Magie und Milchschaum - Travis Baldree - E-Book
SONDERANGEBOT

Magie und Milchschaum E-Book

Travis Baldree

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schwert oder Kaffee? Das ist hier die Frage. Viv, eine wilde und tapfere Ork-Kriegerin, ist nach Jahren voller Abenteuer und Fährnisse des Kämpfens müde geworden. Sehr zum Unwillen ihrer Gefährten beschließt sie, das Schwert an den Nagel zu hängen – und dafür ein Kaffeehaus zu eröffnen. In der Hafenstadt Thune setzt sie zusammen mit dem Kobold Cal ihren Plan in die Tat um und lockt mit dem exquisiten Getränk schon bald Krieger, Zwerge und Wesen jeglicher Art an ... und leider auch den bösen Elf Fennus, der von Viv ein geheimnisvolles Artefakt stehlen will. Aber auch wenn Viv sich mittlerweile in die Succubus Tandri verliebt hat, ist sie alles andere als eingerostet und nimmt den Kampf auf! Alle Bücher der Viv-Chroniken: Band 1: Magie und Milchschaum Band 2: Bücher und Barbaren

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 333

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Viv, eine wilde und tapfere Ork-Kriegerin, ist nach Jahren voller Abenteuer und Fährnisse des Kämpfens müde geworden. Sehr zum Unwillen ihrer Gefährten beschließt sie, das Schwert an den Nagel zu hängen – und dafür ein Kaffeehaus zu eröffnen. In der Hafenstadt Thune setzt sie zusammen mit dem Kobold Cal ihren Plan in die Tat um und lockt mit dem exquisiten Getränk schon bald Krieger, Zwerge und Wesen jeglicher Art an ... und leider auch den bösen Elf Fennus, der von Viv ein geheimnisvolles Artefakt stehlen will. Aber auch wenn Viv sich mittlerweile in die Succubus Tandri verliebt hat, ist sie alles andere als eingerostet und nimmt den Kampf auf!

Travis Baldree

Magie und Milchschaum

Roman

Aus dem Englischen von Wolfgang Thon

Für alle, die sich gefragt haben,

wohin der andere Weg führt …

PROLOG

Mit einem ekelhaften Knirschen versenkte Viv ihr Breitschwert im Schädel der Skalvert. Schwarzblut pulsierte in ihren Händen, und sie spannte ihre muskulösen Arme an, als sie es in einer Fontäne aus Blut zurück- und aus dem Schädel herausriss. Die Skalvert-Königin stieß ein gedehntes, vibrierendes Stöhnen aus … und krachte dann donnernd auf die Steine.

Mit einem Seufzer sank Viv auf die Knie. Das hartnäckige Stechen in ihrem Kreuz flammte wieder auf, und sie presste die Knöchel ihrer großen Hand auf die schmerzende Stelle, um es zu vertreiben. Dann wischte sie sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht und starrte auf die tote Königin. Jubelrufe brandeten hinter ihr auf.

Sie beugte sich dichter hinab. Ja, da war es, direkt über der Nasenhöhle. Der Kopf des Tieres war doppelt so breit wie sie selbst und schien aus unzähligen Augen und ungeheuren Zähnen in einem riesigen, unterständigen Kiefer zu bestehen. In der Mitte verlief die fleischige Naht, von der sie gelesen hatte.

Sie rammte ihre Finger in die Falte und drückte sie auseinander. Fahles goldenes Licht breitete sich aus. Viv schob ihre ganze Hand in die Hauttasche, schloss die Faust um einen facettierten organischen Klumpen und riss daran. Er löste sich mit einem feuchten Schmatzen.

Fennus trat hinter sie – sie roch sein Parfüm. »Das ist es also?« Er klang mäßig interessiert.

»Ja.« Viv stöhnte, als sie sich aufrappelte. Sie benutzte Schwarzblut als Krücke. Ohne sich die Mühe zu machen, den Klumpen zu säubern, stopfte sie ihn in eine Tasche an ihrem Bandolier und legte sich dann das Breitschwert über die Schulter.

»Und mehr willst du wirklich nicht?« Fennus sah blinzelnd zu ihr hoch. Sein langes, schönes Gesicht verriet seine Belustigung.

Er deutete auf die Wände der Höhle, wo die Skalvert-Königin unermesslichen Reichtum unter Schichten aus gehärtetem Speichel verstaut hatte. Wagen, Truhen und Knochen von Pferden und Menschen hingen inmitten von Gold, Silber und Edelsteinen – der glänzende Hort etlicher Jahrhunderte.

»Nein«, antwortete sie. »Wir sind quitt.«

Der Rest der kleinen Gruppe näherte sich vorsichtig. Roon, Taivus und die kleine Gallina plapperten, erschöpft, aber triumphierend – das trunkene Geschwätz der Sieger. Roon kämmte sich Schlamm und Dreck aus dem Bart, Gallina schob ihre Dolche in die Scheiden, und Taivus glitt hinter den beiden her, groß und wachsam. Sie waren ein guter Trupp.

Viv wandte sich ab und ging zum Eingang der Höhle, durch den noch schwaches Tageslicht hereinfiel.

»Wo willst du hin?«, brüllte Roon mit seiner rauen, freundlichen Stimme.

»Nach draußen.«

»Aber … willst du denn nicht …?«, stammelte Gallina.

Jemand brachte sie zischend zum Schweigen, höchstwahrscheinlich Fennus.

Viv durchzuckte ein Anflug von Scham. Sie mochte Gallina am meisten von allen und hätte sich wohl Zeit nehmen sollen, ihr ihr Verhalten zu erklären.

Aber sie war damit durch. Warum die Dinge hinauszögern? Sie wollte nicht wirklich darüber reden, und wenn sie noch mehr sagte, würde sie am Ende noch ihre Meinung ändern.

Nach zweiundzwanzig Jahren Abenteurertum hatte Viv genug Blut, Schlamm und Dreck gesehen. Das Leben eines Orks bestand aus Kraft und Gewalt und einem brutalen, unerwarteten Ende durch etwas Scharfes – aber sie wollte verdammt sein, wenn sie ihres so beschließen würde.

Es war Zeit für etwas Neues.

