung dieser Philosophie und die damit verbundenen technischen und intellektuellen Probleme zu liefern.

Es wäre aber falsch, die Briefe aus dem Kerker nur unter diesem Aspekt zu sehen. Sie sind zugleich ein im wirklichen Sinne des Wortes ergreifendes Dokument eines Mannes, der um seiner politischen Überzeugung und der Selbstachtung willen nicht nur die gesellschaftliche und geistige Isolation des Kerkerdaseins ertrug, sondern auch ein bis zur völligen körperlichen Zerrüttung führendes Leiden, dessen tödlichen Ausgang er leicht durch ein Gnadengesuch an Mussolini hätte vermeiden können; der zugleich aber mutlos ist, wenn er anderen Mut machen will, der mehr als unter der Krankheit unter dem Gedanken leidet, von seinen Freunden, seiner Familie und besonders von seiner Frau im Stich gelassen zu sein; der verletzend und ungerecht sein kann und von denen, die ihm ihre Hilfe anbieten, große Opfer zu fordern imstande ist. Mit dieser Auswahl der Briefe aus dem Kerker soll nichts weniger unterstützt werden als jene erbauliche Legende vom eisenharten Märtyrer, standhaften Marxisten-Leninisten und treusorgenden Familienvater, die sich bisher als das wirksamste Mittel gegen eine kritische Gramscirezeption erwiesen hat. »Das schlimmste Los, das ein Denker erleiden kann«, – so schreibt Giuseppe Taburrano in Hinblick auf die italienische Gramsciliteratur – »ist nicht, in Vergessenheit zu geraten. Schlimmer als vergessen zu werden ist die Hagiographie«.

Entsprechend den genannten Auswahlkriterien wurde versucht, aus den vielen Hundert Briefen diejenigen auszuwählen, die für das Verständnis der Philosophie Gramscis wichtig sind, besonders diejenigen, die sich auf die Studien zur Geschichte und Funktion der Intellektuellen sowie auf das Verhältnis Gramscis zu seinem großen geistigen Gegenspieler Benedetto Croce beziehen; sowie solche Briefe, die im weiteren Sinne für die Vermittlung des geistigen und politischen Standpunkts Gramscis, seines Charakters und seines Selbstverständnisses von Bedeutung sind. Der Übersetzung wurde die von Sergio Caproglio und Elsa Fubini besorgte Ausgabe Antonio Gramsci, Lettere dal Carcere, Turin 1965, zugrundegelegt. Die Numerierung der Briefe in der italienischen Ausgabe (abgekürzt LETT) wurde jeweils am Ende der deutschen Übersetzung angemerkt. Viele Briefe wurden um die Passagen, die nur sachlich-informativen Charakter tragen, gekürzt und die Auslassungen in der üblichen Weise gekennzeichnet. Die Anmerkungen wurden der italienischen Ausgabe entnommen und, soweit nötig, für den deutschen Leser ergänzt. Was zur Person Gramscis für das Verständnis der Briefe wichtig ist, wurde im Anschluß an das Vorwort zu einem kurzen Lebensabriß zusammengefaßt. Ihm seien noch einige Informationen über die Empfänger der Briefe hinzugefügt: Julija (›Giulia‹, ›Julka‹), Gramscis Frau, und ihre Schwester Tatjana (›Tanja‹) Schucht entstammten einer skandinavisch-russischen Emigrantenfamilie. Julija wurde 1896 in Genf geboren. Zu Beginn des Jahrhunderts begab sich die Familie nach Rom, wo Julija an der Musikakademie Santa Cecilia studierte, während sich Tatjana den Naturwissenschaften widmete. Nach der Oktoberrevolution von 1917 kehrte die Familie mit Ausnahme von Tatjana, die in Rom blieb und als Lehrerin am internationalen Institut ›Crandon‹ arbeitete, nach Rußland zurück. Julija lernte Gramsci im Sommer 1922 im Sanatorium ›Serebrjanyj Bor‹ bei Moskau kennen, wo sich neben Gramsci auch Julijas Schwester Jevgenija aufhielt. Der Verbindung mit Gramsci entstammten zwei Kinder: der im August 1924 geborene Delio und der im August 1926 geborene Giuliano. Im Herbst 1924 kam Julija mit Delio nach Italien, kehrte aber im Sommer 1926 kurz vor der Geburt Giulianos nach Moskau zurück. Wegen eines schweren Nervenleidens konnte sie nicht mehr nach Italien zurückkehren.

