Brucheisjäger waren wir - Mark Hollberg - E-Book

Brucheisjäger waren wir E-Book

Mark Hollberg

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Beschreibung

Eine Kurzgeschichte. Wenn der kahle Siegfried in den 60er Jahren Brucheis verkaufte, gab es für Theo und seine Freunde kein Halten mehr. Brucheis war wie eine Trophäe. Wer am schnellsten lief, bekam eines. Fast so gut wie Brucheis war eine Afrikatüte. Das ganze wilde Leben Afrikas in einer Tüte aus Papier.

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Mark Hollberg

Brucheisjäger waren wir

Kindheitserinnerungen

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Der Autor und seine Bücher

 Der Autor lebt sehr ländlich mit Frau und Katze am Rande von Berlin, schreibt Kurzkrimis und Liebesgeschichten für Zeitschriften und hin und wieder ein Buch. 

 

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Der Roman von Mark Hollberg

 

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Über diese Geschichte

 Theo, Micki, Ronald und die anderen erleben ihre Kindheit in den 60er Jahren mit Brucheis für 10 Pfennig, mit Afrikatüten, in denen Nashörner, Elefanten und Eingeborene auf ihre Befreiung warten, mit Fahrrädern, die eine 3-Gang-Schaltung haben und sie lernen für 50 Pfennig den Geschmack von Pommes Frites in Tüten kennen. Es gab keine Handys und die wenigsten Haushalte hatten Fernseher oder Auto.

Brucheisjäger waren wir

 

Hartmut aus dem Nachbarblock ging irgendwie hölzern und ungelenk. So wie eine Marionette, an deren Fäden drei Puppenspieler gleichzeitig ziehen. Trotzdem war er einer der Schnellsten, wenn plötzlich der Ruf ertönte: »Brucheis! Es gibt Brucheis!«

Der Ruf pflanzte sich fort. Von Kindermund zu Kindermund. Hartmut gehörte zu den Bergmann-Geschwistern. Freitags badete Helmut, der Älteste. Samstags badete Hartmut und Sonntag früh badete Sieglinde, das Nesthäkchen der Familie Bergmann. Alle anderen aus unserer Straße wurden samstags zum Baden gerufen und trollten sich murrend heimwärts, nur bei den Bergmanns gab es diesen ausgeklügelten Badeplan. Die Bergmann-Kinder glänzten dann immer wie frisch geputzte Äpfel.

Woher der Rufer seine Informationen über das Brucheis hatte, blieb im Dunkeln, aber für uns gab es dann kein Halten mehr. Wir sausten los. Die meisten von uns zu Fuß, einige wenige mit ihren Fahrrädern. Uns musste keiner sagen, wo es das Brucheis gab. Uns reichte das Signal. Am hintersten Ende der Elisabethstraße gab es ein paar Lagerhallen, eine Werkstatt für Fahrräder und Mopeds und neuerdings stand sogar manchmal ein Auto vor der geöffneten Tür. Zwischen Werkstatt und leerstehender Lagerhalle verkaufte Siegfried Eis am Stiel aus einem großen bunten Kasten, der auf einem Fahrrad montiert war. Alles kostete 10 Pfennig und manchmal erwischte man sogar einen Kluten. Brucheis eben. Eis, das in normalen Geschäften nicht mehr verkauft werden konnte, weil es irgendeine unbedeutende Macke hatte.

Immer mehr Kinder, die das Glück hatten, das Signal gehört zu haben, schlossen sich uns an. Revierstreitigkeiten und Bandenfeindschaften ruhten für diesen paradiesischen Moment. Die Grenzen, die sonst eingehalten und im Ernstfall auch verteidigt wurden, wischte das Brucheissignal weg. Ich hatte Pech.

Ich hatte keinen einzigen Pfennig in meinen Hosentaschen. Ganz außer Atem stürzte ich die Treppen unseres Mietshauses hoch.

»Omi!«

Ich schrie schon auf der Treppe.

»Omi! Brucheis!«

Das Ritual dauerte nur wenige Sekunden. Meine Oma öffnete die Tür, steckte mir 50 Pfennig in die ausgestreckte Hand.

»Lauf langsam, Junge«!

Ich machte auf dem Absatz kehrt und polterte die Treppen wieder nach unten. Frau Sadowski aus Parterre Mitte öffnete wie gewöhnlich bei Lärmentfaltung ihre Tür, machte ein strenges Gesicht und sagte etwas. Ich war ein höflicher Junge und grüßte immer artig. Heute nicht. Die letzten drei Stufen übersprang ich. Ich war ein schneller Läufer und hatte keine Mühe, die anderen einzuholen.

 

Sieglinde überholte ich als erste. Das Bergmann-Nesthäkchen war ein dickes unsportliches Kind und hielt nicht viel vom Laufen. Unbarmherzig, wie Kinder sind, sprachen wir sie deshalb meistens nur mit »Dicke« an. Angst vor Familienrache hatten wir nicht. Den beiden älteren Brüdern war es egal, Vater und Mutter Bergmann auch. Ganz selten nur bat uns Sieglinde, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Wir hielten uns nicht daran.