1

Viv stand in der kühlen Morgenluft und blickte in das weite Tal hinab. Thune lugte aus einer Nebelbank über den Ufern des Flusses, der die Stadt in der Mitte teilte. Hier und da blitzte ein kupferverkleideter Kirchturm in der Sonne.

Sie hatte ihr Lager in der Morgendämmerung abgebrochen, und ihre langen Beine waren über die letzten paar Meilen förmlich hinweggeflogen. Schwarzblut lastete schwer auf ihrem Rücken, und der Stein der Skalvert-Königin steckte in der Innentasche ihrer Jacke. Er fühlte sich an wie ein harter, vertrockneter Apfel, und sie betastete ihn von Zeit zu Zeit unwillkürlich durch den Stoff, um sich zu vergewissern, dass er noch da war.

Über einer Schulter trug sie eine Ledertasche, in der sich Notizen und Pläne, ein paar Brocken Schiffszwieback, ein Geldbeutel mit Platinmünzen und verschiedene Edelsteine befanden. Sowie ein kleines, seltsames Gerät.

Sie folgte der Straße hinunter ins Tal, während der Nebel sich verflüchtigte. Ein einsamer Bauernkarren, hoch beladen mit Luzerne, rumpelte schwankend vorbei.

Ein nervöses Hochgefühl stieg in Viv auf, etwas, das sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Es war wie ein Schlachtruf, den sie kaum unterdrücken konnte. Noch nie hatte sie sich so sehr auf etwas vorbereitet. Sie hatte gelesen und nachgefragt, recherchiert und mit sich gerungen, und am Ende hatte sie Thune ausgewählt. Nachdem sie alle anderen Städte von ihrer Liste gestrichen hatte, war sie sich absolut sicher gewesen. Jetzt kam ihr diese Überzeugung plötzlich töricht und impulsiv vor, doch ihre Begeisterung war ungebrochen.

Thune besaß keine äußere Wehrmauer. Die Stadt hatte sich weit über ihre ursprünglichen befestigten Grenzen hinaus ausgedehnt. Viv spürte, dass sie sich dem Rand von irgendetwas näherte. Es war eine Ewigkeit her, dass sie mehr als eine Handvoll Nächte an einem Ort verbracht hatte, meist nur für die Dauer eines Auftrags. Und jetzt wollte sie in einer Stadt sesshaft werden, die sie in ihrem ganzen Leben vielleicht dreimal besucht hatte.

Sie blieb stehen und schaute sich vorsichtig um, als ob die Straße nicht verlassen wäre, nachdem der Bauer längst im Nebel verschwunden war. Sie holte ein Stück Pergament aus ihrer Tasche und las die Worte, die sie abgeschrieben hatte.

Nahe der thaumischen Grenze

zieht der brennende Skalvert-Stein

den Kreis des Glücks

um den Herzenswunsch.

Viv verstaute das Pergament wieder sorgfältig in ihrer Tasche und holte stattdessen das Gerät heraus, das sie eine Woche zuvor von einem Thau-Nebel-Gelehrten in Arvenne erworben hatte – einen Hexenstab.

Die kleine Holzspindel war mit einem Kupferfaden umwickelt, der die längs eingravierten Runen verdeckte. Über der Spitze und in einer Rille war ein Gabelbein aus Esche angebracht, damit sie sich frei drehen konnte. Sie nahm die Spindel in die Faust und spürte, wie der Kupferfaden die Wärme ihrer Handfläche aufnahm. Die Spindel ruckte kaum merklich.

Zumindest war sie sich relativ sicher, dass es ein Ruck gewesen war. Während der Demonstration des Thaumisten war ein stärkeres Ziehen zu spüren gewesen. Viv verdrängte den plötzlichen Gedanken, dass alles nur ein Taschenspielertrick gewesen sein könnte. In der Regel vermieden Leute mit festem Wohnsitz es tunlichst, eine doppelt so große Ork zu betrügen. Sie hätte dem Thaumisten das Handgelenk brechen können, wenn sie ihm zu fest die Hand gab.

Viv holte tief Luft und schritt mit dem Hexenstab vor sich ausgestreckt auf Thune zu.

Die Geräusche im schlaflosen Thune wurden lauter, als sie weiter ins Innere der Stadt gelangte. In den Außenbezirken waren die meisten Gebäude aus Holz, einige wenige hatten Flusssteinfundamente. Je weiter sie vordrang, desto mehr dominierte Stein, als wäre die Stadt im Laufe der Zeit verkalkt. Schlammige Erde wich vereinzelten steinernen Gassen, und dann, in der Nähe des Stadtkerns, Kopfsteinpflaster. Tempel und Tavernen drängten sich um Plätze, auf denen Statuen von Menschen standen, die wahrscheinlich irgendwann einmal von Bedeutung gewesen waren.

Jegliche Zweifel an dem Hexenstab hatten sich in Luft aufgelöst. Er lenkte sie jetzt definitiv, wie ein lebendiges Wesen. Erst kurze Zuckungen, die sich rasch zu einem beharrlichen Ziehen verstärkten. Ihre Nachforschungen waren nicht umsonst gewesen. Unter der Stadt mussten eindeutig Ley-Adern verlaufen, mächtige Achsen thaumischer Energie. Die Gelehrten stritten darüber, ob sie dort gediehen, wo sich Menschen niederließen, oder ob sie die Menschen anzogen wie Wärme im Winter. Für Viv zählte nur, dass sie hier existierten.

Allerdings war die Suche nach einer starken Ley-Ader natürlich nur der Anfang.

Die kleine Wünschelrute aus Eschenholz zuckte nach links und rechts, zog sie eine Zeit lang in eine Richtung, bevor sie sich umdrehte und wie ein Fisch am Haken in eine andere Richtung drängte. Nach einer Weile brauchte Viv nicht mehr hinzusehen. Das Gefühl reichte aus, und sie schenkte stattdessen den Gebäuden, an denen sie vorbeikam, mehr Aufmerksamkeit.

Der Hexenstab führte sie über die großen Durchgangsstraßen, durch verschlungene Gassen, die sie miteinander verbanden, vorbei an Schmieden, Herbergen, Märkten und Gasthäusern. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen ihrer Größe unterwegs, und sie fühlte sich zu keiner Zeit bedrängt. Was daran lag, dass Schwarzblut gewöhnlich diesen Effekt auslöste.

