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Romantik E-Book

Rüdiger Görner

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Beschreibung

"Europäischer gestimmt war man nie als in der Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen." Die Kunst der Romantik war von Anfang an dazu gedacht, Grenzen zu überschreiten – der Genres, der Kunstgattungen oder auch der Nationalstaaten. Dichter versuchten sich an der Musikalisierung des Empfindens und der Sprache, Schriftstellerinnen und Künstler aller Herren Länder begegneten einander in den Salons und auf den Reiserouten Europas. Manch schöpferischem Geist gelang es sogar, all dies in einer Person zu vereinen: E.T.A. Hoffmann etwa wurde nicht nur durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen zum europäischen Phänomen, seine Virtuosität umfasste neben dem Schreiben auch die Musik, das Zeichnen und die Wissenschaft. Rüdiger Görner fängt den Zauber einer Epoche ein, in der plötzlich alles möglich schien.

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Seitenzahl: 599

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Rüdiger Görner

Romantik

Ein europäisches Ereignis

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © akg-images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961916-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011325-7

www.reclam.de

Inhalt

Préludes mit weiblicher Note …

Kapitel I Bestimmungsversuche: Zugänge zur Romantik

Kapitel II Britisch-deutsche Verschlingungen in der Romantik

Kapitel III Romanhafte Romantik

Kapitel IV Lyrische Weltbezüge oder: »Schläft ein Lied in allen Dingen«

Kapitel V Schwellentanz: Das romantische Ballett als symbolische Kunstform

Kapitel VI Romantisch Wissen schaffen

Kapitel VII Blühende Ruinenlandschaften, Nachtwelten und andere – auch theoretische – Kunsthorizonte

Kapitel VIII Da capo: die romantische Sprache der Musik, literarisch gehört

Kapitel IX ›Productive Imagination‹ und religiöse Anklänge in der englischen und deutschen (Spät-)Romantik

Kapitel X Finale con moto oder: Wie die Romantik verstehen?

Ausblicke

Ein Aprèslude

Literaturhinweise

Abbildungsnachweis

Worte des Dankes

»Ich habe ein tiefes Heimweh nach fremden Ländern.«

Rahel Varnhagen (um 1810)

»Die romantische Poesie faßt alles in sich was das ganze Europa in den folgenden Zeiten aus eigener Kraft hervorgebracht hat.«

Karl August Varnhagen von Ense, Über den literarischen Geist des Zeitalters (1804)

»Das Ende der Romantik, zu der ich noch gehöre, drückt sich auf alle Weise aus, auch und namentlich durch das Erbleichen und Absterben der Sexual-Symbolik, die fast identisch mit ihr ist. (Parsifal)«

Thomas Mann, Aus dem Tagebuch vom 24. Mai 1921

»Amerika kennt noch die Romantik des Schienenstranges.«

Wolfgang Koeppen, Amerikafahrt (1959)

»Ich lese Ihnen jetzt eine Stunde Novalis-Sätze vor, sagte er zu mir, und er blieb, während ich doch auf dem scheußlichen Loos-Sessel sitzen hatte müssen, stehen und las mir tatsächlich eine Stunde lang Novalis-Sätze vor.«

Atzbacher über Reger in: Thomas Bernhard, Alte Meister. Komödie (1988)

Préludes mit weiblicher Note …

I … in As-Dur

Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen. Ihr vorrangiges Mittel war das Poetische; ihr Hauptthema die Psyche. Ihr bevorzugtes Ausdrucksmedium wurde überall verstanden, wie Joseph Haydn (1732–1809) zu antworten wusste, als man ihm in Wien zu bedenken gab, dass man ihn, der des Englischen nicht mächtig war, in London nicht verstehen würde: Musik verstehe die ganze Welt – damals tat das zumindest die europäische.

Romantisieren, wie es der Dichter Novalis (1772–1801) als universales ästhetisches Prinzip forderte, bedeutete in erster Linie: die Musikalisierung des Empfindens und seiner künstlerischen Umsetzung, in welcher Kunstform auch immer. E. T. A. Hoffmann (1776–1822), weltweit als Universalromantiker anerkannt, imaginierte in seiner schizophrenen Kunstfigur Johannes Kreisler einen erzählenden Musiker, der »pianissimo mit gehobenen Dämpfern im Baß den vollen As-Dur-Akkord« greift, dessen »versäuselnde Töne« ihn zum Sprechen bringen; er erzählt daraufhin in verschiedenen Tonarten, wobei dieses Erzählen einem Improvisieren in Worten gleicht.1

Reflektieren wir denn eingangs auch in quasi tonartenhaft vorgegebenen Stimmungen, stilistischen Schattierungen, vorspielgleichen gedanklichen Klangfärbungen, und versichern wir uns dabei der Form des Prélude, derer sich romantische Musiker so gerne bedienten. Das Prélude ist eine musikalische Vorskizze, ursprünglich als Einstimmung gedacht, wobei diese Vorspiele nicht selten Hauptsachen enthielten, Leitthemen für ganze Werke und Entwicklungen. Um es paradox zu sagen, was gleichfalls eine beliebte Aussageform in der Romantik war, im Prélude drückten sich schlussfolgernde Vorwegnahmen aus. Ich möchte nämlich auch in der Form der Darstellung, der Sageweise, mit zum Ausdruck bringen, dass die Romantik Ungewöhnliches bot auf eine Art, die uns bleibend zu beschäftigen hat: (sozial-)politisches Engagement und Herz-Schmerz-Poesie, philosophischer Tiefgang und Ironie, Spiel mit Formen undemanzipatorische Ansätze, Gefühlsauslotung und (natur-)wissenschaftliche Analyse. Das soll in Anspielung auf Tonarten geschehen, deren Klangcharakter die Romantik bevorzugt verwendete.

In den verschiedenen Kulturen Europas erwies sich das Romantische als ein Thema mit nationalen Variationen, die zeitversetzt wirkten. So klein die künstlerischen und intellektuellen Kreise in den einzelnen Ländern auch gewesen sind,2 in denen diese Variationen ›gespielt‹ wurden, sie übten doch erheblichen Einfluss auf die Selbstfindung der bürgerlichen Gesellschaften aus.

Kinder der Aufklärung waren die frühen Romantiker allesamt – auch und gerade im Hinblick auf ihre politische, auf Europa bezogene Einstellung.3 Sie probten im Schatten der Französischen Revolution und der Bewusstseinskritik Immanuel Kants die quasi radikale Gemeinschaft, das aber als Erzindividualisten, und verschwisterten sich quer durch Europa im Namen der Künste, die sie verflechten, wenn nicht gar vereinigen wollten.4 Friedrich Schlegel (1772–1829) etwa wird sich am Ende seines Aufenthalts in Paris (1802–04) dazu entschließen, die Schriften Gotthold Ephraim Lessings neu herauszugeben, obwohl er selbst nicht gerade ein Musterbeispiel für Lessing’sche Toleranz war. Das Urteil des von der Aufklärung her die frühe Romantik bedenkenden Romanisten Werner Krauss hat an Gültigkeit und Triftigkeit nichts eingebüßt: »Die Romantik ist zunächst Modernismus« gewesen,5 bevor sie sich der Restauration andiente.

Wie so oft schufen die ersten Vertreter einer neuen Zeitkultur, in diesem Fall die frühen Romantiker, zunächst eine culture mineure, eine Minderheitenkultur im Widerstand gegen den mainstream, bis diese selbst zur Mode wurde – und durch ihre romantisierenden Trivialnachahmer nicht selten zu einem ans Kitschhafte grenzenden Klischee. Man ließ die Perücken verstauben und trug das Haar offen; die Frauen in diesen intellektuell-künstlerischen Kreisen lockerten ihre Mieder. In den Salons in Berlin, die geistreiche Frauen jüdischer Herkunft als Orte geistiger Emanzipation begründet hatten,6 rief man die Republik des Geistes im Namen der Universalpoesie aus. Die Gesprächskreise im Hause von Rahel Varnhagen (1771–1833), Henriette Herz (1764–1847) und Dorothea Veit (1764–1839), der Tochter des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn, zogen die Literaten magisch an.7

Die Salons der romantischen Frühzeit frequentieren etwa die Gebrüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel (1767–1845), die man bald als die Gedankenschmiede der Romantik wahrnahm, die Wissenschaftler Wilhelm und Alexander von Humboldt, der Cheftheologe der Romantik, Friedrich Schleiermacher (1768–1834), sowie – als ungekrönter König in republikanischen Phantasien – der Dichter Ludwig Tieck (1773–1853);8 am Rande gehörte auch Novalis dazu. Man schätzt jedoch, dass in Berlin um 1798 gerade einmal einhundert Salonisten am ›Projekt Romantik‹ beteiligt waren – mit den Schlegels als Zentralgestirn und Novalis als geistesblitzendem Trabanten. Eine ähnliche Anzahl sammelte sich wohl in Jena um den jungen rebellischen Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Bedeutend höhere Zahlen sind auch in den anderen europäischen Zentren und Schauplätzen der Romantik unwahrscheinlich. Aber was besagen schon Zahlen. Sie waren schon damals »Frevel«. Weitaus wesentlicher war die Wirkung dieser Einzelnen.

Als Zeugnis aus der Spätzeit dieser Gemeinschaft der Einzelnen, die sich mehr oder weniger vom Geist der Kunst für auserwählt hielten, mag dieses Bild der Bilder dienen, das von wahrer Eintracht unter kurzzeitig annähernd Gleichgesinnten geprägt scheint – man könnte auch sagen: Es übermalt ihre Spannungen. Es handelt sich um eine Ikonographie europäischer Romantik, geschaffen von Josef Danhauser am Ausgang der romantischen Kunstepoche (1840) im Auftrag des bedeutenden Wiener Klavierbauers Conrad Graf.