Gramsci lernte Tatjana 1925 in Rom kennen. Sie war es, die ihm nach seiner Verhaftung in jeder Weise das Kerkerdasein zu erleichtern suchte. Sie zog nach Mailand, als Gramsci ins dortige Untersuchungsgefängnis eingeliefert wurde, und suchte ihn nach der Verurteilung häufig in Turi und später in Formia und Rom auf. Nach Gramscis Tod kehrte sie im Besitz der 33 ›Gefängnishefte‹ nach Moskau zurück. Sie starb 1943.

Weiterhin sind zu erwähnen Gramscis jüngerer Bruder Carlo, der zuerst als Genossenschaftsinspektor auf Sardinien, später in Mailand tätig war, von wo aus er sich mit Tatjana um Gramsci bemühte; die jüngere Schwester Teresina, verheiratete Paulesu und Postangestellte in Ghilarza, dem Wohnort der Familie Gramsci; Piero Sraffa, geboren 1898 in Turin, wo er 1919 Gramsci kennenlernte und mit diesem der sozialistischen Studentengruppe angehörte. Er war an den Universitäten Perugia und Cagliari tätig, bis er 1927 einen Ruf nach Cambridge für politische Ökonomie erhielt. Er unterstützte in großzügiger Weise den eingekerkerten Gramsci und setzte sich für ihn nachdrücklich in der internationalen Öffentlichkeit ein; Giuseppe Berti, geboren 1901 in Neapel, befand sich mit Gramsci unter den 1926 nach Ustica verbannten Führern der KPI. Er wurde wegen antifaschistischer Aktivität verurteilt, 1930 aber freigelassen, woraufhin er nach Frankreich und später in die USA emigrierte. Nach dem Kriege kehrte er nach Italien zurück und wurde Abgeordneter und Senator.

Noch ein Wort zur Übersetzung: es war nicht leicht, die oft unter Zeitnot geschriebenen und zu kompliziertem Satzbau neigenden Briefe in ein verständliches Deutsch zu übersetzen. Im Zweifelsfalle wurde der leichteren Lesbarkeit und Verständlichkeit der Vorzug vor der wortgetreuen Übersetzung gegeben. Der Übersetzer glaubte dies angesichts des Briefcharakters des Textes verantworten zu können.

Gerhard Roth

Biographische Notiz

Antonio Gramsci wurde am 22. Januar 1891 in Ales auf Sardinien geboren. Sein Elternhaus war durchaus bürgerlich: der Vater Francesco Gramsci war Leiter des örtlichen Registeramtes, der Großvater war Gendarmenoberst gewesen. Auch die Mutter Giuseppina geb. Marcias entstammte einer Familie bescheidenen Wohlstandes. Als jedoch infolge einer politischen Intrige der Vater seine Stellung verlor und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, kehrte die Not ein, und Gramsci mußte schon als Kind mit für den Lebensunterhalt der Familie sorgen. Trotz dieser schwierigen Verhältnisse und eines körperlichen Leidens, das er sich als Vierjähriger durch einen Unfall zugezogen hatte, besuchte er die höhere Schule und legte 1911 in Cagliari, der Provinzhauptstadt, das Abitur ab.

