Brunnenleich - Ilona Schmidt - E-Book

Brunnenleich E-Book

Ilona Schmidt

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Während des Coburger Schlossplatzfestes wird in einem Brunnen eine Frauenleiche entdeckt. Eigentlich ein Routinefall, wäre die Frau nicht schon vor Jahren von ihrem Ehemann ermordet worden. Der vorgetäuschte Mord zerstörte nicht nur ihn, sondern auch die beteiligten Familien. Was trieb Melinda nun in ihre Heimat zurück? Kommissar Richard Levin muss nicht nur das Geheimnis um die Tote aufklären, sondern findet zudem heraus, dass seine Vorgesetzte ausgerechnet die Tochter des Mannes ist, dem er nie mehr begegnen wollte.

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Seitenzahl: 337

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Ilona Schmidt

Brunnenleich

Kriminalroman

Zum Buch

Wenn Tote auferstehen Während des Coburger Schlossplatzfests wird in einem nur knietiefen Brunnen eine weibliche Leiche entdeckt. Kriminaloberkommissar Levin übernimmt den Fall. Schnell stellt sich heraus, dass die Tote, Melinda Hauptmann, unter falschem Namen in der Dominikanischen Republik lebte. Sie galt bereits seit Langem als tot – ermordet von ihrem Ehemann Walter, der sie während eines Segeltörns in der Karibik bewusstlos über Bord geworfen haben soll. Dafür saß er 17 Jahre lang im berüchtigten Gefängnis von La Romana in der Karibik. Der vorgetäuschte Mord zerstörte nicht nur ihn, sondern auch die beteiligten Familien. Was trieb Melinda in ihre alte Heimat, und wo steckt Walters Bruder, mit dem sie zusammen in der Karibik lebte? Und welche Rolle spielt Melindas früherer Arbeitgeber, ein Anlageberater und Stadtrat mit Ambitionen auf das Amt des Oberbürgermeisters? Als in einem Teich eine weitere Leiche gefunden wird, stellt sich für Levin die Frage, ob er es mit einem Serienmörder zu tun hat.

Ilona Schmidt wurde in München geboren und wuchs in Nürnberg auf. Sie studierte in Erlangen Chemie und lebte nach ihrer Promotion viele Jahre mit ihrer Familie in Coburg. 2001 zog sie mit Mann und zwei Kindern in die USA, in ihrem Herzen ist sie jedoch Fränkin geblieben. Die Autorin reist viel in der Weltgeschichte herum und besucht Deutschland mehrmals im Jahr. Als Jugendliche hat sie fast alle Agatha-Christie-Romane verschlungen und was Mutters Bücherschrank sonst noch hergab. Krimis sind ihre Passion, außerdem schreibt sie noch Tiergeschichten und historische Abenteuerromane, wobei sie immer besonderen Wert auf Authentizität und komplexe Figuren legt.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Bocktot (2017)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Otto/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5850-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1 Walter

17 Jahre vor dem Coburger SchlossplatzfestIsla Saona, Dominikanische Republik im September

Nichts an diesem Abend ließ Walter Hauptmann ahnen, wie der Tag enden würde.

Oder doch, denn Melindas verändertes Verhalten war ihm schon lange aufgefallen. Groß gewachsen und schlank, die langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und nur mit einem weißen Hemd über dem Bikini bekleidet, stand sie an der Reling des Segelboots und lächelte seinen Bruder Felix an, der mit ihm am Heck saß. Ihn selbst, ihren Ehemann seit drei Jahren, würdigte sie keines Blicks.

Getrieben vom Passatwind, pflügte das Boot durch die karibischen Gewässer, die in einem fast unwirklich erscheinenden intensiven Türkis leuchteten, während das Kielwasser weiß, wie die Schleppe einer Braut, hinter ihnen sprudelte. Eine Möwe tauchte kreischend aus dem tiefblauem Himmel herab und landete hinter dem Heck ihres 15 Meter langen Einmasters auf den Wellen. Das Stechen der untergehenden Sonne ließ nach, doch die schwüle Hitze würde anhalten. Traumhafte Abendstimmung wie in einem Urlaubsprospekt, fast zu schön, um wahr zu sein. Der Bruder, in weißen Jeans mit Kapitänsmütze auf den schwarzen Haaren, passte perfekt in dieses Bild. Er reichte Melinda ein Glas Sekt, an dem sie kurz nippte. Dabei bewegte sie sich mit der lässigen Eleganz einer Frau, die um ihre Wirkung auf Männer wusste. Einmal mehr fühlte sich Walter als fünftes Rad am Wagen.

Was war schiefgelaufen? Vor drei Wochen waren sie in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, angekommen. Er und seine geliebte Frau, auf die er so wahnsinnig stolz war, hatten sich diesen Traumurlaub nur leisten können, weil sie gut verdiente und sein Bruder sie zu diesem Segelturn eingeladen hatte. Walters Bezüge als Polizeimeister hätten dazu nicht gereicht. Seine Vorbehalte hatte Melinda schlichtweg ignoriert.

Anfangs war alles wunderbar gelaufen. Felix hatte sie am Flughafen abgeholt und zum Jachthafen Boca Chica von Santo Domingo gefahren. Ihr Einmaster war ein umgebauter Kutter, der sich bequem von zwei Personen segeln ließ und gut für Fahrten auf dem offenen Meer geeignet war. Die Victoria, wie Felix sie getauft hatte, lag am Pier vertäut, und nachdem sie ihre Sachen verstaut hatten, hatten sie den ersten Abend an Bord mit einem Mahi-Mahi-Fischgericht und viel Weißwein ausklingen lassen. In dieser Nacht hatte er zum letzten Mal mit Melinda geschlafen.

Und jetzt, wenige Tage später, würde er seine Frau ausgerechnet an seinen Bruder, diesen Taugenichts, verlieren. Felix hatte sich eines Tages mit Vaters Kreditkarten aus dem Staub gemacht, um in der Karibik einen Neuanfang zu wagen. Vater hatte ihn gewähren lassen und Mutter sogar Geld hinterhergeschickt. So war es immer gewesen: Der drei Jahre jüngere Felix wurde verhätschelt und Walter hatte das Nachsehen. Walter biss die Zähne zusammen. Alles ging den Bach runter oder, besser gesagt, fiel ins Wasser. Er konnte es förmlich spüren.

Walter schloss die Augen, während er sich auf dem Drahtseil der Reling abstützte. Relax, sagte er sich. Alles kommt in Ordnung. In drei Tagen würde der Spuk vorbei und der Segelturn um die Insel zu Ende sein. Sie würden ihr Flugzeug besteigen und zurück nach good old Germany fliegen. Melinda würde dann wieder ihm gehören, wäre weit weg von Felix’ schlechtem Einfluss. Walter freute sich darauf, und dass ihnen in ihrer Coburger Wohnung ein graukalter Winter bevorstand, war ihm in diesem Moment völlig egal.

