Bruckner - Rüdiger Görner - E-Book

Bruckner E-Book

Rüdiger Görner

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Beschreibung

Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner – die große Biografie über den anarchistischen Komponisten

Anton Bruckners (1824 bis 1896) Kompositionen fanden zu seinen Lebzeiten keine Beachtung, sie wurden von seinen Kritikern und Widersachern – allen voran Johannes Brahms – ignoriert, mit Unverständnis abgetan und verunglimpft. Lediglich mit Richard Wagner verband den von Selbstzweifeln geplagten Bruckner eine wenn auch paradoxe und nicht eindeutige Beziehung.
Rüdiger Görner versteht es, Leben und Werk des Solitärs Bruckner auf neuartige und erzählerische Weise zu verschränken. Und er zeigt eindrucksvoll, wie das schlichte Leben dieses aus der Provinz stammenden, anarchistischen Biedermanns in eine beeindruckende musikalische Weltläufigkeit mündete und direkt in die Moderne führte.

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Seitenzahl: 608

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das ist das Cover des Buches »Bruckner« von Rüdiger Görner

Über das Buch

Zum 200. Geburtstag von Anton Bruckner — die große Biografie über den anarchistischen KomponistenAnton Bruckners (1824 bis 1896) Kompositionen fanden zu seinen Lebzeiten keine Beachtung, sie wurden von seinen Kritikern und Widersachern — allen voran Johannes Brahms — ignoriert, mit Unverständnis abgetan und verunglimpft. Lediglich mit Richard Wagner verband den von Selbstzweifeln geplagten Bruckner eine wenn auch paradoxe und nicht eindeutige Beziehung.Rüdiger Görner versteht es, Leben und Werk des Solitärs Bruckner auf neuartige und erzählerische Weise zu verschränken. Und er zeigt eindrucksvoll, wie das schlichte Leben dieses aus der Provinz stammenden, anarchistischen Biedermanns in eine beeindruckende musikalische Weltläufigkeit mündete und direkt in die Moderne führte.

Rüdiger Görner

Bruckner

Der Anarch in der Musik

Paul Zsolnay Verlag

»Lieber Freund! Ich meine, die Biografie kann warten.«

Anton Bruckner an seinen ersten Biographen August Göllerich am 20. September 1885

»Wenn ich einmal nimmer bin, dann erzählt’s der Welt, was ich gelitten habe und wie ich verfolgt worden bin.«

Anton Bruckner gegenüber Studenten an der Wiener Universität (nach seinem Schüler Carl Hruby)

»Ich habe nichts mehr auf der Welt als Sie, meine lieben akademischen Bürger, und das Komponieren.«

Anton Bruckner, seine Studenten in der Wiener Universität begrüßend (nach 1885)

»… ein Accord aus des Weltalls Symphonie.«

aus: Novalis, »Die Lehrlinge zu Saïs«

»The fervid choir that lifted up a noise

Of harmony, to where it aye will poise

Its mighty self of convoluting sound,

Huge as a planet, and like that roll round,

Eternally around a dizzy void?«

aus: John Keats, »Sleep and Poetry«

»Wer sich von der Persönlichkeit eines Künstlers enttäuscht oder überrascht fühlt, hat dessen Werk mißverstanden.«

Aus: Arthur Schnitzler, »Aphorismen«

»L’ouïe se délie; jusqu’à l’étendue, et elle surplombe un lieu qui se fait immense.«

Aus: Paul Valéry, »Agathe«

»Der Biograph bietet — meist unfreiwillig — das, was hätte sein können, als Gewesenes an.«

Wolfgang Hildesheimer (1982)

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Rüdiger Görner

Impressum

Inhalt

Erster Teil

: Orientierungen

Einübungen in ein Komponistenleben

Erstes Kapitel

: Der Gehilfe

Zweites Kapitel

: Der Geprüfte

Zweiter Teil

: Kunstwillen

Drittes Kapitel

: Der (begehrt) Geduldete

Viertes Kapitel

: Der Geforderte

Dritter Teil

: Klanggestalten

Fünftes Kapitel

: Der Geschätzte

Sechstes Kapitel

: Der Gewordene

Worte des Dankes

Anmerkungen

Einübungen in ein Komponistenleben

Erstes Kapitel: Der Gehilfe

Zweites Kapitel: Der Geprüfte

Drittes Kapitel: Der (begehrt) Geduldete

Viertes Kapitel: Der Geforderte

Fünftes Kapitel: Der Geschätzte

Sechstes Kapitel: Der Gewordene

Literatur

Personenregister

Erster Teil

Orientierungen

Einübungen in ein Komponistenleben

Welches Bild haben wir von Anton Bruckner? Gemeinhin dieses: Bruckner, der Anekdotenlieferant, tapsig bis tollpatschig, in der Hoffnung auf etwas Geselligkeit hinein ins Wirtshaus Zum roten Igel, leicht weinselig schwankend, krummbeinig, die Hosen zu kurz, der Gehrock sichtbar ausgebeult, abgestoßen an den Ärmeln und am Revers: die Karikatur eines schrulligen Menschen und Eigenbrötlers, von dem niemand wusste, was in ihm vorging, weil auch niemand auf den Gedanken gekommen wäre, danach zu fragen. Mit den Höhen der Kunst, gar der Musik, hätte ihn niemand in Verbindung gebracht, der ihn nicht kannte. Für die Kunst wirkte er einfach zu schwerfällig. Man hätte ihn für einen unversehens in die Stadt geratenen Waldarbeiter halten können, auf den ersten Blick, der nur einen Wunsch hatte, möglichst rasch wieder aus der Stadt zu finden. Bruckner, ein Mensch am Rande der Gesellschaft, leicht hinkend.

Oder so: Bruckner im Scherenschnitt: mal mit Sonnenschirm gravitätisch zu schreiten versuchend, die kleinen Kritiker hinter ihm mit gezückter Feder, eifrig bemüht, etwas auf einen Partiturbogen zu kritzeln, den er abweisend hinter sich hält. Bruckner an der Orgel, Bruckner mit Zylinder und Notenrolle in der Hand, von Wagner begrüßt, Bruckner am Fenster mit Richard Wagner stehend, der ihm eine Prise Schnupftabak anbietet, Bruckner begegnet Wagner in Bayreuth, ohne Notenrolle dieses Mal, aber wieder mit gezogenem Zylinder: beide klein, Bruckner eine Spur kleiner, gedrungener, ehrerbietig, unbeholfen vor dem kleinen Großmeister des Musikdramas, derweilen in ihm symphonische Dramen brüten. Bruckners Mund ist auf diesen Scherenschnitten von Otto Böhler leicht geöffnet, wie erstaunt, um ein verbindliches Wort bemüht, wogegen die Lippen Wagners geschlossen bleiben.

Bruckner, irgendwie vorzeitig gealtert. Eine Fotografie des Dreißigjährigen wirkt da schon wie eine Überraschung. Zwar scheint er darauf älter, als er ist, aber mit einem Anflug von Eleganz; das Revers aus Satin, eine Wohlstand vortäuschende Uhrenkette, die Rechte geradezu lässig zur Hälfte in der Hosentasche, in der Linken vermutlich eine kleine Notenrolle. Der Blick im Sinne von: Auch ich bin da. Nein, nicht scheu, eher unverwandt. Nicht unauffällig der Kehlkopf, der über der leicht schief sitzenden Kragenbinde beim Schlucken hüpfen dürfte. Das rechte Bein leicht vorgestellt, als wollte er demnächst noch wohin … Aber der Anflug von Eleganz reichte nicht zu einem feschen Aussehen. Von Anbeginn scheint er auf das andere Geschlecht ohne tiefere Wirkung gewesen zu sein. Melancholie umgab und durchdrang ihn. Nur durch sein Orgelspiel gewann er Herzen. Das Erotische ging bei ihm, dem durchaus hingebungsvollen Lehrer, der er war, im pädagogischen Eros auf.

Man ist gut beraten, sich diesem Komponisten fragend zu nähern, denn wie ein Leben erzählen, das keines gewesen zu sein schien, doch dabei aus einer Überfülle an musikalischen Einfällen bestand. Vermeintliche Lebensleere traf in ihm auf unbestreitbare Kunstfülle. Die Grundspannung in seinem Leben erzeugte der Kontrapunkt, bestehend aus Einsamkeit und Sehnsucht nach ihrer Überwindung durch die Kunst. Als Organist brandete ihm ungeteilte Begeisterung entgegen, als Komponist entzweite er die Hörgemüter. Der Star auf der Orgelbank, wo ihn niemand sah, nur hörte, wusste oft auf dem Dirigentenpult nicht, wohin mit sich und seiner Musik.

Zu erzählen ist von einem Künstler, der geradezu leidenschaftlich seine Werke Revisionen unterzog, dabei in sie und in sich hineinhörte, vermeintliche Missklänge aufspürte, neue Klangansätze wählte (nicht immer wirkungsvollere) und dabei etwas einführte, was ich perspektivisches Komponieren nennen möchte. Seinerseits ermöglichte es ein perspektivisches Hören, ja, es machte ein solches unbedingt erforderlich. Eigentlich bedürfte es einer katzenbeweglichen Ohrenfertigkeit, um den Richtungswechseln und -wendungen in diesem symphonischen Werk hörapparativ gerecht zu werden. Knapper gesagt: Anton Bruckner fordert den Radarhörer.

Wagen wir einen Versuch. Fahnden wir nach einer Lektüre, die sich annährend plausibel mit Bruckner in Verbindung bringen ließe, mit dem, was wir heute eine »Selbstaussage« nennen. Die gängigen bedeutenden Musikerromane kommen hierfür nicht in Frage. Soweit bekannt, gibt es nur einen, der von einem Komponisten handelt, der gewissermaßen in Orgelnähe Symphonien komponiert, und das auch deswegen, weil sein Urheber Organist war, der Schriftsteller Hans Henny Jahnn, der zu den verkanntesten literarischen Modernisten deutscher Sprache zählt, fraglos aber neben Robert Musil, Hermann Broch und Alfred Döblin zu orten ist, und das nicht zuletzt aufgrund seines Romans in drei Teilen Fluss ohne Ufer, aus den »Niederschriften« des fiktiven Komponisten Gustav Anias Horn bestehend.