Nach Erhalt eines mageren Stipendiums begann er in Turin mit dem Studium und widmete sich der Philosophie, der Geschichte und besonders der Sprachwissenschaft. Ende 1913 trat er in die sozialistische Partei Italiens ein und schrieb seine ersten Artikel für verschiedene sozialistische Blätter wie ›Grido del Popolo‹ und ›Avanti!‹. 1915 war er angesichts der kläglichen finanziellen Lage und eines sich ständig verschlimmernden nervösen Leidens zum Abbruch seines Studiums gezwungen. Er wurde ständiger Mitarbeiter der genannten Zeitungen und wurde über Turin hinaus mit seinem im November 1917 erschienenen Artikel ›La rivoluzione contro il Capitale‹ (Die Revolution gegen das Kapital) bekannt, in dem er die erfolgreiche russische Oktoberrevolution als Sieg des voluntaristischen Marxismus Lenins über den Determinismus der zweiten Internationale – für Gramsci verkörpert im Marxschen Kapital – verstand.

Im Jahre 1919 gründete er zusammen mit Palmiro Togliatti, Angelo Tasca und Umberto Terracini die Wochenzeitung ›Ordine Nuovo‹ (Neue Ordnung), in der er im Anschluß an die russischen ›Sowjets‹ die Theorie der Fabrikräte (Consigli di fabbrica) entwickelte. Der Versuch, diese Theorie in den norditalienischen Industriestreiks des Jahres 1920 zu verwirklichen, scheiterte mit dem Zusammenbruch der Streiks. Ende des Jahres schloß sich die ›Ordine-Nuovo‹-Gruppe innerhalb der sozialistischen Partei mit den sog. Abstentionisten Amadeo Bordigas zur kommunistischen Fraktion zusammen, aus der im Januar 1921 auf dem Parteikongreß in Livorno die Kommunistische Partei Italiens hervorging. In der neugegründeten Partei konnte sich die ›Ordine-Nuovo‹-Gruppe jedoch nicht gegen die Bordiga-Anhänger durchsetzen. Besonders in Hinblick auf taktische Fragen im Kampf gegen den erstarkenden Faschismus kam es zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten, da Bordiga sich der von der Kommunistischen Internationale proklamierten ›Einheitsfront-Taktik‹ nicht beugen wollte. Als Delegierter der KPI für das Exekutivkomitee der Komintern ging Gramsci im Mai 1922 nach Moskau. Dort lernte er während eines Erholungsaufenthaltes im Sanatorium ›Serebrjanyj Bor‹ seine spätere Frau Julija Schucht kennen. Inzwischen gelangte in Italien Mussolini durch den ›Marsch auf Rom‹ (am 28. Oktober 1922) an die Macht, und die ersten Verhaftungen kommunistischer Führer begannen. Ende 1923 begab sich Gramsci nach Wien und kehrte nach seiner Wahl zum Abgeordneten nach Italien zurück. In der Folgezeit gelang es ihm, zusammen mit den ehemaligen Angehörigen der ›Ordine-Nuovo‹-Gruppe, den Einfluß Bordigas in der Partei zurückzudrängen und als neuer Generalsekretär die abstentionistische Gruppe auf dem dritten Parteikongreß von Lyon (1926) endgültig in die Minderheit zu drängen.

Aufgrund der inzwischen von Mussolini erlassenen Sondergesetze zum Schutz des faschistischen Staates wurde Gramsci am 8. November 1926 verhaftet und zusammen mit anderen führenden Kommunisten auf die nördlich von Palermo gelegene Insel Ustica deportiert. Von dort aus brachte man ihn nach Mailand ins Untersuchungsgefängnis. 1928 wurde er in Rom im Prozeß gegen die Führung der KPI wegen Anstiftung zum Bürgerkrieg zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die ersten Jahre nach der Verurteilung verbrachte er im Sondergefängnis von Turi in der Nähe von Bari. 1929 erhielt er die Erlaubnis, in der Zelle zu studieren und zu schreiben, und begann die Arbeit an den sog. ›Gefängnisheften‹ (Quaderni del Carcere). Sein seit Jahren angegriffener Gesundheitszustand verschlimmerte sich jedoch schnell, aber man verweigerte ihm die notwendige Spezialbehandlung, da er ein Gnadengesuch an Mussolini ablehnte. Erst aufgrund eines internationalen Protestes, dem sich u.a. Romain Rolland, Henri Barbusse und der Erzbischof von Canterbury anschlossen, brachte man ihn im Dezember 1933 in eine Privatklinik bei Formia, außerdem gewährte man ihm bedingte Haftaussetzung. 1935 wurde er in die Klinik ›Quisisana‹ nach Rom eingeliefert, jedoch kam jede ärztliche Hilfe zu spät. Gramsci starb sechsundvierzigjährig am 27. April 1937.

