Bücher und Barbaren - Travis Baldree - E-Book

Bücher und Barbaren E-Book

Travis Baldree

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Beschreibung

Keks oder Kampf – das ist jetzt die Frage! Die Fantasy-Sensation aus den USA geht weiter: Endlich könnt ihr die Vorgeschichte zu Ork-Kriegerin Viv lesen! Gerade als Ork-Kriegerin Viv mit ihrer Karriere als Söldnerin bei Rackam's Ravens durchstarten will, verletzt sie sich bei einem Kampf und wird von der Crew in der Küstenstadt Murk abgesetzt. Verwundet ist Viv gezwungen, ihr Schwert vorerst beiseitezulegen. Bevor sie sich jedoch langweilen kann, trifft sie auf Fern, die sie in die Welt der Bücher entführt, und somit findet Viv ein neues Projekt: die Erneuerung des heruntergekommenen Bücherladens. Auch mit der Zwergin und Bäckerin Maylee verbringt Viv immer mehr Zeit. Doch Murk ist nicht die schläfrige Kleinstadt, für die Viv sie gehalten hat – die Gnomin Gallina will Viv um jeden Preis beweisen, dass sie eine gute Kämpferin für Rackam ist, und dann ist da auch noch ein Neuankömmling, der sein Unwesen in der Stadt treibt … »Endlich: Neue Abenteuer mit unserer Lieblings-Orkheldin!« Publishers Weekly »Magie, Skelette, Schwertkämpfe und nette Orks – besser geht es nicht.« HuffPost Books »Ich liebe Fantasy, ich liebe Bücher, ich liebe Viv – danke, Travis Baldree!« Ben Aaronovitch »Aufregende Cozy-Fantasy voller Wärme!« Kirkus Reviews »Er hat es wieder geschafft! Verdammt, warum liebe ich die Bücher von Travis nur so? Weil sie einfach fantastisch sind!« Nicholas Eames Alle Bücher der Viv-Chroniken: Band 1: Magie und Milchschaum Band 2: Bücher und Barbaren

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Seitenzahl: 443

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Über das Buch

Gerade als Ork-Kriegerin Viv mit ihrer Karriere als Söldnerin bei Rackam’s Ravens durchstarten will, verletzt sie sich bei einem Kampf und wird in der Küstenstadt Murk abgesetzt. Verwundet ist Viv gezwungen, ihr Schwert vorerst beiseitezulegen. Dafür lernt sie Fern kennen, die sie in die Welt der Bücher entführt, und Viv findet eine neue Aufgabe: den heruntergekommenen Bücherladen wieder auf Vordermann zu bringen. Auch mit der Zwergin und Bäckerin Maylee verbringt Viv immer mehr Zeit. Doch dann tritt eine gefährliche Konkurrentin auf den Plan, die Gnomin Gallina …

 

Von Travis Baldree ist bei dtv außerdem erschienen:

Magie und Milchschaum

Travis Baldree

Bücher und Barbaren

Roman

Aus dem Englischen von Wolfgang Thon

Denn die richtigen Dinge

passieren meist zur falschen Zeit …

PROLOG

»Achtzehn!«, brüllte Viv und schwang ihren Säbel in einem flachen Bogen, der dem Skelett den Schädel von der Halswirbelsäule trennte. Sie lachte wild und rammte ihre Schulter in den Knochenkörper, noch bevor der Unhold umfallen konnte. Seine Knochen flogen zersplittert in alle Richtungen davon. Nach zwei weiteren Schritten hatte sie die Klinge bereits wieder nach oben gerissen und hackte sie einem anderen in den Brustkorb. Splitter spritzten wie Holzspäne unter einem Beilhieb.

»Neunzehn!« Sie fletschte ihre Hauer in einem gefährlichen Grinsen und stürmte mit ausgreifenden Schritten vorwärts.

Jeder Atemzug der reinen, sauberen Luft füllte ihre Lunge, ihre Muskeln spannten und entspannten sich im perfekten Rhythmus, das Blut rauschte in den Adern. Viv verkörperte Jugend und Kraft und Macht, und das wollte sie so weit wie möglich ausreizen.

Die Armee der hageren, skelettierten Soldaten von Varine der Fahlen scharte sich vor den Bastionseichen zusammen. Sie waren flink, obwohl sie so vertrocknet waren. Wie eine unerbittliche Angriffsflut kämpften sie in tödlicher Stille, schlugen und stießen mit Kurzschwertern und Spießen nach Viv, die auswich oder sie zur Seite schlug.

Viv war dem Rest von Rackams Raben weit vorausgeeilt und führte nun die Schlacht an. Rackams Krieger waren alte Haudegen, allesamt. Alt, und vor allem langsam. Sie hatten versucht, die junge Anfängerin zurückzuhalten, aber dafür war Viv nicht geschaffen.

Irgendwo vor ihnen lauerte die Nekromantin, und genau die wollte Viv als Erste erreichen. Wenn die Nachzügler sie endlich einholten, würden sie Viv gelassen mit blutiger Klinge in der Faust vorfinden, die Beute tot zu ihren Füßen.

Mit jedem Schlag ihres Säbels stieg die Zahl der Besiegten. Aber es ging Viv immer noch nicht schnell genug. Sie riss den Streitkolben aus der Schlaufe auf ihrem Rücken und machte sich somit beidhändig bewaffnet ans Werk, schlug sich zermalmend und zerfetzend durch die Reihen der Skelette. Schilde wurden zur Seite geschmettert, Ringpanzer zerrissen wie Papier. Schädel barsten.

Gellende Schreie hallten hinter ihr, als Rackams Leute sich um die Spreu kümmerten, die Viv in ihrem Kielwasser hinterließ, und um die Hexenmeister, die versuchten, sie in die Zange zu nehmen. Jemand rief ihr zu, sie solle langsamer machen. Dafür hatte sie nur ein verächtliches Lachen übrig.

Plötzlich flammte ein kaltes Feuer in ihrem Bein auf, das mit einem Wimpernschlag heiß wurde. Sie taumelte und verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß, gerade als das rostige Blatt einer Pike aus der tiefen Wunde in ihrem Oberschenkel gezogen wurde. Das Blatt zuckte wieder vor, und sie sah ungläubig zu, während das Skelett in einem perfekten parallelen Schnitt zuerst durch ihre Hose und gleich darauf erneut ins Fleisch ihres Beins hackte. Dann floss Blut. Viel Blut.

Viv brüllte, schlug den Spieß mit ihrem Streitkolben beiseite, und der folgende Aufwärtshieb ihres Säbels zerfetzte die Kreatur in zwei Teile. Ihr gehörnter Helm flog in einem absurden Wirbel durch die Luft. Viv hätte gelacht, würde der Schmerz sie nicht überwältigen, als sie das verletzte Bein durch den Schwung belastete. Es knickte unter ihr zusammen wie ein Maisstängel.

Dann lag sie auf der Seite im Moos und Schlamm und blutete weiter.

Ein anderer Skelettkrieger tauchte über ihr auf, blaues Licht flackerte in den leeren Augenhöhlen. Auf seiner Stirn leuchtete Varines Symbol – ein Diamant mit Zweigen wie Hörner. Das Wesen holte mit einem rostigen Langschild aus, in der Absicht, ihn mit einem vernichtenden Schlag auf sie zu hämmern. Die einzigen Geräusche waren das Knirschen der Knochen und Vivs röchelnder Atem.

Gerade noch erwischte sie die Kante des Schildes mit ihrem Streitkolben und schlug ihn zur Seite. Aber dabei rutschte ihr der Griff der Waffe aus der Hand. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, ihre Sicht trübte sich. Viv hatte es nicht geschafft, dieses Ding zu entwaffnen. Unerbittlich hob ihr Widersacher den Eisenschild erneut. Diesmal machte der Winkel es ihr unmöglich, den Säbel zwischen sich und die Kante des Schildes zu bringen. Schockiert und ungläubig konnte sie nur zusehen, wie der Stahlrand auf ihren Hals zusauste.

In diesem Moment ertönte ein schriller Schrei, aber er kam nicht von ihr.

Rackam warf sich mit der Schulter voraus gegen die Kreatur. Als das Skelett zurücktaumelte, löschte es der Zwergenkämpfer mit einem einzigen Schwung seines doppelköpfigen Streitkolbens aus.

Dann blickte Rackam auf sie hinab, und seine vor Enttäuschung verzerrten Lippen verdoppelten Vivs Übelkeit. »Verdammte Närrin. Press deine Hand auf die Wunde. Und jetzt bleib liegen und versuche, nicht zu verrecken. Vielleicht schaffst du das ja.«

Dann war er auch schon verschwunden. Viv blieb atemlos liegen, während Rackams Raben in einer Schlachtreihe aus Klingen, Bögen und magischem Feuer an ihr vorbeistürmten und die Feinde auslöschten.