Im zweiten Teil dieses Romans führt ein sogenannter Kulturjournalist mit dem Komponisten Horn ein Gespräch über eine im Entstehen begriffene Symphonie. Horn berichtet auf eine Weise darüber, die der Art Bruckners nicht unverwandt gewesen sein dürfte:

Ich konnte ihm nicht erklären, aus welchen Bezirken die musikalischen Wirklichkeiten in mir aufsteigen und welche Wahrheiten oder Irrtümer sie enthalten. Meine Sinne weigerten sich gleichsam, ihren Anteil am Bau einer Strophe zu verraten. Das Bewußtsein drängt sich vor, um Formen zu erklären, rhythmische Konstruktionen, mathematisch-harmonische Zusammenhänge herzustellen. Schon die Wahl der Tonarten ist kaum zu erklären. Die Klangfarben, der irdischste Teil der Musik —: warum greift der Geist zu einer bestimmten Instrumentierung und nicht zu einer anderen? Welche Entsprechungen werden ausgedrückt? Wo sind die Grenzen zwischen Eingebung, Willkür und saurer Arbeit. […] Ich fühle mich in meinem eigenen Werk verloren, sobald ich es näher betrachte. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.1

Bruckner war ein Musikhöriger, und das mit einer solipsistischen Ausschließlichkeit. Dass er noch als Mittfünfziger aussichtslos um eine Siebzehnjährige wirbt, wiederholt Heiratsanträge an Zwanzigjährige schrieb, verstärkte nur seine Isolation. Als Komponist großer, von »Gemeinschaft« und Zusammenklang bestimmter Werke war er der Einzelgänger schlechthin, dessen Triebleben aus Verdrängung und Projektion bestand. Man sollte vorab festhalten: Bruckner kannte offenbar kein sexuelles Erwachen; eher dämmerten seine Lüste — zunächst jedenfalls. Zu dominant war seine Bindung zur Mutter, selbst noch nach ihrem Tod; zu sündhaft belegt schien ihm der körperliche Vollzug des Liebens, selbst ein Kuss gehörte in die Selbstverbotszone. Doch sollte dies nicht mit Liebesunfähigkeit oder einer grundsätzlich mangelnden Leidenschaft verwechselt werden, nur dass sich eben beides auf die Musik, den Glauben, das Komponieren richtete.

Anton Bruckner war bis zuletzt ein tiefreligiöser Einzelgänger, der sich keiner Schule oder Lehrmeinung anschließen wollte. Er schuf zahlreiche geistliche Vokalwerke wie seine drei Messen, die Missa Solemnis b-Moll (1854), das Te Deum (1881—1884) und Motetten. Als Symphoniker komponierte er von 1863 an insgesamt neun Symphonien und zahlreiche symphonische Studien, wobei eines unmittelbar auffällt: In einer Zeit, die dem Virtuosentum huldigte, verweigerte er sich der Komposition von Solokonzerten. Keinem Instrument räumte er solistische Vorrechte ein, nicht der Violine, nicht dem Klavier, nicht dem Cello, nur der Orgel, die er wohl für das Instrument Gottes gehalten haben dürfte. Aber für sie komponierte er nichts. Für sie schien schon alles komponiert von seinen Vorgängern. Und es war ihm ein Instrument der großen Improvisationen, bezeichnenderweise nicht selten über das Thema aus Richard WagnersSiegfried (zweiter Aufzug, zweite Szene), als der Titelheld zärtlichst, von einer Vogelstimme umspielt, seiner Mutter gedenkt (»Meine Mutter, ein Menschenweib«).

Die Orgel — sie ist in Wahrheit kein Soloinstrument, sondern ein mechanisch die Macht der Musik verkörperndes Sinnbild, vom Atem des Blasebalgs beseelt, ein Musikkörper, der, wenn man so will, aus allen Instrumenten besteht. Ihm unterwarf sich Bruckner zuerst, um ihn spielend zu beherrschen. Die Allmacht Gottes und die Macht der Musik, sie schien ihm in diesem gigantischen Instrument zu fusionieren.

In seinen Symphonien simulierte er den allumfassenden Anspruch der Orgel nach vollständiger Musikalisierung der Welt. Und dieser Musikalisierung als der eigentlichen ihm möglichen Welterfahrung hatte er sich verschrieben. Es wird zu zeigen sein, wie entschieden Bruckner die Orgel als ein Weltinstrument verstanden hat, als ein Organ und Organon des Universalen, Weltumspannenden.

Doch galten Bruckners Orchesterwerke eben lange als unspielbar, weil sie für die Tonsprache ihrer Zeit ungewöhnlich kühne, die Traditionen von Beethoven über Wagner bis zur Volksmusik vereinende Klangmonumente an der Grenze von Spätromantik und Moderne boten. Gleichzeitig sprengten die Dimensionen dieser Werke alles bis dahin symphonisch Dagewesene.

Unter den bedeutenden Komponisten ist Anton Bruckner eine singuläre Erscheinung. Seine Lebens- und Schaffensenergie galt mit einer ungewöhnlichen Entschiedenheit der Symphonie, die durch ihn ihre eigenen traditionellen Grenzen sprengte. Durch sie wagte er das Äußerste, bis dahin Unerhörte, und das mit entschiedener Ausschließlichkeit. Selbst seine kirchenmusikalischen Kompositionen (Messe/Motette) richteten sich auf eine auf das Symphonische hin orientierte Polyphonie. Selbst seine seltene Kammermusik schien das Symphonische (oder die symphonischen Schaffensschübe) entweder vorzubereiten, zu bergen oder in sich aufzuheben.

Die Symphonie wurde zum Signum seiner Entwicklung als Künstler und damit seines Lebens. Die neun Symphonien nebst seiner Nullten, weil von ihm für »null und nichtig« erklärt, erwiesen sich neben einigen wenigen markanten Reisen als die eigentlichen Ereignisse in einem von Erniedrigungen, Verkennung und scheinbaren Vergeblichkeiten geprägten Leben.

Wann und wo beginnt die Biographie Anton Bruckners? Dort, wo sie für viele endet. Am 6. Juni 1937, als Hitler in der Walhalla bei Regensburg die Gipsbüste seines Lieblingskomponisten enthüllte? Noch in seinen Tischgesprächen stellte Hitler den »Linzer« Bruckner über den »Wiener« Brahms, ebenso wie er aus »Solidarität« mit Linz sich als Anti-Klimtianer gebärdete, darin buchstabengetreu dem Buch des Linzers Hermann BahrGegen Klimt (1903) folgend.2 Hitler hatte ja gerade in der frühen Biographie Bruckners einen vermeintlichen Spiegel seiner eigenen gesehen — ein Künstler, der aus dem provinziellen Nichts kam und im anmaßenden Wien zerrieben, ja geschändet wurde …, ein sozialer Aufsteiger, was Bruckner freilich auch mit Brahms gemein hatte.

Fragen wir unbequem weiter: War es folgerichtig, dass der langsame Satz aus seiner Siebenten Symphonie vor der Meldung von Hitlers Tod durch den Reichsrundfunk am 1. Mai 1945 gespielt wurde? Damit ist vorab zumindest der »belastende« Hauptfaktor in der problematischen Aufnahme Bruckners nach 1945 benannt. Wobei zu ergänzen ist, dass sich die eigentliche musikalische »Entdeckung« Bruckners erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete durch eine Fülle inzwischen legendärer Einspielungen seiner Symphonien unter in ihrer Lesart und Dynamik so unterschiedlichen Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Hans Knappertsbusch, Carl Schuricht, Otto Klemperer, Sergiu Celibidache, Eugen Jochum, Herbert von Karajan, Georg Solti, Günter Wand, Leonard Bernstein ebenso wie Claudio Abbado, Bernard Haitink, Pierre Boulez und Paavo Järvi sowie Christian Thielemann. Und als Kontrast dazu? Ken Russells Film The Strange Affliction of Anton Bruckner (1990), über den er im Gespräch mit Melvyn Bragg sagte, er gelte dem einfältigsten Komponisten gigantischer Musik, die eine Vision des Kosmos darstelle. Russell zeigt Bruckner als einen von Zahlen obsessierten Neurotiker, von einem Nervenarzt und einer Krankenschwester in einer ansonsten insassenlosen Heilanstalt mitten auf dem Land mit Kaltwasser-Schockbädern behandelt, ein klinischer Fall, den die Musik überkommt, anzüglicher gesagt: dem sie kommt wie eine erotisch-orgiastische Fantasie, ausgelöst von besagter Schwester; sie wird sich ihm nackt zur Verfügung stellen, wobei der tumbe Gesell Gottes mit diesem weiblichen Traumkörper nichts anderes anzufangen weiß, als ihn sanft adagio-con-moto-haft zu streicheln. Unser Bild von Bruckner, das sei damit gesagt, ist eben überreich an Zerrbildern und noch immer atemberaubenden Aufführungen einer unvergleichlichen Musik.