Hier indes gab es kein Grau. Nicht einmal graue Wolken, und wenn es doch einmal wie aus Kübeln goss, leckte die Sonne sofort alles wieder auf. Die Karibik strahlte zumeist in den Farben Blau, Türkis, Weiß, Pink und Gelb. Die Menschen hier, ob Einheimische oder Touristen, nahmen das Leben leicht, wenngleich im Landesinneren bittere Armut herrschte. Aber die wollte keiner sehen, und schon gar nicht im Urlaub. Das Meer hinterließ einen salzigen Geschmack auf der Haut, und Punta Canas weißer Sand sammelte sich in den Schuhen. Ein Schlagertext fiel ihm dazu ein: »Ich hab noch Sand in Schuhen aus …« Nein, das war Hawaii gewesen. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, ein weiteres Glas Weißwein sollte Abhilfe schaffen. Die Flache steckte in einem Eiskübel, an dessen Außenseite kondensierte Wassertropfen abperlten.

Plötzlich konnte er nicht mehr klar denken.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe, Walter?«, fragte Melinda.

»Nein«, gab er zu.

»Ich bleibe hier.«

»Du spinnst wohl?« Er nahm einen großen Schluck von dem schweren, süßlichen Wein. Merkwürdig, zuvor hatte er herber geschmeckt. Oder täuschte er sich? Er sollte das Gesöff ausspucken, schoss es ihm durch den Kopf.

Felix beobachtete ihn wie eine Schlange das Kaninchen. Moment mal, immerhin war er Polizeibeamter und würde sich nicht in die Opferrolle drängen lassen. Nach ihrer Rückkehr sollte er nachprüfen, womit Felix sein Geld verdiente. Der Gedanke gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. »Du willst also bei Felix bleiben, diesem Habenichts?«

»Und was kannst du mir bieten?« Melinda richtete ihren Blick endlich auf ihn.

»Du kommst mit nach Hause, damit basta. Was soll das Ganze? Du bist immerhin meine Frau.« Seine Zunge lag schwer in seinem Mund. War er betrunken? Plötzlich starrten ihn zwei Melindas an. Oder war es doch nur eine? Eine unbändige Wut stieg in ihm auf. Sie musste mitkommen, denn ohne sie machte das Leben keinen Sinn mehr. Noch vor Kurzem hatten sie Pläne für den Jahrtausendwechsel geschmiedet: zum Skifahren in die Alpen, später vielleicht ein Kind – wenn es die Finanzen erlaubten.

Felix packte Walter am T-Shirt und zog ihn hoch. »Schlaf erst mal deinen Rausch aus«, fauchte er.

Felix war an allem schuld, an allem. Die Faust flog ins breite Grinsen seines Bruders, der wie ein nasser Sack zu Boden ging. Blut sickerte aus dessen Nase.

»Du Sauhund«, stöhnte Felix. »Du verdammter Sauhund!«

Das war längst überfällig gewesen, fuhr es durch Walters vernebelte Hirnwindungen, trotzdem zögerte er, noch einmal zuzuschlagen. »Du kriegst meine Frau nicht, kapiert?«, lallte er.

»Arschloch«, mischte Melinda sich ein.

Meer und Boot begannen sich um Walter zu drehen, immer schneller, bis seine Umgebung in einem blauweißen Wirbel verschwamm. Was geschah mit ihm? Als kräftige Arme ihn packten, schlug er wild um sich. Ein scharfer Schmerz im Genick und er fiel zu Boden, der sich weich wie Watte anfühlte. Er hing über der Bordwand, sah das Wasser unter sich.

»Hilf mir!«, hörte er Felix wie aus weiter Ferne schreien.

Filmriss.

2 Maxi

Am Donnerstag des Coburger Schlossplatzfests

Versprechen sollte man halten, selbst wenn es einem schwerfällt, dachte Kriminalrätin Maximilia Frohn, die Leiterin des Fachkommissariats 1 der Kriminalpolizeiinspektion Coburg, als sie auf die Wanduhr ihres Büros blickte: 18:30 Uhr. Obwohl schon Dienstschluss war, hielt sie der Fall einer Vergewaltigung noch am Schreibtisch. Viel hatten sie bislang nicht ermitteln können: Das Opfer hatte das jährlich stattfindende Coburger Samba-Festival besucht und war mit hoher Promillezahl im Blut bewusstlos im Hofgarten aufgefunden worden. Zurzeit lag die Frau im Klinikum. Eine Freundin hatte sie letztmalig um 22 Uhr gesehen, Zeugen der Tat gab es keine.

Maxi fühlte sich müde und ausgelaugt. Sie legte den Ordner in eine Schublade ihres Schreibtischs und schloss sie ab. Das war zwar unnötig, aber sie bevorzugte einen aufgeräumten Arbeitsplatz. Vor ein paar Wochen hatte sie die Leitung des K1 übernommen, das für die Fälle der »Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter«, wie es im Juristendeutsch hieß, zuständig war. Im Vergleich zu München war diese Kriminalpolizeiinspektion relativ klein, entsprechend wenig Beamte taten hier Dienst, dennoch deckte sie ein großes Gebiet ab: den Bereich zwischen Coburg, Lichtenfels und Kronach. Übergeordnete Dienststelle war das Polizeipräsidium Oberfranken in Bayreuth. In München war das anders. Da hatte man einen direkten Draht zu den Oberen, und die Kommissariate waren stärker besetzt, um das größere Pensum bewältigen zu können. Manchmal fragte Maxi sich, ob es ein Fehler gewesen war, hierherzukommen. Kommissariatsleiterin hörte sich protzig an, vor allem für eine unter 40-Jährige, aber jeder Kollege wusste, dass dies in der Provinz nicht viel bedeutete.

Das Vorzimmer war leer, ihre Abteilungsassistentin schon zu Hause. Durch die offen stehende Tür des nebenan liegenden Vier-Mann-Büros sah sie vor einem der Fenster eine große, schlanke Männergestalt stehen. Kriminaloberkommissar Richard Levin blickte auf die Neustadter Straße hinunter, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der anderen stützte er sich an der Scheibe ab.