Alles verschwand in einem Nebel, und dann war sie allein, während das Leben in regelmäßigen Pulsschlägen aus ihr herausgepumpt wurde.

»Immer noch unter uns, was?«

Viv kam nur mühsam wieder zu sich. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich jeden Moment übergeben musste. Vielleicht hatte sie das ja auch schon getan.

Zuerst nahm sie Rackams funkelnde Augen wahr, die über den Zöpfen seines schlammigen, ergrauten Bartes glitzerten. Viv schüttelte den Kopf und sah sich um. Ihr Blickfeld schien am Rand wie mit Fett verschmiert zu sein. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich mit dem Rücken an eine der Eichen zu lehnen. Und offenbar hatte sie auch die Geistesgegenwart besessen, den unteren Teil ihres Hemdes abzureißen und die Wunde mit einer Handvoll Moos notdürftig zu verschließen. Der Stoff war mittlerweile blutgetränkt und die Erde darunter eine klebrige Mischung aus Schlamm und Blut. Bei diesem Anblick drohte sie wieder in die Bewusstlosigkeit abzudriften, doch Rackam holte sie mit einem überraschend sanften Klaps auf die Wange zurück.

Er seufzte und schüttelte den Kopf.

Die Schlacht war vorbei. Wenn nicht schon seine Gegenwart ausgereicht hätte, um ihr das deutlich zu machen, dann die Krieger, die jetzt hinter ihm auftauchten.

»Ich hab’s mir gleich gedacht, als du bei uns angemustert hast. Hab gehofft, ich läge falsch, aber nein, es war klar, dass es so kommen würde. Die Jugend weiß es immer besser, erwachsen werden kostet Blut und Zeit.« Er drehte den Kopf, als sähe er in eine andere mögliche Zukunft, dann richtete er den Blick wieder auf sie. »Ich gebe jedem Neuling die gleiche Chance. Schaue mir seine Hände, seine Arme an. Keine Narben? Dann stehen die Chancen gut, dass ihm der erstbeste Gegner im Kampf sofort den Rest gibt.«

Mit seiner behandschuhten Rechten strich er über Vivs muskulösen Unterarm, dessen Haut makellos war. Viv starrte auf ihr verletztes Bein.

Rackam stand auf, und sie brauchte den Kopf trotz ihrer Sitzposition nicht weit zu heben, um seinen Blick zu erwidern. »Dann war dies also dein letzter Kampf?«

Viv schluckte gegen die Übelkeit an und kniff die Augen zusammen, weil sie sich so dumm vorkam. Wenn sie sich dumm fühlte, wurde sie grollig. Und Groll war nur einen halben Schritt von Wut entfernt. »Nein!«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Er gluckste. »Das glaube ich auch nicht. Aber für den Moment bist du außer Gefecht.«

Viv blinzelte. »Haben wir sie erwischt?«

»Haben wir nicht. Sie war nicht mal hier, soweit wir das beurteilen können. Sie hat nur ein bisschen Ärger extra für uns zusammengerührt. Wir ziehen weiter nach Norden. Wir werden sie finden.«

Viv hatte Mühe, sich mit dem linken Bein gegen den Baumstamm gestemmt aufzurichten. Das verletzte Bein fühlte sich wie ein Ballon an, durch den ihr Blut schmerzhaft pumpte. »Wann brechen wir auf?«

»Wir? Du bist erst mal raus. Ein paar Meilen entfernt liegt eine Stadt am Meer. Dort quartiere ich dich ein. Du kannst dich auskurieren, und wir holen dich, wenn wir fertig sind. Falls du dann noch da bist, nehmen wir dich wieder auf. Das dauert wahrscheinlich ein paar Wochen. Falls du nicht mehr da bist, wenn wir auftauchen …« Er zuckte mit den Achseln. »Nun, es ist keine Schande, aber dann war’s das.«

»Aber …«

»So ist es nun mal, Kleine. Du hast heute einen dummen Fehler überlebt. Wenn du so kurz danach gleich wieder einen machen willst, na ja …« Sein Blick wurde hart. »Soll ich dir sagen, wie ich die Chancen dafür einschätze?«

Viv war kein dummer Ork, also hielt sie die Klappe, bei den acht Höllen!

1

Viv lag auf dem Boden des kleinen Zimmers. Das heißt, fast auf dem Boden. Der Raum war nicht für Orks gebaut worden, und das Bett war mindestens zwei Fuß zu kurz. Jemand hatte die mit Stroh gefüllte Matratze auf den Boden gezerrt, und da ihre Beine immer noch über das Ende hinausragten, hatte man ihren Rucksack vor die Matratze gelegt, sodass ihr Fuß abgestützt und das verletzte Bein hochgehalten wurde.

Das verdammt wehtat, bei den acht Höllen!

Viv hatte sich ein Fieber eingefangen, während sie auf der Trage hinter einem Packesel her geschleift worden war und den ganzen Staub hatte aushusten müssen, den dieser aufgewirbelt hatte. Und das war eine Menge Staub.

Zwei Tage lang war sie ans Bett gefesselt gewesen, zwischen Ohnmacht und Bewusstsein hin und her wabernd. Ein Wirrwarr aus immer wiederkehrenden Träumen und pochenden Schmerzen. Der Wundarzt war mehrmals gekommen und gegangen. Vielleicht war er aber auch gar nicht da gewesen, und sie hatte es sich nur eingebildet. Sie erinnerte sich dunkel an das Gesicht des Mannes und daran, dass sie sich seltsamerweise geschämt hatte.

Jetzt jedoch war sie klar im Kopf. Was vor allem bedeutete, dass sie auch alles mit völliger Klarheit empfinden konnte. Eine zumindest fragwürdige Verbesserung.

Viv sah sich in dem Raum um: Er war größtenteils leer. Ein einfaches Bettgestell und ein kleiner Tisch mit einer Laterne und einer Waschschüssel darauf. Graues, blankes Holz an den Wänden. Ein kleines, vergittertes Fenster. Sie konnte das Meer riechen, trockenes Strandgras und Fisch. Dem Fenster gegenüber stand eine alte Seemannskiste. Daran lehnte ihr Säbel – zusammen mit einer einfachen Holzkrücke. Ihr Streitkolben fehlte. Sonst gab es nicht viel zu sehen.

Es war still in dem Gebäude. Die einzigen Geräusche kamen von draußen – das Rascheln des Grases im Wind, das ferne Rauschen der Wellen und gelegentlich der Schrei eines Seevogels.

Viv war noch nicht mal eine Stunde bei vollem Bewusstsein und dachte bereits, der Anblick dieses Zimmers würde sie in den Wahnsinn treiben, wenn sie ihn noch eine weitere Stunde ertragen müsste.

Zumindest war ihr Bein sauber verbunden und geschient, damit das Knie sich nicht beugen konnte. Ihr Hosenbein war weggeschnitten worden. Der Verband hatte sich an den Stellen verfärbt, wo Blut durchgesickert war, aber das war trotzdem ein großer Fortschritt gegenüber Moos und einem schmutzigen Streifen Wollhemd.

»Also auf«, knurrte sie. »Verflucht!«

Mühsam rappelte Viv sich auf, wuchtete ihren Hintern auf das Bettgestell und sog zischend die Luft durch die Zähne, während sie das verletzte Bein herumschwang. Ihr linker Stiefel passte, aber der rechte Fuß war so angeschwollen, dass er nackt bleiben musste. Sie stand taumelnd auf und schaffte es bis zu dem Becken mit lauwarmem Wasser. Notdürftig säuberte sie sich mit dem Lappen, der dort lag. Danach fühlte sie sich etwas wohler und humpelte zur Tür. Aber jedes Mal, wenn sie die Ferse auf dem Boden absetzte, drohte es ihr, schwarz vor Augen zu werden. Zähneknirschend drehte sie sich zur Seite und griff widerwillig nach der Krücke.

Damit ging es viel besser, wie sie sich verärgert eingestand. Und da sie schon mal dabei war, schnallte sie sich aus Gewohnheit den Säbel um.

Leider musste Viv feststellen, dass sich das Zimmer am Ende einer schmalen langen Treppe befand. Sie stolperte die Treppe hinunter und stützte sich auf jeder zweiten Stufe mit der Krücke ab. Der Säbel machte die Sache nicht einfacher. Bei jedem Ruck erfand Viv ein neues, noch obszöneres Schimpfwort für Rackam. Natürlich war das alles nicht seine Schuld. Aber es war ungleich befriedigender, jemand anderen zu beschimpfen als sich selbst.