»Schneller, schneller. Sonst ist alles weg!«, rief ich ihr im Vorbeilaufen zu. Vor mir erkämpfte sich der kleine Derschka Meter für Meter. Der semmelblonde Micki Derschka war der kleinste von uns und lebte wochentags bei seinem Zigarre rauchenden Großvater in der Eckwohnung gegenüber. Am Wochenende war er bei seiner Mutter. So wie ich auch. Die Eckwohnungen in Parterre waren schön. Sie hatten große Fenster, die bis zum Boden reichten. Oft standen wir vor den Parterrewohnungen am Zaun und guckten heimlich Fernsehen mit, bis die Vorhänge zugezogen wurden. Fernsehen war eine Sensation. Es gab zwei Programme, manchmal drei.

»Los, Micki, rennen!«

Ich nahm den Kleinen sozusagen ins Schlepptau. Vor uns hechelten Ronald und sein kleiner Bruder Frank. Ganz zu Anfang gab es nur Ronald.

»Kommt Ronald raus?«, fragte ich schüchtern so manches Mal Frau Wachowiak.

Im Inneren der Wohnung hörte ich dann Babygeschrei und meistens kam Ronald auch. Und dann gehörte plötzlich auch sein Bruder Frank zu uns. Dicht gefolgt von Carsten, dem dritten Wachowiak im Bunde. Aber soweit war es noch nicht.

Vor den beiden Brüdern Wachowiak wackelte Hartmut Bergmann dem Ziel entgegen und warf seine Beine dabei in alle Richtungen. Siegfried strahlte übers ganze Gesicht.

»Langsam. Ich habe genug.«

Er ließ den Deckel seiner Eistruhe offen und verteilte sein Brucheis wie am Fließband. Jedes Kind nur ein Teil. Wir standen brav in einer Schlange vor seinem Wunderfahrrad. Brabantstraße, Gutenbergstraße, Elisabethstraße. Alle standen friedlich durcheinander. Siegfried hatte eine Glatze und sein Hinterkopf war seltsam vernarbt.

»Granatsplitter« hatte er mal kurz angebunden gesagt, als ihn ein vorlauter Lederhosenträger aus der Gutenbergstraße danach fragte. Wir nickten allwissend, hatten aber keinen Schimmer, was Granatsplitter waren. Auch meine Großeltern hüllten sich in die gängige Erklärung, wenn Erwachsene keine Lust auf Erklärungen haben.

»Granatsplitter? Das verstehst du noch nicht.«

 

Am Ende der Schlange stand Gaby. Gaby war ein Mädchen, benahm sich aber wie ein Junge. Gaby spuckte auf den Boden und rollte sich mit uns Jungens den kleinen Abhang herunter, so wie wir es bei »Lassie« gesehen hatten. Wenn der böse Junge sich mit dem guten Jungen stritt. Solange, bis »Lassie« bellend daneben stand, an den Hosenbeinen riss und den beiden Streithähnen das kameradschaftliche Händeschütteln aufnötigte. Von meinem Zimmer konnte ich genau in ihr Zimmer gegenüber gucken. Milseweg Nummer 4. Gaby und Sieglinde waren die einzigen Mädchen unserer kleinen Bande. Wir wohnten alle in den Werkswohnungen der naheliegenden Fabrik, wo Säcke aus Jute hergestellt wurden. Dort, wo unsere Väter und Großväter arbeiteten. Außer Vater Bergmann, der Schichtarbeiter im Hafen war, immer eine große Tasche auf dem Gepäckhalter seines Fahrrads festschnallte und zur Arbeit radelte.

Heute passierte das Unvorstellbare. Es war nicht genug Brucheis da. Zwei Jungen aus der Gutenbergstraße und ein Mädchen aus der Elisabethstraße gingen leer aus. Ich kannte ihre Namen nicht, konnte sie aber den Straßen zuordnen. Siegfried knallte den Deckel seiner Eistruhe zu und sagte nur: »Ihr werdet ja immer mehr.«

Aber einen von uns hatte es auch erwischt. Gaby. Die Letzte in der Schlange. Sieglinde hatte ihr Eis wie immer schon verschlungen, ihr Bruder Hartmut fummelte mit ungelenken Fingern noch am Papier herum, die Wachowiak-Brüder und der kleine Micki standen abseits und genossen ihre Beute. Ich schaute mein Eis an. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Gaby. Gaby ohne Eis. Ich wusste, dass ihr Herz blutete. Jeder konnte es sehen. Ich hatte noch 40 Pfennig. Konnte, wenn ich wollte, ein neues Eis am Stiel regulär im Geschäft bei Tante Martha kaufen. Aber ohne Jagdfieber. Brucheis war etwas Besonderes. Es war wie eine Trophäe. Der Schnellste machte Beute. Gaby gehörte aber zu uns.

»Hier, Mädchen, nimmste meins.«