Abb. 1: Josef Danhauser, »Liszt am Flügel« (1840). Alte Nationalgalerie zu Berlin

Der Betrachter dieses Gemäldes soll sich wie ein Zaungast fühlen dürfen, gar wie ein Eindringling in diesen Kunstsalon. Zu sehen ist des Wiener Bildkünstlers Rückblick auf eine urromantische Szene, die Danhauser »Liszt am Flügel« (s. Abb. 1) nannte. Danhauser schart die prominenten Vertreter der Künste um Franz Liszt (1811–1886), der im Frühjahr 1838 und im Winter des darauffolgenden Jahres in Wien auf einem Graf-Flügel konzertiert hatte. In dieser Zusammenstellung hatte sich diese Künstlergruppe nie getroffen, schon gar nicht in Wien; wenn überhaupt wäre das eher in einem Pariser Salon möglich gewesen, etwa in jenem des Bildkünstlers Ary Scheffer (1795–1858): Einträchtig sich dem Spiel Liszts hingebend zeigt das Gemälde die Schriftstellerin George Sand (1804–1876), den Violinisten Niccolò Paganini (1782–1840), die Schriftsteller Alexandre Dumas d. Ä. (1802–1870) und Victor Hugo (1802–1885), den Komponisten Gioachino Rossini (1792–1868) und schließlich Liszts Geliebte, die Schriftstellerin und Historikerin Gräfin Marie d’Agoult (1805–1876), die ihrer beider Tochter Cosima das Leben schenken wird, der späteren zweiten Frau Richard Wagners. Bedeutsam sind die Verstorbenen, die nur als Kunstwerke, als Bild im Bild, präsent sind: der über allem thronende Beethoven und der den Hintergrund diskret dominierende englische Poet Lord Byron (1788–1824).

Einen bildenden Künstler sucht man auf diesem Gemälde jedoch vergebens, kein Eugène Delacroix (1798–1863) in Sicht, ein William Turner (1775–1851) schon gar nicht. Auch die Komponisten Clara (1819–1896) und Robert Schumann (1810–1856) fehlen, die beide zu der Zeit in Wien auf einem Graf-Flügel konzertierten. Aber Schumann war in Wien eben als vermeintlicher ›Revolutionär‹ eher verdächtig, auch wenn George Sand literarisch als Libertine weitaus ›revolutionärer‹ war. Der unsichtbare Urheber dieses Bildes, Danhauser selbst, vertrat die bildenden Künste und hatte damit die anderen buchstäblich in der Hand – oder eben am Pinselende, als seien sie die Marionetten des Malers. Seine visuelle Macht ermöglichte es ihm, sie alle zusammenzubringen, das Spiel Liszts sozusagen sicht- und hörbar zu machen.

Beethoven, der Abgott der Romantiker, beherrscht die Szene. Hector Berlioz (1803–1869), ein weiterer großer Abwesender auf diesem Bild (manche haben ihn mit Victor Hugo verwechselt, der seinen Arm auf die Rückenlehne von George Sands Sessel gelegt hat), stand Beethoven eher skeptisch gegenüber, nicht anders als der andere große Abwesende, Frédéric Chopin (1810–1849). Auf Beethovens Spuren wandelte in jener Zeit kein Musiker bewusster als Liszt. Unter den Literaten tat E. T. A. Hoffmann dasselbe, dem freilich der kultivierte Salon weniger behagte als die rauchgeschwängerten Weinstuben in Bamberg und Berlin.

Unzweifelhaft schuf Danhauser, der selbst erst am Ende seines Lebens aus Wien herauskam und dann bis Holland reiste, mit diesem Gemälde, »Liszt am Flügel«, einen bildsymbolischen Höhepunkt europäischer Romantik.9 Es zeigt Franz Liszt in souveräner Solistenpose, in schwarzen Samt gekleidet mit androgyn wirkendem Pagenhaarschnitt, neben sich den Hut der Geliebten auf der Sitzbank. Als Danhauser diese imaginierte Szene malte und vollendete (1840), erschienen soeben die Klaviertranskriptionen, die Liszt von der Fünften, Sechsten und Siebenten Symphonie Beethovens angefertigt hatte, dessen Namen er für »heilig« hielt, wie er im Vorwort zu den Transkriptionen verkündete.10 Liszt, der romantische Heros des Klaviers, hatte das rechtmäßige Erbe Beethovens angetreten. Diese Transkriptionen hatte er übrigens 1837 in Nohant, dem Landsitz der George Sand, und in der Gesellschaft Marie d’Agoults erarbeitet. Unter Liszts zahlreichen Liebhaberinnen erwies sich freilich Euterpe, die Muse der Musik, als die wesentlichste. Mit diesen Klavierbearbeitungen hatte Liszt signalisiert, dass er das zu seiner Zeit gewaltigste orchestrale Korpus buchstäblich in der Hand und damit gefügig sowie für den Hausgebrauch verfügbar gemacht hatte.

Fast alle Künstler auf diesem Gemälde schauen auf die Beethoven-Büste, auch der spielende, stumm Zwiesprache mit ihr haltende Liszt. Nur die Gräfin d’Agoult scheint Liszt anzubeten, dem Virtuosen und Liebhaber beinahe zu Füßen liegend – vom Hals- und Brustansatz der Beethoven-Büste abgesehen bietet ihre obere Rückenhälfte die einzige leicht verführerische Blöße auf diesem Gemälde; George Sand schmachtet scheinbar ebenfalls, in Männerkleidung freilich – die Frisur gleicht jener Liszts, das schmale Gesicht mit seinem wissenden Ausdruck auch. Beethoven thront als Büste vor gewittrigem Hintergrund, entblößt, ungeschützt, unanfechtbar – der Modellfall eines Künstlers, der Künstler der Künstler …

 

Wer Künstler und ihre Zeit will verstehen, muss in ihre Welten gehen – so wollen wir eines der »Zahmen Xenien« Goethes für uns abwandeln und uns auf den Weg machen. Gehen wir denn in die Romantik wie sonst nur in die freie Natur oder ins Kino, das aber jetzt mitten in einer Stadt, der europäischen Stadt: Paris. Unser Ziel liegt zwischen Pigalle und der Place de Clichy, in der Rue Chaptal No 16, und nennt sich Musée de la Vie Romantique. Je näher ich meinem Ziel komme, desto stärker regnet es. Die noch unbelaubten Bäume entlang der engen Auffahrt zum Eingang des von der Straße in einen Garten zurückversetzten (rez-de-chaussée) Museums triefen. Es handelt sich um das Stadthaus des holländischen Künstlers Ary Scheffer, der hier 1827 erlesenem Publikum seinen Salon öffnete.

In einem Vorgebäude befindet sich die Ausstellung Cœurs du Romantisme dans l’Art Contemporain, »Herzen des Romantischen in der Kunst der Gegenwart«. Sieben Ausstellungsbereiche erwarteten den Besucher: das offene Herz, das künstlerische Herz, das symbolische Herz, das liebende Herz, das gebrochene Herz, das gezeichnete Herz und das ewige Herz. Bei so viel ›Herz‹ fehlt das Klopfen nicht. Und genau das forderte Alfred de Musset, der auf einer der Schautafeln mit der Aufforderung zitiert wird: »Poche an dein Herz, denn dort befindet sich das Geniale.« Der so empfohlene Weg nach innen führt jedoch zu äußerst extrovertiert gearbeiteten Herz-Stücken, einschließlich einer kleinen Filminstallation, die eine offene Herzoperation zeigt. Danach gelangt der Besucher ins Herz der museal aufbereiteten französischen Romantik, ins Haus des Künstlers Ary Scheffer, der in Paris zunächst als Zeichenlehrer der Kinder des künftigen Bürgerkönigs Louis-Philippe Fuß fassen konnte.

Die Romantik besteht aus Stimmungen und großen Namen. Man muss diese Namen nennen, immer wieder, weil von ihnen bis heute eine Aura ausgeht, die jene Stimmungen mit erzeugt, die ihre Werke ausstrahlen. Hier in diesen recht engen Räumen gaben sie sich ein Stelldichein, die Stimmungen und die Namen: George Sand und Frédéric Chopin, Eugène Delacroix und Gioachino Rossini, der Komponist Charles Gounod (1818–1893) und Franz Liszt, die Opernsängerin Pauline Viardot-García (1821–1910) und der Bildhauer Auguste Clésinger (1814–1883), der Rodin jener Tage. Die Räume sind dunkel, schließlich soll ›romantische Stimmung‹ simuliert werden. Etwas Licht flackert im Salon George Sand, in dem auch einer der unzählig vielen, über ganz Europa verteilten Gipsabgüsse von Chopins Hand liegt. Es riecht muffig hier.

Der Hausherr ließ sich zu seinen figurativen Bildern gern von literarischen Vorlagen inspirieren: GoethesFaust, Gottfried August BürgersLeonore, Walter ScottsThe Heart of Midlothian und ByronsManfred standen im Frankreich der Romantik hoch im Kurs, Faust vor allem, vermittelt durch die bewundernswerte Übertragung von Gérard de Nerval (1808–1855). Zu einem europäischen Ereignis wurde Goethes Faust in der Romantik jedoch in erster Linie durch die Musik. Louis Spohrs (1784–1859) Faust-Oper, Fausts Verdammnis von Hector Berlioz, SchumannsScenen aus Goethe’s Faust, WagnersFaust-Ouvertüre und LisztsFaust-Symphonie sind markante musikschöpferische Umsetzungen von Goethes Jahrhundertwerk.11

Im Musée de la Vie Romantique glaubt man, mit den französischen Romantikern auf engstem Raum flüsternd zu verkehren, wobei die Dielen und Treppenstufen nur allzu vernehmlich knarren, als mokierten sie sich über diese Intimität. Dieses Knarren passt nicht zur Hand Chopins, die Préludes (op. 28) auf einem Klavier hervorzauberte, auf dem noch die große Wanda Landowska um 1910 spielte.12ChopinsPréludes haben etwas von getupften Klängen, sind musikalischer Pointillismus; noch in ihrem Verklingen sind sie unbedingte Gegenwart. Später werden sie, wenn wir uns an ihre Gegenwart erinnern, zu Klangspuren einer vie romantique, wo immer sie sich leben lässt.

II … in cis-Moll

Weshalb nur verklärte die Romantik – von Weißenfels bis Rom und Paris – die tuberkulöse »Auszehrung« und hielt sie für die Krankheit der genialen Künstler? Die Wirklichkeit dieser Krankheit war grauenvoll, mit übelriechendem blutigem Auswurf. Was gab es da zu idealisieren? Mit der Syphilis ließ sich nicht ähnlich verfahren. Und warum nicht? Weil es bei der Auszehrung um den Atem ging, um das Aushauchen dessen, was der Geist seinen Lieblingen eingehaucht hatte.