Sie blieb stehen. Levin war zwar kein Modeltyp, aber er hatte Ausstrahlung und stand zudem im Ruf, ein ausgezeichneter Ermittler zu sein: scharfsinnig, unbestechlich, hartnäckig. Dabei hielt nicht nur sein Team 100-prozentig zu ihm, sondern alle Kollegen des K1. Leider hatte er sich ihr gegenüber bislang sperrig gezeigt. Nur manchmal blitzte ein gewisser Charme auf und ganz selten so etwas wie Sympathie. Am meisten ärgerte sie seine Geheimniskrämerei. Ein Mann, der sich nicht in die Karten schauen ließ, regte sie auf. Dabei war es wichtig, mit den Kollegen vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Levin war der eigentliche Führer des Rudels, sie hingegen bloß eine Mitläuferin, die ihm vor die Nase gesetzt worden war. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte sich nie hierher versetzen lassen. Und das alles nur, um zu beweisen, dass Frauen auch etwas leisten konnten. Aber es half nichts, da musste sie durch. Sie reckte ihr Kinn vor und ging auf ihn zu.

Levin wandte ihr nach wie vor den Rücken zu, schien fasziniert von dem zu sein, was vor dem Gebäude geschah.

»Irgendwas Interessantes da unten?«, fragte sie.

Statt einer Antwort drehte er sich um, und zu ihrer Überraschung entdeckte sie in seinem hageren Gesicht einen Hauch von Trauer, die aber sofort durch Härte ersetzt wurde. »Sind Sie fertig? Dann können wir.«

Sie siezten sich hartnäckig, da sich bislang keine Gelegenheit ergeben hatte, ihm das Du anzubieten. Insgeheim mochte sie seine sonore Stimme, doch im Moment stieß ihr seine Antwort sauer auf. »Haben Sie auf mich gewartet? Ich finde den Weg auch allein.«

Ein schmales Lächeln war die Antwort. »Ich wollte nur sicherstellen, dass sie nicht wieder das Weite suchen wie vergangene Woche.«

Letzte Woche war Samba-Festival in Coburg gewesen. Sie war zu ihren Eltern nach München gefahren, um – wie viele andere Bewohner der Innenstadt auch – vor den lauten Trommelgruppen, den Touristen und Fans zu flüchten. »Wenn sich die eigene Wohnung plötzlich inmitten einer Trommel zu befinden scheint, kann die Stille in der Ferne sehr attraktiv sein. Sind Sie etwa geblieben?«

Sein Lächeln verflüchtigte sich. »Gehen wir. Die Kollegen warten bestimmt schon.«

Gemeinsam traten sie aus dem ehemaligen Kasernengebäude, das jetzt die Polizeiinspektion sowie die Kripo Coburg beherbergte, und sie ließ sich von ihm zum Schlossplatzfest chauffieren. Dort parkte er seinen nachtblauen Audi A3 rotzfrech im abgesperrten Bereich. Als sie demonstrativ die Augenbrauen hochzog, zwinkerte er ihr zu. Eine der üblichen Plänkeleien zwischen ihnen, wenn es um Außerdienstliches ging.

Jetzt freute sie sich doch auf den Abend im Kollegenkreis. Während sie sich dem Schlossplatz näherten, wehte ihr eine warme Brise appetitanregender Gerüche entgegen. Vom morgendlichen Regen kündeten nur noch wenige Pfützen. Manchmal wurde der Platz als Parkfläche des benachbarten Landestheaters genutzt, doch heute umrundeten ihn weiße Zelte. Um das mit Blumen geschmückte Rondell, mit dem Denkmal des Herzogs Ernst I. in der Mitte, bewegten sich die Besucher im Kreis, während die Coburger Gastronomie ihre Gäste mit heimischen Spezialitäten versorgte.

Vor einem Bierausschank trafen sie die Kollegen, die – bis auf einen, der Bereitschaft hatte – vollzählig erschienen waren. Zu Maxis Erleichterung befand sich unter ihnen auch Kommissarin Nadine Wallner, die neben ihr die Frauenpower der Kripo repräsentierte. Die Wallner, wie alle sie nannten, war eine zierliche Person, die jedem an den Kragen ging, der ihre Kompetenz infrage stellte. Und das mit gutem Grund, denn sie arbeitete zielorientiert, war zudem unermüdlich und geradeheraus, was sie sympathisch machte.

Kommissar Peter Weingarth winkte ihnen zu. Auch er war relativ klein geraten, ließ aber Wallners Schärfe vermissen. Dafür war er der Spaßvogel der Abteilung. Trotzdem konnte er zu einem angriffslustigen Terrier mutieren, wenn er sich in einen Fall verbiss. »Auch scho’ da?«

»Hat doch nicht jeder so eine lockere Dienstauffassung wie du«, sagte Levin trocken.

»Alter Miesepeter. Prost!« Weingarth hob das halb leere Glas und nahm einen ordentlichen Schluck. »Wollt ihr was essen?«

»Gern«, sagte Maxi und legte die Hand auf ihren Magen, der prompt knurrte.

Weingarth lachte. »Des nehm ich als ein Ja. Wohin?«

Maxi hatte keine Ahnung, wohin, aber offensichtlich erwartete jeder, dass sie den Leithammel spielte. Sie empfand das als unfair, da sie nur a Zuagroaste war, wie man in München sagen würde.

»Auf geht’s«, sagte Levin und schlenderte gegen den Uhrzeigersinn auf die Arkaden zu, die den Platz zum Hofgarten hin abgrenzten. Einerseits war Maxi ihm dankbar, andererseits hatte er einmal mehr gezeigt, wer Herr im Ring war.

Weingarth grüßte unterwegs ständig irgendwelche Leute, schien jeden zu kennen.

Auf einer der drei Bühnen ließ eine leicht bekleidete Frauengruppe aus Brasilien Hüften und Brüste zu lateinamerikanischen Rhythmen wackeln, während eine dunkelhäutige Schönheit in einem lateinamerikanischen Sambakostüm sich die Seele aus dem Leib sang. Davor stand eine Wand aus Zuschauern, von denen einige ausgelassen mittanzten. Prompt blieben alle Männer ihrer Gruppe stehen und gafften.

Die Wallner versetzte ihr einen leichten Rippenstoß. »Typisch. Kaum wackelt ein Po, sind sie alle k. o.«

Levin drehte sich um, musterte sie von oben bis unten, den Mund spöttisch verzogen, schwieg aber. Die Kollegin errötete.

Vor ihnen stand eine schlanke, elegant gekleidete Frau mit kurzen, schwarzen Haaren, die die Tanzgruppe auf Spanisch anfeuerte; eine Sprache, die Maxi selbst recht passabel sprach. Ob die Brasilianer die Zurufe allerdings verstanden, war fraglich, denn sie sprachen Portugiesisch. Die Dame wandte sich an ihre Begleiterin und wechselte auf Deutsch mit Coburger Zungenschlag: »Das Schlossplatzfest hab ich sehr vermisst«, sagte die Frau. »Komm, trink ma an Schampus.«

Die Begleiterin, eine stämmige Frau, deren auffälligstes Merkmal ein langer, kastanienbrauner Zopf war, nickte. »Wenn du meinst. Wollen wir nicht erst nach den anderen schauen?«

Das ungleiche Paar drängte sich zwischen Levin und Maxi hindurch, wobei ihr der Duft eines schweren Orangen-Moschus-Parfüms in die Nase stieg.