Rom, den 20. November 1926

Meine liebste Julka,

Erinnerst Du Dich an einen Deiner letzten Briefe? (Es war zumindest der letzte Brief, den ich bekommen und gelesen habe). Du schriebst mir, wir beide seien noch jung genug, um hoffen zu können, daß wir miteinander unsere Kinder aufwachsen sehen. Jetzt mußt Du Dich daran ganz stark erinnern, Du mußt daran jedesmal mit aller Kraft denken, wenn Du an mich und die Kinder denkst. Ich bin sicher, daß Du stark und mutig sein wirst wie immer. Du wirst es noch in größerem Maße als früher sein müssen, damit die Kinder gut aufwachsen und sich in allem Deiner würdig erweisen. Ich habe in diesen Tagen sehr, sehr viel an Dich gedacht. Ich habe mir vorzustellen versucht, wie sich Euer zukünftiges Leben gestalten wird, denn ich werde sicher lange ohne Nachricht von Euch bleiben. Ich habe über die Vergangenheit nachgedacht und daraus Kraft und unendliches Vertrauen geschöpft. Ich bin stark und werde es bleiben. Ich liebe Dich sehr und will unsere kleinen Kinder einmal wiedersehen. Ich mache mir ein wenig Sorgen um die materiellen Dinge: wird Deine Arbeit für alle reichen? Ich denke, daß es für uns keine Schande wäre, von anderen Hilfe zu fordern. Ich möchte Dich davon überzeugen, damit Du mir Recht gibst und Dich an meine Freunde wendest. Ich wäre dann ruhiger und stärker, wenn ich wüßte, daß Du vor allen Eventualitäten geschützt bist. Mein Verantwortungsgefühl als ernsthafter Vater setzt mir also noch zu, wie Du siehst.

Liebste, ich möchte Dich auf keinen Fall verwirren: ich bin ein bißchen müde, denn ich schlafe nur sehr wenig und schaffe es deshalb nicht, all das zu schreiben, was ich möchte und wie ich es möchte. Ich will Dich ganz stark meine Liebe und mein Vertrauen spüren lassen. Umarme alle bei Dir zu Hause. Ich drücke Dich mit der größten Zärtlichkeit zusammen mit den Kindern an mich.

Antonio

LETT2

Ustica, den 9. Dezember 1926

Liebste Tatjana, ich bin am 7. [Dezember] in Ustica angekommen und habe am 8. Deinen Brief vom 3. erhalten. Ich werde Dir in anderen Briefen sämtliche Reiseeindrücke schildern, sobald sich die verschiedenen Erinnerungen und Gefühle nach und nach in meinem Gehirn geordnet haben und ich mich von den Strapazen und der Schlaflosigkeit erholt habe. Abgesehen von den besonderen Umständen, unter denen sich die Reise abspielte (wie Du Dir vorstellen kannst, ist es auch für einen robusten Menschen nicht gerade angenehm, stundenlang im Personenzug und im Dampfer mit Eisen an den Händen und mit Ketten, die einen an die Handgelenke der Reisegefährten fesseln, zu fahren), war sie sehr interessant und voll verschiedener Motive: von Shakespearschen bis zur Farce: ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, mir z.B. eine nächtliche Szene während des Aufenthalts in Neapel wieder zu vergegenwärtigen, die sich in einem riesigen Raum abspielte, voll von phantastischen Tierpräparaten. Ich glaube, man könnte nur die Totengräberszene im Hamlet damit vergleichen. Der schwierigste Teil der Reise war die Überfahrt von Palermo nach Ustica: viermal sind wir ausgelaufen, und dreimal mußten wir in den Hafen von Palermo zurückkehren, weil der Dampfer nicht gegen den Sturm ankam. Weißt Du, daß ich trotzdem in diesem Monat zugenommen habe? Ich selbst bin überrascht, daß es mir so gut geht und ich so viel Hunger habe. Ich glaube, in zwei Wochen, wenn ich mich richtig erholt und ausgeschlafen habe, bin ich meine Migräne los und beginne einen ganz neuen Abschnitt meiner molekularen Existenz.