Sie durchquerte sämtliche Gerüche, die eine Stadt ausmachten – gebackenes Brot, der Schweiß von Pferden, nasser Stein und heißes Metall und blumiges Parfüm und alter Unrat. Die gleichen Gerüche, die man in jeder Stadt vorfindet, aber darunter mischte sich der morgendliche Duft des Flusses. Manchmal sah sie zwischen den Häusern die Schaufeln des Wasserrads der Mühle.

Viv ließ sich von der Rute dorthin führen, wohin sie wollte. Ein paarmal war der Zug so stark, dass sie stehen blieb und die Gebäude in der Nähe betrachtete. Bevor sie enttäuscht weiterging. Die Rute leistete dann eine Weile Widerstand, bis sie aufzugeben schien und eine neue Richtung fand, in die sie ziehen konnte.

Endlich, als sie wirklich kräftig zerrte, kam Viv halb benommen zum Stehen und sah vor sich, was sie brauchte.

Es lag nicht an der Hohen Straße – das wäre wohl auch zu viel des Guten gewesen. Aber es befand sich nur eine Nebenstraße weiter. Die Kerosinlaternen, die die Straße säumten, waren inzwischen erloschen. Wahrscheinlich würde man dort auch nach Einbruch der Dunkelheit nicht abgestochen werden. Den Gebäuden im Redstone-Bezirk sah man ihr Alter an, aber die Dächer schienen in gutem Zustand zu sein. Alle bis auf eines, und genau dorthin zog sie der Hexenstab.

Es war klein für das, was es einmal gewesen war: An dem einzigen verbliebenen eisernen Haken hing ein verwittertes Schild – PARKINSMIETSTALL. Die Farbe der geprägten Buchstaben war längst abgeblättert. Die zwei großen eisenbeschlagenen Holztüren standen halb offen, der Querbalken lehnte an der Wand daneben. Eine weitere, kleinere, etwa orkgroße Tür links daneben war amüsanterweise mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Viv streckte den Kopf in den Schuppen, um sich umzusehen. Durch ein Loch im Dach fiel Licht. Eine Handvoll Lehmschindeln lag zersplittert auf dem Durchgang zwischen sechs Pferdeboxen. Eine Leiter zweifelhafter Stabilität führte zu einem Dachboden hinauf, und zur Linken befand sich ein kleines Büro mit einem Hinterzimmer. Der saure Geruch von verfaulendem Heu drang aus einer Mulde auf der Rückseite. Der Staub tanzte in den Lichtstrahlen, als würde er sich nie absetzen.

Es war so perfekt, wie sie es sich nur wünschen konnte, und sie steckte den Hexenstab weg.

Als sie wieder in den mittlerweile zunehmenden Verkehr der Straße trat, sah sie eine verhutzelte alte Frau auf der anderen Straßenseite, die ihre Türschwelle fegte. Viv war sich ziemlich sicher, dass sie schon seit ihrer Ankunft fegte. Die Schwelle musste mittlerweile glänzen, aber die Frau fegte entschlossen weiter und warf Viv dabei alle zwei Sekunden einen verstohlenen Blick zu.

Viv überquerte die Straße. Die alte Frau war immerhin so höflich, überrascht zu tun, und brachte dabei so etwas wie ein Lächeln zustande.

»Wissen Sie, wem der Laden gehört?« Viv deutete mit dem Daumen auf den Mietstall hinter ihr.

Die Frau war weniger als halb so groß wie sie und verrenkte sich fast den Hals, um Blickkontakt herzustellen. Ihre Augen verschwanden, als sie ihr Gesicht zu einem beeindruckenden Knäuel aus Falten verzog.

»Der Mietstall?«

»Ja.«

»Also …« Sie dehnte das Wort nachdenklich, aber Viv wusste, dass mit ihrem Gedächtnis alles stimmte. »Der gehört dem alten Ansom, wenn ich mich recht erinnere. Der Mann hatte noch nie einen Sinn fürs Geschäft, weder für den Handel noch für die Pflichten eines Ehemannes, wie seine alte Dame immer behauptete.«

Viv entging nicht, wie die Frau anzüglich mit den Brauen wackelte. »Er gehört nicht Parkin?«

»Nee. Er war nur zu geizig, das Schild zu ändern, als er ihn gekauft hat.«

Viv lächelte amüsiert, und ihre unteren Fangzähne blitzten auf. »Haben Sie eine Idee, wo ich ihn finden kann?«

»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber vermutlich geht er der einzigen Arbeit nach, bei der er noch nie versagt hat.« Sie hob die freie Hand und führte einen imaginären Krug an die Lippen. »Wenn du ihn finden willst, würde ich es in den Schänken in der Rawbone Alley versuchen. Etwa sechs Häuser weiter.« Sie gestikulierte vage in Richtung Süden.

»Um diese Uhrzeit?«

»Oh ja, er nimmt diese Arbeit wirklich sehr ernst.«

»Danke, Missus«, antwortete Viv.

»Ach, von wegen Missus!« Die Frau kicherte. »Du kannst mich Laney nennen. Hast du etwa vor, meine neue Nachbarin zu werden …?« Sie wedelte vage mit der Hand zum Stall.

»Viv.«

»Viv.« Laney nickte.

»Das bleibt abzuwarten. Es hängt davon ab, ob dieser Ansom wirklich ein so mieser Geschäftsmann ist, wie du sagst.«

Die alte Frau lachte immer noch, als Viv in die Rawbone Alley einbog.

Ganz gleich, was Laney gesagt hatte, Viv hatte nicht wirklich erwartet, den so übel geschmähten Ansom zu dieser Tageszeit in einer Schänke anzutreffen. Sie hatte vor, in jeder geöffneten Kaschemme nach ihm zu fragen. Sobald sie sein Stammlokal in Erfahrung gebracht hatte, wollte sie ihn im Laufe des Tages aufspüren.

Es stellte sich heraus, dass sie nur drei Versuche brauchte, bis sie vor ihm höchstpersönlich stand. Der Wirt der Schänke musterte sie auf ihre Frage nach Ansom von oben bis unten und hob die Brauen, als sein Blick auf den Griff von Schwarzblut über ihrer Schulter fiel.