In der Romantik entdeckte das Ich sein Unbewusstes in der Traumwelt; es erahnte Abgründe in sich selbst. Dieses labile Ich geriet und blieb in Bewegung. Befand es sich an Land, ›wanderte‹ es, und auf hoher See erlitt es Schiffbruch selbst bei Flaute; in der Stadt wurde es zum Flaneur. Flaniert man heute nicht weit von der Place de Clichy die Rue de St-Petersbourg in südwestlicher Richtung entlang, stößt man auf die Place de l’Europe, auch eine Métro-Station, von der Straßen sternförmig ausgehen, die nach europäischen Städten benannt sind, ein einmaliges Straßenensemble gleich hinter der Gare St-Lazare. Durchschnitten wird es von der breit angelegten Rue de Rome, die an eine andere Art Romantik erinnert, eine urbane Ruinenromantik.

Abb. 2: Kupferstich aus François-René de Chateaubriands Autobiographie Mémoirs d’outre-tombe (1848–50)

Sie erschließt sich einem diesmal nicht durch Kupferstiche von Giovanni Battista Piranesi, sondern durch jene, die François-René deChateaubriands Autobiographie Mémoirs d’outre-tombe (1848–50) illustrieren (s. Abb. 2), Erinnerungen von jenseits des Grabes, mit denen sich der ›Vater der französischen Romantik‹ in die Weltliteratur eingeschrieben hatte. Kein europäischer Romantiker war weltläufiger, weltkundiger als Chateaubriand (1768–1848), dem freilich gerade diese Eigenschaft nicht in die Wiege gelegt worden war. Er war der Spross einer Adelsfamilie aus der tiefsten bretonischen Provinz, in der er sich auch bestatten ließ, und zwar auf der Insel Grand Bré bei Saint-Malo, in einem Grab direkt am Atlantik.

›Jenseits des Grabes‹ jedoch wirkte er als Diplomat und Schriftsteller konservativ-liberaler Provenienz, ein Gegner Napoleons, der ihn aber gewähren ließ, und Anhänger des Ancien Régime der Bourbonen, ein Weltreisender, der bis zum Mississippi und nach Jerusalem kam, nach Griechenland und Nordafrika, nach Italien ohnedies und mehrmals nach Spanien. Träumten deutsche Romantiker zumeist nur ›von der Welt‹, Chateaubriand erschloss sie sich reisend – und dazu auch neu den ›Geist des Christentums‹ (Le Génie du Christianisme, 1802), neben seinen Romanen Atala (1801) und René (1805) ein Kultbuch romantischer Zeit. Chateaubriand schuf sowohl den nach dem zweiten Teil seines Doppelvornamens benannten Protagonisten René, die klassische Figur des Weltschmerz-kranken Intellektuellen und Künstlers, als auch in Atala ihr weibliches Gegenstück: Das Buch erzählt die Geschichte einer Frau, die das Kloster der inzestuösen Liebe zu ihrem Bruder vorzuziehen lernt, schließlich aber ihren seelischen Konflikt durch Selbstmord ›löst‹. René, ou les effets des passions (René, oder: Die Folgen der Leidenschaft), dieser Roman über die Anatomie und Wirkungsweise der Leidenschaft, wurde für Stendhal ebenso zum Modell, wie er Gustave Flaubert zu seiner Éducation sentimentale inspirierte.

Chateaubriand, dieser – noch von Roland Barthes gepriesene – Stilist von hohen Graden, verfasste weniger ›Reiseliteratur‹, sondern eher eine Art Welterfassungsliteratur, die in ihrer Bedeutung jener Alexander von Humboldts in nichts nachsteht. Es gehört zu den subtilen Ironien der Romantik, dass gerade Chateaubriand, der nach GoethesDie Leiden des jungen Werther (1774) dem Weltschmerz neue literarische Formen verlieh, durch seine Welterkundungsliteratur viel zur Welterkenntnis in der damaligen Zeit beigetragen hat.

Haben wir den Kupferstich aus Chateaubriands Memoiren damit aus den Augen verloren? Keineswegs. Denn mit ihm ist der Hintergrund skizziert, der die darauf dargestellte Szene verständlicher macht:

Nun befinden wir uns inmitten der römischen Ruinenromantik mit Chateaubriand und seiner Geliebten, der gleichaltrigen Pauline de Beaumont (1768–1803), einer Frau von Welt und femme de lettres. In einem leeren Colosseum, heute kaum mehr – oder seit ›Corona‹ wieder – vorstellbar, ruht eine erschöpft wirkende Gräfin, den Blick ins Weite, nicht auf den Geliebten gerichtet. Chateaubriand wirkt halb besorgt, halb distanziert. Weiß er um ihre Krankheit (sie wird im November 1803 in Rom der Tuberkulose erliegen)? Geht er deswegen schon leicht auf Abstand? Der nahende Tod in Rom an einem Ort inmitten der Stadt, an dem das Töten zum Volksvergnügen gehörte, jetzt aber herrscht … Totenstille in diesem Kupferstichmotiv.

Bei diesem Bild ließe sich auch an den englischen Dichter Robert Browning (1812–1889) und sein sizilianisches Gedicht »Love Among the Ruins« (»Liebe in Ruinen«, 1855) denken, das freilich in den Relikten der Antike das eigentliche Leben sieht. Darin erwartet ein Schäfer seine Geliebte; die innere Spannung des Gedichts besteht in der Differenz zwischen dem, was in der Gegenwart – spielerisch – erreichbar ist, und dem eigentlich Erstrebenswerten, das aber in der unerreichbaren Vergangenheit vergraben liegt.13 Da kann nicht einmal die in der Epoche der Romantik erste Fortschritte machende Archäologie helfen.

Doch zurück zum Colosseum. Nicht allzuweit von ihm liegt die Piazza di Spagna mit der Spanischen Treppe und der Hausnummer 26, wo John Keats (1795–1821) starb: der Tod eines Romantikers in Rom. Auch ein Tuberkulosetod und wenig romantisch, verzweifelt eher, verstörend, entsetzlich.

Ich befinde mich im Sterbezimmer von Keats; man hat es unverändert belassen. Es ist der 28. Februar 2019; die Zeit steht hier still, trotz des bunten Touristentreibens auf der Spanischen Treppe. Auch wenn ich froh bin, allein dort zu sein, wundert es mich, dass sonst niemand das Museum besucht. Seltsam, immer wieder dieser Drang in mir, solche Gedenkstätten aufzusuchen, etwa das Wiepersdorf der Bettine von Arnim (1785–1859) oder das Sterbezimmer der Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) in der Meersburg hoch über dem Bodensee. Dort freilich wäre man nur nachts allein, wenn sich keine Pilgerströme Schritt für Schritt durch ihr Zimmer schieben …

Von Keats in Rom ist es nur ein gedanklicher Schritt zu Keats in Hampstead. Dort lebte er in Wentworth Place, einem Juwel von Haus, ganz in Weiß, umgeben von einem uralten Baumbestand, in dessen Wipfeln man glaubt, die Nachtigall zu hören, die Keats in seiner berühmten Ode besungen hat. Oder man denke an Rydal im nordenglischen Cumbria, wo William Wordsworth (1770–1850) seine oft die Natur beschreibenden Gedichte schuf und starb. Diese seltsame Faszination, die von ihren Nachleben ausgeht. Es ist geradezu, als begegnete man diesem Nachleben in diesen Häusern.

Virginia Woolf hat den Wohnorten verstorbener Schriftsteller Stimmen zugeschrieben, etwa dem Haus des Schotten Thomas Carlyle (1795–1881) in Londons Chelsea, Cheyne Walk, dessen Beitrag zur Literatur der Romantik in einem satirischen Roman bestand, der unter dem Titel Sartor Resartus 1836 veröffentlicht wurde, zu Deutsch: Der geschneiderte Schneider. Die Hauptfigur mit dem aparten deutschen Namen Teufelsdröck ist ein Professor in Universalien an der Universität in Weissnichtwo, der sich mit einer philosophischen Arbeit über Kleidung hervorgetan hat, also ein Kulturwissenschaftler avant la lettre.

III … in G-Dur

Epochenbestimmungen bestehen aus Gretchenfragen: Wie halten wir es mit den zeitlichen Eingrenzungen? Endete die Aufklärung – die womöglich an sich selbst, sprich: ihren eigenen hochgesteckten Zielen scheiterte – mit der Französischen Revolution und ihren Guillotinen? Endete die Romantik mit dem Schalt- und Revolutionsjahr 1848 oder ein Jahrzehnt früher oder später? Wie viel an ›Aufklärung‹ führte die Romantik weiter? War der Sturm und Drang zwischen Aufklärung und Romantik eine geistige Pufferzone oder ein elektrisch aufgeladenes Feld? Statt dem 14. Juli 1789 könnten wir ebenso gut als Epochen- und Bewusstseinsgrenze den 5. Mai 1795 angeben, an dem in England die sogenannte Hair Powder Act vom Parlament verabschiedet wurde. Mit diesem Gesetz wurde die Haarpudersteuer eingeführt, um das Bestäuben von Haaren und Perücken zu unterbinden. Damit verbunden war ein ›Zurück zur Natur‹ ganz im Sinne der aufklärerischen ›Romantik‹ Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778), dem sich übrigens auch der Erzjakobiner Robespierre verpflichtet wusste.

Unterlassen wir diese didaktisch-säuberliche Aufbereitung der Zeitphasen, die den Überschneidungen und Überlappungen in der kulturellen Entwicklung nicht einmal annähernd gerecht wird. Überwinden wir diesen kulturkategorialen, aber geistesfernen Schematismus, um das Stichwort ›Romantik‹ eher als das zu verstehen, was es tatsächlich bezeichnet: nämlich die Fortführung der Aufklärung mit anderen Mitteln. Denn das ›Projekt Aufklärung‹ kennt ebenso wenig einen Abschluss wie die ›Romantik‹ selbst. Mit der Romantik gewann die Aufklärung eine neue Dimension: Denker begannen danach zu fragen, was das Menschliche im Innersten zusammenhält, und lernten, ›Innerlichkeit‹ als universales Phänomen im Menschlichen zu verstehen.