Unten angekommen drang ihr das Aroma von gebratenem Speck in die Nase – ein ausreichender Anreiz, sich weiter zu plagen.

Die Treppe führte in den langen, grob gezimmerten Schankraum eines Gasthauses oder einer Taverne oder wie auch immer man es hier nannte. Eine große, steinerne Feuerstelle gähnte kalt wie ein enttäuscht aufgerissener Mund an einer Wand. An der Decke prangte ein schiefer eiserner Kronleuchter, überzogen von Kerzenwachs. Glasschwimmer und Sturmlaternen hingen an den Dachsparren oder waren daran festgenagelt, neben Netzen und verwitterten Rudern mit eingeritzten Namen. Die Handvoll ramponierter Tische war unbesetzt.

Über die Rückwand zog sich eine lange Theke. Dahinter stand der Wirt und polierte müßig einen Kupferkrug. Er wirkte gelangweilt, was angesichts der leeren Kaschemme kein Wunder war. Viv sah, dass es sich um einen großen Wassermann handelte. Sein Kinn war grau gepunktet, die Nase geformt wie ein Beil, das Haar hing ihm wie dicker Seetang hinter den spitzen Ohren herab, und seine Unterarme waren mit Tätowierungen übersät.

»Morgen, Miss«, brummte er. »Frühstück?«

Viv konnte sich nicht erinnern, dass jemand sie jemals Miss genannt hätte.

Sein Blick glitt an ihr hinab, und der Wirt hob die Brauen, als er den Säbel bemerkte. Dann sah er wieder auf den Krug, den er gerade polierte.

»Speck?«, fragte Viv.

Er nickte. »Dazu Eier? Kartoffeln?«

Ihr Magen knurrte aggressiv. »Unbedingt.«

»Fünf Münzen sollten reichen.«

Viv kramte an ihrem Gürtel nach dem Geldbeutel, schaute dann zur Treppe und fluchte.

»Gib es mir nächstes Mal. Schlimmstenfalls steige ich selbst die Treppe hoch.« Er lächelte verschmitzt. »Denn du glaubst doch wohl nicht, dass du mir entkommst, oder? Du solltest dich lieber auf einen dieser Hocker fallen lassen, solange du das noch schaffst.«

Als Ork war Viv so sehr daran gewöhnt, dass schon ihre bloße Erscheinung eine Bedrohung darstellte, dass es sie überraschte, einen Witz auf ihre Kosten zu hören, auch wenn es ein harmloser war. Wahrscheinlich dämpfte ihr unbeholfenes Humpeln diese beängstigende Wirkung auf andere.

Während sie seinem Vorschlag folgte und sich hinsetzte, verschwand der Wassermann nach hinten. Viv zog einen zweiten Hocker zu sich und stellte ihren nackten Fuß vorsichtig auf einer der niedrigen Sprossen ab.

Dann trommelte sie mit den Fingern auf den Tresen und versuchte, sich abzulenken, indem sie das Innere des Ladens weiter betrachtete. Aber es gab einfach nicht viel, was zu betrachten lohnte. Die Geräusche und Gerüche aus dem hinteren Bereich des Schankraums waren alles, was sie interessierte.

Als der Wirt mit einer Pfanne zurückkam und sie zusammen mit einer Gabel und einer Serviette auf den Tresen stellte, hätte sie in ihrer Gier den heißen Griff fast mit der bloßen Hand gepackt, um ihn näher heranzuziehen. Das Haschee aus Kartoffeln, knusprigem, fettem Schweinefleisch und zwei flüssigen Eiern brutzelte noch. Ihr kamen vor Freude fast die Tränen.

Viv bemerkte, wie der Wirt sie vom anderen Ende der Bar aus beobachtete, während sie die Mahlzeit verschlang, und versuchte, das Tempo zu drosseln. Aber die Kartoffeln mit dem Ei waren salzig und köstlich, und es war schwer, das Essen nicht einfach in sich hineinzuschaufeln. Die Geräusche, die sie beim Essen machte, waren nicht gerade gesittet, dafür aber genüsslich.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte der Wassermann kurz darauf, als er die leere Pfanne von der Theke nahm.

»Bei allen Göttern, ja. Danke. Und … ich bin Viv.«

Wieder dieses schiefe Grinsen. »Habe ich gehört, als du hier angekommen bist. Wir sind uns schon begegnet, aber es überrascht mich nicht, dass du dich nicht erinnerst, bei all dem Tohuwabohu.«

Viv erinnerte sich an kein Tohuwabohu, aber sein amüsierter Tonfall machte sie stutzig. »Also … haben die Raben für mich bezahlt?«

»Ich hatte gehofft, dass Rackam selbst auftaucht«, sagte der Wirt. »Aber der Kerl, den er geschickt hat, damit er dich hier unterbringt, war immerhin ein echter Gentleman und hat für vier Tage im Voraus bezahlt. Danach, sagte er, würdest du das Geld schon selbst aufbringen. Ich bin Brand.«

Er reichte ihr die Hand, die sie ergriff und schüttelte. Beide hatten einen festen Griff.

»Also … ab ins Bett und weiter ausruhen?«, fragte er.

»Verdammt, nein. Ich würde verrückt werden. Übrigens … wo genau bin ich hier eigentlich?«

Sein Grinsen wirkte nun amüsiert. »Lass mich der Erste sein, der dich in Murk willkommen heißt, dem Juwel der Westküste! Wenn auch nur von einem sehr kleinen Teil der Westküste. Und das hier ist Der Barsch, mein bescheidener Laden.«

»Hier scheint es … ziemlich ruhig zu sein.« Beinahe hätte sie »deprimierend ruhig« gesagt.

»Manchmal geht es hier auch laut zu, wenn die Boote reinkommen. Aber an den meisten Tagen wird man nicht durch Lärm gestört.«

Viv nickte, hüpfte auf ihren guten Fuß und schob sich die Krücke unter die Achsel. »Also, danke noch mal. Ich schätze, wir sehen uns noch öfter.«

Mit einer warmen Mahlzeit im Bauch fühlte Viv sich wieder mehr wie sie selbst. Die Vorstellung, ein wenig durch die Stadt zu humpeln, erschien ihr deutlich attraktiver als noch vor ein paar Minuten. Sie klopfte auf den Tresen. »Ich denke, ich werde mir mal die hiesigen Sehenswürdigkeiten zu Gemüte führen.«

»Ah, dann sehen wir uns also in zehn Minuten wieder«, antwortete Brand.

Viv lachte, allerdings etwas gezwungen.

2

Viv sprang von der Veranda und hielt sich an einem der Pfosten fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dabei warf sie einen Blick zurück. Unter dem mit Schindeln gedeckten Vordach hing ein verwittertes Schild mit einem einfach geschnitzten Fisch, über dem Der Barsch eingeritzt war. Der Name war dunkel gefärbt.

Eine leichte Meeresbrise wehte ihr die Locken ins Gesicht, und sie ließ den Blick über Murk schweifen – jedenfalls über das, was sie davon sehen konnte. Himmel und Meer, so weit das Auge reichte, im Norden begrenzt von einer hohen, kalkhaltigen Steilküste. Sie konnte die Umrisse einiger kleiner Gebäude und Zäune ausmachen, aber sie waren nicht deutlich genug, als dass Viv ihren Zweck hätte erkennen können. Die von struppigen Strandgrasbüscheln gekrönten Dünen wichen in flachen Wellen vom Ufer zurück.

Eine alte Festungsmauer umgab den größten Teil von Murk. Sie verlief bergauf und schloss die Stadt ein. Der Barsch lag nicht innerhalb der schützenden Mauer, sondern auf einem sandigen Hang neben der südlichen Straße, von dem aus man über die Festungsmauern blicken konnte.

Außerhalb der Mauern und in der Nähe vom Barsch reihten sich schmale Gebäude in kleiner werdenden Bögen aneinander. Die Schindelwände waren von Sonne und dem salzigen Dunst perlgrau gebleicht und schimmerten silbern im späten Morgenlicht. Unebene Bretterstege verbanden sie miteinander, und dazwischen schlängelten sich alte, lückenhaft gepflasterte Straßen, die an manchen Stellen von Sand überdeckt waren.

Vier lange Molen ragten ins Meer hinaus, vollgestellt mit Kisten und Takelage. Fischerboote scheuerten an den Duckdalben, während größere Schiffe die Gewässer jenseits des Hafens befuhren. Ein paar winzige Gestalten bewegten sich auf den Molen. Ihre Rufe hallten schwach über das Wasser.