Wie und wo kann sie ansetzen, die Charakterzeichnung dieses Künstlers, angesichts einer trotz intensiver Bemühungen bestenfalls schwankend zu nennenden Quellenlage zu Bruckners Person?3 Demütig autoritätsgläubig war er und dabei unbeirrbar, was sein künstlerisches Sendungsbewusstsein anging. Er litt an mangelndem Selbstwertgefühl und konnte sich doch im äußersten Zweifelsfall auf sein künstlerisches Selbstbewusstsein verlassen. Als Einzelgänger kompensierte er seinen Gemeinschaftsverlust durch das Orchestrale, das gigantische Ausmaße annahm. Trotzige Bescheidenheit zeichnete ihn aus. Die vier Dirigenten, die zu ihm, sprich: zu seinen Kompositionen, hielten, Hans Richter, Arthur Nikisch, Felix Mottl und ganz besonders Hermann Levi, nannte er die »Vormünder« seiner Symphonien. Er lebte für seine Kunst und dabei oft sich selbst zuleide, glaubte sich verfolgt, verschmäht, von Kritikern gepeinigt, und blieb doch seinem Schaffen treu bis zuletzt, als religiöse Wahnvorstellungen seinen Verfolgungswahn ablösten. Er war ein seelisch Gepeinigter, wurde aber zu einem Anarch unter den Komponisten, der dem bürgerlichen Musikgeschmack einen radikalen Modernismus zumutete, der vielstimmiger, brüchiger und doch in seinen Brüchen aufeinander eingestimmter zu seiner Zeit nicht vorstellbar war. Bruckner entwickelte sich zu einem Radikalen im Dienst an der musikalischen Kunst.

Erstes Kapitel

Der Gehilfe

Anfänge in Ansfelden

Auffällig an Ansfelden, dieser oberösterreichischen zwischen Linz und Traun, St. Florian und St. Marien auf einer leichten Anhöhe gelegenen Kleinststadt, in der Joseph Anton Bruckner am 4. September 1824 zur Welt kam, ist ihr Wappen aus jüngerer Zeit: Eine silberne Wellenleiste teilt es vom Schildfuß zum Schildhaupt schräg links. Im oberen Teil auf grünem Grund finden sich sechs silberne Orgelpfeifen. Den unteren Teil ziert vor rotem Hintergrund ein silbernes Zahnrad. Ein Wappen, das von Bewegung zeugt: Sanfte Wellen erinnern an die nahen Flüsschen Traun und Enns oder an den wogenden Verkehr auf der heute nahen Westautobahn. Das Zahnrad zeugt von Gewerbefleiß. Geradezu als bildlicher Kontrapunkt wirken die Orgelpfeifen, die an den Organisten und größten Sohn dieser städtischen Gemarkung, Anton Bruckner, erinnern. Ihm gilt dort ein Symphonie-Wanderweg, der von Ansfelden nach St. Florian bei Linz führt, wo der junge Anton als Organist wirkte und im Oktober 1896 zu Grabe getragen wurde.

Neben dem von Bäumen umfriedeten, an einer breiten, Aufstieg symbolisierenden, Treppe gelegenen Geburtshaus Bruckners, dem seinerzeitigen Schulhaus, findet sich in Ansfelden, das sich aus den Namen Alpunesfeld und Albinsvelt herleitet, die 777 erstmals in der Kremsmünsterer Stiftungsurkunde Erwähnung fanden, auch ein Anton Bruckner Centrum — und das seit 1996, dem hundertsten Todesjahr des Organisten und Komponisten. Sinnigerweise nennt man es dort einfach das ABC, was vor allem auch auf Bruckners pädagogisches Interesse und Wirken verweisen soll. Dort findet sich auch ein Denkmal, das Bruckner darstellen will; es gleicht einem überdimensionalen aufgerichteten Grabstein, dem ein verlebendigender Kopf aufgesetzt wurde.

Die Urkunden vermerken 4 Uhr 15 in der Früh als Zeitpunkt seiner Geburt. Joseph Anton, der nach seinem Vater und Großvater — beides Schullehrer — benannt wurde, wuchs beengt, aber behütet auf. Ein Schullehrerdasein schien ihm in die Wiege gelegt. Die Lehrbefähigungs-Bestätigung für Bruckners Großvater Joseph hatte auch noch für seinen Vater Anton Gültigkeit. Im Linzer Amtsdeutsch vom 4. Juni 1777 las sich dies so:

Von der Kaiserl. Königl. in Teutschen Schulsachen allergnädigst aufgestellten Commission in Österreich ob der Enns wegen: dem Joseph Bruckner hiermit anzufügen. Demnach derselbe in der über den bey der k. k. Normal-Schule allhier geschöpften Unterricht mit ihme vorgenohmenen Prüfung allerdings tüchtig befunden worden ist, das Buchstaben kennen; Lesen, Schreiben, Rechnen, und die Religion in soweit es einem weltlichen Lehrer zusteht, nach der in denen kais. königl. Erblanden vorgeschriebenen Lehr-Amt in einer Trivial-Schule zu lehren.

Also wird ihme, Joseph Bruckner, hiermit die Befugnis ertheilet, und zugleich anbefohlen, vorerzehlte Gegenstände von nun an in der Trivial-Schule zu Ansfelden nach Vorschrift der allgemeinen Schul-Ordnung zu lehren, und in Ausübung zu bringen.

Es ist eine Zeit, in der die meisten Ansfeldner Analphabeten waren und ihren Namen gewöhnlich nur mit drei Kreuzen bezeichneten, ein Zustand, der sich erst in den 1820ern änderte, als Großvater Bruckner an seinen bereits jahrelang als dessen Schulgehilfe tätigen Sohn Anton, den Vater des Komponisten, die Unterrichtsgeschäfte übergab. Dieser bewährte sich bis zu seinem frühen Tod (1837) auch als Kantor und Organist, gar als Tanzbodengeiger und spätabends in Wirtshäusern als musikalischer Unterhalter; denn seine Einkünfte als Lehrer und Mesner reichten für seine rasch wachsende Familie nicht aus. Seine zukünftige Frau und Mutter des Komponisten, Theresia Helm, in der sich Frömmigkeit und Launenhaftigkeit paarten, schien vor allem von den musikalischen Qualitäten des schneidigen Junglehrers angetan gewesen zu sein. Ihren Erstgeborenen — elf weitere Geburten sollten folgen, nur fünf Kinder überlebten — nahm sie denn auch schon sehr früh in die Kirche mit, um dem Spiel des Vaters zu lauschen. Des Vaters Frohnatur und der Mutter eher ernste Lebensführung wirken auf den kleinen Anton ebenso wie das etwas einseitig bestellte musikalische Umfeld. Als Aushilfsorganist konnte Anton Bruckner senior bereits den erst zehnjährigen Anton Bruckner junior einsetzen.

Was der junge Anton so sah und hörte: Früh sterbende Geschwister, angestimmte, unter Tränen abgebrochene Kindertotenlieder, Wehklagen und Frohsinn wechselten einander ab. Pflichtbewusstsein und Lebenslust schienen in Bruckners Vater widerstritten zu haben. Er sollte an »Lungensucht und Auszehrung« im Alter von sechsundvierzig Jahren das Zeitliche segnen. Als Schullehrer hatte ihm Bischof Sigismund Hohenwarth nach einer Visitation seiner »Trivial-Schule« Anfang Dezember 1823 bescheinigt, »gescheit« zu sein und »viel in seiner Schule« zu leisten — und das in einem Brief an Kaiser Franz I., der den Stand der Erziehung in seinen Ländern zu seinem »höchstderoselben« Hauptanliegen erklärt hatte.

Was nahm er wahr, der kleine Anton Bruckner, von der kleinen Ansfeldner Welt, die ihm doch zunächst als das Größte, Ausschließliche erscheinen musste? Gab es familiäre Sonntagsspaziergänge zu Ostern oder Pfingsten oder überhaupt, hinüber zum Stift St. Florian etwa, das ihm einen ganz neuen Eindruck von architektonischer Größe vermittelt haben wird? War es diese Form barocker Erhabenheit, die sich in diesen empfänglichen Jungen eingesenkt hatte? Oder begann er einfach nur nach Orten Ausschau zu halten, die ihm ermöglichten, Musik auszuüben, schon bald immer wieder auf der Orgel?

Barfuß wird er gegangen sein, der kleine Anton, wie damals üblich, bis zum ersten Schneefall, die Joppe, von mütterlicher Hand gestrickt, dazu ein kleiner Filzhut — ohne Feder. Er hörte die Natur mehr, als dass er sie sah, das Rauschen der Bäume, das Plätschern der Brunnen, die heranrollenden Donner, vor denen er sich aber nicht fürchtete. Etwas Trotziges geht von diesem Jungen aus. Den früh ausgeprägten Eigensinn behielt er sein Leben lang. Nichts an seinem Äußeren verriet, was in seinem Inneren vorging, was sich da langsam und über lange Jahre hinweg heranbildete. Das scheinbar Behäbige, dieser oft kommentierte schwankend-watschelnde Gang, das wollte mit seinem breiten oberösterreichischen Dialekt zusammenstimmen, den er nie verlor. Eine einzige von ihm komponierte Phrase neben diesen Dialekt gehalten — man brächte beides nicht zusammen. Joseph Anton Bruckner, das war auch der Name für einen der unwahrscheinlichsten gemeinsamen Nenner völlig disparater Eigenschaften und Verhaltensweisen. Ein englischer Musikkritiker unserer Tage bezeichnete ihn noch vor kurzem als einen »leichtgläubigen Tölpel«, der sich regelmäßig in Schülerinnen verliebte und eine Fotografie der Leiche seiner 1860 verstorbenen Mutter bei sich führte, wobei er zuvor nie ein Bild von ihr besaß; ein verschrobener, manisch wirkender Einzelgänger, der gleichzeitig an der Entgrenzung des Symphonischen arbeitete, um daraus eine vollkommene Eigenwelt musikalisch zu erschaffen. Er, der spätere Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservatorium der Gesellschaft für Musikfreunde zu Wien, und damit Nachfolger von Simon Sechter, bei dem einst der sterbenskranke Schubert noch Kontrapunktstunden genommen hatte, herzte die Schädel von Schubert und Beethoven bei ihrer Exhumierung; womöglich hat er sie sogar geküsst.