Die Romantik übersetzte das ›Projekt Aufklärung‹ ins Psychische und Künstlerische. Sie nahm sich vor, unter veränderten Vorzeichen über das Seelische und Schöpferische aufzuklären, was jedoch auch zu Ich-Verklärung, Eintrübungen oder gar Verdunkelungen führen konnte; Letzteres mündete unmittelbar in spiritistischen Irrationalismus und Nationalismus. Die Romantiker lebten vor, welchen Preis eine rein vernunftorientierte Aufklärung zu zahlen hätte. Sie wollten sozusagen die Gesetze der Optik und das Seherische von Stigmatisierten und Träumern gleichermaßen ernstnehmen. Dabei wussten sie durchaus, dass zum Beispiel aus der Besessenheit von Physiognomik nach dem Vorbild Johann Caspar Lavaters, der sich selbst ja auch als ein ›Aufklärer‹ verstand, ein ›Geistersehen‹ werden konnte: von der bizarr-›rationalen‹ Analyse der Gesichtszüge zum Sehen von Gesichten, das ihnen William ShakespearesHamlet (1603/04) ebenso beglaubigte wie Justinus Kerners Seherin von Prevorst (1845).

Lässt sich etwas in der sogenannten Romantik aufspüren, das der »pragmatischen« oder »religiösen« Aufklärung entspräche, wie sie Dennis Rasmussen und David Sorkin herausgearbeitet haben?14Läge die Entsprechung in einer spezifisch romantisch-ästhetischen Aufklärung und einer eigenständigen Umarbeitung bewährter Mythen, die die Romantiker der Volkspoesie abgewannen? Gibt es ein Äquivalent in romantischer Zeit zu Kants ›kategorischem Imperativ‹ bezüglich der Art, wie der Mensch sich handelnd verhalten solle?

Vor allem die Frühromantik – noch ganz in Tuchfühlung mit der Spätphase der europäischen Aufklärung – geizte keineswegs mit Verhaltensmaximen, die aber in der Hauptsache ästhetisch motiviert waren; sie konzentrierten sich auf das ›Romantisieren‹, das in diesen Maximen als ein ›Poetisieren‹ des Bewusstseins und der Gesellschaft in Erscheinung trat, ein Vorgang, der sich wiederum aus dem Nicht- oder Unbewussten speiste. ›Romantisieren‹ bedeutet für Novalis ein »qualitatives Potenzieren« und damit Intensivieren von Vorstellungskraft und Wahrnehmungsfähigkeit.15

Der Literaturwissenschaftler Manfred Frank hat gezeigt, in welchem Ausmaß die frühe Romantik auf Kants Anliegen aufbaut, die Ästhetik als einen »Brückenschlag zwischen Natur und Vernunft« zu verstehen und im Symbol einen Sinnträger im Ästhetischen zu sehen, der »die Vernunft mit der Sinnlichkeit versöhnt«.16 Aber eben das wurde zu einem Bedürfnis, das nichtdeutsche Künstler der Romantik mit der trans-kantischen Frühromantik der Brüder Schlegel und Novalis zunehmend teilten, wenngleich es nicht unbedingt mit einer ebenso intensiven Reflexionslust einherging.

IV … in E-Dur

Das romantische Freundschaftsideal war quer durch die Geschlechter amouröser Natur. Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) zum Beispiel lebten nach Aussage Joseph von Eichendorffs in Heidelberg, als sie an ihrer legendären Anthologie Des Knaben Wunderhorn arbeiteten, »wie ein […] Ehepaar« zusammen, wobei Arnim den männlichen, Brentano den weiblichen Part dargestellt haben soll.17 Carola Stern ergänzt: »Irgendwann tauchte dann meistens eine junge Dame auf, und die Leidenschaft wurde von dem Freund auf diese übertragen.«

Doch es gilt auch, geschlechtsspezifisch zu differenzieren. Während

Männer, junge Dichter, ihre überschwenglichen Glücksgefühle zuerst einem anderen jungen Mann zuwandten und bei diesem lieben lernten, war es bei Frauen umgekehrt. Freundinnen entschädigten sich gegenseitig für zu geringe, enttäuschende männliche Gefühle, für Ehen ohne Liebe, Gefühle der Verlassenheit und Einsamkeit. Nach zwei gescheiterten Verlobungen schrieb Rahel Levin an Rebecca Friedländer, häufig sei sie nicht beachtet, viel verachtet, lange nicht geliebt, oft gehaßt worden, wirklich geliebt übernatürlich selten.18

In der Rue de Clichy kam keine rechte Salonatmosphäre auf. Die Pariser blieben dem kleinen Kreis um die Schlegels fern. Zumeist fanden sich Deutsche ein, Achim von Arnim besuchte sie zum Beispiel auf der Durchreise. Es erschienen zudem die reichen, kunstbesessenen Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée, die den Schlegels den Weg nach Köln ebnen sollten, aber auch der Orientalist Alexander Hamilton, der den Gastgeber täglich drei Stunden in Sanskrit unterrichtete. Man sprach über alle Wissensgebiete von der Kunstgeschichte bis zu den Naturwissenschaften, der Übersetzungspraxis und der Philosophie. Nichts davon wurde systematisch verstanden, wohl aber so enzyklopädisch umfassend wie möglich studiert.

Schlegel versuchte zwar vergeblich, in Paris Fuß zu fassen. Aber angesichts der dortigen Schätze in der Bibliothèque Nationale wurde er zum »Orientalisten«, lernte Sanskrit und legte den Grundstein für seine große Studie zur Sprache und Weisheit der Indier (1808). Aus seiner zweiten Ambition, als Vermittler neuester deutscher Kultur in Paris zu wirken, wurde allerdings nichts. Deutsche Literatur, das war für die Franzosen allenfalls Goethe, Schiller, Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Christoph Martin Wieland (1733–1813) und August von Kotzebue (1761–1819), dessen Gegnerschaft zur Romantik sie nicht weiter kümmerte. Die Einsicht war ernüchternd: Die Franzosen »schickten sich zwar an, Europa zu erobern, aber von den Europäern wußten sie erschreckend wenig; das machte ihnen nichts« aus.19 Eine ähnliche Einstellung hätte Schlegel in England und Spanien antreffen können: Die imperialistischen Nationen übten sich in einhelliger Einseitigkeit.

Aufschlussreich war aber auch diese Erfahrung: Es bedurfte des Umwegs über Paris, damit sich die Jenaer und Heidelberger Romantik in Gestalt Friedrich Schlegels und Achim von Arnims begegneten. Und spürbar wurde sogleich: In Heidelberg war man insgesamt20 nationaler eingestellt als in Jena, wo man das Weltklima schätzte (oder was man dafür hielt). Zu einem Freundschaftsbund zwischen den beiden kam es jedenfalls nicht. Es kam aber auch zu keinem tieferen Verständnis Schlegels für die französische Kultur. Im Gegenteil, je länger er in Frankreich lebte, umso fremder wurden ihm das Land und dessen Kultur; umso näher rückten ihm die ›orientalische‹ Geisteswelt, die spanische und portugiesische Literatur. Das Französische schien ihm hauptsächlich in Form der provenzalischen Dichtung wesentlich. Seine Beschäftigungen damit waren – freilich immens fruchtbare – Ersatzhandlungen für seine Enttäuschung über die »Gallier«, die er 1804 eine »traurige Race« nannte.21

Und doch hatten Friedrich und Dorothea die Feuerprobe ›Paris‹ ›bestanden‹, die unbestrittene Hauptstadt Europas. Dort hatten sie ihren Lebensbund besiegelt. Von dort aus brachen sie auf in jenen Glauben, den sie als ›weltumspannend‹ im Wortsinn verstanden, den Katholizismus, der sie über Köln bis nach Wien führen sollte. Friedrich mag sich gefragt haben, ob er nicht doch den Aufsatz seines so unbegreiflich früh (1801) verstorbenen Freundes Novalis über Die Christenheit oder Europa hätte veröffentlichen sollen; denn im Grunde hatte er sich mit Dorothea genau in die richtige Richtung entwickelt, um zu verstehen, dass Novalis das ›Oder‹ im Titel nicht als Gegensatz gemeint, sondern komplementär gebraucht hatte: Europa war identisch mit einem neuen Verstehen einst gewesener Christlichkeit. Deren schwer lastende Schattenseiten hatte Schlegel übersehen wollen. Sein kritisches Bewusstsein drohte, im Weihrauch aufzugehen …

Und als Schlegel kurzzeitig nach Frankfurt als Delegierter Österreichs und damit des Außenministers Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) ging, um in der dortigen ständigen Versammlung des im (Un-)Geist der Restauration gegründeten Deutschen Bundes habsburgische Interessen zu vertreten, hatte er tatsächlich geglaubt, dass sich dort ein am Mittelalter orientierter christlicher Gesamtstaat bilden und er als Legationsrat entscheidenden Einfluss ausüben werde. Seine Abberufung erfolgte bereits im April 1818, als Metternich erkennen musste, wie wenig sein Protegé fürs diplomatische Fach geeignet war.

V … in D-Dur

Worin nun besteht der Zweck dieses Buchs? Es soll eine perspektivenreiche Annäherung an das Langzeitereignis ›europäische Romantik‹ ermöglichen. Man kann es sich am sinnfälligsten als einen dunklen Kristall vorstellen, der an diversen Stellen blitzartig alle nur denkbaren Farben funkeln lässt, Töne von sich gibt, aromatisch angereicherte Wörter freisetzt, Gerüche von sich gibt und zum Betasten einlädt: ein synästhetisches Phänomen also, länderspezifisch und zugleich kulturenübergreifend. Ein Kristall der Motive und Themen – in Fragmenten niedergelegt ebenso wie in ganzheitlich gemeinten Entwürfen –, der ebenso konzentrierten wie vagen Sehnsüchte bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Arbeit, der Beschwörung ewiger Kindheit und anderer versunkener Welten.