Maxis Gedanken flogen zu dem Mädchen, das nach dem ausgelassenen Samba-Festival vergewaltigt worden war. Beim Schlossplatzfest hingegen schien es gediegener zuzugehen.

Die Wallner forderte, endlich zum Essen zu gehen. »Dahin, wo’s Lachs und Kartoffelpuffer gibt. Dazu einen guten Weißwein, mehr brauch ich nicht zum Glücklichsein.«

Maxi ließ sich mittreiben. Der Lachs schmeckte köstlich, die Kartoffelpuffer waren frisch zubereitet und der trockene Frankenwein tat ein Übriges. Bei den lockeren Gesprächen taute sogar Levin auf. Nach dem Essen kreisten sie noch einige Male um das Rondell, bis sich die Gruppe schließlich auflöste. Jeder verließ den Platz in eine andere Richtung, außer sie und Levin. Nur Weingarth verkündete, länger bleiben zu wollen, weil er Freunde getroffen habe.

Als alle gegangen waren, standen sie und Levin sich schweigend gegenüber, als müsste noch etwas gesagt werden. Wäre es zu offensichtlich, ihn zu fragen, ob er mit ihr noch eine Runde drehen wolle? Vielleicht war er sogar deshalb geblieben?

Doch sie hatte sich getäuscht. »Bis morgen«, sagte er unvermittelt und machte sich auf den Weg.

»Danke, ich finde allein nach Hause«, erwiderte sie, als er außer Hörweite war.

3 Richard

Am Freitag des Coburger Schlossplatzfestes

Der Weg vor ihm wand sich steil bergauf, während der Osten Coburgs zu seinen Füßen lag. Die Julisonne hatte endlich die Wolken durchbrochen, aber der Morgen verströmte noch seinen feuchten, nach Erde riechenden Atem. Sein rechtes Knie stach leicht; erstes Anzeichen dafür, dass er nicht jünger wurde. Doch aufgeben war für Richard keine Option. Er atmete gleichmäßig und rannte im Takt, um sich die hochkommenden Erinnerungen aus dem Kopf zu hämmern.

Hier gab es Laub, Gras, Bäume und Leben – tausend Kilometer entfernt hingegen, auf einem anderen Kontinent, nur Wüste und kahle Berge. Dort konnte hinter jedem Felsbrocken der Tod lauern.

Niemand konnte seiner Vergangenheit entrinnen, auch er nicht. Immer wieder drängte sie nach oben, durchbrach die Oberfläche, egal wie sehr er dies zu beherrschen suchte. Wenn er meinte, Kontrolle darüber zu haben, genügte oft schon ein kleiner Anlass, um die Bilder und Geräusche wieder lebendig werden zu lassen. Eine endlose Abfolge verpasster Gelegenheiten und traumatischer Ereignisse, die er nie vergessen würde.

Laufen war das zweitbeste Mittel, dem zu begegnen. Das beste waren die Schaukämpfe mit seinem Freund Dominik beim Training für Ritterspiele, aber das fand in Nürnberg und während seiner dienstfreien Zeit statt. In Coburg war er lediglich ein unauffälliger Kriminalbeamter, bürokratisch und akribisch, der sich mit ein bisschen Joggen fit hielt. Und das sollte auch so bleiben.

Ziemlich außer Atem erreichte er den Berggipfel und somit die Veste Coburg. Das viele Sitzen am Schreibtisch machte träge. Er legte eine Verschnaufpause ein, warf einen Blick auf das Fitnessarmband und war mit seiner Zeit zufrieden.

Trutzig erhob sich vor ihm die Burg, die nie eingenommen worden und nur durch einen Trick in Feindeshand gefallen war. In den meterdicken Mauern steckten noch Wallensteins Kanonenkugeln. Richard blickte hinunter auf die Stadt, die er seit einigen Jahren sein Zuhause nannte. Sie hatte Charme, wirkte mitunter etwas verschlafen und die hier herrschenden Temperaturen waren stets ein bis zwei Grad niedriger als in Nürnberg. Ihre Bewohner wirkten oft verschlossen, typische Franken eben, obwohl er sie insgeheim zu den Thüringern zählte. Weil der Dialekt »Itzgründer Fränkisch« hieß, vermutete er, die Bewohner müssten von den Franken abstammen, tatsächlich hatten Stadt und Land jahrhundertelang zum Herzogtum Sachsen-Gotha gehört, was Spuren vor allem in der Esskultur hinterlassen hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis es ihm einleuchtete, dass »Semmel« ein doppeltes Brötchen meinte, dagegen bezeichnete »Brödla« das, was für ihn als Nürnberger ein »Weggla« war.

Mit einem Schmunzeln beendete Richard die Umrundung der Burganlage. Zu Hause wartete weder Frau noch Kind auf ihn, sondern nur ein leerer Kühlschrank. Seine Vorgesetzte kam ihm in den Sinn, wie so oft, zu oft. Sie war zum Bestandteil seiner Gedanken geworden, verwirrte ihn, mehr als er sich eingestehen mochte. Einerseits ärgerte es ihn, jemand Jüngeren, Unerfahreneren vor die Nase gesetzt bekommen zu haben, anderseits fühlte er sich von ihr angezogen.

Sein Diensthandy summte. Die Leitstelle. Er meldete sich knapp mit »Levin«.

»A Leich’ im Hofgarten«, sagte der Beamte am anderen Ende. »Im Herzog-Alfred-Brunnen.«

In Coburg gab es viele historische Brunnen, aber nur zwei im Hofgarten. Einer davon sprudelte im Kleinen Rosengarten, war jedoch zu klein, um darin ertrinken zu können. Der andere, der Herzog-Alfred-Brunnen, befand sich unweit von hier, in Richtung Stadtzentrum. Offenbar existierten Zweifel an den Todesumständen, sonst hätte man ihn nicht angerufen. Seines Wissens war dieser Brunnen höchstens knietief. »Bin auf dem Weg«, sagte er zu dem Beamten der Leitstelle und nahm die Abkürzung steil nach unten durch den Wald. Seine Aufmachung in Jogginghose und Hemd störte ihn nicht. Nach Hause zu spurten und sich umzuziehen, hätte ohnehin zu viel Zeit in Anspruch genommen.

Im unterhalb der Veste gelegenen Hofgarten, dessen Bäume aus aller Herren Länder stammten, hielt sich Richard auf dem Hauptweg, vorbei am Veilchental links und am Naturkundemuseum rechts.