Doch wir greifen vor, werden es auch immer wieder so halten müssen; denn Phasen von Bruckners Leben greifen ineinander wie manche Motive in den überdimensionalen Sätzen seiner Symphonien. Zu erzählen ist von einem in jedem Sinne wunderlichen Leben, über dessen Ergebnisse er wohl selbst am meisten erstaunt gewesen sein dürfte.1

Man kann es aber auch anders sehen: Vieles, was sich in diesem Leben (kompositorisch) ereignete, war folgerichtig bis zu dem Punkt, dass ihm zuletzt noch vergönnt war, seine Symphonien zu sichten und eine davon für null und nichtig zu erklären. Er hatte sie schon früher als seine Nullte bezeichnet; uraufgeführt wurde sie erst 1924. Man hielt sie für themenlosen Leerlauf zwischen seiner Ersten und (späteren) Zweiten. Das Leben Bruckners spielte sich in seinen Symphonien ab; ihr Ausgangspunkt lag in seiner Erfahrung als Organist. In Symphonie und Orgel darf man musikalische Potenzsymbole vermuten, die mit einem Phänomen verbunden sind, dem nachzugehen lohnt: Selbstermächtigung durch die Kunst.

Aber nochmals zurück zu den Anfängen: Was trägt sich in einem Zehnjährigen zu, der auf der Orgelbank Töne hervorzaubert, ohne dass seine Beine die Pedale erreichen konnten, der das Registerziehen lernte, die Manuale wie einen Zauber- oder Malkasten bediente? War es das, dass der kleine Bruckner eben mit Klangfarben spielte, oder hatten ihn schon früh jene Schauer überkommen, wenn er bestimmte Akkorde anschlug? Hatte er Spielkameraden? Oder stand er lieber abseits? Eignete ihm wirklich etwas Tollpatschiges? Wirkte er unbeholfen, ungeschickt im täglichen Umgang? Hänselte man ihn, den Ältesten des Lehrers Bruckner? Sahen seine Altersgenossen in ihm nur das Mutter- und Lehrersöhnchen, den gehätschelten und verwöhnten Antonius von Ansfelden? Oder nahmen sie ihn früh ernst, achteten ihn sogar, beeindruckt von seinen musikalischen Kenntnissen und Fähigkeiten?

Wann wird der kleine Bruckner zum ersten Mal von seinem Namenspatron, dem heiligen Antonius, gehört haben und von der entsprechenden Bauernregel: »Regnet’s am Antoniustag, wird’s Wetter später, wie es mag«? Kannte er die Fischpredigt des aus Portugal stammenden Antonius aus Des Knaben Wunderhorn? Gustav Mahler, der Bruckner als Komponist beerben sollte, wird dieses Lied später vertonen und als musikalisches Motiv im dritten Satz seiner Zweiten Symphonie aufnehmen. Wusste er von Antonius Eremita, dem spätantiken Wüstenvater, und davon, dass der heilige Antonius sich seinetwegen Antonius nannte?

Der Weg nach St. Florian führte über weite Felder in die Musik. Weiden und Haselsträucher umfriedeten unterwegs zu diesem heiligen Ort ein Stück Blumenwiese. Dort sah er ihn ruhen, eines Mittags, im schütteren Schatten des Gesträuchs. Antonius nicht, nein, er hätte eine Kutte getragen und Sandalen. Es war der große Pan, der hier schlief, so tief, als wäre er tot. Nur die großen Ohren des großen Pan bewegten sich unablässig, wenn Vogelstimmen zu hören waren oder das jähe Krächzen aufgescheuchter Krähen. Aber auch dann, wenn nichts zu hören war, sah der kleine Anton, wie die großen Ohren des Pan sich bewegten. Dann hörten diese Ohren eben die Stille, dachte Anton viel später, als er über den großen Pan etwas las, oder als ein Pater in St. Florian ihm vom großen Pan erzählte, der am Wald- und Wiesenrain hause. Anton verhielt sich ganz still, um diesen Schlafenden nicht zu stören, obwohl er ja, den sich regenden Ohren nach zu urteilen, gar nicht wirklich schlief. Das Hören dieses Ruhenden war hellwach. War es damals, dass der kleine Anton auf den Gedanken kam, dass wir in einem Netz aus unsichtbaren Klangfäden eingesponnen seien, mit dem wir uns bewegen, ein Netz, das wir mit uns führen, wohin wir auch gehen? Wieder wie aus dem Nichts kam Wind auf. Und es war, als rauschten, ja zischten die rasch vorüberziehenden Wolken. Und plötzlich waren Stimmen zu hören, von überall her, wild durcheinander schwirrend, sich dann aber zu einem lichten Kanon ordnend. Der große Pan aber war verschwunden.

Anton, das Lehrerkind. Aufgewachsen im Schulhaus. Geschwister und Schüler kann man hier schon einmal verwechseln, lärmend, spielend, lernend. Nie herrscht Ruhe. Das penetranteste Geräusch ist der hartnäckige Husten in allen Ecken des Hauses, der harte, kurze, trockene oder verschleimt klingende Husten. Denn irgendwer in dieser wissbegierigen quirligen Kinderschar hustet immer. Beherrschend sonst: die Stimme des Vaters, die alles durchdringt, nicht übertönt. Sie schneidet, kann aber auch melodiös singen wie jene der Mutter; sie aber singt selten. Ihr Gesichtsausdruck prägt sich dem kleinen Anton ein: ernst, traurig oft; zu viele ihrer Kinder verstarben zu früh. Das ist zwar in vielen Familien so, in Ansfelden und Umgebung, aber die Resa Bruckner nimmt sich dieses Kindersterben anders zu Herzen. Ihre Melancholie überträgt sich auf den kleinen Anton, der das Lachen verweigert, von einem Tag auf den anderen. Der väterliche Frohsinn kann dagegen nichts ausrichten, sosehr sich Anton auch sonst am Vater orientiert. Aber an seinen Späßen hat er keinen Anteil. Spürt er, dass des Vaters Humor sarkastischer wird, weil er arbeitet wie ein Pferd und doch die Familie kaum unterhalten kann? Ist das Galgenhumor? Was meint der Vater, wenn er sagt: Fasching feiern wir demnächst mit Totenmasken? Lacht man da oder nicht? Der Vater lacht über seinen eigenen bitteren Scherz, das immerhin. Die Mutter wendet sich ab. Weint sie?

Anton vereinzelt früh — inmitten dieses häuslich-schulischen Treibens, bei dem man nicht weiß, wo der Unterricht beginnt und die Gemütlichkeit aufhört. Vater Anton fordert viel von seinen Kindern, wobei er kaum unterscheidet zwischen seinen leiblichen und ihm als Schüler anvertrauten Kindern. Aber er wendet sich an seinen Anton doch zunehmend gesondert, unterstützt damit die Vereinzelung seines Ältesten, der gerne mit Pflanzen und Tieren spricht, den Schatten der Bäume beim Wachsen zusieht, wobei er noch nicht weiß, dass ihr Wachsen mit dem Stand der Sonne zusammenhängt.

Eigenartig kommt es dem heranwachsenden Anton wohl schon vor, dass er wie der Vater heißt und der Vater wie er. Deswegen ruft der Vater ihn meist Joseph, weil er sich ja schlecht selbst rufen kann. Mutter Resa aber ruft meist Anton, was Vater wie Sohn gelten kann. Das amüsiert den kleinen Anton im Stillen, aber nur im Stillen, und verwirrt ihn; das aber zunehmend. Das ist dann das eigentlich Einschneidende in seinem dreizehnten Lebensjahr: dass er mit einem Mal der einzige Anton in der Familie ist — nach dem grausigen Tod des Vaters. Wenn jetzt die Mutter Anton ruft, meint sie meist ihren verstorbenen Mann.

Anton wird dieses Geräusch mitnehmen auf seinen Weg nach St. Florian, dieses Heisere in der röchelnden Stimme des sterbenden Vaters, zuweilen noch durchsetzt von jähen dunklen Tönen. Das war kein ruhiges Atmen mehr, es pfiff in den Lungen des Vaters. Da bildeten sich bizarre Akkorde, die gut eineinhalb Oktaven auseinander lagen. Anton hörte, wie die Stimme seines Vaters zerklüftete, ihre getragene Temperierung verlor.

Daneben: händeringend die Mutter, in die stickige Luft der Sterbekammer greifend. Aus dem breiten Ehebett wurde das Sterbelager. Anton wusste, wie es um den Vater stand, sie wussten es alle, auch die Ansfeldner, die Eltern der Schulkinder, die aber nicht wussten, wie sie ihren Nachwuchs vor Ansteckung durch den Lehrer schützen sollten. Man mied das Schulhaus der Bruckners, in dem es immer gespenstischer zuging. Aber sie waren ja längst infiziert, die Ansfeldner Kinder, mit dem Wissen des Lehrers Bruckner. Sie konnten jetzt ihre Namen schreiben und rechnen und Noten aufmalen, auch wenn sie manchmal Buchstaben und Noten und Zahlen verwechselten. Da grinste der junge Anton schon mal, ganz kurz nur, eher verstohlen; nein, an ein Lachen war bei ihm nicht zu denken.

Aus Linz kam zuletzt noch ein Arzt; zumindest gab er sich als ein solcher aus. Ein früher Freund des Vaters, angeblich, Xavier mit Namen, auch wenn Lehrer Bruckner Zeichen gab, man solle ihn in Ruhe lassen. Dieser Doktor sagte, nachdem er den Vater untersucht hatte — mit Hörrohr und diversen Stäbchen — nur das: Weißt du, Anton, dein Vater wurde im Sterbejahr unseres großen Mozart geboren.

Darauf Anton nach längerem Schweigen: Herr Doktor, was hört man, wenn man mit diesem Rohr hört?