Die ganze Stadt schien noch im Halbschlaf zu liegen. Allerdings bezweifelte Viv, dass sie jemals aufwachen würde.

Ein plötzliches starkes Gefühl des Zurückgelassenseins überkam Viv. Rackam hatte sie einfach in diesem gottverlassenen Kaff sitzenlassen, und die grimme Gewissheit brannte in ihrem Bauch, dass er nie vorgehabt hatte, hierher zurückzukommen. Das war nur eine willkommene Ausrede gewesen, um ein lästiges Gör abzuschieben.

Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte das Gefühl in den hintersten Winkel ihres Gehirns.

Als Viv aus dem Schatten trat, traf sie die Sonne mit voller Kraft. Es war kurz vor Mittag. Sie schloss die Augen und genoss einen Moment die Wärme auf ihrer Haut, atmete tief die Seeluft ein und stieß sie langsam wieder aus. »Also dann«, sagte sie zu sich selbst. »Bringen wir es hinter uns.«

Es war schwierig, mit der Krücke über das Kopfsteinpflaster zu humpeln, aber sie war froh, dass es da war, denn Sand wäre viel schlimmer gewesen. Sie kam nur schleppend, aber Schritt um Schritt voran, wenn auch ihr Unterarm bereits an der ungewohnten Krücke scheuerte. Sie würde das Armstück mit etwas polstern müssen, bis sie das verdammte Ding endlich loswurde.

Das Gefälle des Hangs war nur gering, und das war ein Segen. Möwen flatterten erschreckt von den Dünen auf, die sich auf beiden Seiten der Straße erhoben.

Zu ihrem Erstaunen war die erste Person, der Viv begegnete, ein anderer Ork. Er stapfte stoisch auf sie zu und zog einen Karren hinter sich her. Die Holme hatte er sich unter die Achseln geklemmt. Brust und Kopf waren kahl, und seine Schultern waren von alten Narben bedeckt. Auf dem Karren stapelten sich Bündel von Treibholz und gespaltenem Brennholz.

»Morgen«, sagte sie und salutierte scherzhaft mit ihrer freien Hand.

Er nickte nur im Vorbeigehen, sein Blick wanderte zu ihrem Säbel. Sie blieb stehen, um ihm nachzusehen. Er blickte nicht zurück, was sie aus irgendeinem Grund ärgerte.

Die ersten Gebäude, die sie erreichte, waren eine Reihe von Geschäften, die zum Strand hinunterführte, den ein Netz aus hölzernen Dämmen über dem Sand besser befahrbar machte. Viv humpelte mühsam auf die Promenade, die die Ladenfronten verband. Jeder Aufschlag ihrer Krücke auf dem vom Salz verwitterten Holz klang wie ein Hufschlag.

Die meisten Läden waren hoch und schmal und schienen sich gegen die Meeresbrise zu stemmen. Aus der Nähe betrachtet waren die Schindeln und Dachschindeln von Splittern übersät.

Die ersten paar Geschäfte waren geschlossen. Dauerhaft, wie man an den zerbrochenen Scheiben und den von innen an den Rahmen befestigten Planen oder Pappwänden erkennen konnte. Dann kam sie an einer Art Buchhandlung vorbei. Durch ein paar schmale Fenster an der Front erblickte sie chaotische Stapel von Büchern, Karten und allem möglichen Gerümpel. Sie konnte den Schimmel beinahe riechen. Die Tür war einmal rot gewesen, aber jetzt war die Farbe nur noch eine schwache Erinnerung. Auf einem kleinen Schild auf der linken Seite stand Buchhandlung Disteldorn.

Viv schüttelte den Kopf und humpelte weiter.

Eine Segelmacherei. Dann ein Trödelladen, vollgestopft mit Muscheln, kleinen Seeigeln, gläsernen Schwimmern und Treibgut. Viv konnte sich nicht vorstellen, warum jemand etwas davon würde haben wollen.

In der Brise, die durch die stechenden Gerüche von Salzlake und Seetang wehte, nahm sie den Duft von Backwaren wahr. Es überraschte sie nicht, dass sie schon wieder hungrig war. Angesichts der Anstrengung, sich fortzubewegen, und angesichts der Anforderungen eines heilenden Körpers verbrannte Viv viel Energie, und ihr spätes Frühstück war im Brennofen ihres Magens längst verzehrt worden.

Ganz am Ende dieser Ladenzeile wartete das erste wirkliche Lebenszeichen, das sie zu Gesicht bekam, wenn man den Feuerholz schleppenden Ork mit seinem versteinerten Gesicht nicht mitzählte. Was sie nicht tat.

Dieser Laden war mindestens doppelt so breit wie die anderen, verfügte über zwei ordentlich qualmende Schornsteine und hatte tatsächlich Kundschaft. Bäckerei Meereslied stand auf dem Glas. Die Buchstaben waren ordentlich und anscheinend mit Schablonen frisch aufgetragen. Man brauchte nur seine Nase zu bemühen, um herauszufinden, was in dem Laden feilgeboten wurde.

Durch das Fenster sah sie geflochtene Körbe mit großen runden Broten, Brötchen und Keksen. Eine Glocke über der Tür bimmelte, als ein Zwerg mit dem typischen, leicht schwankenden Seemannsgang herauskam und sich gerade das letzte Stück eines Gebäcks in den Mund stopfte.

Viv warf einen Blick in den Laden und verfluchte sich erneut dafür, dass sie ihren Geldbeutel auf dem Zimmer gelassen hatte. Die riesigen blätterigen Kekse versprachen die hohen Erwartungen zu übertreffen, die ihr Duft bereits geweckt hatte. Sie fuhr sich mit der Rückseite des Unterarms über die Lippen und wandte sich widerwillig ab.

Ihr Vater hatte immer gesagt, dass man den Hunger mit Schweiß stillen kann, so oder so. Sie humpelte zielstrebig weiter über die sandige Straße. Die meisten Gebäude auf der anderen Seite sahen aus wie Wohnhäuser oder Unterkünfte für Urlauber. Es schien jedoch niemand da zu sein.

Entlang der Straße verlief ein langer Anbindebalken, der für ihre Zwecke völlig ausreichte. Sie hatte mehrere Tage auf dem Rücken gelegen, und ihr Körper sorgte dafür, dass sie das auch spürte. Sie wollte zwar in nächster Zeit kein Wettrennen veranstalten, aber man konnte kaum erwarten, zu überleben, wenn man einen Säbel mit sich rumschleppte, dessen Schneide aber nicht scharf hielt.

Sie lehnte Krücke und Säbel an ein Ende des Balkens, packte ihn mit beiden Händen und schwang sich dann selbst vorsichtig darunter hindurch. Sie streckte ihre Beine auf die Straße und zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihren rechten Oberschenkel zuckte. Sie ließ sich hinabsinken, bis ihre Ellbogen beinahe gestreckt waren. Dann zog sie sich hoch und wiederholte die Bewegung, während sich die Wärme in ihrem Rücken, der Brust und den Oberarmen ausbreitete. Der Schmerz in ihrem Bein wurde in den Hintergrund gedrängt.

Als ihr Bizeps vor Anstrengung zitterte und ihr der Schweiß über die Schläfen lief, ließ sie sich auf den Rücken sinken, zog die Ferse ihres linken Beins an und atmete tief und gleichmäßig.

Der Ork mit dem Wagen voller Brennholz starrte sie an. Er war auf dem Rückweg stehen geblieben. Sein Wagen war jetzt deutlich leerer. Verschiedene, gut genutzte Werkzeuge baumelten an den Haken an den Seiten des Wagens – ein Streitkolben, ein Vorschlaghammer, eine Axt und eine Säge.

Viv sah ihn scharf an. »Was guckst du denn so?«

Er zuckte die Achseln, und seine Stimme war tief, aber überraschend sanft, als er antwortete: »Bist ja ganz schön schnell wieder dabei.«

»Sind wir uns auch schon begegnet, als ich hier ankam?«

Er zuckte wieder mit den Schultern. »Meistens ist hier nicht viel los. Ist schwer zu übersehen, wenn etwas Aufregendes passiert. Und das war ziemlich aufregend.« Der Anflug eines Grinsens. »Du hättest Hohlark fast erwürgt.«

»Hohlark?«

»Der Chirurg.«

»Oh«, antwortete sie und zuckte zusammen. Das war alles andere als optimal.

»Pitts.« Er deutete auf sich selbst. Dann senkte er den Kopf, packte die Holme des Karrens und zog ihn mit einem Ruck an. Er wartete nicht darauf, dass sie ihm ihren Namen nannte.