Merkwürdig, wie einen die Polizeiarbeit veränderte. Orte wurden nach Verbrechen eingeteilt, Menschen nach Gut und Böse. Welche Überraschungen würde der neue Fall mit sich bringen? Morddelikte waren in Coburg eher selten, kein Vergleich zu Großstädten wie Nürnberg oder München. Während seiner Dienstzeit in Nürnberg hatte er in einer zweifelhaften Notwehrsituation einen Menschen erschossen. Der Vorwurf des ungerechtfertigten Schusswaffengebrauchs war zwar inzwischen vom Tisch, dennoch sah Richard keinen Grund, sich in seine alte Dienststelle zurückversetzen zu lassen.

Schon von Weitem bemerkte er zwei Streifenwagen, einen Rettungswagen und das Fahrzeug des Notarztes. Die Beamten der Schutzpolizei sicherten soeben den Tatort mit Absperrband. Er verlangsamte die Schritte, um seinen Atem zu beruhigen. Ein Vorteil der kleineren Polizeiinspektion war, dass jeder jeden kannte, und deshalb nickte der etwas rundliche Polizeihauptmeister Tobias Schneider bei seinem Eintreffen lediglich. »Gut, dass du es bist. Wohl gerade aus ’m Bett g’falln?«

»Na, na, keine Anzüglichkeiten. Was liegt an?«

»’ne Frauenleiche. Trieb im Brunnen. Die Spaziergängerin dort drüben hat ihr’n Hund baden lassen und sie dabei entdeckt.«

Im Gesicht der schlicht gekleideten Mittvierzigerin stand das blanke Entsetzen, ein nasser Pudel saß neben ihr. Der Brunnen hatte die Dimension eines ovalen Swimmingpools und war mit einem hüfthohen Ziergitter umgeben. An der gegenüberliegenden Seite erhob sich ein halb runder, etwa vier Meter hoher, rötlicher Torbogen aus Stein, in dessen Mitte eine überdimensionale Muschel stand, flankiert von zwei wasserspeienden Delfinen. Rechts davon saß eine nackte Schöne und links schreckte ein Jüngling vor einer wasserspeienden Schlange zurück; hübsch gruselig, wie passend für einen Tatort. Direkt vor der Brunnenanlage lag ein bekleideter Frauenkörper auf dem Rücken, neben dem der Notarzt ihm erwartungsvoll entgegenblickte.

Richard näherte sich der Toten: groß gewachsen, das Gesicht leicht aufgedunsen, kurze schwarze Haare. Wasserleichen waren selten ein schöner Anblick, aber diese hier schien nicht lange im Wasser getrieben zu haben.

Er wusste nicht mehr, wie viele Leichen er schon zu Gesicht bekommen hatte. Manchmal wünschte er sich, es wären weniger gewesen. Sein Militäreinsatz in Afghanistan hatte ihm jegliche Sentimentalität ausgetrieben, ihm gezeigt, wie alltäglich der Tod sein kann. Manche lernten nie, damit umzugehen. Aber es half nichts, er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren, obwohl die Toten allgegenwärtig waren.

»Vermutlich ertrunken«, sagte der Notarzt knapp, den Richard von einer früheren Begegnung her kannte. »Sie hat eine Platzwunde am Hinterkopf erlitten. Eventuell von einem Sturz – oder auch nicht. Jedenfalls kann ich keine natürliche Todesursache attestieren.«

Was bedeutete, dass der Fall auf dem Tisch des Staatsanwalts landen würde. Eigentlich Routine, hätte es nicht den Vergewaltigungsfall in der vergangenen Woche gegeben.

»Spuren einer Vergewaltigung?«, fragte er, obwohl das unwahrscheinlich war, da die Tote komplett bekleidet war.

»Dem ersten Augenschein nach keine. Für mich sieht’s eher wie ein Unfall aus.«

Sein Bauchgefühl sagte ihm etwas anderes. Er beugte sich über den Leichnam, der ansonsten unversehrt schien. Die Augen der Toten waren weit geöffnet. Nanu? Ein blaues und ein braunes Auge. Seltsam. Er sah genauer hin und bemerkte einen Rand um die Iris des braunen Auges. Er richtete sich auf. Dafür gab es nur eine Erklärung.

»Im Brunnen muss eine braune Kontaktlinse schwimmen«, sagte er zu den Kollegen des Kriminaldauerdienstes, die inzwischen eingetroffen waren. Ihre Gesichter zeigten eine gewisse Gleichgültigkeit, die einen wohl überkam, wenn man diesen Job jahrelang machte.

»Betrunken ’nei ins Wasser g’falln«, sagte Schneider hinter ihm.

»Warten wir’s ab, was die Erlangener dazu sagen.« Coburg hatte kein eigenes Gerichtsmedizinisches Institut. Ungeklärte Todesfälle wurden deshalb im Keller der Aussegnungshalle des Coburger Friedhofs von den Spezialisten aus Erlangen untersucht. Das Gesicht der hübschen Monika Lange tauchte vor Richards geistigem Auge auf. Die Gerichtsmedizinerin arbeitete in dem Institut und war eine langjährige Freundin. Beinahe wäre aus dieser Beziehung mehr geworden, aber eben nur beinahe.

»Bin g’spannt, was rauskommt«, sagte Schneider und zog die Mundwinkel nach unten. Bei der Schutzpolizei waren alkoholisierte Unfallopfer an der Tagesordnung.

»Ich gebe dir Bescheid, sobald wir mehr wissen. Hatte sie einen Ausweis bei sich?«

»Des net, aber ’ne Handtasche.« Schneider zeigte auf ein Gucci-Modell mit goldenem Emblem. Bei einem erneuten Blick auf die Tote bemerkte er an ihren Fingern drei Diamantringe sowie am Handgelenk eine mit Edelsteinen besetzte Uhr einer Schweizer Nobelmarke. Raubmord konnte demnach ausgeschlossen werden, außer der Täter war gestört worden.

Richard schüttelte den Kopf. Er sollte erst den gerichtsmedizinischen Befund und den Bericht der Spurensicherung abwarten, bevor er weitergrübelte. Er sah den Kollegen noch eine Weile bei ihrer Arbeit zu und verabschiedete sich dann.

Warum in aller Welt hatte die Dame ihre Augenfarbe geändert? Aus Modegründen oder steckte mehr dahinter? Er hielt inne. »Überprüft mal, ob ihre Haare gefärbt sind!«, rief er über die Schulter zurück.