Wie es im Inneren eines Menschen zugeht, junger Mann. Man hört die Lungenflügel schlagen, wobei sich der Arzt Xavier plötzlich nicht sicher war, ob dieser Ausdruck den wirklichen Sachverhalt traf. Er kam ihm zu poetisch vor, aber er korrigierte sich nicht, sondern räusperte sich nur. Die Lungenflügel schlagen hören, zumindest Anton war dieser Ausdruck fremd, aber er gefiel ihm; er beruhigte ihn und stellte sich sogleich einen großen Vogel im Brustkorb des Vaters vor. Es war also am Sterbebett des Vaters, dass zum ersten Mal ein Fremder, dazu noch ein Arzt, »junger Mann« zu ihm gesagt hatte. Oder war das hämisch gemeint? In jedem Fall war es verwirrend. Um ihn hörte er nur Beten, Rosenkranz-Litaneien, Muttergottes-Anrufungen. Aus dem Jammerton wurde zwischendurch eine Art einlullendes Wiegenlied. Wie oft hatte er dergleichen gehört. Aber jetzt klang es anders; es betraf ihn. Nur, wer dachte jetzt noch an seine kleinen verstorbenen Geschwister? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass für sie auch so inbrünstig gebetet wurde. Der Vater war eben der Vater, der Herr Lehrer und der Herr Kantor. Sie schuldeten ihm alle etwas, dem Vater.

Läuteten schon die Glocken? Sie waren erst bei der Aussegnung gefordert. Es war das Sterbeglöckchen, das so hell das Ende intonierte. Pfarrer Auer kam, die Letzte Ölung, die Reinigung von den Sünden im Angesicht des Kreuzes (hatte denn der Vater gesündigt? JEDER IST SÜNDER …, damit ihm vergeben werden kann). Draußen standen die Dopplers, die Toblers, die Pichlers, die Grillmayrs, die Moosbaurs und Sandgrubers, meinten es gut, brachten Spezereien, standen an, um der Mutter in ihrer Not beizustehen. Die Tobler meinte: Sie hat ja ihren Anton. Darauf die Pichler: Ja, ihren Ältesten, ihren zweiten Anton, den Joseph.

Wo war er überhaupt? Unterwegs nach St. Florian. Immer nach St. Florian. Selbst im Mondschein. Die junge Sandgruber, die Amalia, dazu: Auf ihn ist doch kein Verlass. Ein Träumer. Ein Spinneter halt.

Das hatte Anton noch gehört. So dachten sie also über ihn, die Holzingers und Pühringers, der Wiesinger und der Aichinger, der Stockinger und der Resch, der keinen Ton halten konnte. Er war fülliger als sie, schwitzte leicht, hatte schon damals immer ein großes Taschentuch bei sich, um sich den Schweiß abzuwischen; später diente es ihm mehr als Schnupftuch. Wamperl, neckten sie ihn, seine kleinen Peiniger, mit denen er sich doch auch gut verstand. Manches Mal rang er sich dann noch ein Lachen ab, wenn sie ihn nachahmten, seine Tollpatschigkeit, auch wenn ihn sein Lachen im Inneren schmerzte. Dann wieder konnte er mitten im Lachen innehalten, ganz ernst werden, sich von seinen Spielkameraden abwenden. Was den wohl gestochen hat, fragte der Wiesinger, sodass der Tonerl es hören konnte; denn an den Stimmen erkannte er seine vermeintlichen Freunde immer, noch bevor er sie sah. Der Wiesinger klang schon eine Spur rauer als der Aichinger; und der Stockinger sprach, als ob er sänge; und der Resch hatte mehrere Tonlagen in einem einzigen Satz. Die Amalia, sie klang gut, nichts Schrilles, Geiferndes lag in ihrer Stimme; die üblen Sachen, die sie sagte, ihren Eltern nachplapperte, selbst das klang in den Ohren des Tonerl wie Balsam. Es kam ihm ganz natürlich vor, dass er genauer hörte und weniger scharf sah. Dabei sollte es auch bleiben. Damals wusste er noch nicht, wie sich Fledermäuse orientieren …

Aber was tat die Mutter, die Brucknerin, am späten Nachmittag des 7. Juni, an dem ihr Mann verstorben war? Sie nahm ihren jungen Anton an die Hand, ging mit ihm aus Ansfelden hinaus, hoch nach St. Florian an die Stiftspforte, um ihn abzuliefern, gerade noch rechtzeitig vor dem Stimmbruch. Er sollte schließlich Sängerknabe werden, so war es abgemacht worden erst vor ein paar Monaten. Die Natur des Tonerl hatte gefälligst zu warten.

Am 22. November war der erste Schnee gefallen. Der Tag der heiligen Cäcilia, der Schutzpatronin für Musiker. Johann Baptist Weiß, sein Cousin, Pate und Mentor, der Herr Lehrer und Organist aus Hörsching, von Ansfelden aus gesehen jenseits der Traun, quer über die Welser Heide an Aistental vorbei mit seinen imposanten Vierkanthöfen, Vetter Johann hatte dem Tonerl erstmals von der Cäcilia, der Heiligen, erzählt. Und der Vetter würde den Anton in St. Florian als Chorknaben einführen. Und als dann — am Sterbetag des Vaters — beim Eintritt des Knaben Anton ins Stift die Orgel schallte, als stünde an jeder seiner Ecken eine, oder als wäre jede Mauer des Stifts eine Echowand, da glaubte der angehende Sängerknabe, die Heilige spiele ganz für ihn allein in einem weißen Gewand, wobei er die Vorstellung gehabt haben dürfte, dass der Vetter die Schleppe ihres Kleides hielt und ihr dabei noch die Noten umwendete. Aber braucht eine Heilige überhaupt Noten? Die heilige Cäcilia kennt doch bestimmt die ganze Musik auswendig; deswegen ist sie eine Heilige. Und jetzt schneite es an ihrem Tag, und Anton glaubte, die Flocken fielen aus ihrem Kleid — und das so lange, bis nichts mehr von ihrem weiten weißen Gewand übrig war. Aber dann hätte ja die Heilige nichts mehr an; ein Gedanke, der ihn schreckte. Eine nackte Heilige, das ginge nicht an. Dass er sich so etwas überhaupt vorstellte, schon das war Sünde. Er würde sie beichten müssen. Herr, erbarme Dich. So ist das eben, wenn man denkt, sagte der Vetter Weiß, als habe er erraten, was Anton bei diesem sanften Schneefall durch den Kopf ging, da er, der Vetter, ja soeben von der Cäcilia erzählt hatte mit ihrem weißen, unbefleckten Kleid … Beim Denken zersetzen sich die Dinge, aber das ist gut so, Tonerl. Der Vetter Johann nannte ihn noch immer Tonerl, obwohl seine Stimme schon zu brechen und der Kehlkopf sichtbar zu hüpfen begann. Er klang jetzt wie die Krähen über dem Feld, was ihn bedenklich stimmte und belustigte. Wie das wäre, mitten im Kyrie zu singen und dann plötzlich krächzen zu müssen, die Töne zu spalten. So hörte sich das jetzt für ihn an. So wie man Holz spaltete für den Winter, spaltete seine Stimme jetzt Töne, Klänge. Oder spaltete sich nicht eher seine Stimme? Oder gerieten jetzt auch seine Lungenflügel ins Flattern?

Vetter Johann kannte einen Satz aus der Passion der Cäcilia, den er dem Tonerl vorsprach und ihn mehrmals wiederholen ließ: »Es kam der Tag, auf den die Hochzeit festgesetzt war, und während die Instrumente spielten, sang sie in ihrem Herzen dem Herrn allein mit den Worten: Mögen mein Herz und mein Leib unbefleckt sein, damit ich nicht verderbe.« Der Cäcilia brach die Stimme nicht, sagte der Vetter, der Sali und der Nani, deinen Schwestern Rosalia und Maria Anna, auch nicht, nicht den Müttern und Cousinen, nicht den Dirnen. Wir, Tonerl, sind die Beflecker, weil uns die Stimme, die himmlische, die ätherische, bricht. Man wird’s dich lehren in St. Florian. Ja, da wohnt sie auch, die heilige Cäcilia wie in allen Orgeln auf dieser Erde.

Seither beging Bruckner den Cäcilientag mehr als den 4. September, seinen Geburtstag, den er in manchen Jahren vergaß; denn zum September-Anfang schneite es nie, geschweige am Namenstag des Antonius im Frühsommer oder späten Frühling, dem 13. Juni. Alle diese Jahrestage, wie Notenwerte im Kalender. So wollte er sie sich merken. Tage, die man erinnern sollte, müssten klingen, oder man sollte sie zum Klingen bringen — in einem, alles immer in einem. Nichts davon durfte nach außen dringen, nichts.

Einstimmungen in St. Florian und Linz, je erstmalig

Als die Stimme des Choristen Bruckner bald nach seiner Aufnahme in den Chor von St. Florian brach, setzte man ihn als Geiger im Stiftsorchester ein; aber es war sein Orgelspiel, das ihn besonders auszeichnete. Das übermächtige Instrument überwältigte den kleinwüchsigen jungen Musiker nicht; er nahm an ihm Maß und lernte, sich dessen Klanggewalt zu bemächtigen, sie zu nutzen. Der Generalbass erwies sich ihm als ein erster Schlüssel zu dem, was er als Grundlage musikalischer Zusammenhänge kennenlernte. Mit einigen Messen von Haydn und Mozart hatte ihn bereits Vetter Weiß in Hörsching vertraut gemacht.

Hier, in St. Florian, beginnt er, den Zusammenhang von Musik und Religion zu begreifen, aber er wird Beichte ablegen, wenn er in seinem Kunsteifer die Religion mit der Musik glaubt verwechselt zu haben. War es Michael Arneth, der Prälat von St. Florian und Linzer Gymnasialleiter, der dem jungen Anton weismachte, dass der Dienst an der heiligen Musik den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht ausschließe? Oder war Arneth, seines Zeichens auch Aufseher der Gymnasien in der Region, für dergleichen Sottisen zu aufgeklärt? Hatte eher ein verstockter, in seinen Privatdogmen gefangener Geistlicher diese absurde Behauptung aufgestellt, die sich jedoch tief in das Gemüt des jungen Anton einsenkte und lebenslang verhängnisvolle Folgen zeitigen sollte? Ergründen lässt es sich nicht.