»Ich will keinen Ärger machen, nur Geschäfte«, sagte sie gelassen und versuchte, weniger imposant auszusehen.

Offenbar zufrieden, weil sie nicht auf einen Kampf aus war, deutete er mit dem Daumen in eine Ecke und verteilte mit einem schmutzigen Lappen den Dreck auf der Theke an neue und interessantere Stellen.

Als Viv sich dem Tisch näherte, überkam sie der überwältigende Eindruck, dass sie die Höhle eines uralten, tierischen Waldbewohners betrat. Vielleicht die eines Dachses. Ansom strahlte keine Gefahr aus, verbreitete eher den Eindruck, dass er so viel Zeit an diesem Ort verbracht hatte, dass er den Geruch angenommen und ihn sich zu eigen gemacht hatte.

Er sah sogar aus wie ein Dachs. Ein dichter, fettiger, grau melierter Bart wucherte bis auf seine Brust. Er war so breit wie groß und nahm so viel Platz zwischen der Wand und dem Tisch ein, dass der sich von den Beinen hob, wenn er tief einatmete.

»Bist du Ansom?«, fragte Viv.

Ansom bestätigte das.

»Stört es dich, wenn ich mich setze?«, fragte sie und nahm gleichzeitig Platz. Sie lehnte Schwarzblut an die Stuhllehne. In Wahrheit war sie es nicht wirklich gewohnt, irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen.

Ansom starrte sie an. Seine Tränensäcke waren geschwollen, aber sein Blick war wachsam, wenn auch nicht feindselig. Ein Krug stand vor ihm, fast leer. Viv winkte dem Wirt und deutete darauf. Ansoms Miene hellte sich merklich auf.

»Herzlichen Dank«, murmelte er.

»Ich habe gehört, dass dir der alte Mietstall in Redstone gehört. Stimmt das?«, erkundigte sich Viv.

Ansom bestätigte auch das.

»Ich möchte ihn kaufen«, fuhr sie fort. »Und ich habe so das Gefühl, dass du ihn vielleicht verkaufen willst.«

Ansom schien überrascht zu sein, aber nur kurz. Sein Blick wurde schärfer, und obwohl er vielleicht keinen Sinn fürs Geschäft hatte, war sich Viv ziemlich sicher, dass er einen fürs Feilschen besaß.

»Vielleicht«, grummelte er. »Aber das ist eine erstklassige Immobilie. Erste Lage! Ich habe schon etliche Angebote bekommen, aber die meisten sehen nicht über das Äußere hinweg und wissen den wahren Wert der Lage nicht zu schätzen. Soll heißen, sie haben viel zu wenig geboten.«

An diesem Punkt tauschte der Wirt seinen Krug gegen einen neuen aus, und Ansom erwärmte sich sichtlich für das Thema.

»Ja, so viele peinliche Angebote. Ich muss dich warnen, ich kenne den Wert des Grundstücks, und ich kann mir nicht vorstellen, es an jemand anderen zu verkaufen als an einen seriösen Geschäftsmann … ich meine, eine Geschäftsfrau«, korrigierte er sich schnell.

Viv grinste amüsiert und dachte an Laney. »Tja, Ansom, es gibt alle möglichen Arten von Geschäften.« Sie war sich bewusst, dass Schwarzblut hinter ihr am Stuhl lehnte, und dachte daran, wie sehr ihr Geschäft – ihr alter Beruf – diese Verhandlungen vereinfacht hätte. »Aber ich kann mit Gewissheit von mir behaupten, dass ich es immer ernst meine, wenn ich irgendwelche Geschäfte mache.«

Sie griff nach ihrer Tasche, holte die Geldbörse mit den Platinmünzen heraus und hob sie hoch. Sie nahm eine Münze heraus, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, als wollte sie sie prüfen, und ließ sie im Licht schimmern. Eine Währung wie Platin bekam man an einem Ort wie diesem nur selten zu Gesicht. Sie musste die Münzen bald in weniger wertvolle Geldstücke umtauschen, aber sie hatte sie genau für einen Moment wie diesen zur Hand haben wollen.

Ansom riss die Augen auf. »Ah … Ernsthaft! Ja! Ernsthaft, in der Tat!« Er trank einen langen Schluck von seinem Bier, um seine Überraschung zu verbergen.

Du Schlitzohr! Viv versuchte, nicht zu grinsen.

»Von einer seriösen Geschäftsperson zur anderen: Ich möchte deine Zeit nicht verschwenden.« Viv stützte sich auf einen Ellbogen und schob acht Platinmünzen über den Tisch. »Das entspricht in etwa achtzig Goldsovereigns. Und ich denke, das entspricht wiederum dem Wert des Grundstücks. Wir sind uns sicher einig, dass das Gebäude selbst wertlos ist, und ich denke, die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere … Geschäftsfrau dich aufspürt, um dich bar auf die Hand auszuzahlen, ist verschwindend gering.«

Sie erwiderte ruhig seinen Blick.

Er hatte den Krug noch immer an den Mund gesetzt, trank aber nicht.

Viv machte Anstalten, die Münzen wieder einzustreichen, aber er griff hastig danach. Er erstarrte jedoch, kurz bevor er ihre viel größere Hand berührte. Sie hob die Brauen.

»Ich sehe, du hast ein gutes Auge, was den Wert von Dingen angeht.« Ansom blinzelte.

»Allerdings. Wenn du dir jetzt gleich einen Moment Zeit nehmen willst, um die Urkunde aufsetzen zu lassen und sie zu unterschreiben, warte ich hier. Aber ich warte nicht länger als bis zum Mittag.«

Wie sich herausstellte, war der alte Dachs erheblich flinker, als er aussah.

Als Viv ihr Zeichen auf die Urkunde setzte und die Schlüssel des Anwesens einsteckte, schob Ansom die Platinmünzen in seinen Geldbeutel und wirkte erleichtert, dass das Geschäft abgeschlossen war. »Also … ich hätte nicht gedacht, dass du dich für eine Arbeit als Mietstallbesitzerin interessierst«, meinte er dann.

Es war allgemein bekannt, dass Pferde Orks nicht besonders mochten.