Das irritierte sie irgendwie. »Viv!«, brüllte sie hinter ihm her. Er nickte nur, ohne sich umzudrehen.

»Bei den acht Höllen«, knurrte Viv. »Tolle Stadt. Ich verstehe, warum alle so gern hier leben.«

Sie rappelte sich auf die Füße, schnappte sich Krücke und Säbel und humpelte zum Ende der Promenade, wo sie sich außer Sichtweite in eine Senke zwischen zwei Dünen zurückzog.

Sie konnte das Wasser zwar nicht sehen, aber es war hier völlig windstill. Diese Stille reizte sie so sehr, dass sie die Krücke in den Sand warf und zum Kamm der zum Strand gelegenen Düne humpelte. Den ganzen Weg über zischte sie vor Schmerz.

Die Brise dort oben war wie Balsam, und sie nahm sich eine Minute Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, bevor sie den Säbel aus der Scheide zog. Viv versuchte, ein paar Kampfübungen auszuführen, wobei sie ihr Gewicht hauptsächlich auf das heile Bein verlagerte. Sie hatte gehofft, wenigstens ein paar Übergänge von hoch zu tief zu einer Finte hinzubekommen, und sich dabei auf Präzision und Oberkörperarbeit konzentriert, aber es war hoffnungslos. Ihr vorderes Bein gab plötzlich nach, und als sie dann das Gewicht nach hinten verlagerte, musste sie die Ferse des verletzten Beines belasten. Sie kippte um und rollte in einer Wolke aus Sand und Flüchen die Düne hinunter.

Fünf Minuten nach diesem peinlichen Sturz stolperte sie zurück auf die Hauptverkehrsstraße. Wütend, enttäuscht und sich der Mischung aus Sand und Schweiß in ihrem Hemd nur allzu bewusst, machte sie sich auf den mühsamen Weg den Hügel hinauf in Richtung Barsch. Die sanfte Steigung war eine weit größere Herausforderung, als sie es sein sollte, und am Ende erwartete sie nur ein leeres Gasthaus, ein leeres Zimmer und eine sehr schmale Treppe.

Sie hätte zusammen mit den Raben angreifen sollen. Sie hätte sich dichter an Varine heranhacken sollen.

Sie sollte überall sein, nur nicht hier.

Ihre Aufmerksamkeit galt vor allem den mit Sand bedeckten Pflastersteinen, und als sie sich überlegte, wo sie die Krücke als Nächstes aufsetzen wollte, schrak sie zusammen, als ein Schatten in ihr Blickfeld fiel.

Als sie den Kopf hob, starrte sie in die geschlitzten Augen einer Tapenti. Die Reptilienfrau war nicht so groß wie Viv – das waren nur wenige Menschen –, aber da sie über ihr auf dem Hang stand, musste Viv zu ihr aufschauen.

Oder vielleicht fühlte es sich nur so an.

Sie war kräftig gebaut, die feinen Muster ihrer Haut zogen sich über muskulöse Schultern und Beine. Ihre Schuppenhaube wölbte sich über ihre Schläfen und ihren Hals und leuchtete lachsfarben, wo das Licht hindurchschimmerte. Die langen, rasselartigen Zöpfe ihres Haares schabten trocken in der Brise aneinander.

Die Laterne einer Torwächterin leuchtete an ihrem Gürtel, und auf der anderen Seite hing ein Langschwert. Auf ihre blaue Tunika war ein Abzeichen gestickt.

Die Frau neigte den Kopf auf eine Weise, die Viv nur als verächtlich interpretieren konnte. »Eine wahrhaft atemberaubende Darbietung von Kampfkunst.« Ihr Blick glitt über Viv hinaus zum Kamm der Düne und dem Ort ihres abgebrochenen Kampftrainings.

Vivs Haut kribbelte unter einer heißen Röte. Es war eine Hitze, die schon durch das Gewicht einer Feder von Verlegenheit in Wut umschlagen konnte. Sie war nicht so dumm, dem freien Lauf zu lassen, nicht einer örtlichen Gesetzeshüterin gegenüber, aber sie musste auch nicht höflich sein. »Schätze, es gibt hier wohl sonst nicht viel zu sehen, was?«

Die Tapenti lächelte dünn, und ihre Augen verengten sich. »Jedenfalls ist das ein Anblick, den ich in meiner Stadt nicht zu sehen bekommen möchte. Ich mag es lieber ruhig, und kleine Mädchen, die Säbel mit sich herumschleppen, verheißen Lärm. Ich schlage vor, du behältst dein Eisen schön in der Scheide, oder besser noch, du gehst zurück in dein Zimmer. Meiner Meinung nach gibt es keinen Grund, warum du dort nicht auch bleiben solltest.«

Viv stotterte vor unterdrückter Wut. »Kleines Mädchen …?«

Die Torwächterin sprach einfach weiter. Ihre Stimme war ein unerbittliches Zischen. »Als sie dich hier anschleppten, wusste ich nach einem kurzen Blick auf dich, dass ich dich im Auge behalten muss. Hohlark jedenfalls wird deine Ankunft sicher nicht so schnell vergessen. Wenn du hier auch nur den geringsten Ärger verursachst, werde ich nicht zögern, dich in eine Zelle zu stecken, wo du deine Rekonvaleszenz aussitzen wirst, bis deine Freunde auftauchen und ich dich wieder vom Hals habe.«

Viv konnte sie nur in stummer Wut anstarren. Ihre Hand zuckte zum Griff ihres Säbels, aber sie beherrschte den Impuls, selbst als sie sah, wie die Augen der Tapenti die kurze Bewegung mit grimmiger Belustigung verfolgten.

»Guten Tag noch.« Die Frau neigte spöttisch den Kopf in Richtung des Gasthauses. »Und sei vorsichtig auf deinem Weg den Hügel hinauf. Ein böser Sturz könnte deinen Aufenthalt hier verlängern, und das wollen wir beide nicht, oder?«

Dann war sie weg. Viv konnte nur noch die Straße hinauf in Richtung Barsch starren und sich sehnlichst wünschen, irgendetwas zu finden, das sie abmurksen konnte.

Wenn Rackam nicht bald zurückkam, musste sie sich aufmachen und ihn selbst suchen, bevor sie etwas tat, was sie vielleicht wirklich bereute.

3

Noch immer aufgebracht von ihrer Begegnung mit der Torwächterin, überlegte Viv, zum Barsch zurückzukehren, hielt dies jedoch für eine denkbar schlechte Idee. Nicht gewillt, einen langweiligen, einsamen Spaziergang zu einem langweiligen, leeren Raum ans Ende eines langweiligen, sinnlosen Tages zu setzen, steuerte sie die Promenade und den nächstbesten geöffneten Laden an.

Als sie ihre Krücke vor der Buchhandlung Disteldorn schwungvoll absetzte, knackte es gequält. Sie fluchte, als eine morsche Holzplanke unter ihr nachgab. Zum zweiten Mal innerhalb einer Viertelstunde wäre Viv beinahe Schweif über Hauer auf dem Boden gelandet, aber sie schaffte es, die Krücke zurückzuziehen, bevor sie ganz durchbrach.

Viv starrte auf die morsche Planke. »Bei den acht Höllen!«

Das Adrenalin von dem Beinahe-Unfall kribbelte ihr noch in den Armen, als sie die Tür aufstieß und in das schummrige Licht der Buchhandlung humpelte.

Das Innere roch fast genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte – nach altem Papier, Schimmel und Enttäuschung, aber dazu gesellte sich noch der Gestank nach nassem Hund und … Hühnerstall? Sie rümpfte die Nase.

Bücher über Bücher drängten sich in dem langen, schmalen Laden – eingezwängt in schiefe Regale und in gefährlich schwankenden Stapeln auf dem Boden verteilt. Einige Bände schienen neu zu sein, aber die meisten waren alt, und viele der leder- oder stoffbezogenen Buchdeckel wirkten fadenscheinig.

See- und Landkarten lagen ungeordnet auf einem niedrigen Regal unter den Schaufenstern. Eine alte Sturmlampe mit einem zerbrochenen Reflektorschirm flackerte schwach an ihrer Halterung an der Wand.

Die Innenseite des Ladens war aus den gleichen Planken wie die Außenverkleidung gebaut. Einst waren sie weiß gestrichen worden, jetzt hatten sie dunkle Flecken und die Farbe blätterte ab.

Mitten im Raum lag ein schäbiger Teppich, verkrustet von Meersand und … vereinzelten Federn?