Arneth dürfte aber der Grund gewesen sein, weshalb der junge Bruckner nach drei Jahren St. Florian erkannte, dass das Stift nicht auch die Welt war. Es zog ihn fort, aber nicht zu weit. In Arneth hatte er ein Beispiel, ein Vorbild vor Augen, das ihm vermittelte, dass das Unterrichten, das Anderen-etwas-Beibringen, erstrebenswert sei und nicht minder eine Berufung darstelle wie die Musik, die Kunst überhaupt und das geistliche Amt.

Was hat der junge Bruckner gesehen in St. Florian? Nichts als spätes Barock, wobei er schwerlich gewusst haben dürfte, was das späte vom frühen oder hohen Barock unterschied. Die unterschiedlichen Grade der Pausbackigkeit der Putten vielleicht?

Hat er sich in diesen endlosen Korridoren des Stifts verlaufen? War ihm erlaubt, die kaiserlichen Treppen hinauf- und hinabzurennen nach Art der Dreizehnjährigen? Sah er die Gobelins? Betrat er je das Prunkzimmer des Prinzen Eugen, dessen Prachtbett von Figuren bevölkert war, die Türken und Ungarn in der unterwürfigen Haltung der Besiegten zeigten? Verglich der Chorist Bruckner insgeheim diese Pracht mit seiner Behausung, oder nahm sie einfach hin, diese Unterschiede, als gottgegeben? Er sah sie, natürlich, die barocken Rundungen, die Kuppeln und Kreise, Zeichen, Figuren, Formen, die von üppiger Vollkommenheit zeugten. Auch das schien gegeben, so gewollt diese Kunst auch war. Gewiss sah er auch das, die grausigen Szenen auf dem Altar des heiligen Sebastian von Albrecht Altdorfer, die Passion Christi, seine Geißelung, und das gepfeilte Martyrium des Sebastian, jenes des Florian als Deckengemälde, so als stürzte er jeden Augenblick auf die Betenden hinab, und dann dieser Himmel, aufgewühlt wie ein Meer, in Flammen stehend, dazu diese irren Gesichter, zu jeder Gewalttat fähig, die mörderische Dumpfheit, ja »Stumpfsinnigkeit« des Bösen bezeigend.2 Und ob sich so etwas festsetzt in den Fantasien eines Pubertierenden … Hatte er sie gehört, die Namen der Baumeister: Carlo Carlone, Jakob Prandtauer, Johann Hayberger? Was sagten sie ihm? Dass es gelte, Räume zu schaffen und zu gestalten — mit Formen und Farben und Säulen, die Klänge erzeugen?

Und draußen nahmen die natürlichen Dinge ihren Lauf, das Bestellen und Abernten der Felder, die schwelenden, rauchenden Kartoffelfeuer, das Konzert der Bienen und Zikaden im Sommer, die hörbare Winterstille, zu der das Knirschen des Schnees bei jedem Schritt gehörte und das Klirren des Frostes wie das Knarren des Eises im Teich; und drunten strömte, ohne sich zu verströmen, die Donau, deren Wellen zum Haar der Nixen gehörten. Kannte er die Sage vom Donauweibchen damals, die einen jungen Donaufischer für immer zu sich nahm, nachdem er sehnsüchtig nach ihr nachtein, tagaus gesucht hatte auf seinem Kahn, und dieser eines Tages leer ans Ufer zurücktrieb? Hatte der Anblick der immer strömenden, ja reißenden Donau etwas Beruhigendes oder Verstörendes für den jungen Choristen Anton B.?

Als Sängerknabe wohnte Anton B. im Erdgeschoss im Schulhaus am Marktplatz mit anderen, meist jüngeren Choristen. Er wird sie gesehen haben, die kleine Aloisia Bogner, das Töchterchen des Schullehrers, hüpfend, weinend, mit einem rosa Schleifchen im Haar. Er wird sie mädchenhafter wiedersehen. Wie erlebte er dieses Aufgehen im Chor, dieses Sich-darin-Vergessen? Beneidete er den Chorleiter? Wollte er das auch einmal, dirigieren? Über die Stimmen verfügen und selbst dabei schweigen? Einsätze geben, mit den Händen zeigen, wie die Fülle der Klänge in der Luft zu modellieren wäre, um zuletzt Stille zu gebieten. Die heilige Messe erleben in diesen Räumen, in denen die Kirche von Ansfelden gleich mehrmals Platz hätte, die silberhellen Glöckchen bei der Wandlung, das mächtige Geläut davor und danach, die Antwort der Gemeinde, die immer gleich blieb, was auch geschah, gleich was man empfand. Monstranz und Messgewänder, Kerzenflackern und Feier des Abendmahls: heilig, heilig, heilig … Oder war der eine Klang heiliger, der noch schwebte über allem wie der Atem des Heiligen Geistes? Sang der Engel, als er Maria ihre Empfängnis verkündete, so mag sich Anton B., als er noch Sängerknabe war, gefragt haben. Und was ist das überhaupt: Empfängnis? Wer empfängt was? Guter Hoffnung sein, wie die Mutter immer sagte. Elfmal sei sie es gewesen. Gab es für sie danach keine Hoffnung mehr?

Dieses Mönchswort: Wenn du die Musik ernst nehmen willst, die Kunst, dann hüte dich vor den Frauen — es hallte als Echo in ihm. Und er fragte sich in seinem Eisengestellbett, wenn er nachts wachlag und seine Hand unter die Decke zwischen seine Beine glitt, ob das auch für die heilige Maria galt, für Cäcilia, für die Schwestern. Die Hand, mit der sich sonst Musik hervorzaubern ließ, sie war an ihm selbst entdeckerfreudig und verschämt zugleich geworden. Ein und dieselbe Hand heiligte und sündigte — beide Male spielend.

Die Musik, aber sie war doch ein Weib. Sie hieß ja nicht umsonst nicht der oder das Musik. Aber wie stand es um das Das bei Weib? War das Weib etwa keine Frau? Konnte man, wenn man die Musik ernst nahm, dann eben zu dem Weib und dem Mädchen, nicht aber zu Frauen?3 Wie verwirrend alles war …, nicht aber die Tonleitern, auf denen sich hinaufsteigen ließ; die Intervalle, dieses Schreiten in Klängen. Taktstriche waren unumstößlich, eindeutig; Pausen auch. Nicht aber, wie schnell ein Allegro genau war, wie gelassen ein Adagio, und was an Vorhalt ein Sustenuto forderte. Die Notenschrift war deutlich, deutlicher als die Handschriften, auch die seine, die krakelig wirkte, ungelenk, krahnenfußhaft. Um wie vieles gelenkiger fühlte er sich auf der Orgelbank und nur auf ihr; da fiel alle Schwere von ihm ab, die Finger wurden ihm dann läufig, und die Füße vermochten zu fingern. Am liebsten hätte er mit nackten Füßen die Orgel gespielt. Aber das hätte man ihm nicht durchgehen lassen, die Pedale mit bloßen Füßen treten, das wäre gewesen, als hätte man der heiligen Cäcilia Tritte versetzt. Nein, Bruckner, spiele er mit leisen Sohlen. Lasse er seine Füße die Pedale streicheln, so hörte er hinter sich eine Stimme. Und wie recht sie hatte, diese Stimme. Sie sagte auch: Beim Spielen müssen Körper und Instrument eins werden; das gelte für alle Instrumente und ihre Spieler, aber vor allem für Organisten. Werde zur Orgel, Bruckner, und die Orgel sei in dir. Auch das wurde in ihm zu einem Echowort.

Mittlerweile liest er Noten lieber als Fibeln. Die Tonlehre gilt ihm als eine klingende Grammatik, zumindest etwas, das Gedanken zum Klingen bringt. Die Fortschritte, die er macht, sind erheblich.

Und Lehrer Bogner bringt ihm im Schulhaus am St. Florianer Marktplatz auch sonst einiges bei. Er spricht mit dem jungen Anton gerne in Vergleichen. Schau, Bruckner, die Marktstände, da liegt Wissen aus, das du erwerben und weiterverkaufen kannst. Groß ist die Nachfrage nach Wissen; je mehr du anbieten kannst, desto reicher wirst du.

Und die Musik? Bevor sie erklingen kann, musst du sehr, sehr viel über ihre Gesetze wissen; dann kannst du sie anbieten; denn die Ohren da draußen, sie sind habgierig, ernähren sich von Geräuschen und Lauten. Aber wenn sie sich Delikatessen gönnen wollen, dann verlangt es sie nach Klängen, koste es, was es wolle.

Es ist im Jahr 1840, vermutlich in der Fastenzeit, als der sechzehnjährige Bruckner sich — auch auf Drängen der Mutter — für eine Laufbahn als Lehrer entscheidet. Er übersiedelt Ende des Sommers ins nahe Linz und schreibt sich Anfang Oktober in die dortige Lehrerbildungsanstalt ein, die an die Linzer Normal-Hauptschule angeschlossene Präparandie, eine Art Vorbereitungsseminar für angehende Hilfslehrer, in der zum Schloss aufsteigenden Hofgasse 82. Nach Auskunft des seit 1839 mit Bruckner befreundeten späteren Oberlandesgerichtsrates in Wels, Karl Seiberl, wohnte der Lehrerseminarist in dieser ersten Linzer Zeit in der Bethlehemstraße in der Inneren Stadt, an deren nordwestlichem Ende das Elisabethinenkloster liegt, eine damals knapp hundert Jahre alte Herberge für erkrankte Dienstboten und von ansteckenden Krankheiten Befallene. Turm und Fassade waren zum Zeitpunkt von Bruckners erster Linzer Zeit noch im Bau. Ein Kleinst-St.-Florian hätte er somit am anderen Straßenende gehabt. Gesicherter ist seine Unterkunft in der Pfarrgasse 11 im Haus eines Gemischtwarenhändlers namens Adolf Hofmann.