»Das tue ich auch nicht. Ich eröffne so was wie ein Kaffeehaus.«

Ansom war verblüfft. »Aber warum kaufst du dafür einen Pferdestall?«

Viv antwortete nicht sofort, aber dann starrte sie ihn scharf an. »Die Dinge müssen nicht so bleiben, wie sie angefangen haben.« Sie faltete die Urkunde zusammen und steckte sie in ihre Tasche.

»Ach, übrigens«, rief Ansom ihr nach, als sie hinausging. »Was bei den acht Höllen ist Kaffee?«

Viv musste noch drei weitere Zwischenstationen einlegen, bevor sie wieder zum Mietstall zurückkehrte.

In der Wechselstube im Handelsdepot hatte sie sich für ihre Platinmünzen Kupfer, Silber und Gold in die Geldbörse gefüllt, dann machte sie sich auf den Weg zum Athenäum an der kleinen thaumischen Universität am Nordufer des Flusses. Das hatte sie sowieso finden wollen, falls sie etwas nachlesen musste.

Noch wichtiger war, dass die Territoriale Post zwischen den weit verstreuten Athenäen und Bibliotheken in den meisten Großstädten verkehrte, und sie war zudem zuverlässig. Dank der kupferfarbenen Türme, die sie gesehen hatte, war es leicht zu finden.

Jetzt saß sie an einem der großen Tische zwischen den Regalen und schrieb zwei Briefe. Dafür benutzte sie ein paar Blätter ihres Pergaments. Der Geruch von Papier, Staub und Zeit erinnerte sie an all die Bücher, die sie in letzter Zeit an Orten wie diesem gelesen hatte. Sie hatte das lebenslange Trainieren von Muskeln, Reflexen und Sturheit gegen Lektüre, Planen und Sammeln von Details eingetauscht. Sie lächelte reumütig, als sie schrieb.

Die Gnomfrau am Postschalter starrte sie unaufhörlich an, als sie das Wachssiegel stempelte. Sie musste die Adressen zweimal ablesen, so nervös machte sie die Anwesenheit einer Ork in ihrem Gebäude.

»Ich suche einen Kleinschmied. Kennst du einen seriösen?«

Die Gnomfrau starrte sie noch einen Moment mit offenem Mund an, fasste sich dann aber und blätterte hastig in einem Verzeichnis hinter dem Tresen. »Markev and Sons«, antwortete sie, »827 Mason’s Lane.«

Dann erging sie sich in einer verwirrenden Wegbeschreibung.

Viv bedankte sich bei ihr und verschwand.

Markev and Sons war dort, wo es sein sollte. Um einen Silberling und drei Kupferstücke leichter verließ sie den Laden mit einem riesigen und ziemlich schweren Geldschrank unter einem muskulösen Arm.

Viv erreichte Parkins Mietstall wieder, als die Sonne unterging. Sie schloss die Bürotür auf, verriegelte die Stalltüren und schob den Geldschrank hinter den L-förmigen Tresen im Büro. Sie verstaute die Urkunde und ihre Barschaft darin, schloss ihn ab und hängte sich den Schlüssel um den Hals.

Nach einigen Versuchen mit ihren Füßen und Fingerspitzen fand sie eine lockere Steinplatte im Durchgang zwischen den Ställen und hebelte sie mit viel Kraftaufwand aus. Sie schaufelte die Erde heraus und legte den Stein der Skalvert-Königin vorsichtig in die Vertiefung, bedeckte ihn mit Erde, legte die Steinplatte wieder auf und fegte mit einem alten Stallbesen über die Fläche, um sicherzustellen, dass sie unberührt wirkte.

Dann starrte sie eine Weile darauf hinab und setzte alle Hoffnungen auf diesen kleinen Stein, der nun wie ein geheimes Herz in Parkins Mietstall vergraben war.

Der jetzt ja kein Mietstall mehr war.

Dieser Ort gehörte jetzt Viv.

Sie sah sich um. Es war ihr Heim. Kein vorübergehender Zwischenstopp oder ein Ort, an dem sie ihren Schlafsack für eine Nacht ausbreitete. Es gehörte ihr.

Frische Abendluft strömte durch das Loch im Dach. Also würde es sich hier zumindest heute Nacht wohl wie in jeder anderen Nacht unter dem Sternenhimmel anfühlen. Viv blickte zu dem Dachboden und der Leiter, die hinaufführte. Sie setzte ihren Fuß probehalber auf eine der unteren Sprossen, die wie Sperrholz zerbrach. Sie schnaubte, schnallte Schwarzblut ab und schleuderte das Schwert mit beiden Händen auf den Dachboden. Dabei schreckte sie eine Schar Tauben auf, die durch das Loch im Dach davonflatterten. Sie blickte den Vögeln einen Moment nach und breitete dann ihren Schlafsack in einem der Ställe aus. Hier würde sie sicher kein Lagerfeuer entfachen, und es gab hier auch keine Laternen, aber das war in Ordnung.

In dem gedämpften Licht begutachtete sie das Innere des Stalls, umgeben von antiken Pferdeäpfeln und dem Staub vieler Jahre. Sie wusste so gut wie nichts über Gebäude, aber es war klar, dass dieses hier unglaublich viel Arbeit erforderte.

Aber am Ende? Immerhin war es etwas, was sie aufbaute, statt es abzureißen.

Natürlich war die ganze Sache einfach lächerlich. Ein Kaffeehaus? In einer Stadt, in der niemand wusste, was Kaffee überhaupt war? Bis vor sechs Monaten hatte sie selbst noch nie etwas davon gehört, ihn nie gerochen, geschweige denn geschmeckt. Auf den ersten Blick war das ganze Unterfangen einfach absurd.

Sie lächelte in der Dunkelheit.

Als sie sich schließlich auf ihre Bettrolle sinken ließ, begann sie, ihre Aufgaben für den nächsten Tag aufzulisten, kam aber nicht über die dritte hinaus.

Sie schlief wie eine Tote.