Im hinteren Teil duckte sich eine winzige Arbeitsplatte vor einer weiteren Bücherwand. Sie drohte unter einem Erdrutsch alter Folianten zu verschwinden. Ein verwinkelter Flur führte in den rückwärtigen Teil des Raumes, und Viv glaubte, von dort ein Rascheln zu hören. Ein verbeulter alter Holzofen – ebenfalls mit Büchern beladen – stand links im Flur. Niemand schien sich um den Laden zu kümmern.

»Bei den acht Höllen, was für ein Loch!«, sagte Viv und verzog die Lippen. Hier aufzukreuzen, war keine wirklich gute Idee gewesen.

Als sie sich unbeholfen umdrehte, fegte sie mit dem Säbel drei hohe Bücherstapel um, die in einem Chaos aus raschelnden Seiten und aufwirbelndem Staub umfielen.

Im hinteren Teil des Ladens ertönte ein seltsames, bellendes Heulen. Heftiges Tappen von Pfoten kündigte das Erscheinen eines kleinen, gedrungenen Tieres an, das in einer Wolke aus Federn und Haaren direkt auf sie zustürmte. Seine Krallen verfingen sich in dem verschlissenen Teppich und falteten ihn zu staubigen Wellen unter seinem Bauch, dann schoss das Wesen weiter vorwärts. Es hörte sich an wie ein Hund, der unter Wasser bellte.

Viv zuckte kein bisschen zurück, als das Geschöpf vor ihr zum Stehen kam. Es hüpfte auf vier stämmigen Beinen hoch und runter und sein kurzes goldfarbenes Fell stellte sich auf. Der Kopf der Kreatur war eulenartig und übergroß, mit runden leuchtenden Augen und einem schwarzen Schnabel. Fellbüschel und Gefieder sahen aus wie kleine Flügelchen. Die hundeartigen Ohren waren angelegt.

Viv griff an ihren Säbel, aber trotz des aggressiven Tier-kreischens wähnte sie sich nicht wirklich in großer Gefahr.

»Verdammte Scheiße!«, rief eine dünne, hohe Stimme. »Potroast, nein!«

Viv blickte auf, überrascht über diese Obszönität. Eine offenbar ernst gemeinte Obszönität. Aber noch mehr überraschte sie die Besitzerin der Stimme.

Eine kleine Rättin in einem kurzen roten Mantel hastete ins Licht und drohte dem Geschöpf streng mit dem Finger.

»Schon gut!« Viv rang sich ein schiefes Grinsen ab. Die Absurdität der Situation hatte die letzte Wut über die Begegnung mit der Torwächterin weggeschwemmt.

»Es tut mir ja so leid!«, sagte die Rättin, als sie sich bückte, um ihr zeterndes Haustier zu umarmen. Dann fiel ihr Blick auf die umgekippten Bücherstapel. »Oh, bei allen Göttern.«

»Ja, tut mir leid. War mein Fehler.« Viv deutete auf ihr verletztes Bein und die Krücke. Es war ihr jetzt fast peinlich, einen Säbel zu tragen, es wirkte sonderbar.

»Potroast! Ab nach hinten! Los, verschwinde schon!«, zischte die Rättin. Zu Vivs Überraschung gehorchte das Geschöpf und schlich mit hängendem Schwanz hinter den Tresen. Es schob den Kopf um die Ecke und beobachtete Viv mit misstrauischen Augen, die so groß wie Grapefruits waren. Aber es blieb, wo es war.

Viv machte Anstalten, sich mühsam hinzuhocken, um zu helfen, das Bücherwirrwarr zu ordnen.

Die Rättin protestierte. »Vergiss es.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wir wollen das Schicksal nicht noch mal herausfordern, was?«

Es dauerte nicht lange, bis sie neue, noch bedenklicher schwankende Stapel aufgeschichtet hatte, aber wenigstens lagen die Bücher nicht mehr alle auf dem Boden verstreut. Währenddessen glättete Viv mit ihrer Krücke heimlich den Teppich, was Potroast ein seltsames, blubberndes Knurren entlockte.

»Na gut. Verdammt. Ich bin ganz wuschig«, sagte die Rättin und fächelte sich Luft mit einer Pfote zu. Dann strich sie ihre Schnurrhaare aus. »Wie kann ich dir helfen?«, erkundigte sie sich.

Sie sprach in einem so höflichen Tonfall, dass Viv sich ein Lachen einfach nicht mehr verkneifen konnte.

»Oh, ihr Götter, das tut mir leid«, sagte sie, als sie vergeblich versuchte, es zu unterdrücken. »Es ist nur so … jede Ratte, der ich bisher begegnet bin, war so zart und schüchtern, und ich dachte …«

Die Augen der Rättin wurden schmale Schlitze. »Und ich dachte immer, Orks fressen Bücher, aber siehe da … Überraschung!«

Jetzt konnte Viv ihr Lachen nicht mehr zurückhalten.

Nach einer Sekunde schaffte es auch die Rättin, ein- oder zweimal zu kichern, dann fuhr sie sich über die Stirn und blickte in die Runde, als fragte sie sich, wie sie überhaupt hierhergekommen war.

»Übrigens … ich bin Fern.« Sie streckte eine Pfote aus.

Viv griff zu, worauf die Pfote in ihrer riesigen Pranke verschwand und Viv sich bemühte, möglichst sanft zuzupacken.

»Ich bin Viv. Noch mal, es tut mir wirklich leid, dass ich ein solches Chaos angerichtet habe.«

Fern winkte ab. »Wenn du ein Buch kaufst, ist alles verziehen.«

»Ja, also … Ich habe meinen Geldbeutel im Barsch vergessen …« Sie deutete auf ihren leeren Gürtel. Die Ausrede kam ihr gerade recht, denn sie hatte ohnehin nicht vorgehabt, etwas zu kaufen.

Ein weiterer tiefer Seufzer von Fern. »So wie dein Bein aussieht, kann ich mir nicht vorstellen, dass du mit einem geklauten Buch über alle Berge davongaloppieren wirst, also nimm dir ruhig eines mit und komm morgen wieder. Wie wäre das?«

Jetzt saß sie in der Falle.

»Schon. Aber …« Sie sah sich um. »Ehrlich gesagt lese ich nicht viel, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wonach ich suchen sollte.«

Fern musterte sie von oben bis unten, als wollte sie ihr Gewicht in Worte abwiegen. Sie tippte sich mit einer Kralle auf die Unterlippe, als sie Vivs Säbel und ihre allgemeine … Vivness abschätzte.

»Die zehn Glieder einer Kette«, sagte sie und strich über mehrere Buchrücken. »Ein echter Klassiker.«

Viv verzog zweifelnd das Gesicht. »Klingt … langweilig.«

»Es geht um einen Gefängnisausbruch«, rief Fern über die Schulter zurück. »Schwertkämpfe. Eine nächtliche Seeschlacht. Magische Flüche. Ein Zwerg mit einem Auge und einer mörderischen Neigung.« Sie drehte sich um, und ihre schwarzen Augen funkelten zuversichtlich. »Vertrau mir, hm? Ah, hier ist es ja!«

Sie zog einen schmalen, in rotes Leder gebundenen Band heraus und kam damit zu Viv zurück, die das Buch widerstrebend entgegennahm. Der Titel war in den Einband geprägt und mit abblätterndem Gold veredelt. Der Autor war ein gewisser R. Geneviss. Viv schlug den Band auf und starrte zweifelnd auf die kleinen Worte.

»Gibt’s auch Bilder?« Dann dachte sie schuldbewusst an das Chaos, das sie angerichtet hatte, und an das morsche Holz vor der Tür. »Aber ich nehme an, das ist wohl nicht so wichtig?«

Fern lachte, ein leises, melodisches Lachen. »Es gibt ein paar Holzschnitte. Aber nicht von den blutigen Stellen.«

Viv rang sich zu einem Lächeln durch, von dem sie hoffte, dass es anerkennend wirkte. »Klar, sicher. Natürlich. Wie auch immer, danke. Wie viel schulde ich dir? Morgen, meine ich?«

»Es ist kein Exemplar von einem der neueren Buchdrucker, aber mit diesem Ledereinband – dreißig Kupferstücke.« Sie sah Vivs Gesichtsausdruck und seufzte. »Was soll’s … Okay, für dich zwanzig.«

»Also, ich erwähne das nur ungern, aber …« Viv erzählte ihr von der zertrümmerten Planke vor der Tür.

Die Rättin bedeckte beide Augen mit den Pfoten und stieß mehrere überraschend kreative Schimpfwörter aus, sowie einige Worte, bei denen Viv sich ziemlich sicher war, dass sie geradezu verboten waren, bevor sie sich schließlich mühsam zusammenriss. »Ich bin nur froh, dass du nicht an noch mehr Körperstellen verletzt worden bist«, sagte sie, so vorsichtig, als würde sie mit einem Becher Brandy auf einem Drahtseil balancieren. »Bis morgen.«

Als Viv zur Tür ging, stieß Potroast angesichts dieses Rückzugs ein triumphierendes Heulen aus.