Linz ist in jenen Jahren eine allmählich aufstrebende Stadt, so kleinbürgerlich-krähwinkelig ihr Erscheinungsbild auch war, wie noch Hermann Bahr im Rückblick auf seine Jugend in Linz (um 1860) zu berichten weiß. In der sogenannten Landschaftsschule hatte einst Johannes Kepler gelehrt, und ein in der Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt mit ihrem Floriani-Altar flammende Predigten haltender Jesuit starb hier während einer solchen zur Hexenverfolgung auf der Kanzel. Spuren jenes Großfeuers, das am Mariä-Himmelfahrts-Tag anno 1800 einen Gutteil der Altstadt vernichtet hatte, dürfte der junge Bruckner nicht mehr gesehen haben. Wohl aber die Pferdeeisenbahn als die erste ihrer Art in Europa, die seit 1832 die Stadt mit Budweis verband. Man war gemeinhin wohlsituiert in Linz dank einer (noch) florierenden Textilindustrie, der Wollzeugmanufaktur, bis auch hier wie in Schlesien und andernorts die Dumpingpreise der englischen Textilimporte dieser Großfabrik erheblich zu schaffen machten. In jenem Jahr, als Bruckner nach Linz kam, bereitete sich ein Produktionswechsel in der Stadt vor — von Textilien hin zum Schiffsbau: Ignaz Mayer, Präsident der städtischen Handelskammer und oberösterreichischer Landtagsabgeordneter, gründete eine Schiffswerft, die zum ersten metallverarbeitenden Betrieb der Stadt wurde. Es empfiehlt sich, nicht sogleich die Vermutung zu verwerfen, dass dergleichen Entwicklungen am Lehramtsanwärter Anton Bruckner spurlos vorübergegangen seien, weil er sich eben nur für Musik interessiert habe. Denn von seiner Leidenschaft für Schiffe wird noch die Rede sein.

Zugegeben, unter Anleitung von Johann August Dürrnberger, der an der Linzer Präparandie Harmonielehre und Generalbass sowie Choralgesang unterrichtete, hatte der angehende Lehrer Bruckner sich mehr mit den Messen Mozarts, Joseph und Michael Haydns beschäftigt als mit neuesten Tendenzen in der Industrieentwicklung der Stadt, hatte hier kompetent aufgeführte Ouvertüren von Carl Maria von Weber und Rossini nebst BeethovensVierter Symphonie gehört. Dürrnberger führte ihn in die »Klavier«-Musik Johann Sebastian Bachs ein, wie Bruckner überhaupt mit seinen Lehrern Glück hatte.

Eine Sicht auf Linz aus der Zeit um 1830 zeigt eine Stadt, die etwas auf sich hielt. Dass man hier durchaus auf Mode achtete — schließlich war man sich als Textilstadt etwas schuldig —, dürfte jedoch an Bruckner vorbeigegangen sein.

Auf den nahen Pöstlingberg wird Bruckner gepilgert sein, den Kreuzweg hinauf zur Wallfahrtskirche mit ihren (damals noch) flachen Pyramidendächern. Im Bau befindlich waren die Befestigungsanlagen, die dabei helfen sollten, Linz zu einer Festung werden zu lassen, eine Wahnvorstellung, die noch Hitler bis zuletzt in seinem Berliner Bunker umtreiben sollte.

Zumindest dem Auge waren vom Pöstlingberg die Hügelketten des Mühlviertels erreichbar, die Weite der Landschaft, die Bruckner so wichtig war und blieb.

Der ansteigende Weg zur Präparandie, die Hofgasse hinauf, das hatte etwas Symbolisches: zehn Monate lag Aufsteigen zu einem verwertbaren Wissen: Wie lehrt man die Kleinen lesen, schreiben, Religion, Geographie, wie Harmonielehre, Generalbass und Orgelvortrag? Wie lernt man, um Wissen weiterzugeben? Die Antwort darauf lag 1841 gedruckt vor in Gestalt eines Elementarbuches der Harmonie- und Generalbasslehre des verehrten Dürrnberger, die zu Bruckners kleiner Musikbibel wurde.

Und dann war da ein Name, der alles in den Schatten stellte, was der junge Bruckner bis dahin an Namen gehört hatte: Johann Nepomuk Pauspertl von Drachenthal, seines Zeichens Direktor der Hauptschule und damit auch der Präparandie. Auch wenn man den gestrengen Mann nur mit Herr Direktor ansprach, sofern man dazu aufgefordert wurde, dieser Name klang immer nach; das war kein Name, das war eine Steigerungsform in fünf Schritten. Johann Nepomuk, das hatte etwas von einem Brückenheiligen, Pauspertl, da kamen einem Pausbacken in den Sinn; ein Von also, etwas Höheres; und dann der Gipfel, auch wenn ein Tal vorkam, aber eben Drachen, Ungeheuer: ein Heiliger, der seine eigenen Unholde in ihm zu zähmen verstand oder eben von diesen bedroht wurde? Aber eben nur Dürrnberger verstand sich auf die Harmonielehre und damit auf das Erklären tonaler Zusammenhänge. Aber irgendwie wirkte von Drachenthal wie ein den Schulbetrieb zusammenhaltender Generalbass.

Nach den Worten der Psalmen kommt von den Bergen Hilfe; man schaut zu ihnen auf, um Hoffnungsschimmer zu entdecken. Der junge Bruckner wandert den Pöstlingberg hinauf, um Überschau zu gewinnen. Unterrichten will er, instruieren, lehren, aber in erster Linie, um sich auf diese Weise weiterzubilden. Er ist nicht, wofür ihn andere halten, mochte er gedacht haben mit Blick über Linz; auch wenn er sich meist so verhält, dass man durchaus meinen könnte, er sei träge, lethargisch, schlicht gestrickt, ohne wirkliche Willenskraft. Mag sein, dass ihm hier oben auf dem Berg, einem höheren Hügel eigentlich nur, eine Art erste Erleuchtung kam. Denn so hatte er noch nie einen Sonnenuntergang wahrgenommen. Oder war das bereits ein Sonnenaufgang? Zuweilen geriet seine zeitliche Vorstellung etwas ins Rutschen, so genau es dagegen mit der Zeit auf den Notenblättern zuging. Da herrschte zeitliche Ordnung: Takt war Takt, und in Sechzehnteln ließ sich hüpfen. Nein, es dämmerte ihm auf dem Berg, dass er sich durchaus weiter so verhalten könne, wie er nun einmal war. Wenn man ihn für einen patschigen Tölpel hielt, dann mochte man das ruhig tun. Was würde es für einen Sinn ergeben, zu versuchen, anders aufzutreten? Das wäre doch nur künstlich. Was in ihm ist, kommt es nicht darauf an, die ausgebeulten Hosen hin, das überlange Jackett her? Eine Künstlermähne, die hatte der Beethoven schon, Locken der Mendelssohn reichlich, wie man auf Stichen sah, und gepuderte Perücken waren endgültig passé. Aber ein Musiker mit kurz geschorenem Schopf, das war doch auch etwas. Zudem wollte er bartlos bleiben.

Lehren — eines Tages würden sie Herr Lehrer zu ihm sagen wie damals zum Vater.

Er lauschte. Balzte hier ein Auerhahn? War das die richtige Zeit dafür? So etwas müsste er wissen, wenn er unterrichten wollte. Alles muss man wissen als Realschullehrer, weil die Kinder immer so viel fragen. Sein Bruder Ignaz verstand viel mehr von Pflanzen, Blütenformen. Er pflückte sie lieber, Veilchen vor allem und Astern, schaute sie an, hörte sie leise läuten. Schatten hörte er rascheln, ja sogar das, zuweilen.

Vom Pöstlingberg aus konnte man ahnen, wo Ansfelden lag; er glaubte St. Florian zu sehen. Der Umkreis seines Lebens bislang. Wann wird wohl aus einem Umkreis ein Weltkreis? Auch das müsste man wissen, wenn man in einer Stadt lehren will, in dem ein Kepler einst lehrte. Aber um zu lehren, muss man lernen. Dazu war er bereit; darauf war er sogar begierig.

So viele Musikstücke kannte er in- und auswendig. Auch sie würden einmal zum Lehren gehören. Oder sollte er solche Stücke nicht selbst zu schreiben versuchen? Wäre das nicht viel reizvoller, mit dem zu lehren, was man selbst geschrieben hat? Das wäre dann kein toter Lehrstoff. Das machte ihm etwas Angst, das Tote an den Lehrstoffen, mit dem das Lernen nur erlahmen kann.

Mag sein, dass vor oder nach einer der ersten Stunden Dürrnberger seinem neuen Schüler von Marianne Jung erzählt hat, die im Haus Nummer 4 des Pfarrplatzes geboren wurde. Sie habe als Komparsin und in Nebenrollen, Chorsängerin und Tänzerin ihre Auftritte gehabt, als Harlekin verkleidet; auch sei sie in Tanzschritten einem großen Ei entschlüpft, das zur allgemeinen Belustigung über die Bühne gerollt sei. Das war bevor der Bankier und Senator von Willemer aus Frankfurt sie unter seine Fittiche genommen und schließlich geehelicht habe, als Goethe sie als Fünfundsechzigjähriger kennen und lieben lernte. Sie sei die Suleika in seinem West-östlichen Divan und habe, so munkelte man, das eine oder andere Gedicht davon selbst verfasst. Warum er das erzähle? Weil er, Anton, sich einmal die frühen Suleika-Lieder des Franz Schubert vornehmen solle. Geheimes aus dem westöstlichen Divan von Goethe habe er sie genannt.

Es geht darum, Anton, zu zeigen, was Lieder können. Man kann sie studieren, einfach einmal zwischen den wohltemperierten Klavierstücken. Und dann überlege dir, was es bedeutet, dass Bachs große Messe und SchubertsSuleika beide in der gleichen Tonart stehen, h-Moll. Und dann denke dir dabei, wie diese Komposition klänge, wenn den Gesangspart, sagen wir, ein Cello übernähme … Denke immer in Möglichkeiten, Anton.