2

In der tiefblauen Morgendämmerung wachte Viv auf und lauschte dem anschwellenden Gemurmel der Stadt draußen. Die Tauben gurrten auf dem Dachboden – sie waren in ihre Nester zurückgekehrt. Viv erhob sich und kontrollierte die Steinplatte über dem Stein der Skalvert-Königin. Natürlich war sie unberührt. Sie packte ein paar Sachen zusammen, trat auf die Straße, während sie auf dem letzten Rest ihres Zwiebacks kaute, und atmete den feuchten Morgenduft ein, der sich ausbreitet, wenn die Schatten der Sonne weichen. Sie fühlte sich erholt und gleichzeitig gespannt, als ginge sie auf Zehenspitzen, jederzeit bereit, zu einem Sprint anzusetzen.

Auf der anderen Straßenseite hatte Laney ihren Besen gegen eine Schüssel mit Erbsen getauscht und saß auf einem dreibeinigen Hocker, während sie schälte. Sie nickten einander freundlich zu, dann schloss Viv den Stall ab und ging in Richtung Fluss.

Beim Gehen summte sie vor sich hin.

Der Morgennebel lichtete sich bereits, als Viv die Werften erreichte, die sich an das Ufer des Flusses schmiegten. Die Geräusche von Hämmern und Sägen und vom Nebel gedämpfte Rufe belebten den Ort. Sie wusste genau, was sie wollte, erwartete jedoch nicht, es sofort zu finden. Aber sie konnte sich in Geduld üben. Ihrer Erfahrung nach war das auch notwendig. Viv hatte so viele Stunden mit Erkundung und Auskundschaften von Verstecken irgendwelcher Bestien verbracht, dass sie ihren Frieden mit dem langsamen Verstreichen der Zeit geschlossen hatte.

Sie kaufte ein paar Äpfel von einem abgerissenen Straßenjungen, der sie aus einem Jutesack fischte, suchte sich einen Stapel Kisten abseits der Straße und machte es sich darauf gemütlich, um sich in Ruhe umzusehen.

Die Boote hier waren nicht sonderlich groß – es handelte sich meist um Kielboote und kleine Fischerboote, die am besten für die Flußfahrt geeignet waren. Etwa ein Dutzend davon lagen auf ihren Gestellen auf dem langen Kai und wurden von kleinen Gruppen von Schiffszimmermännern bearbeitet, die sie abschleiften, teerten oder reparierten. Sie beobachtete die Männer bei der Arbeit und hielt dabei Ausschau nach dem, was sie wollte. Die Zahl der Handwerker nahm im Laufe des Vormittags zu und wieder ab, wie die Gezeiten.

Viv aß gerade ihren letzten Apfel, als sie fand, wonach sie gesucht hatte.

Die meisten Schiffszimmerer arbeiteten zu zweit oder zu dritt. Es waren große Männer mit lauten Stimmen. Sie kletterten auf den Rümpfen herum und riefen sich dabei gegenseitig Kommandos zu.

Einige Stunden später tauchte jedoch ein kleinerer Mann auf. Er schleppte eine Holzkiste mit Werkzeugen, die fast halb so groß war wie er selbst. Er hatte lange Ohren, einen drahtigen Körper, eine ledrige, olivfarbene Haut und trug eine flache Kappe, die er tief in die Stirn gezogen hatte.

In den Städten sah man Kobolde nicht oft. Die Menschen nannten sie abschätzig »Gnome« und mieden sie, also blieben sie lieber unter sich.

Viv konnte ein Lied davon singen, allerdings war sie selbst erheblich schwieriger einzuschüchtern.

Der Kobold arbeitete allein an einem kleinen Beiboot und wurde von den anderen Schiffszimmerern und Hafenarbeitern gemieden. Viv beobachtete seine fleißige, sorgfältige Arbeit. Sie arbeitete selbst zwar nicht mit Holz, aber sie wusste Handwerkskunst zu schätzen. Seine Werkzeuge waren akribisch geordnet, scharf und gut gepflegt. Jede seiner Bewegungen war kontrolliert und zielgerichtet, als er mit dem Abziehmesser, dem Hobel und anderen Werkzeugen, die sie nicht kannte, einen neuen Dollbord anfertigte.

Sie aß ihren Apfel auf und beobachtete ihn weiter bei seiner Arbeit. Dabei versuchte sie, sich nicht zu auffällig zu verhalten. Auf der Lauer zu liegen war eine ihrer Fähigkeiten, die sie häufig nutzte.

Gegen Mittag räumte er sein Werkzeug ordentlich weg und packte eine Brotzeit aus seinem Werkzeugkasten. Viv näherte sich ihm.

Er schielte unter seiner Mütze zu ihr hoch, sagte aber nichts, als sie vor ihm auftauchte.

»Du machst gute Arbeit«, stellte Viv fest.

Er brummte.

»Zumindest nehme ich das an. Ich weiß nicht viel über Boote«, gab sie zu.

»Ich nehme an, das mindert dein Kompliment ein wenig«, erwiderte er. Seine Stimme war rauer und tiefer, als sie erwartet hatte.

Sie lachte, dann ließ sie ihren Blick über den Kai gleiten. »Es gibt hier nicht viele, die allein arbeiten.«

»Nein.«

»Hast du viel Arbeit?«

Er zuckte mit den Schultern. »Genug.«

»So viel, dass du nicht noch mehr brauchen könntest?«

Er nahm die Mütze ab, und sein Blick wurde prüfend. »Von jemandem, der nicht viel über Boote weiß, zu erwarten, dass er die Arbeit eines Schiffszimmerers braucht, scheint mir irgendwie seltsam.«

Viv hockte sich hin, weil sie es leid war, immer auf ihn hinabzublicken.

»Da hast du recht. Die brauche ich tatsächlich nicht. Aber Holz ist Holz, und Handwerk ist Handwerk. Ich habe dir bei der Arbeit zugesehen. Wenn man lange genug lebt, merkt man, dass man manchen Leuten eine schwierige Aufgabe geben und ein paar Werkzeuge in die Hand drücken kann, und sie werden sie bewältigen. Und ich zögere nie lange, genau solche Leute einzustellen.« Allerdings, das musste sie einräumen, waren in der Vergangenheit die Aufgaben und Werkzeuge sehr viel blutiger und die Kerle sehr viel größer gewesen.

»Hm«, brummte er wieder.

»Ich bin Viv.« Sie streckte die Hand aus.