4 Walter

17 Jahre vor dem Coburger SchlossplatzfestIsla Saona, Dominikanische Republik im September

Allmählich nahm Walter seine Umgebung wieder wahr. Ein Albtraum wirkte in ihm nach, Fetzen von Bildern, die ihn schon als Kind geängstigt hatten. Er spielte im Garten seines Elternhauses, als der daran angrenzende Hügel zum Leben erwachte, immer größer wurde und ihn zu erdrücken drohte. Glücklicherweise war er immer aufgewacht, bevor die riesige Wand aus Gras, Erde und Bäumen über ihm zusammenbrechen und ihn mitreißen konnte.

Dieses Mal hatte ihn der Hügel offenbar erwischt, denn von seinem Hinterkopf ging ein dumpfer Schmerz aus. Walter atmete schwer, in seinen Adern pochte der Schrecken und die Zunge klebte unbeweglich am Gaumen.

Wo war er? Mühsam sortierte er seine Erinnerungen. Sein Bett schwankte leicht – er war in der Schlafkabine eines Boots; dem Segelboot seines Bruders.

Er schlug die Augen auf. Der Platz neben ihm war leer.

Verdammt, Melinda war bei Felix. Walter fuhr hoch. Ein scharfer Schmerz explodierte in seinem Hinterkopf. Übelkeit überkam ihn, der Magen rebellierte. Warum hatte er sich so betrinken müssen? Er war doch kein Teenager mehr, kannte seine Grenzen.

Er wankte zur Toilette und übergab sich – sauer und ekelig –, was seine Übelkeit noch verstärkte. Verfluchte Scheiße. Das Wasser, das er sich ins Gesicht patschte, konnte ihn kaum erfrischen. Aus einem kleinen Spiegel an der Wand schaute ihn ein beinahe fremder Mann an: verschwollenes Gesicht, die Haare wirr, dunkle Bartstoppeln auf grauer Haut. Es war lange her, dass er einen derartigen Kater gehabt hatte. Was war gestern geschehen? Wein, Schnaps, keine Ahnung wie viel. Seine Erinnerung setzte nach dem Abendessen aus. Neben seiner Koje entdeckte er eine halb leere Wasserflasche, die er in einem Zug leerte.

Außer einem sanften Schwappen des Meers war nichts zu hören. Er öffnete die Mahagonitür und trat in die Kajüte. Die Tür der Kabine nebenan war verschlossen. Am anderen Ende des kleinen Raums führte eine Treppe hinauf aufs Deck. Auch hier war von Melinda und Felix keine Spur. Sie ankerten vor der Insel, Fock- und Großsegel waren eingeholt. Palmen, weißer, mehliger Strand, einige Boote schwankten auf türkisem Meer. Der kleine Fischerort mit seinen bunten Häusern und der Pier, den er in der Nähe sah, musste Mano Juan sein. Die dunkelhäutigen Einwohner lebten zumeist von Touristen, die aus den Urlaubresorts La Romana und Punta Cana hierher geschippert wurden.

Über Land und Leute wusste er nur wenig, aber dass sich sein Traumurlaub zu einem Albtraum entwickelt hatte, war ihm klar.

Sollte er sich Zugang zu Felix’ Kabine verschaffen und die Wut eines gehörnten Ehemanns an den beiden auslassen? Die Angst, sich lächerlich und alles nur noch schlimmer zu machen, hielt ihn davon ab. Waren Melinda und er erst einmal zurück in Coburg, könnten sie wieder zusammenkommen, davon war er überzeugt. Also gute Miene zum bösen Spiel machen? Nein, das ging auch nicht, das ließ sein Ehrgefühl nicht zu.

Als Walter sich erhob, erfasste ihn ein Schwindelgefühl, das ihn beinahe in die Knie zwang, aber er fing sich, indem er Halt an der Reling suchte. Das Metall fühlte sich komisch an. War das Rost? Er starrte darauf. Nein, das war geronnenes Blut. Erst jetzt fuhr seine Hand in den Nacken, wo nach wie vor der Schmerz tobte. Aber da war lediglich eine Schwellung, keine offene Wunde. Die hätte er längst bemerkt.

Schlagartig erinnerte er sich daran, dass Felix’ Nase geblutet hatte. Er war ihm an die Gurgel gegangen und entsetzt darüber, sich nicht in der Gewalt gehabt zu haben. Eine schlechte Charaktereigenschaft für einen Polizeibeamten. Was in aller Welt war in ihn gefahren?

Ihm wurde erneut schlecht, und trotz der morgendlichen Wärme fröstelte ihn. Warum war es auf dem Boot so verflucht still? Auf dem Tischchen am Heck standen noch die Flaschen und Gläser des gestrigen Saufgelages. In einer Schüssel die Reste eines Salats. Auch an den konnte er sich nicht mehr erinnern.

Wellen vom Kielwasser eines vorbeituckernden Kutters, der auf das Fischerdorf zuhielt, patschten gegen den Schiffsrumpf und ließen das Boot schwanken. Neugierige Blicke trafen ihn. Touristen, die den Tag auf der unter Naturschutz stehenden Insel verbringen wollten. Darüber hatten sie sich gestern unterhalten, aber an mehr konnte er sich nicht erinnern.

Vielleicht sollte er Melinda ihrer Wege gehen lassen. Was würde es bringen, sie zu zwingen, bei ihm zu bleiben? Wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten wollte, war ihm unklar; von seinen Bezügen jedenfalls nicht. Felix besaß zwar diesen Kahn, ansonsten aber nichts, hatte nur Flausen im Kopf, und davon reichlich.

Stöhnend ließ er sich auf die gepolsterte Sitzbank fallen und stützte seinen Kopf mit beiden Händen ab. Tief durchatmen, befahl er sich. Allmählich fühlte er sich besser.

Plötzlich ein Geräusch unter Deck. Eine Tür wurde geschlossen und gleich darauf tauchte Felix’ Kopf im Niedergang auf. Er gähnte herzhaft, setzte sich Walter gegenüber und schaute ihn von unten herauf an.

»Du traust dich was!«, brach es aus Walter hervor. »Mit meiner Frau zu vögeln. Bist du noch zu retten?«

Felix zog beide Augenbrauen hoch. »Hab ich das?«

»Ich bin weder blind noch blöd!«

Felix zuckte mit den Schultern. »Nur weil wir uns gut verstehen, heißt das noch lange nicht, dass ich mit ihr in die Koje steige. Melinda hat sich in die Karibik verliebt, nicht in mich.«

»Schmarrkopf! Du Hurenbock hast sie mir ausgespannt!«

»Du wirst deine Frau doch nicht als Hure bezeichnen?«

»Leck mich am Arsch!«

»Das waren drei Beleidigungen in zwei Sätzen. Als Polizist solltest du deine Worte sorgfältiger wählen.«

Oh, wie er seinen Bruder in diesem Moment hasste. Am liebsten wäre er ins Meer gesprungen und zur Insel geschwommen, nur um dessen Häme nicht aushalten zu müssen. Doch diesen Triumph würde er ihm nicht gönnen. Am besten, er verhielt sich so, als ginge ihm das alles am Arsch vorbei. Ohne Geld und Pass würde er außerdem nicht weit kommen.