Vom Meer her zog Nebel auf, und das Strandgras zischte unter den Windstößen, als Viv zurück in Richtung Barsch humpelte. Das Wetter schlug schnell um. Die Aussicht, auf ihrer Krücke durch den nassen Sand zu stapfen, war äußerst unattraktiv, also beschleunigte Viv das Tempo. Ihre Achselhöhle brannte schon, weil die Krücke dort so scheuerte.

Die ersten Regentropfen tupften dunkle Flecken auf den Sand, als sie die drei Stufen zum Barsch hinaufstieg und unter das schützende Vordach humpelte. Nur Sekunden später grollte der Donner. Dichte Regenschleier waberten von den Dünen heran, der Geruch von heißem, nassem Sand schwängerte die Luft.

Als Viv die Herberge betrat, war der Schankraum deutlich belebter als zuvor.

Wasserkreaturen und Menschen mit muskulösen Armen und salzverkrusteter Kleidung hockten an den Tischen oder scharten sich um die Bar, und das Brausen lebhafter Gespräche erfüllte den Raum. Brand bewegte sich geschmeidig hinter dem Tresen, während er sich um die Bestellungen kümmerte. Ein zierlicher Halbelf schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und stellte Kupferbecher oder Schüsseln mit Eintopf ab. In der Feuerstelle knisterten die Flammen, Regentropfen zischten auf dem Kienspan.

Viv hatte schon wieder Heißhunger. Ein einsamer Tisch im hinteren Teil des Lokals war noch frei, der würde auch für eine Ork ausreichen. Sie humpelte zu dem Stuhl unter dem an der Wand montierten Schädel eines zahnlosen Meeresräubers, und ihre Krücke pochte bei jedem zweiten Schritt. Vor Erleichterung seufzte Viv, als sie ihr Gewicht von dem unverletzten Bein auf ihr Hinterteil verlagern konnte. Umständlich öffnete sie ihren Gürtel und ließ ihn neben den Stuhl fallen, während sie die Krücke in Reichweite an die Wand lehnte.

Viv legte das Buch auf den Tisch und starrte es an, während sie darauf wartete, dass der junge Halbelf sich auf den Weg zu ihr machte. Sie fragte sich, wo Rackam und die anderen jetzt wohl waren – Lannis, Tuck, Sinna oder Malefico. Sicher schlugen sie in diesem Moment ihr Lager auf und zogen Lose für die Wache. Oder hatten sie Varine die Fahle bereits eingeholt? Waren alle noch wohlauf? Viv war kaum zwei Monate bei den Raben, und schon war sie auf der Strecke geblieben. Sie zupfte an ihren Verbänden, kaute auf der Unterlippe und starrte vor sich hin.

»Kann ich dir etwas bringen?« Eine nervöse Stimme holte sie zurück. Der Schankjunge, der einige leere Krüge balanierte.

»Zwei davon«, sagte sie und zeigte auf die Krüge. »Und drei von dem, was auch immer die anderen essen.« Sie blickte zu Brand hinüber, und als der sie bemerkte, hob sie fragend die Brauen. Er machte eine aufmunternde Handbewegung. »Brand weiß Bescheid, ich zahle morgen.« Sie tätschelte ihr verletztes Bein.

»Ach so, klar.«

Als der Halbelf weg war, legte sie Die zehn Glieder einer Kette vor sich auf den Tisch und seufzte. Es fühlte sich an, als würde sie klein beigeben, wenn sie auch nur in Erwägung zog, das Buch zu lesen. Als würde sie das verweichlichen. Schwach machen, ihren Kampfgeist lähmen.

Jemand, der lieber faulenzte und studierte, statt in die Schlacht zu ziehen und zu siegen. Viv schlug die erste Seite auf. Das Kapitel trug den Titel »Wie ich einen Mann zerstückelte«. Viv erinnerte sich an Ferns wissenden Blick und lachte leise. Widerstrebend begann sie zu lesen.

 

Wenn ich dir erzähle, dass ich zu Unrecht in den Kerker geworfen wurde, hast du wahrscheinlich Mitleid mit mir. Aber wenn ich dir auch nur ein paar der schrecklichen Dinge erzähle, die ich getan habe, wird dein Mitgefühl wahrscheinlich schnell versiegen. Ich kann dich nur bitten, etwas Geduld mit mir zu haben, lieber Leser. Vielleicht bin ich ein Ungeheuer. Etwa weil ich während meiner Reise einem Mann Kopf, Beine und Arme abgetrennt und sie in drei Fässer mit Salzlake gesteckt habe, um zu überleben. Aber ich denke, am Ende meiner Geschichte wirst du mich wieder deiner Achtung für würdig halten.

Außerdem …

… er war ein Mistkerl.

 

Viv las weiter, auch noch, als ihre Bestellungen serviert wurden. Sie aß und trank abwesend, blätterte eine Seite nach der anderen um und war überrascht, als sie feststellte, dass alle drei Schalen sowie mehrere Krüge geleert waren.

Im Barsch wurde es langsam dunkler, das Feuer verglomm, also bat sie um eine Laterne, um weiterlesen zu können. Der Junge brachte ihr eine, und trotz des unbequemen Stuhles und der Schmerzen in ihrem Bein war Viv immer noch in die Lektüre vertieft.

Sie war völlig eingetaucht … in eine andere Welt.

4

In dieser Nacht ließ Viv die hölzernen Fensterläden in ihrem Zimmer gegen den aufkommenden Wind und den strömenden Regen herunter. Sie riss ein Schwefelhölzchen an, entzündete die Lampe und schob dann die Matratze so zurecht, dass sie darauf sitzen konnte, während sie sich gegen das Bettgestell lehnte. Das war zwar nicht sonderlich bequem, aber verglichen mit dem leisen Pochen des Blutes in ihrem Bein nicht der Rede wert.

Viv las bis in die frühen Morgenstunden, bis sie ihre Augen nicht mehr aufhalten konnte und ihr Kiefer in einem gewaltigen Gähnen knackte. Dann legte sie sich mit dem aufgeschlagenen Buch auf der Brust hin, während die Geräusche des Sturms die Grenzen des Schlafs überschritten und sich in ihren Träumen festsetzten. Schwerter blitzten auf dem Vordeck einer Fregatte auf, die unter einem tosenden Himmel vom Regen gepeitscht wurde. Das Heulen des Windes mischte sich in ihren Schlummer, und Viv segelte durch unbekannte Gewässer.

Als Viv am nächsten Morgen ins Erdgeschoss vom Barsch hinunterhumpelte, hatte sich der Sturm zu einem jämmerlichen Sprühregen gelegt. Regentropfen nieselten auf das mit Schindeln gedeckte Vordach, und durch die offene Tür sah sie, wie sich das abfließende Wasser in den Sand unter der Dachtraufe fraß.

Sie hatte das Achselstück ihrer Krücke mit den Resten des Wollhemdes umwickelt, das sie beim Verbinden ihrer Wunde im Wald zerrissen hatte. Jetzt fühlte sich ihre Gehhilfe wesentlich bequemer an, auch wenn es ein oder zwei Tage dauern würde, bis das rohe Fleisch unter ihrem Arm ihr verziehen hätte.

In Erinnerung an die ihr zugeworfenen Blicke hatte sie ihren Säbel im Zimmer zurückgelassen, obwohl es ihr gegen den Strich ging.

An einigen Tischen frühstückten ein paar Leute, und Brand war offenbar im Hinterzimmer. Viv kletterte auf einen Hocker und zog den nebenstehenden wieder für ihren Fuß zurecht. Sie legte ihr Buch auf den Tresen und schlug es an der richtigen Stelle auf Seite 196 auf.

Madger war gerade mit ihrer Gruppe von Nichtsnutzen in die Inselfestung von General Dämmerlich eingedrungen, und wäre Viv in der vergangenen Nacht imstande gewesen, weiterzulesen, hätte sie es getan. Etwas Vergleichbares wie die nachfolgenden Träume, lebhafte Fragmente vergangener Szenen und imaginärer Zukünfte, hatte sie noch nie erlebt. Vielleicht war es nur die Verletzung, die ihren schlafenden Geist anspornte, doch sie erwachte mit dem Verlangen, all das Licht und die Heftigkeit dessen, was sie geträumt hatte, wieder einzufangen.