Eine Annäherung auch an das Weibliche, an die erste wirkliche Stunde der Frau in der Neuzeit. In der Romantik steht die Frau unverkennbar in einem Mittelpunkt, der ihre Ausstrahlung verstärkt. Man führe sich ihre Namen und Leistungen wieder und wieder vor Augen, um sich bewusst zu bleiben, wie feminin die Romantik selbst dann noch ausgerichtet war, wenn Männer über Frauen schrieben und auf diese Weise auch ihre Phantasien über die Frau auslebten – und das zu einer Zeit, in der ›die Frau‹ ihrer Stimme sonst nur unter Mühen und Opfern Gehör verschaffen konnte. Neben Ricarda Huch und Bertha Badt-Strauß hat in der Weimarer Republik, in der auch die junge Hannah Arendt mit Vorarbeiten zu ihrer später einflussreichen Biographie über Rahel Varnhagen begonnen hatte, vor allem Margarete Susman mit ihren Porträtessays Frauen der Romantik (1929) dazu beigetragen, deren kulturelle Leistungen zu würdigen.22

Damit sind nicht nur die Salons Rahel Varnhagens und Henriette Herz’, Bettine von Arnims, Sophie Mereaus (1770–1806), Karoline Pichlers (1769–1843) und Ida Hahn-Hahns (1805–1880) gemeint, sondern das Weibliche etablierte sich gewissermaßen als Psyche der Kultur, als eigene Art des künstlerischen Schaffens und kritischen Vermögens, des philosophischen Dichtens, wie es sich im Werk Karoline von Günderrodes (1780–1806) niedergeschlagen hat. Zu nennen sind zudem die weiblichen Wissenschaftlerinnen, wenn wir an Lord Byrons Tochter Ada Lovelace (1815–1852) denken, die »Poetin der Mathematik« (Benjamin Wolley), aber auch die Kulturvermittlerinnen, allen voran Madame de Staël (1766–1817) und die Übersetzerin Sarah Austin (1793–1867). Hinzu kommen Autorinnen wie Dorothea Schlegel (1764–1839), Caroline Schelling (geschiedene Schlegel) (1763–1809), Mary Shelley (1797–1851), George Sand, George Eliot (1819–1880), Annette von Droste-Hülshoff oder Ludmilla Assing (1821–1880), Komponistinnen wie Fanny Mendelssohn (1805–1847) und Clara Schumann – Frauen auf der Schwelle zur Emanzipation und zur Verwirklichung ihrer eigenen geistigen und physischen Lebensform. Sie schufen sich einen room of one’s own (Virginia Woolf), auch wenn die Grenzen, die ihnen weiterhin gezogen wurden, überdeutlich waren (Robert Schumann etwa untersagte seiner Frau Clara, eine der bedeutendsten Pianistinnen ihrer Zeit, zu Hause zu üben, weil ihre Kunst ihn beim Komponieren störte).

Dieses Weibliche in der Romantik steht für eine eigenständige Sicht- und Auffassungsweise emotionaler und kultureller Vorgänge, aber auch (zeit-)geschichtlicher Begebenheiten, zu denen etwa Günderrode und Bettine von Arnim Stellung nahmen. Mehr als jede andere Strömung wagt die Romantik eine Einstimmung der Kultur ins Weibliche. Anders gesagt: Das Weibliche wurde zur ›Temperierung‹ in der Kultur, zum Gegenstand und Maß von Reflexionen über das Fühlen, die Ahnung und Intuition. Im Roman Corinna oder Italien (1807) der Germaine de Staël wird eine Dichterin und Übersetzerin (von ShakespearesRomeo and Julia) durch ihre Beziehung zu dem melancholisch veranlagten, aber begeisterungsfähigen Lord Oswald Nelvil zu einer veritablen italienisch-britischen Kulturvermittlerin vor dem Hintergrund deutscher romantischer Erzählästhetik, die Germaine de Staël von den Brüdern Schlegel übernommen hatte.23 Die Psychologie des Weiblichen als Zeugnis des Romantischen war für Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde (1799) ebenso Thema wie für George Sand in Lélia (1833).

Vor dem Horizont all der in diesen Préludes genannten Motiven bilden sich Thesen zu dieser einerseits so deutlich umrissenen, andererseits im Konkreten doch wieder schwer fassbaren Epoche: Romantik, das ist die Musik der Nacht und der lichte Einblick in die Beweggründe menschlichen Handelns. Romantik steht für die Verschmelzung von Land und Stadt, ruraler und urbaner Welt, für ein Denken in Form von sich öffnenden Horizonten und Abgründen. Romantik bedeutet vorweggenommene Moderne und nachgeholtes Mittelalter; sie spricht sich aus in einer radikalen Ästhetisierung der Lebenserfahrung und einer Europäisierung der politischen Diskurse bei gleichzeitiger Nationalisierung des Denkens.

Romantisches Bewusstsein schärft sich durch Kulturkritik, es kann im Rückschritt Fortschritte erkennen und im Prélude bereits ein Nachspiel hören. Ihre eigene zeitliche Eingrenzung ist unbestimmt. Sie stellt sich uns im Rückblick als eine langandauernde »Parallelaktion« dar, um einen prominenten Begriff aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften zu gebrauchen. Das Bizarre unseres Denkens in Epochen oder Zeitabschnitten liegt ja gerade darin, dass wir damit das Parallele in Entwicklungen übersehen. Schließlich beerbte die Romantik die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts, ebenso wie sie Elemente des Sturm und Drang in sich aufnahm und verwandelte, während sie sich gleichzeitig zu den Anfängen des Idealismus und der Weimarer Klassik entwickelte. Das erklärt, weshalb der internationale Blick auf die deutsche Romantik wie selbstverständlich Goethe und Schiller einschließt, Kleist und Friedrich Hölderlin ohnedies. Und es spricht einiges dafür, diesen Blick von außen auf die deutschen Kulturverhältnisse (damals) für den schärferen als den eigenen, nicht selten betriebsblinden zu halten.

Die kategoriale, in ihrem Einfluss weitreichende Abgrenzung zwischen beiden Strömungen hatte der deutsch-schweizerische Literaturhistoriker Fritz Strich bereits 1922 vorgenommen, und zwar mit seiner (über-) pointierten Untersuchung Deutsche Klassik und Romantik mit dem bezeichnenden Zusatz: »oder Vollendung und Unendlichkeit«.24 Seither stehen bei Betrachtungen über Romantik und Klassik das Durchlässige, ja Verwischte dieser ›Grenze‹, die Überlagerungen und Überschneidungen dieser Stil- und Bewusstseinsformen im Mittelpunkt des Interesses. Schließlich lässt sich nicht übersehen, dass etwa Friedrich Schlegel mit dem Athenäum, dem Wortsinn nach der ›Tempel der Athene‹ und der Name für eine römische Bildungsanstalt, einen ›klassischen‹ Namen für sein die frühe Romantik prägendes Publikationsorgan gewählt hatte. Noch die Gründung des Athenaeum-Clubs im Londoner West End im Todesjahr von Lord Byron (1824) stand in dieser das klassische Erbe mit romantischem Zeitgeist verbindenden Tradition.

Explizit nicht-klassisch positionierte sich hingegen das Sprachorgan der Heidelberger Romantik, die von Achim von Arnim und Clemens Brentano veröffentlichte Zeitung für Einsiedler (1808), wohingegen Heinrich von Kleist und Adam Müller mit ihrer Zeitschrift Phoebus im selben Jahr wiederum ein ›klassisches‹ Emblem in Szene setzten, in dem sich jedoch ›romantische‹ Stoffe wiederfanden – man denke allein an Die Marquise von O… (1808). Schiller schließlich bezeichnete seine Jungfrau von Orleans (1801) als eine »romantische Tragödie« und zeigte bei ihrer Niederschrift einen kunstreligiösen Enthusiasmus, der sich tatsächlich ›romantisch‹ gebärdete, ganz zu schweigen von seinem Interesse an der magischen Wirkung des Unbewussten seiner »militanten Mystikerin«, die er als kämpferische »Somnambule ihrer (nationalen) Mission« darstellte.25Kleist nahm dann in seinem Käthchen von Heilbronn (1807/08) an SchillersJungfrau Maß.

Die Romantiker hatten sich mit jenem Napoleon auseinanderzusetzen, der nicht nur zum Testamentsvollstrecker der Französischen Revolution, sondern auch – wider Willen – zum Geburtshelfer des ›modernen‹ Nationalismus in Europa wurde.26 Zutreffend urteilt Rüdiger Safranski: »Napoleon war das sinnfällige Beispiel für eine politische creatio ex nihilo. Kein Zufall, daß zeitgleich mit Napoleons Aufstieg die europäische Karriere des ›tierischen Magnetismus‹ sich vollzog. Im Spiegel Napoleons entdeckte man die Macht des Unbewußten. Napoleon war auch der große Magnetiseur, der seine magnetischen Kuren am Körper Europas vornahm.«27 Zugegeben, es waren Gewaltkuren!

Und die Romantiker standen mitten in der Phase einer politisch regressiven Restauration, der es darum ging, die vorrevolutionären Zustände politisch wiederherzustellen – auch durch Zensurmaßnahmen gegen den romantischen Intellektualismus, dem wiederum das kritische Vormärz-Bewusstsein erwuchs. Gleichzeitig etablierte sich in der Spätphase der Romantik der deutsche Zollverein mit eigenem Zollparlament, was einer Wiederherstellung der politischen Verhältnisse vor Napoleon zuwiderlief. Stattdessen bildete sich eine erste ökonomische Gemeinschaftszone als pragmatische Vorstufe einer nationalen Identität in Deutschland. Doch parallel dazu hatte sich das zwischen Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit schwankende Biedermeier vor allem im deutschsprachigen Kulturbereich etabliert. Vollends gestalt- und nahezu umrisslos stellt sich uns die Spätromantik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar, als dunkel raunende Antwort auf die Industrialisierung sowie auf die Kunstströmungen des sozialen Realismus und Naturalismus. Aus der Spätromantik wiederum schälte sich die Neuromantik heraus, die sich parallel zum Jugendstil und Expressionismus bildete.

Das Romantische verbinden wir daher eher mit etwas Fließendem, nur dann und wann wirklich Greifbarem. Noch Charles Dickens (1812–1870) eröffnet seine umfängliche Justiz- und Sozialsatire, den Roman Bleak House (1853), mit einer dreiseitigen Schilderung des Londoner Nebels, was er in seinem Vorwort »die romantische Seite bekannter Dinge« nennt.28 Das Vernebeln des Bekannten – wie auch der rationalen Erklärungen für bestimmte Phänomene des Lebens – assoziierte man mit dem ›Romantischen‹. Und so scheint der Begriff als solcher ebenfalls wie ›vernebelt‹. Indem wir ihn zu bestimmen versuchen, entzieht er sich uns auch schon wieder. Nur an einzelnen Aspekten lässt er sich wirklich fassen, wobei ›das Romantische‹ ja gerade für die Aufhebung von Vereinzelung steht, gleichzeitig aber die Verlorenheit des Ichs im Weltganzen nicht nur gekannt, sondern auch dargestellt hat – nie ergreifender als in Schuberts Zyklus Die Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller.