Seine schwielige Tatze verschwand in ihrer riesigen Faust. »Calamity«, sagte er.

Ihre Augen weiteten sich.

»Ein Koboldname,« erklärte er. »Du kannst mich Cal nennen.«

»Was immer du bevorzugst.«

»Cal ist in Ordnung.«

Er legte das gefaltete Leintuch wieder über sein Mittagessen, und Viv hatte das Gefühl, dass sie nun seine volle Aufmerksamkeit besaß.

»Also, diese … Arbeit, von der du sprachst. Ist das eine Arbeit, die sofort erledigt werden soll oder …?« Er wedelte mit der Hand, um eine vage Zukunft anzudeuten.

»Sie soll sofort begonnen werden und wird gut bezahlt. Und du bekommst sämtliches Material, das du verlangst, nicht nur das, was ich für dich aussuche.« Sie zog ihren Geldbeutel heraus, schnürte ihn auf, nahm einen goldenen Sovereign heraus und hielt ihn Cal hin.

Der Kobold streckte seine Hände aus, als wolle er die Münze auffangen, aber sie legte sie absichtlich sorgfältig in seine Handfläche. Er schürzte die Lippen, warf den Sovereign in die Luft und fing ihn auf. »Also … warum gerade ich?« Er machte Anstalten, ihr die Münze zurückzugeben, aber das lehnte sie ab.

»Wie ich schon sagte, ich habe dir bei der Arbeit zugesehen. Deine Werkzeuge sind scharf und gepflegt. Du machst sauber, während du arbeitest. Du bist mit den Gedanken bei deiner Arbeit.« Sie sah sich um, weil auffallend wenig Männer in der Nähe waren. »Und du machst diese Arbeit, obwohl manche sagen, es wäre klüger, dies nicht zu tun.«

»Hm. Du willst mich also wegen meines Mangels an Weisheit verpflichten, richtig? Und du willst keine Boote bauen. Was genau schwebt dir denn vor?«

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich es dir einfach zeige.«

»Was für eine heruntergekommene Bude«, fluchte Cal leise. Er nahm die Mütze ab und schob sie in den Latz seiner Hose.

Sie standen vor Parkins Mietstall, die Stalltüren waren weit geöffnet, und Viv überkam ein Anflug von Unbehagen.

»Ich verstehe nicht viel vom Dachdecken«, gab er zu, als er zu dem Loch hinaufblickte.

»Aber du kriegst es hin?«

»Hm«, brummte er.

Viv wusste allmählich, dass dies so viel wie »Ja« bedeutete.

Er ging langsam durch den Innenraum, trat gegen die Stallbretter und stampfte auf die Steinplatten. Viv spannte sich an, als er über die Platte ging, unter der der Stein der Skalvert-Königin lag.

Er blickte zu ihr zurück. »Wie viele Handwerker willst du einstellen?«

»Wenn du jemanden hast, mit dem du gern zusammenarbeitest, habe ich keine Einwände. Ansonsten habe ich zwei kräftige Hände und werde nicht so schnell müde.« Sie hielt sie demonstrativ hoch. »Ich will hier aber keinen Mietstall.«

»Nicht?«

»Schon mal was von Kaffee gehört?«

Er schüttelte den Kopf.

»Also, ich will ein … Kaffeehaus, denke ich. Für Getränke. Ach, sieh selbst!«

Sie ging zu ihrem Beutel, der an einem Pfosten hing, und zog einen Stapel mit Skizzen und Notizen heraus. Plötzlich war sie irgendwie nervös, was ihr unerklärlich war. Viv hatte sich noch nie viel aus dem Urteil anderer Leute gemacht. Sie zu ignorieren war auch ziemlich einfach, wenn man einen guten Meter größer und vierzig Kilogramm schwerer war als die meisten Leute, denen man begegnete. Doch jetzt fürchtete sie, dass dieser kleine Mann sie für eine Närrin halten könnte.

Cal wartete darauf, dass sie fortfuhr.

Sie sprach stockend weiter: »Ich bin in Azimuth darauf gekommen, der Gnomen-Stadt draußen im Ostterritorium. Ich war dort für ein … egal, es spielt keine Rolle, weshalb ich dort war. Zuerst habe ich es gerochen, dann bin ich auf diesen Laden gestoßen, und sie hatten … Es ist wie Tee, aber es ist kein Tee. Es riecht wie …« Sie hielt inne. »Ist ja egal, wonach es riecht, ich kann es sowieso nicht beschreiben. Stell dir einfach vor, dass ich eine Taverne eröffnen will, aber eine Taverne ohne Zapfhähne, ohne Fässer, ohne Bier. Nur Tische, eine Theke und etwas Platz im hinteren Bereich. Hier, ich habe ein paar Skizzen von dem Ort gemacht, den ich in Azimuth gesehen habe.«

Sie schob ihm die Papiere in die Hand und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Ihre Unsicherheit war einfach lächerlich!

Er nahm die Blätter und betrachtete jedes einzelne sorgfältig, als ob er sich jeden Strich einprägen wollte.

Nach einigen quälenden Minuten gab er sie Viv zurück. »Das sind deine Skizzen? Nicht schlecht.«

Ihre Wangen wurden noch heißer.

»Und du hast vor, hier auch zu leben?« Er deutete mit dem Daumen auf den Dachboden. »Das da scheint jedenfalls geeignet zu sein.«

»Ich … ja.«

Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte auf die Reihe mit den Pferdeboxen.

Sie hatte damit gerechnet, dass er auf dem Absatz kehrtmachen und gehen würde, aber allmählich begann sie zu hoffen, dass sie vielleicht genau die richtige Wahl getroffen hatte.