Mein Eindruck von Ustica ist in jeder Hinsicht ausgezeichnet. Die Insel ist 8 Quadratkilometer groß und hat ungefähr 1300 Einwohner, davon 600 Gemeinverbrecher, d.h. mehrfach rückfällige Verbrecher. Die Bevölkerung ist sehr höflich. Wir haben uns noch nicht alle ganz eingerichtet: ich habe zusammen mit den anderen Freunden zwei Nächte in einem großen gemeinsamen Zimmer geschlafen. Heute befinde ich mich bereits in einem kleinen Hotelzimmer, und vielleicht morgen oder übermorgen werde ich in ein kleines Haus übersiedeln, das gerade für uns eingerichtet wird. Alle behandeln uns mit großer Korrektheit.

Wir leben völlig von den Gemeinverbrechern getrennt, deren Leben ich Dir nicht in wenigen Zügen beschreiben könnte. Erinnere Dich an die Novelle von Kipling: ›Ein seltsamer Ritt‹ in der französischen Ausgabe von Der Mann, der König sein wollte[1]. Mir fiel sie ganz plötzlich ein, so sehr war es mir, als erlebte ich sie selbst. Bis jetzt sind wir fünfzehn Kameraden[2]. Unser Leben verläuft sehr ruhig: wir sind damit beschäftigt, die Insel auszukundschaften. Auf ihr kann man recht lange Spaziergänge von 9 bis 10 Kilometern machen, durch reizende Landschaften mit Ausblicken aufs Meer, mit herrlichen Morgendämmerungen und Sonnenuntergängen. Alle zwei Tage kommt der Dampfer und bringt Nachrichten, Zeitungen und neue Kameraden, unter ihnen den Mann von Ortensia[3]; ich habe mich über das Wiedersehen mit ihm sehr gefreut. Ustica ist viel reizvoller, als es auf den Ansichtskarten aussieht, die ich Dir schicken werde. Es ist ein Städtchen sarazenischer Art, malersich und voller Farben. Du kannst Dir nicht vorstellen, mit welcher Freude ich den Ort und die Insel durchstreife und die Meeresluft einatme nach einem Monat des Transports von einem Gefängnis zum anderen, besonders aber nach den 16 Tagen absoluter Isolierung im Regina Coeli[4]. Ich glaube, ich werde noch auf Ustica Meister im Steinweitwurf, denn ich habe schon alle meine Kameraden geschlagen.