Sinnenfroh und morbide zugleich zeigt sich die Romantik, dem Kind aufgeschlossen wie kaum eine andere Kulturepoche, dem Leben zugewandt und dabei todessüchtig. Doch war die Romantik kein Ismus, keine in sich gefügte ›Lehre‹, kein Dogma, so wesentlich ihr die (kunst-)religiöse Erfahrung war und blieb. Kritiker der Romantik – in unserer Zeit der prominenteste: der Philosoph Isaiah Berlin – verwarfen ihr Gebaren jedoch als ›Romantizismus‹, womit Berlin einen der Lebenswirklichkeit abgewandten Irrationalismus meinte, eine Kultform, deren Perversion mitten in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hätte.

Jeder Epoche wohnt ihre eigene Spielart der Dialektik inne, begründet in ihren unvermeidlichen inneren Widersprüchen. Im Fall der Romantik kommt aber hinzu, dass sie sich von Anbeginn diesen inneren Widersprüchen stellte, sie thematisierte und als Teil ihrer Vielfalt zur Geltung brachte. Die inneren Vielfältigkeiten verstanden Romantiker wirkungsvoll aufeinander zu beziehen und in ihrer Wechselseitigkeit fruchtbar zu machen. Entsprechend erweiterte sich die Dialektik zu einer immanenten Pluralektik, die in den an der Romantik beteiligten nationalen Kulturen erkennbar war. Gerade darin zeigt sie sich uns als das, was sie gewesen ist: ein europäisches Ereignis von bleibendem Wert.

Kapitel I Bestimmungsversuche: Zugänge zur Romantik

Was Romantik ›ist‹ und wie man sie sieht

Als universal, allumfassend, auf ein Ganzes gerichtet verstand sich die Romantik von Anbeginn. Und doch blieb ihr Denken und Schaffen nicht selten dem Fragment als Darstellungsform verhaftet.29 Woraus der Schluss zu ziehen wäre, dass in der Romantik das Fragment das Ganze ausschnitthaft repräsentierte. Postulieren lässt sich in jedem Fall: Das Fragment – das mag seine Beliebtheit unter Frühromantikern begründet haben – regt die Vorstellungskraft oder Phantasie an, um es mit zwei Begriffen zu sagen, die gleichfalls in jener Zeit hoch im Kurs standen.

Nicht selten verwechseln wir die zeitlich eingrenzbare Phase oder Epoche namens ›Romantik‹ mit dem zeitlosen Empfindungsbegriff ›romantisch‹. Durchaus erlaubt ist daher zu fragen: Was war romantisch an der Romantik? Man behilft sich gewöhnlich mit relativierenden Anführungszeichen, um sich über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, zu definieren, was man darunter versteht. Als besonders aufschlussreich hat sich eine eingehende Analyse romantischer Begrifflichkeit erwiesen.30 Doch soll dadurch nicht der Blick auf die Selbsteinschätzung der Romantiker verstellt werden. Zuweilen finden sich nämlich eindrucksvoll schlichte Äußerungen über das, was das Romantische sei, etwa wenn der autobiographisch angelegte Ich-Erzähler in E. T. A. Hoffmanns zwischen Kitsch und Anspruch changierendem Roman Die Elixiere des Teufels, der den Wahn liebende Klosterbruder Medardus, befindet, Sinn für das Romantische zeige derjenige, welcher das »heterogen Scheinende« zu einem »sinnigen bedeutungsvollen Ganzen zu verbinden« wisse.31 Als Vorbild für seinen Roman hat Hoffmann übrigens selbst den 1795 in London erschienenen Roman Ambrosio, or the Monk von Matthew Gregory Lewis genannt, der bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung vorlag.32

Auch ich werde in diesem Buch schwerlich umhinkönnen, dann und wann – der Allgemeinverständlichkeit zuliebe – zu sagen: ›Die Romantik ist … das und jenes.‹ Schließlich begann die Frühromantik in der programmatischen Zeitschrift Athenäum mit der prototypischen Ist-Selbstbestimmung überhaupt: »Romantische Poesie«, so dekretierte Friedrich Schlegel, »ist progressive Universalpoesie«.33 Er verstand darunter ein »Poetisch-Machen« von Leben und Gesellschaft, wozu für ihn der »Witz« ebenso gehörte wie das Mischen und Verschmelzen von »Poesie und Prosa, Genialität und Kritik«.34 Der Auffassung des Literatursoziologen Richard Faber ist daher zuzustimmen, dass »Kritik der Romantik« bedeuten muss, Romantik als Gegenstand der Kritik und Kritik als Wesensmerkmal romantischen Bewusstseins zu verstehen. Sie muss »als Subjekt der Kritik ernst genommen werden«.35 Die kritische Theorie im heutigen Sinne hat demnach in der Aufklärung und der Romantik ihre Wurzeln. Gleiches gilt auch für die zivilisations- und bewusstseinskritische Seite des utopischen Denkens eines Ernst Bloch.

Definitionen behaupten einen ontologischen Stellenwert und haben demzufolge gewissermaßen ein Seinsgewicht. Sie bieten Festlegungen, wie sie jedoch gerade im Fall der Romantik nur sehr bedingt angebracht sind. Denn in dieser Kulturphase dominierte das Oszillieren und Changieren von Disziplin zu Disziplin, von Genre zu Genre, zwischen Gegensätzen (Ironie und Melancholie, Laune und Weltschmerz) sowie zwischen kühn behaupteter Subjektivität und versuchter Objektivität, die sich nicht selten in universalistische Spekulationen auswuchs.

Einer der Gründe, weshalb die Theoretiker in der Romantik die Kunst als entscheidende Bezugsgröße favorisierten, ist genau in diesem Oszillieren zu suchen. Es ließ sich am wirkungsvollsten im Kunstwerk zeigen und vorführen, aber eben auch in der Ironie. Nur die Theorie in romantischer Zeit leistete sich Selbstironie, wobei an Jean Pauls (1763–1825) Vorschule der Ästhetik (1804) ebenso zu denken wäre wie an die Ironie, mit der Johann Peter Hebel (1760–1826), der alemannische Grenzgänger in der Literatur der Zeit, in einer seiner Kalendergeschichten (ab 1806) die Obsession mit Träumen ironisierte, und zwar in der Prosa Der vorsichtige Träumer. Sie handelt von einem Fremden, der in einer Herberge in Witlisbach im Kanton Bern sich mit an die Füße gebundenen Pantoffeln zu Bett legte. Auf die Frage des Zimmergenossen, weshalb er das tue, antwortete dieser: »Wegen der Vorsicht. Denn ich bin einmal im Traum in eine Glasscherbe getreten. So habe ich im Schlaf solche Schmerzen davon empfunden, daß ich um keinen Preis mehr barfuß schlafen möchte.«36

Weniger ironisch Veranlagte, man denke allein an August Wilhelm Schlegel, sahen die Kunst als Nachahmung der Natur, wodurch sich eine Fülle von Möglichkeiten weiteren Changierens und Oszillierens ergab, und zwar unter dem Oberbegriff des Organischen. So befindet August Wilhelm Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen: Die Kunst soll, »wie die Natur selbständig schaffend, organisiert und organisierend, lebendige Werke bilden, die nicht erst durch fremden Mechanismus, wie etwa eine Pendeluhr, sondern durch innewohnende Kraft, wie das Sonnensystem, beweglich sind und vollendet in sich selbst zurückkehren«.37Schelling hatte dieses organische Verständnis vom Kunstwerk auf das Ich zurückbezogen, indem er es als die vollendete Darstellung »vom Wesen des Ich« sah.38

Versucht man, die Romantik und das Romantische in ihrem Zusammenhang zu erfassen, dann bietet sich an, beides als psychologischen Zustand Einzelner zu begreifen, die sich nach Gemeinschaft oder zumindest nach Zweisamkeit sehnten. Stellte sie sich ein, erkannten diese Vereinzelten dann doch recht rasch, dass sie selbst in Gesellschaft, im Bund oder Kreis, Salon oder Bruderschaft wiederum nur vereinsamen konnten. Philosophisch gesehen begriffen sie ihre Sehnsucht als die eigentliche metaphysische Erfahrung.

Was nun bedeutet es, die Romantik zu erforschen? Sollen wir nach Motiven und Themen suchen, die auch aus heutiger Sicht ›aktuell‹ sind? Das wäre etwa das Motiv des Fremden, Ausgegrenzten, des ›Wanderers‹, überhaupt die Aufmerksamkeit für den anderen und das andere. Zwar hatte auch die Aufklärung Fremde erfunden, um aus ihrer Sicht das Europäische zu definieren. Montesquieus 1721 anonym in Amsterdam erschienene Persische Briefe (Lettres Persanes) sind dafür das prominenteste Beispiel.39 Aber der Fremde als das sich selbst fremd werdende Individuum, der Grenzgänger und der ruhelose Wanderer – sie bevölkern als Vereinsamte die romantische Landschaft, wobei sie sich nicht selten als Radikale verstehen, die über Pamphlete Kommunikation mit Gleichgesinnten einfordern. Die Protestkultur gehört europaweit durchaus auch zur Romantik, die nicht mit bloßer Verträumtheit verwechselt werden will.40

Doch bedeutet das Erforschen der Romantik zunächst einmal: ihrer eigenen Selbsterforschung nachzugehen, die sie intensiv betrieben hat – und das einstweilen ganz nach dem Muster der kantischen Selbst-Bestimmung dessen, was Aufklärung sei – wie in allen Lebenslagen weiterhin zitiert: der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«.41 Der dänische Literaturhistoriker und Schriftsteller Georg Brandes (1842–1927), der neben Charles-Augustin Sainte-Beuve und August Wilhelm Schlegel entschieden europäischste unter den wissenschaftlich orientierten Literaten des 19. Jahrhunderts, sah genau dies, wenn er feststellte, die »älteren Romantiker beginnen alle ohne Ausnahme als Apostel der Aufklärung«.42 Das war so lange der Fall, bis sie ihre nationalen Missionen entdeckt zu haben glaubten, sich – im Fall der deutschen Romantiker – gegen Napoleon mobilisierten und/oder wie verlorene Söhne in den Schoß des ›wahren Glaubens‹ zurückkehrten, indem sie dem Katholizismus huldigten oder zu ihm konvertierten, wie das Beispiel Friedrich Schlegels zeigt, der dabei päpstlicher als der Papst wurde.