»Wo ist sie eigentlich?«, fragte Felix.

»Wer?«

»Na, Melinda – deine Frau.«

Walter erschrak. »War sie nicht bei dir?«

»Nee. Wir haben dich runtergebracht, weil du voll wie eine Strandhaubitze warst. Melinda ist bei dir geblieben. Ich glaube, wir hatten gestern alle ein Glas zu viel.«

»Bei mir war sie nicht. Zumindest nicht, als ich aufwachte.« Walter sprang auf, stürmte unter Deck und riss die Tür zu Felix’ Kabine auf – leer, keine Melinda.

Dieses Arschloch von einem Bruder hatte die Wahrheit gesagt.

Er schaute in seine Kabine und in das enge Bad mit Toilette und Dusche – nichts.

»Was machst du da unten? Kegeln?«, fragte Felix von oben. »Wie’s poltert, könnte man’s meinen.«

»Sie ist weg!«

»Was?« Felix schaute ungläubig. »Was meinst du mit ›weg‹?«

Walter begann zu schwitzen. »Wo könnte sie sich versteckt haben?«

Auch Felix schien langsam von Panik erfasst zu werden, seine Gesten wurden hektisch. »Keine Ahnung. Vielleicht im Maschinenraum?«

Sie begannen, das Schiff systematisch zu durchsuchen. »Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«

»Als sie bei dir war.«

Walters Gedanken rasten, sein Herz hämmerte wild. »Seit wann liegen wir vor Anker?«

»Melinda und ich haben nachts die Segel gerefft und sind dann in unsere Kabinen gegangen – jeder in seine. Bei Sonnenaufgang bin ich mit dem Diesel hierher getuckert, habe Anker geworfen und mich noch mal in die Koje gehauen.«

Walter sah verzweifelt zur Insel hinüber, aber auch dort keine Spur von seiner Frau. »Kann es sein, dass sie ins Dorf ist?«

»Geschwommen? Das Dinghi ist noch da.«

Tatsächlich, das kleine Beiboot war noch am Heck vertäut.

»Melinda ist eine gute Schwimmerin. Wahrscheinlich geht sie davon aus, dass wir sie abholen.«

»Und wo soll das bitte schön sein?«

»Im Dorf. Wo sonst?« Walter strengte seine Augen an. Der Kutter, der vorhin an ihnen vorbeigefahren war, hatte inzwischen am Pier festgemacht und entließ soeben seine menschliche Fracht an Land. Keine Melinda darunter. In seinem Kopf setzte sich ein Gedanke fest, und der jagte ihm Angst ein.

Felix stand vor ihm, die Arme schlaff herunterhängend, und sprach genau das aus, was er selbst gerade gedacht hatte. »Du hast sie über Bord geworfen. Du Schwein hast sie umgebracht.«

5 Richard

Am Freitag des Coburger Schlossplatzfestes

»Was machst’n am Wochenende?«, fragte Peter Weingarth in ihrem Vier-Mann-Büro im ersten Stock der Polizeiinspektion Coburg, in dem die Kriminalpolizeiinspektion residierte. Die Frage war zu einem freitäglichen Ritual geworden und die Antwort, die Richard geben würde, war stets die gleiche.

»Mal sehen.«

»Irgendwelche Ritterspiele auf’m Programm?«

Richard atmete tief durch. Bis vor Kurzem hatte keiner in der Inspektion etwas von seinem Hobby geahnt, aber seit ihn ein ehemaliger Knacki während einer Ritterspielveranstaltung mit einem Messer verletzt hatte, um sich für den Tod seines Bruders zu rächen, wusste jeder davon.

Nach anfänglichem Entsetzen und nachfolgendem Mitgefühl wurde seither nur noch darüber gewitzelt. Irgendwann würde sich das Thema totlaufen und die lieben Kollegen müssten sich ein neues Opfer suchen. Bis dahin hieß es: Arschbacken z’amm und durch.

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Richard. »Und wenn, würde ich es dir nicht sagen.«

»Warum? Haste Schiss, wir könnten dort auftauchen und mitmischen?«

»Schiss? Vor dir halber Portion? Dass ich nicht lache. Dich bläst doch der kleinste Furz um.«

Hinter ihm kicherten die Kollegen, die zu einem Plausch vom angrenzenden Büro herübergekommen waren.

»Der Peter könnte als Zwerg auftreten«, meinte Biesenecker.

Das Grinsen rutschte aus Peters Gesicht. »Dich leg ich noch allemal flach.«

»Ich bin doch nicht schwul.« Kriminaloberkommissar Franz Biesenecker sah man seine Unsportlichkeit an. Er tat nur das Allernötigste und schob jedes Mal, wenn Sport auf dem Dienstplan stand, Rückenschmerzen vor. Möglich, dass er tatsächlich darunter litt, aber das war Richard egal. Nicht egal war ihm allerdings Bieseneckers oft zur Schau gestellte erzkonservative Gesinnung. Abgesehen davon leistete er gute Arbeit, war aber ein typischer Bürokrat, gut geeignet für Telefonrecherche. Richard drehte sich mit seinem Bürostuhl um und visierte Biesenecker an. »Na, na, höre ich da ein Vorurteil heraus?«

Biesenecker verzog seinen Mund spöttisch. »Solange sie mich in Ruhe lassen, können die Brüder machen, was sie wollen.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Richard eine Bewegung an der Tür.

»Gut, dass alle da sind«, sagte die Frohn im Türrahmen stehend. »Eine Auffrischung eurer Kenntnisse in Sachen Selbstverteidigung könnte nicht schaden.«

»Ich hab Rückenschmerzen«, rief Biesenecker sofort.

»Übernächste Woche Dienstag, 15 Uhr – alle«, antwortete Frohn davon ungerührt. Auch die Herren Biesenecker und Levin, wenn ich bitten darf.«

»Wenn se ölla sächt, meentse auch ölla«, sagte Peter lachend.

Richard lehnte sich zurück, die Beine ausgestreckt und die Hände hinterm Kopf gefaltet. »Schießtraining wäre besser.«

»Aber außerhalb der festgesetzten Trainingseinheiten zu teuer.« Frohn seufzte. »Ein bisschen Knochenverdrehen ist doch auch nicht schlecht.« Ihr Strahlen erlosch. Sie hatte wohl erkannt, dass sie damit keine Begeisterungsstürme auslösen konnte. Sie tat ihm ein bisschen leid.