Ich schreibe Dir ein bißchen wirr, so wie es mir gerade in den Sinn kommt, denn ich bin noch ein bißchen müde. Liebste Tatjana, Du kannst Dir nicht vorstellen, was in mir vorging, als ich im Regina Coeli auf der ersten Flasche Kaffee Deine Schrift entdeckte und den Namen von Marietta[5]. Ich wurde buchstäblich wieder wie ein Kind. Schau, als ich in der letzten Zeit mit Sicherheit wußte, daß meine Briefe, wie es die Gefängnisvorschriften wollen, gelesen werden, entstand in mir eine Art von Scham: ich bringe es nicht übers Herz, über bestimmte Gefühle zu schreiben, und wenn ich versuche, sie zu verdrängen, um mich der gegebenen Situation anzupassen, komme ich mir wie ein Heuchler vor. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, Dir einiges über meinen Aufenthalt im Regina Coeli zu schreiben, soweit Du mich danach fragtest. Die Wolljacke habe ich erhalten, sie hat mir sehr gute Dienste getan, ebenso die Strümpfe usw. Ohne diese Sachen hätte ich sehr gefroren, denn ich bin mit einem leichten Mantel losgefahren, und als ich während des Überfahrt-Versuchs von Palermo nach Ustica ganz früh aufstand, war es eiskalt. Ich habe die Kuchenteller bekommen, ich mußte sie aber zu meinem Bedauern in Rom lassen, weil ich mein ganzes Gepäck in einen Kopfkissenbezug (der mir unschätzbare Dienste erwies) stecken mußte und ich sicher war, daß sie dort zerbrächen. Die Cirio-Marmelade, die Schokolade und das Spanische Brot habe ich dagegen nicht bekommen, denn diese Sachen waren verboten: ich habe gesehen, wie sie in der Liste aufgeführt waren, aber mit der Bemerkung, daß sie nicht passieren dürften. Ebenso habe ich die Kaffeebecher nicht bekommen, aber ich habe mich mit einem Service aus einem halben Dutzend Eierschalen beholfen, die ich höchst kunstvoll mit einem Fuß aus Brotkrumen versah. Du warst offensichtlich besorgt darüber, daß ich fast ausschließlich kalte Mahlzeiten bekam, aber das war nicht schlimm, denn nach den ersten Tagen habe ich immer mindestens das Doppelte von dem gegessen, was ich sonst in der Trattoria aß, und mir ist das nicht schlecht bekommen. Von meinen Freunden hingegen mußte ich erfahren, daß sie Beschwerden hatten und eine Menge Abführmittel nahmen. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß ich widerstandsfähiger bin, als ich je gedacht hätte, denn ich habe im Unterschied zu allen anderen nur eine simple Müdigkeit davongetragen. Ich versichere Dir, daß ich mich, abgesehen von ganz wenigen Stunden im Dunkeln, als man uns eines Abends das Licht in unseren Zellen ausdrehte, immer sehr wohl gefühlt habe. Meine Begabung, allem, was sich abspielt, eine komische und lustige Seite abzugewinnen, verließ mich nicht und erhielt mir trotz allem meinen Humor. Ich habe ständig oder doch fast ständig in Illustrierten oder Sportzeitungen gelesen und war dabei, mir eine Bibliothek zusammenzustellen. Ich habe hier folgendes Programm entworfen: 1. meine Gesundheit aufbessern, 2. mit Methode und Energie Deutsch und Russisch lernen, 3. mich mit Ökonomie und Geschichte beschäftigen. Untereinander machen wir zweckmäßige Gymnastik usw. Man muß sich in diesen ersten Tagen bis zur endgültigen Unterbringung irgendeine Beschäftigung geben. Ich möchte gern einen Reisesack haben, der aber irgendwie abschließbar ist. So etwas ist viel besser als ein Koffer oder eine Kiste für den nicht auszuschließenden Fall, daß ich noch zwischen den Inseln oder auf dem Festland herumreisen muß. Ebenso benötige ich all die kleinen Sachen wie den Sicherheitsrasierapparat mit auswechselbarer Klinge, Nagelschere, Nagelfeile usw., Sachen, die man immer braucht, die es aber hier nicht zu kaufen gibt. Ich brauche auch einige Röhrchen Aspirin für den Fall, daß ich von den heftigen Winden hier Zahnschmerzen bekomme. Um meinen Anzug, den Mantel und die zurückgebliebene Wäsche kümmerst Du Dich ja wohl. Schick mir bitte sofort, wenn Du kannst, die Deutsch- und eine Russisch-Grammatik, das Deutsch-Italienisch- und Italienisch-Deutsch-Wörterbuch und einige Bücher (Max und Moritz – und die Geschichte der italienischen Literatur von Vossler, falls Du sie unter meinen Büchern findest). Schick auch den dicken Band mit den Aufsätzen und Studien über das italienische Risorgimento, das, glaube ich, den Titel trägt Storia politica del secolo XIX, und ein Buch mit dem Titel R.Ciasca: La formazione del programma dell’ unità nazionale