»Du warst also bei Disteldorn?«

Sie schreckte hoch, denn sie war schon nach wenigen Seiten völlig in das Buch vertieft. Brand ging mit ein paar leeren Tellern an ihr vorbei.

»Oh. Äh. Ja.« Sie blickte zur Tür hinaus auf den Regen. »So was kann man gut drinnen machen, schätze ich.«

»Sieht aus, als hättest du besser gleich zwei mitnehmen sollen.« Er deutete auf die geringe Anzahl der verbleibenden Seiten. »Aber es gibt immer etwas zu tun, wenn einem langweilig wird.« Ein halbes Grinsen.

»Da fällt mir was ein.« Sie fischte eine Handvoll Kupferstücke aus ihrem Geldbeutel. »Für gestern, und fürs Frühstück, falls ich noch eins kriege.«

Brand nickte und verschwand wieder in der Küche. Als er mit einem Teller voller Bratwürste, gebutterter Grütze und gepfefferten Eiern zurückkam, markierte Viv ihre Seite und klappte das Buch zu. Während er ihre Münzen von der Theke wischte, zog sie den Teller näher zu sich heran und fragte: »Also, was hat es mit dieser Tapenti-Torwächterin auf sich?«

Brand lachte. »Du hast also Iridia getroffen? Bei den acht Höllen, ich hätte dafür bezahlt, um dieses gegenseitige Niederstarren mitzuerleben.«

Viv blinzelte ihn an.

»Manchmal sieht man ein paar Hunde auf beiden Seiten einer Straße, bevor sie sich sehen, und man weiß, dass sie die Zähne fletschen werden. Ich hätte dasselbe über euch zwei gesagt. Iridia ist knallhart, und sie will dafür sorgen, dass du das weißt. Ihrer Ansicht nach erspart ihr das später viel Ärger.« Er zuckte mit den Schultern. »Kann nicht behaupten, dass es nicht funktioniert. Und ich schätze, sie hat lauter gebellt, da du heute Morgen hier sitzt.«

Viv runzelte die Stirn und legte die Gabel weg, ohne den Bissen zu essen.

»Das ist ein Kompliment. Sie ist die Oberste Torwächterin hier. Wenn du so dumm gewesen wärst, sie zu provozieren, hättest du eine erheblich härtere Nacht verbracht. Vermutlich in einer Zelle. Das bedeutet, dass du zumindest etwas Verstand besitzt, das ist alles.« Er tätschelte ihren beachtlichen Unterarm. »Außerdem würde ich bei einem solchen Nahkampf meine Kupferstücke auf die Person setzen, der man noch nicht ins Bein gestochen hat.« Er kicherte und entfernte sich, während er sich die Hände an seiner Schürze abwischte.

Viv versuchte, seine Bemerkung an sich abperlen zu lassen, mit begrenztem Erfolg, aber das warme Essen half. Das wirklich ausgezeichnete warme Essen. Wenn die erzwungene Genesungsphase etwas Gutes hatte, dann das, etwas anderes als kalte, trockene Tagesrationen zwischen die Zähne zu bekommen.

Allein der Gedanke daran erinnerte sie an Rackam und die anderen, die ohne sie nach Norden zogen. Die Bratwürste waren wirklich sehr gut, doch sie hätte sie gegen eine Decke auf dem kalten, harten Boden eingetauscht, wo sie eigentlich hingehörte.

Brand hatte recht. Viv hätte sich zwei Bücher holen sollen. Sie setzte sich an den Tisch, den sie am Vorabend für sich beansprucht hatte, und machte sich daran, Die zehn Glieder einer Kette zu Ende zu lesen. Madgers lang ersehnte Rache, der herzzerreißende Verrat von Vier Finger Legann, Dämmerlichs schmerzliches Ende, selbst nach der Hölle, die er ihr bereitet hatte. Viv wünschte sich immer wieder, sie hätte eine Schale Nüsse zum Knabbern.

Als sie das Buch schließlich zuschlug und mit den Fingern über den roten Einband strich, hatte der Nieselregen noch immer nicht nachgelassen.

»Tja, Fern, glaub mal nicht, dass ich heute auftauchen werde. Ich muss es einfach morgen wieder gutmachen«, sagte sie. Sie stellte sich vor, wie die Rättin mit durchnässtem Fell durch die Tür platzte und sie mit ihrer hohen, süßen Stimme verfluchte. Das entlockte ihr ein Grinsen.

Viv wollte sich gerade wieder daranmachen, das erste Kapitel noch einmal zu lesen, nur um den Geschmack länger genießen zu können, als jemand tatsächlich durch die Tür stürmte.

Der Regen tropfte von seinem geölten Mantel, als er ihn mit einem Arm zurückschlug und eine große schwarze Ledertasche hervorzog. Der Elf warf sich die Kapuze vom Kopf und schnippte verärgert die Tropfen von seiner Tasche. Eine Brille baumelte an einer Schnur um seinen Hals, was seltsam war, da Elfen selten Brillen brauchten. Das wusste sogar Viv.

Irgendetwas an seinem Gesicht weckte eine schwache Erinnerung in ihr.

Er sah sich in dem Schankraum um, und als sein Blick auf Viv fiel, hellte sich seine Miene zwar nicht gerade auf, aber sie … nahm einen Ausdruck an, den sie nicht sofort zuordnen konnte.

Dann bemerkte sie den violetten Bluterguss an seinem Hals.

»Ach du Scheiße!«, stöhnte sie.

Er marschierte herüber und ließ seine Tasche mit einem Knall und einem Klappern auf ihren Tisch fallen. Er hätte ein Jahrhundert alt sein können, oder fünf. Bei Elfen war das schwer zu sagen. Er trug sein silbernes Haar kurz geschoren, und sein Gesicht war glatt und streng.

»Hoh…lark?«, fragte Viv. Ihr entschuldigendes Lächeln fühlte sich schrecklich an, und ihre Hauer schienen plötzlich zu groß für ihren Mund.

»Du hast dich wohl nicht an unseren Termin erinnert, was?«, fragte er. Wie eine so schöne Stimme einen solchen Ärger ausdrücken konnte, klang ungeheuer merkwürdig in den Ohren. »Ich glaube allerdings nicht, dass mich das wundert. Du warst nicht gerade bei klarem Verstand.«

»Das da tut mir wirklich leid«, murmelte Viv und deutete schüchtern auf den Striemen an seiner Kehle.

Seine Lippen wurden schmal. »Also, ich werde das nicht hier unten vor halb Murk machen. Hoch mit dir.« Er deutete mit dem Daumen Richtung Treppe. »Bringen wir es hinter uns.«

»Was bringen wir …?«

»Kindchen, wenn du einen Wundbrand riskieren willst, mache ich mich sofort auf den Weg. Raus in den Regen. Schon wieder. Ansonsten bitte ich dich höflichst, die Treppe hinaufzuhumpeln. Kapiert?«

Viv schnappte sich ihre Krücke.

Und ihr Buch.

Sie entschuldigte sich unablässig, den ganzen Weg die Treppe hinauf, bis ins Zimmer hinein und zu dem Moment, als er den Verband von ihrem Bein wickelte. Als er begann, an den empfindlichen Stellen ihrer Wunden herumzudrücken, hätte sie ihn allerdings fast durch die Wand gehämmert.

Viv saß auf dem Bettgestell, das Bein ausgestreckt, und stützte die Ferse wie zuvor auf ihren Rucksack. Die langen Risse in ihren Schenkeln nässten erneut, als er die alte Salbe von dem geröteten Fleisch wischte. Viv grub ihre Zähne in die Unterlippe, so fest, dass sie blutete, zwang sich aber, zu beobachten, was er da anstellte.

»Du bist zu viel herumgehumpelt, wie ich sehe«, bemerkte er.

Er rückte seine Brille auf der Nase zurecht.

»Mmm«, grunzte sie. »Ich will gelenkig bleiben.«

»Ja, und wie ich sehe, zahlt sich das auch ordentlich für dich aus.«

»Eine Brille?« Sie presste die Worte zischend durch ihre Zähne. »Ich habe noch nie einen Elf gesehen, der eine gebraucht hätte.«

»Das ist eine Lupe«, erklärte er. »Sie hilft, schleichenden Wundbrand zu erkennen. Was zum Glück hier nicht der Fall zu sein scheint. Je mehr du dich ausruhst, desto wahrscheinlicher wird es, dass dieser glückliche Umstand anhält.«

»Hier drin? Hier werde ich verrückt. Ich kann mich kaum umdrehen, ohne gegen etwas zu stoßen. Außerdem, wenn ich ein paar Wochen lang hier rumliege, bin ich nicht kampffähig, wenn es Zeit ist zu verschwinden. Und dann …«