»Wir wär’s, wenn ich euch zum Angeln mitnehm?«, schlug Peter vor. »Des beruhigt unheimlich.«

»Nein, sie hat recht«, sagte Richard langsam. »Einen Faustangriff abwehren oder einen Täter entwaffnen zu müssen kommt öfter vor, als einen finalen Rettungsschuss abzugeben. Coole Idee.«

Damit war die Sache erledigt, es gab keinen Widerspruch mehr. Jeder kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, nur die Frohn blieb in der Mitte des Raums stehen.

Richard erhob sich. »Ich schau mal beim Kriminaldauerdienst vorbei. Vielleicht hat die Auswertung der Spuren im Fall der ertrunkenen Frau schon was ergeben.«

»Die aus dem Brunnen?«, fragte die Frohn.

»Des muss saublöd zugegang’ sein«, meinte Peter.

»Kommt Zeit, kommt Erkenntnis«, erwiderte Richard.

»Könnte ein Zusammenhang mit der Vergewaltigung von letzter Woche bestehen?«, fragte sie.

»Auf den ersten Blick würde ich sagen: Nein. Die Dame war vollständig bekleidet.«

»Und was sagt die Gerichtsmedizin?«

Diese Frage ärgerte Richard, schließlich war er kein Anfänger. »Sobald die sich rühren, kriegen Sie die Ergebnisse auf den Schreibtisch – Madame.«

Für eine Frau war die Frohn außergewöhnlich groß, trotzdem musste sie zu ihm aufschauen. Bei ihrem Vorgänger, dem allseits unbeliebten Ersten Kriminalhauptkommissar Weidling, hatte diese Taktik immer gut funktioniert. Tapfer hielt sie seinem Blick stand, im Gegensatz zu Weidling, der meist aufgegeben hatte.

»Dann ist alles in Ordnung«, sagte sie scharf und drehte sich abrupt um. Seitdem sie auf ihre High Heels verzichtete, wippten ihre Hüften weniger, was der Attraktivität ihres wohlgeformten Hinterns aber keinen Abbruch tat.

Hatte er soeben auf ihren Po gestarrt? Am liebsten hätte er sich dafür selbst geohrfeigt. Im Kommissariat war von ihren Führungsqualitäten bisher nur die Wallner überzeugt, alle anderen waren sich darüber einig, dass die Frohn sich gut als Model oder Schauspielerin eignen würde. Das war unfair, aber Richard befürchtete seit einiger Zeit, dass er seine Objektivität verlor, was sie betraf.

»Peter, du begibst dich mit Jan auf Zeugensuche«, sagte er. Kriminalkommissar Jan Schultheiß war das Nesthäkchen unter ihnen und erst seit einem Monat dabei. Ein netter Kerl, blond, Computerfreak und passionierter Handballer.

Peter verzog das Gesicht. »Wegen ’ner Betrunkenen? Wollma net erst den Bericht abwart’n?«

»Ich glaube eher, sie ist ertrunken – und zwar nicht in Alkohol. Ein bisschen Bewegung schadet euch nicht.«

Biesenecker grinste, löste sich vom Fensterbrett und marschierte, gefolgt von der Wallner, durch die offene Tür in sein Büro zurück. Biesenecker bearbeitete zurzeit einen Fall von Brandstiftung in einem Asylantenheim, was höhere Priorität hatte. Schließlich wollte Coburg sich keine Ausländerfeindlichkeit nachsagen lassen, wie der Stadtrat nicht müde wurde zu betonen, wobei er entsprechend Druck gemacht hatte. Es reichte schon, dass Coburg zu Adolfs Zeiten den ersten Nazibürgermeister Bayerns gestellt hatte, und auch beim Pfingstkongress der Studentenverbindungen gab es regelmäßig Zoff.

Richard verließ das Dienstzimmer und machte sich auf den Weg zum Kommissariat 8, das für den Kriminaldauerdienst, kurz KDD genannt, stand. Das K8 würde kaum besetzt sein, hatte ihn die dortige Assistentin vorgewarnt, da die meisten Kollegen in einem anderen Fall zu einem Auswertungsangriff, wie die Spurensicherung und Datensammlung im Fachjargon hieß, unterwegs seien. »Nix für euch. Ein Einbruch«, fügte sie noch hinzu.

»Aha«, meinte Richard. »Was Größeres?«

»Wenn bei einem Stadtrat eingebrochen wird, ist es immer was Besonderes.«

»Der hatte wohl ein paar Leichen im Keller versteckt? Bei welchem Stadtrat war’s denn?«

Die Büroassistentin, eine ältere Dame namens Berta, kicherte. Sie war nicht nur etwas beleibt, sondern auch sehr beliebt. »Beim Doktor Fielbrecht. Kennst du den?«

Richard verneinte. Für die lokalen Politiker interessierte er sich kaum, wusste er doch, dass sie, wie alle Politiker, viel versprachen und wenig hielten. Echte Emotionen, wie man sie beim US-Präsidenten Obama mitunter hatte sehen können, waren Fehlanzeige. »Dann gehe ich eben wieder.«

»Sie haben dir eine Nachricht hinterlassen.« Berta duzte alle, selbst den obersten Chef. Und sprach sie wirklich einmal jemanden mit Sie an, war Feuer am Dach. Sie deutete auf einen länglichen Gegenstand in der Ecke. »Ein Kuhfuß zum Nagelziehen. Den haben sie in der Nähe des Brunnens gefunden.«

»Die Tatwaffe?«

»Das wissen sie noch nicht. Könnte auch von Bauarbeitern stammen. Der Pavillon hinter dem Brunnen wird gerade renoviert. Aber von denen hat angeblich keiner was gesehen, und ob eines dieser Werkzeuge fehlt, konnten sie nicht sagen.«

Erste Zeugenvernehmungen wurden vom Fachkommissariat K8 durchgeführt, das dann seinen Bericht an die zuständige Dienststelle abgab. »Du kriegst die Zeugenprotokolle und den kriminaltechnischen Untersuchungsbericht von der Brunnenleich’ per Mail.« Dazu zog Berta ein Gesicht, dem Richard entnahm, dass sie den neuen technischen Errungenschaften, die inzwischen sogar in der Kriminalpolizeiinspektion Coburg Einzug gehalten hatten, wenig abgewinnen konnte.

Viel war an dem eisernen Kuhfuß nicht zu sehen. In Folie verpackt lag er auf dem Ablagetisch des Chefs und sah ziemlich neu aus. Wohl oder übel musste Richard sich gedulden, bis die Ergebnisse der Laboruntersuchungen vorlagen. Er verabschiedete sich und beschloss, den Tatort noch mal in Augenschein zu nehmen, bevor die Leiche obduziert wurde. Außerdem verspürte er Hunger, Mittagszeit.