Selbst-Bestimmung als individuelle und kollektive Aufgabe war den frühen Romantikern so wichtig, dass sie sich dafür – zumindest taten das die Brüder Schlegel – anfangs eine eigene Zeitschrift leisteten, eben das Athenäum. Bedienen wir uns hierfür einen Augenblick lang eher merkantil klingender Begriffe, was nicht befremden, sondern dem Umstand Rechnung tragen soll, dass einer der wichtigsten Vordenker in der frühen Romantik, Johann Gottlieb Fichte, auf Überlegungen zum Geschlossenen Handelsstaat (1800) zusteuerte, den er als ein durch Außenzölle geschütztes Gedeihen ökonomischer Innerlichkeit begriff. So gesehen gehen die Anfänge der Romantik auf ein intellektuelles Familienunternehmen der Gebrüder Schlegel zurück, mit unbeschränkter geistiger Haftung aller, die sich an diesem Unterfangen beteiligten.

Das philosophisch-kritische Startkapital dieser von Anbeginn programmatisch konzipierten geistigen Geschäftsgrundlage bestand im Warenvorrat der antiken Dichtung und bildenden Kunst. Insbesondere Friedrich Schlegel leitete daraus die Forderung ab, Kunst mit kritischem Interesse zu verbinden, sie gleichzeitig aber durch das freie Spiel der Phantasie als Hauptkraft im Schaffensprozess auf originelle Weise zu bereichern. Durch seine These, dass sich mit der Schönheit der Kunst ein kritisch-philosophisch-didaktisches Interesse verbinde, grenzte sich Friedrich Schlegel prinzipiell von Kants Konzeption eines »interesselosen Wohlgefallens« des Schönen ab. Die Schlegels verstanden ›Interesse‹ wörtlich: als ein Teilhaftigwerden am Schaffensprozess des Künstlers und der Wahrnehmung seiner Werke, ein Sein (lat. esse), das zwischen (inter) individuellem Schaffen und der Wahrnehmung des Geschaffenen seinen Ort findet. Anders jedoch als ihr Guru, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, lehnten die frühen Romantiker systematische Formen der geistigen Vermittlung ab. Ihr Medium war das Fragment, das lediglich dazu diente, den Geist anzuregen, Dinge anzustoßen, Ideen anzureißen, Gedankentorsi aufzustellen, die nicht durch fremde Einflüsse zu Torsi geworden waren, sondern oftmals als solche geschaffen wurden. Es handelte sich um Gedankenquader, herausgebrochen aus einem mehr oder weniger imaginierten Ganzen, und behauen mit den Werkzeugen ›Phantasie‹ und ›Kritik‹.

›Romantisch‹ meinte zunächst Bildungsgut, das der hellenisch-lateinischen Romania entstammte, und der Begriff bezog sich auf das prinzipiell Romanhafte aller Kunst schlechthin. In diesem Sinne gingen die Schlegels – wie übrigens auch Johann Gottfried Herder (1744–1803) – von der Romanhaftigkeit der Dramen Shakespeares aus; August Wilhelm spricht von Shakespeares »Romanspielen«, und Friedrich bezeichnet sie als »psychologische Romane«.43 Damit ist zugleich der Hauptorientierungspunkt der frühen Romantiker genannt: neben der griechischen Kunst und der spanischen Literatur des ›Goldenen Zeitalters‹ (ca. 1550 bis Ende des 17. Jahrhunderts) war das in erster Linie Shakespeare. Die frühe Romantik teilte also das wesentlich durch Herder und Goethe eingeleitete ›moderne‹ Verständnis von Shakespeare als dem Vertreter einer Dramatik, die sich am Charakteristischen, lies: dem Natürlich-Menschlichen, orientierte.

Zeitversetzt verhielten sich die französischen Romantiker nicht anders. Der junge Stendhal (d. i. Marie-Henri Beyle, 1783–1842) begründete seine Parteinahme für ›das Romantische‹ mit seiner Vorliebe für Shakespeare, den er mit dem unbedingt Modernen gleichsetzte. Das bedeutete konkret ein Ablehnen des Klassizismus à la Jean Racine und eine Hinwendung zur ›natürlichen‹ Sprache in Prosa, wie er sie bei Shakespeare wahrnahm. Das Überschreiten ästhetischer Normen, für das aus Stendhals Sicht Shakespeare stand, das Lebendig-Menschliche (auf der Bühne) sah er im Werk des Barden aus Stratford-upon-Avon verwirklicht. Das Romantische stelle den Menschen von heute dar, argumentierte Stendhal in seinem Pamphlet Racine et Shakespeare (1823–25), und keine Helden von gestern, die es so ohnedies nie gegeben haben dürfte.44

Die Romantik als Kulturepoche in den Blick zu nehmen bedeutet, die sich aus diesen Voraussetzungen ergebenden Auffächerungen zumindest zu umreißen und ihre ästhetische Wirkungsweise zu ergründen. Untersuchungen zur Frühromantik sind Legion,45 dagegen mangelt es an Studien zur Spätphase der Romantik, nicht minder fehlen Erörterungen der europäischen Dimensionen46 dieser Kulturepoche mit ihrem über zwei Jahrhunderte langen Atem. Legendär und bis heute unübertroffen ist die Auseinandersetzung mit dieser Kulturepoche durch die Grande Dame der deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Ricarda Huch. In ihrem Werk Romantik, das auf zwei Studien zur »Blütezeit« (1899) und zu »Ausbreitung und Verfall« (1902) der Romantik zurückgeht,47 gelang ihr ganz im Sinne der frühromantischen Ästhetik eine poetische Kritik dieser Zeit. Auf sie wie auch auf die bahnbrechende Arbeit von Georg Brandes, Die romantische Schule in Deutschland (1873),48 wird immer wieder zurückzugreifen sein, weil in ihnen erstmals bis heute tragende thematische Analysen der Kultur der Romantik herausgearbeitet worden sind.

Die Außenperspektive des Dänen unterscheidet sich wohltuend von der mit der Reichsgründung (1871) einsetzenden nationalkulturellen Vereinnahmung der Romantik als vermeintlich rein deutsches Phänomen, wie sie vor allem Rudolf Haym mit seiner monumentalen Studie zur Romantik betrieben hat.49 Haym verstand ›die‹ Romantik als Lehranstalt für echt deutsches Bewusstsein. Zwar übernahm er Heinrich Heines Bezeichnung »Schule«, nicht aber dessen ironische Verwendung dieses Wortes. Brandes dagegen stellte in seinen Kopenhagener Vorlesungen die deutschsprachige Romantik in einen Zusammenhang mit den von ihm untersuchten »Hauptströmungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts«, womit er den geistesgeschichtlichen Horizont der Erörterung des Romantischen entscheidend erweitern konnte. Bei aller fortschreitenden Differenzierung in der Romantikforschung hat Brandes’ abschließender, auf Europa bezogener Befund nichts an Gültigkeit eingebüßt:

Eine romantische Strömung braust in den ersten Jahrzehnten des [19.] Jahrhunderts in fast allen europäischen Landen durch die Geister. Mit wirklicher Ursprünglichkeit tritt die Romantik jedoch nur in Deutschland, England und Frankreich auf. Hier allein macht sie eine europäische ›Hauptströmung‹ aus. In den slawischen Ländern verspürt man hauptsächlich einen Nachhall der englischen Romantik. In den skandinavischen Reichen ist die romantische Literatur von der deutschen stark beeinflusst.50

In Schweden bezeichnete man die Romantik übrigens als dynamischen, gar ›feurigen‹ »Phosphorismus«, der gegen den französischen Stil des 17. Jahrhunderts gerichtet war. Nationale Ausprägungen der Romantik machte Brandes in Norwegen in Gestalt von Henrik Wergeland (1808–1845) aus, der sich für die Emanzipation der Juden im ›neuen Norwegen‹ einsetzte, vor allem aber in seinem heimischen Dänemark, das sich durch seine besonders reiche romantische Literatur auszeichnet. Man führe sich allein diese die dänische literarische Kultur beherrschenden Namen vor Augen: Adam Oehlenschläger, Nikolai Grundtvig, Bernhard S. Ingemann, Carsten Hauch, Ludvig Heiberg und Hans Christian Andersen. Sie standen ausnahmslos unter dem Einfluss von deutschen Romantikern – von Ludwig Tieck über Friedrich de la Motte Fouqué bis hin zu E. T. A. Hoffmann. In der Musik fanden die Kulturen Skandinaviens erst in der Spätromantik ihren jeweiligen Ton: in Norwegen mit Edvard Grieg, Johan Svendsen und Christian Sinding, in Finnland mit Jean Sibelius, in Dänemark mit Carl Nielsen und in Schweden mit Franz Berwald sowie Wilhelm Stenhammer.