Dürrnberger hielt seinen fleißigsten und schon bald erkennbar begabtesten Schüler dazu an, Kompositionen der Großen abzuschreiben, so wie man in der Kunstakademie dazu angehalten wird, Gemälde zu kopieren, Skulpturen abzuzeichnen, BachsKunst der Fuge zum Beispiel, Auszüge aus Haydns Kammermusik; denn es gab ja nicht nur die großen Messen der Wiener Vorbilder; sie bestanden schließlich aus musikalischen Elementen, die sich zerlegen ließen wie die Stoffe in der Chemie. Und es gab nicht nur die Minoritenkirche in Linz, wo Dürrnberger diese großen Messen aufführte, sondern auch den Linzer Musikverein, in dem der gebürtige Prager Karl Joseph Zappe Orchestermusik zu Gehör brachte, die hintergründigen, scheinfrivolen Ouvertüren des Carl Maria von Weber und vor allem sie, die Vierte Beethovens. Es war die erste Symphonie, die der junge Bruckner in einer Aufführung erlebt hatte. Und alles Erste prägt. An den sonoren Klang der Messen und ihre ritualisierte Abfolge von Stücken hatte sich sein Ohr längst gewöhnt: Kyrie eleison — Gloria — Credo — Sanctus & Hosianna & Benedictus — Agnus Dei — Benedicamus. Daran ließ sich nicht rütteln, auch wenn man sich eine Missa brevis gelegentlich leistete, wenn es zügiger gehen sollte; für ein Hochamt aber untauglich. Doch das war etwas anderes, diese Vierte von Beethoven in heiterem B-Dur, wie Dürrnberger ihm mit auf den Weg gab. Aber der junge Bruckner hörte eigentlich nur das einleitende Adagio, düster, unheimlich (Direktor von Drachenthal entdeckte er in der Loge), hörte es auch dann noch, als längst das Menuett erklang, nichts als ein reines Allegro, einmal vivace zu nehmen, dann ma non troppo im Schlusssatz; doch da war es immer noch, dieses b-Moll-Adagio des Anfangs; dieser Anfang hörte einfach nicht auf. Er hörte ihn noch nachts, zurück in seiner Kammer in der Pfarrgasse, dieses ominöse Andeuten von Unheil, dieses tonschrittweise Aufbauen von Spannung bis zu einem lösenden Akkord, aber nur, um diesen Anfang in seiner Verdunkelung zu wiederholen, ein doppelter Anfang, als sollte er nicht verklingen oder sich so lange hinziehen, bis sich der Streicherklang lichtet und mit Becken und Posaunen sich ein Umschwung ankündigt, der dann sogleich in rhythmische Exaltiertheit umschlägt, wobei die Feinsinnigkeit der Flöten- und Oboentöne, der Klarinetten und auffallend prominenten Fagotte wie mahnende Erinnerungen erhalten blieb. Dieses Allegro vivace des ersten Satzes hatte etwas Befreiendes, so, als habe der Komponist seine düstere Stimmung abgeschüttelt, als sei Licht durch den grauen Himmel gestoßen, als fänden die übermütigen Töne zu ihren Ordnungen.

Das alles wollte er sich merken, besprach sich mit Dürrnberger darüber, aber nicht gleich am nächsten Tag; denn diese Klänge mussten sich erst setzen in ihm. Sie hatten ihn aufgewühlt, verwirrt. Das war eine Musik, die sich von allen Worten befreit hatte. Sie hatte ihre eigene Form, von keiner Messordnung genötigt. Oder waren allein das schon sündige Gedanken? Wie kam er dazu, das zu denken? Verdankte er nicht alles, auch sein Leben in der Musik, dem Glauben an den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist, die Jungfrau Maria und die Heiligen? Aber war das Heilige mehr als nur die Heiligen?

Nein, am nächsten Tag ging es weiter mit dem Lernen, wie man paukt, mit Notenübungen, Schreib- und Lesemethoden in der Hofgasse 82, immer auf dem Weg hinauf zum Schloss, auch wenn es ihm, dem bloßen Präparanden Anton Bruckner, verschlossen blieb.

Und die Plagerei, der Frondienst am Wissen, wie Direktor von Drachenthal das in seiner Rede zum Schulanfang gesagt hatte, lohnte. Nach zehn Monaten konnte der junge Bruckner neun Sehr gut in allen Prüfungsfächern sein Eigen nennen. Ihm wurde bescheinigt, dass er, der »Candidat sehr fleißig dem Unterricht beigewohnt und sich in den Sitten sehr gut verhalten« habe. Er hatte es schriftlich und zur Erleichterung der Mutter, dass er als »Gehülfe für Trivialschulen« geeignet sei. Und prompt bekam er seine erste eigentliche Stelle als Hilfslehrer zugewiesen: in Windhaag bei Freistadt im Oberen Mühlviertel.

Nachrichten aus der musikalischen Provinz: Windhaag und Kronstorf

Für Herbst 1841 war der Ortswechsel angesagt; genau ein Jahr nach seinem Eintritt ins Linzer Lehrerseminar sollte seine Tätigkeit als Schulgehilfe in Windhaag beginnen, seine erste Stellung. Den Sommer über blieb er zunächst noch in Linz, Dürrnbergers und dessen musikalischen Instruktionen wegen, besuchte irgendwann vermutlich die Mutter in Ansfelden, wohl für eine etwas längere Zeit; war dann wieder der »Tonerl«. Sehen wir ihn durch Kornfelder streifen, unter großen Sonnenblumen liegen? Versuchte er, die Laute der Natur in Noten umzusetzen? In jedem Fall ging er seine Abschriften wieder und wieder durch — im Schatten der Apfel- und Birnbäume, bis ihr Laub sich färbte und die Ernte begann.

Lehrer — ganz wie der Vater, tuschelten die Ansfeldner, die Doppler, die Tobler, die Pichler und Sandgruber. Nach wo? Windhaag? Wenige kannten die Gemarkung. Und das nach Linz, dieser Perle von Stadt, von Schönen bevölkert. Was will der Tonerl jetzt dort droben in Windhaag? So ist das halt mit den Hilfslehrern, die müssen gehen, wohin man sie schickt.

Dort droben — das war wohl höher als der Pöstlingberg, dachte Bruckner. Dort, wo man dem Wind einen Haag gebaut hat, damit er sich darin verfange. Von der Afrika-Karte, die in der Linzer Präparandie in Elfenbein gerahmt aufgehängt war, kannte er die Windhoek-Bucht im Südwesten des Schwarzen Kontinents. Das klang doch verwandt: Windhaag und Windhoek … Ein Zweihundert-Seelen-Dorf, das Windhaag, sagte jemand in Ansfelden, der es wissen musste …

Ortswechsel per Pferdeeisenbahn ins Mühlviertel, streckenweise der Großen, Kleinen und Steinernen Mühl entlang. Bruckner hörte nur Müh’. Manche schwärmten: Moore gebe es hier und Bürstlingswiesen, urige Felsformationen aus Gneis und Granit; den Fischotter finde man hier ebenso wie den Luchs, und der Böhmische Enzian blühe hier, auch wenn er jetzt schon verblüht sei. Windhaag? Da müsse er in Freistadt auf Botengespanne umsteigen. Denn ab dort geht’s hinauf. Es erwies sich zudem, dass er die letzte Strecke mit seinen Siebensachen weiter bergan marschieren musste. Die Aussicht entschädigte ihn.

In Windhaag gab es keine Straßennamen. Die Häuser waren wie vielerorts nur nummeriert. Mehr als vierunddreißig Häuser gebe es hier nicht, sagte ihm eine alte Frau am Dorfbrunnen. Also doppelt so viele Häuser wie Jahre, die ich alt bin, dachte Bruckner. War das nun viel oder wenig? Er suche das Hauserl vom Schulmeister Fuchs. Das sei die Vierundzwanzig. Ein gutes Zeichen dachte Bruckner, das Jahr seiner Geburt. Zahlen hatten einfach etwas Magisches. Und in der Musik gerieten ihre Verhältnisse ins Klingen …

Schulmeister Franz Seraph Fuchs begrüßte seinen neuen Hilfslehrer, der mit eindrucksvollen Empfehlungen kam, allzu eindrucksvollen vielleicht, auf die Fuchs ohnehin nichts gab, hieß ihn willkommen — weder freundlich noch unfreundlich. Wie selbstverständlich wies er seinem neuen Schulgehilfen die Schlafstätte zu: im oberen Hausflur. Dazu ein Jahresgehalt von zwölf Gulden, freie Kost und dieses enge Quartier für Schul- und Kirchendienst: das Taganläuten um 4 Uhr im Sommer, mähen, für Messwein sorgen, dem Pfarrer in sein Messkleid helfen, ministrieren, die Sakristei in Ordnung halten, winters den Schnee räumen und zur Belohnung bei Singmessen die Orgel spielen, nebst anfallender jahreszeitgemäßer Feldarbeit nach dem Schuldienst. Viel warfen die Felder ohnehin nicht ab; der Boden war zu karg.

War er hier in Windhaag nun Hilfslehrer geworden oder Knecht? Doch, in der zweiklassigen Volksschule hatte er in allen Fächern die kleinere Klasse zu übernehmen, der Unterricht war auf vormittags und nachmittags verteilt. Das Schulgeld konnten die Eltern der kleinen Gemeinde nur unregelmäßig aufbringen; entsprechend haperte es mit der Auszahlung des Salärs an Gehülfen. Dafür häuften sich die Naturalien im Schuppen wie beim Landarzt. Und dann war da noch das Gebetsläuten auf 21 Uhr zu bestreiten, Hus-Läuten genannt, was an die Hussiteneinfälle erinnerte.