Diesen europäischen Blick auf die Romantik hatten die wenigsten ihrer Kritiker aufzuweisen. Als Rudolf Kassner 1900 seine Betrachtungen zu »englischen Dichtern« weitgehend aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorlegte – eine Neuausgabe erschien 1920 –, geschah dies unter dem Titel Die Mystik, die Künstler und das Leben. Die Bezeichnung ›Romantik‹ unterblieb, so als wollte Kassner sagen, ›Romantik‹ habe es eigentlich nur im deutschen Kulturgebiet gegeben. Übrigens finden sich bei Kassner Abhandlungen zu Percy Shelley, Keats, William Blake, Dante Gabriel Rossetti und anderen, aber keine Äußerungen zu William Wordsworth oder Samuel T. Coleridge.51

Die Wandervogel-Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg erklärte das Vereinzelungssyndrom der romantischen Wandererfigur zu einem national-kollektiven Phänomen. Derweilen entdeckte Carl Schmitt die »politische Romantik« (1919) in ihrer konservativ-katholischen Spielart.52 Genau zu dieser Zeit (1922) schickte sich Thomas Mann zu seinem bis dahin gewagtesten Manöver an, der Umwertung der kulturkonservativen Betrachtungen eines Unpolitischen durch sein Bekenntnis zur neuen deutschen Demokratie, das er mit Hinweisen auf Novalis anreicherte.53

Wie viel ist seither geschehen: Auf die Pervertierung des ›Romantischen‹ im Nationalsozialismus folgten nach 1945 die grundlegenden editionsphilologischen Erschließungen und Kommentierungen der romantischen Dichtungen, die sozialhistorische und literatursoziologische Analyse der Romantik und die grundsätzliche Infragestellung ihrer Epochentauglichkeit, während die ur-romantische ›Blaue Blume‹ als Hoffnungszeichen in der Studentenrevolte einen zweiten Frühling erlebte.54 Man hatte durchaus das Dynamische, ja das Dynamithafte der Romantik erkannt, das noch in Anita Brookners auf Frankreich bezogener Studie Romanticism and its Discontents (2000) zum Ausdruck kam.55 Und die Vorstellung einer konservativen Revolution, die Anfang der 1920er an Boden gewann, fand ihre späte und unverhoffte Entsprechung in Ayn Rands (pseudo-)philosophischer Provokation The Romantic Manifesto (1969).56 Auf wissenschaftlicher Grundlage bemühte man sich nach der Jahrtausendwende um ein Aufarbeiten der Paradoxien der Romantik (aus österreichischer Sicht)57 und das Sichtbarmachen der Lesbarkeit der Romantik.58

Ein Befund bleibt bestehen: Nichts ist verführerischer, aber auch verfänglicher, als ›die Romantik‹, die europäische zumal, definieren zu wollen. Kann es doch – trotz oder gerade wegen – ungezählter, durchaus auch exemplarisch zu nennender Versuche nur um Einstimmungen und Annäherungen gehen. Skeptiker wie Isaiah Berlin hielten die Romantik für einen intellektuell geradezu »gefährlichen und wirren« Gegenstand, bei dessen Bestimmungsversuch man nur seine eigene Richtung verlieren könne.59 Dieser Befund hinderte ihn allerdings nicht daran, dieser Wirrung ein ganzes Buch zu widmen.

Revolutionäre Romantik auf dem Weg zum eigenen Ich

Wie revolutionär war die Romantik? Das ist keine Frage aus dem Jahr der Studentenrevolte von 1968. Schon Thomas Mann stellte sie, nicht in den Betrachtungen eines Unpolitischen, nicht in seiner politischen Kehrtwendung zugunsten der neuen Weimarer Republik in seiner von Novalis bestimmten, Gerhart Hauptmann zugedachten Rede Von deutscher Republik, nicht im Zauberberg, sondern im Zusammenhang mit Sigmund Freud. In seinen Überlegungen zur Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929) erscheint ihm der Urheber einer wissenschaftlich verstandenen Psychoanalyse als Nachfolger der poetischen Psychologie der Romantik, ja, als ihr Nachlassverwalter, der ihr Erbe mit neuen Akzenten versah. Dabei entwickelte Thomas Mann Perspektiven zur Romantik, deren Bedeutung bis heute ungebrochen ist.60 Die Thesen, mit denen er im Jahr seines Nobelpreises und der Weltwirtschaftskrise aufwartet, lassen aufhorchen:

Die deutsche Romantik ist, so sonderbar es herkömmlichem Vorurteil klingen mag, wesentlich nicht historisch gestimmt, sondern zukünftig, und dies so sehr, daß man sie als die revolutionärste und radikalste Bewegung des deutschen Geistes bezeichnen kann.61

Bedenkt man das europäische Bewusstsein, durch das Thomas Mann ›das Deutsche‹ schon damals kontextualisiert sah, dann darf man mit Fug davon sprechen, dass er in diesem Verständnis von Romantik auch einen exportierbaren und auf andere Kulturen übertragbaren Wert gefunden hatte. Überdies hatte Thomas Mann den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der geistigen Substanz der Französischen Revolution und der Romantik in deutschen Landesteilen deutlich erkannt.

Neben dieser politischen Erweiterung hatte er auch eine bewusstseinsbedingte Öffnung und Vertiefung in der Romantik wahrgenommen, die er dann bei Freud manifestiert sah. Wen wundert, dass Thomas Mann schon seine Tony Buddenbook die Serapions-Brüder von E. T. A. Hoffmann lesen ließ.62 Angesichts einer zunehmenden »Geistfeindlichkeit« in seiner Zeit (1929) wertete er die »Geistliebe«, den »leidenschaftlichen Utopismus«, die »Zukunftsorientierung« und den »Bewußtheitsrevolutionismus« der Romantik auf. Freud nun, so Mann weiter, habe einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, den Bewusstwerdungsprozess zu verstehen, jenes dem Unbewussten inhärente Werden, durch welches erst das Ich zu einem Ich werden kann. Freuds Augenmerk gelte dem Wachstum im Vorfeld der Identitätsbildung, so ließe sich Thomas Manns Deutung umschreiben. Und die Aufmerksamkeit gerade für diesen Zwischenbereich erachtete er als genuin ›romantisch‹.

Zugegeben, gradlinig verläuft wenig in der Romantik. Ihre Wege sind verschlungen, traumgesäumt, dann wieder unverhofft steinig; sie führen an Rosenhügeln vorbei und an Abgründen, durch die mehr oder weniger mondhelle Nacht und durch das grell beleuchtete Terrain der Kritik und Schmähung. Diese Wege gehen Vereinzelte, Versprengte, Migrierende zwischen Welten, die sich immer mühsamer miteinander vereinbaren lassen. Manche Pfade führen aber auch in die Geselligkeit; die Schubertiaden zeugen davon ebenso wie Texte, die das Leben in durch und durch poetisierter Form und im Wechselspiel von Einsamkeit und Vielsamkeit erfahrbar machen sollen (Dichter und ihre Gesellen von Joseph von Eichendorff, 1833), Salons oder regelrechte Gemeinschaftserzählungen.

Die komplexeste und bedeutendste hat E. T. A. Hoffmann unter dem Titel Die Serapionsbrüder (1819–21) vorgelegt; diverse Erzähler bilden ein Ensemble, wobei jeder zunächst für ein Thema zuständig ist. Mit zunehmender Erzähldauer kommt es dann immer häufiger vor, dass sich die Themenfelder perspektivisch überschneiden oder überlagern. Vorgetragen werden diese Erzählungen von den jeweiligen »Brüdern« im serapiontischen Geiste, benannt nach einem wahnhaften Eremiten, der sich in den Erzählungen sozusagen pluralisiert. Das Besondere dieses erzähltheoretischen Entwurfs ist, dass er sogleich umgesetzt und damit erzählend praktiziert wird. Ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis soll auf diese Weise erst gar nicht aufkommen. Durch diese Art des Erzählens entstehen Situationen wie diese – in den Worten des Erzählers Cyprian, der sonst nicht für musikalische Themen zuständig ist:

Ich werde der größeren Lebendigkeit halber in der ersten Person erzählen, als sei ich selbst der Virtuose, dem alles geschehen, und hoffe, daß mein würdiger Serapions-Bruder Theodor es nicht übel deuten wird, wenn ich ganz in sein Gebiet hineinzustreifen genötigt bin.63

Als sei ich selbst der Virtuose – das könnte das Leitmotiv sein für die Art, in der die Romantiker verschiedener Phasen europaweit, aber im deutschen Sprachraum besonders, ihr Verhältnis zum eigenen Ich und damit zur Subjektivität zu klären versuchten. Auf virtuose Weise ›ich‹ zu sein, das meint einen Anspruch, der sich aus identitätsphilosophischen Überlegungen ableitete und künstlerisch manifestierte.

Das romantische Ich betreibt in dieser Hinsicht vor allem eines: Bewusstseinsarbeit in Form von Spekulation oder Selbst-Setzung. Diese Zugänge zum Ich, aber auch zu einem zumeist poetischen Du, sind am sinnigsten mit einem Gratwandel vergleichbar. Wer den Grat entlanggeht, ist das Ich. Zwischen Emphase und Absturz balanciert und schwankt es, Schwindelgefühle für Energien haltend. Noch in der Spätromantik zentriert sich das Ich auf diese Weise.

Rein individualpsychologisch gesehen ist eine Bemerkung Hoffmanns aufschlussreich, kann er sich doch 1809, wie ein Tagebucheintrag belegt, sein »Ich durch ein Vervielfältigungsglas« denken, wobei »alle Gestalten, die sich um mich herumbewegen, Ichs« seien. Darauf folgt der bezeichnende Zusatz: »und ich ärgere mich über ihr Thun und Lassen.«64 Aus der Gemeinschaft freundschaftlicher Kreise, der Tischgesellschaft oder des Salons war noch nicht jenes gesellschaftliche Sein geworden, das – laut Karl Marx – das Bewusstsein bestimmen wird. Aber die Bestimmung des Einzelnen im Umfeld sozialer Verschiebungen bleibt auch in der Spätphase der Romantik Thema.

Geschichtlich-poetische Selbstbesinnung

Romantik und Revolution stehen in einer eigentümlichen Wechselbeziehung. Die Frühromantik arbeitet auf ihre Weise die Französische Revolution auf und intellektualisiert sie, wie Friedrich Schlegel nahelegt, sowohl mit Hilfe von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) als auch von FichtesWissenschaftslehre; zugleich verinnerlicht sie den Geist der Revolution und macht ihn zu einer Revolution der Gefühle. Die Romantik übersteht sogar Napoleon, der eineinhalb Jahrzehnte lang zum europäischen Phänomen oder – je nach politischer Perspektive – Skandalon wird. Das gelingt ihr, indem sie – europaweit – nationales Kulturbewusstsein zu privilegieren beginnt. Während der Restriktionen, die mit den zensurpolitischen, gegen die nationale Einigungsbewegung gerichteten Karlsbader Beschlüssen (1819) einsetzen, scheint sich die Romantik gezwungenermaßen wieder zu entpolitisieren. Das Bekenntnis zum Nationalen verwandelt sich in ein Interesse an Volksmärchen und ästhetisiert sich als Folklore.

Zugleich beginnt sie, sich – noch nach Vorgaben Friedrich Schlegels