»So …« Er ging wieder durch den Stall. »Du könntest wohl die Stallboxen behalten. Mach sie ein bisschen niedriger, reiß die Türen heraus und bau an den Wänden Bänke ein. Dann nimmst du dir ein paar lange Bretter und stellst sie dazwischen auf Böcke. Dann hast du hier an den Seiten ein paar Nischen und Tische. Reiß die Wand zum Büro ein. Ein einfacher Tresen sollte genügen. Ich muss das alles allerdings auf Holzfäule untersuchen.«

Er trat gegen das zersplitterte Holz der Leiter und sah sie vielsagend an. »Wir brauchen vermutlich eine neue Leiter. Ein paar Beutel mit Nägeln. Tünche. Farbe. Lehmziegel. Ein paar Flusssteine. Säcke mit Kalk. Vielleicht willst du ja ein paar Fenster mehr hier drin haben. Und Holz – wir brauchen jede Menge Holz.«

»Du machst es also?«

Er bedachte sie wieder mit einem seiner langen, abschätzenden Blicke. »Wie hast du es vorhin ausgedrückt? Ich tue Dinge, selbst wenn es klüger scheint, sie nicht zu tun? Also wenn du mir hilfst, dann mache ich es. Gib mir etwas von dem Pergament und einen Stift, wenn du einen hast. Wir machen eine Liste. Eine lange Liste. Morgen sehen wir, wie wir die Bestellungen erledigen und wie sehr wir deinen Geldbeutel erleichtern können.« Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, schenkte er ihr ein schmales Lächeln. »Willst du gar nicht nach dem Preis fragen?«

»Glaubst du denn, dass du ihn überhaupt schon nennen kannst?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Eben.« Viv zog eine alte Zaumzeugkiste von der Wand weg, pustete den Staub ab und reichte ihm einen Stift.

Sie legten ein Pergament auf die Kiste und beugten sich gemeinsam darüber, während Cal zu schreiben begann.

Am späten Nachmittag verschwand Cal, um seine Arbeit an dem Beiboot zu benden, nachdem er ihr versprochen hatte, am nächsten Morgen zurückzukehren. Viv steckte die Materialliste ein und stand dann mitten in dem ruhigen Mietstall. Hier drin störte der Lärm der Stadt draußen kaum. Sie blickte zur Tür hinaus zu Laneys Veranda. Sie war verlassen.

Sie fühlte sich plötzlich sehr allein, was seltsam war. Viv hatte viel Zeit ohne nennenswerte Gesellschaft verbracht, hatte lange Wanderungen unternommen, allein gelagert, in kalten Zelten und tropfenden Höhlen geschlafen.

Aber in einer Stadt war sie fast nie allein. Einer aus ihrem Trupp war immer bei ihr gewesen.

Und hier, in dieser Stadt, in der es von Menschen und anderen Lebewesen wimmelte, empfand sie diese Einsamkeit als schrecklich. Sie kannte nur drei Leute mit Namen. Und keiner von ihnen war mehr als ein flüchtiger Bekannter. Wenigstens schien Laney zumindest freundlich zu sein, und Cals Nähe wirkte seltsam beruhigend auf sie.

Sie schloss den Stall ab, wandte sich zur Hauptstraße – und ging absichtlich nicht in Richtung Rawbone Alley.

Du hast das Bedürfnis nach Gesellschaft? Fein, dann mal los! Du bist an einem neuen Ort, hast ein neues Zuhause.Und diesmal für immer.

Viv suchte sich die hellste und lauteste Taverne, die sie finden konnte, ein Gasthaus mit Trinkstube, das gut zu laufen schienen. Davor torkelten keine Betrunkene auf der Straße, und sie musste nicht über Pisspfützen treten. Sie duckte sich unter dem Türsturz hindurch und trat ein. Die Lautstärke der Gespräche sank kurzzeitig, aber Thune war ziemlich weltläufig. Orks waren hier nicht unbekannt, nur ein wenig ungewöhnlich. Der Gesprächspegel stieg rasch wieder an.

Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Miene zu entspannen und nicht zu bedrohlich dreinzublicken. Das hatte sie geübt. Dass sie kein Breitschwert mit sich herumschleppte und schlichte Kleidung trug, verstärkte diesen Effekt hoffentlich.

An der langen, sauberen Theke standen nur wenig Gäste, und an der Wand dahinter hing ein Spiegel. Im gesamten Speisebereich brannten Laternen. Es war noch nicht kalt genug für ein Feuer in der Esse, aber der Raum war trotzdem hell erleuchtet.

Die Tische waren größtenteils besetzt. Viv zog sich einen Hocker an die Bar und versuchte, nicht herumzuzappeln. Ihr war unbehaglich – so viele Menschen und dann auch noch so nah –, und zum ersten Mal war sie an einem Ort nicht nur auf der Durchreise. Plötzlich befürchtete sie, dass jeder Fauxpas oder Stolperer sie hier für immer verfolgen und beschämen würde, noch bevor sie sich richtig eingelebt hatte. Auch wenn der Gedanke noch so irrational war.

Ein Mann mit einem Mondgesicht, roten Wangen und etwas spitzen Ohren näherte sich ihr. Wahrscheinlich steckte ein wenig Elf in ihm, obwohl sein Körperumfang auf einen sehr menschlichen Stoffwechsel hindeutete. »Guten Abend, Ma’am«, begrüßte er sie und hielt ihr eine mit Kreide beschriebene Schiefertafel vor die Nase. »Essen oder Trinken?«

»Essen.« Sie lächelte, wobei sie versuchte, ihre unteren Hauer nicht zu sehr zu zeigen.

Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht im Geringsten. Er klopfte mit einem Fingerknöchel auf die Schiefertafel und sagte: »Das Schweinefleisch ist gut! Ich lasse dich in Ruhe überlegen«, und ging davon.

Als er ein paar Minuten später zurückkam, bestellte sie das Schweinefleisch, und während sie auf ihr Essen wartete, sah sie sich grübelnd um. Sie hatte bisher nicht gewagt, so weit vorauszudenken, außer auf eine sehr abstrakte Art und Weise, aber nachdem Cal den Auftrag angenommen hatte, erlaubte sie sich, ein wenig zu träumen. Das Kaffeehaus, das sie in Azimuth besucht hatte, war der Inbegriff gnomischer Architektur gewesen – passgenaue Wandfliesen, geometrische Formen und Pflastersteine, die in komplizierten, ineinandergreifenden Mustern angeordnet waren. Die Möbel waren natürlich auch für Gnome gedacht gewesen – deshalb hatte sie stehen müssen.

Sie hatte gewusst, dass ihr Kaffeehaus anders sein würde, aber erst jetzt versuchte sie, es sich vorzustellen. Sie betrachtete die Dekoration im Inneren der Taverne, hier ein Ölgemälde in einem alten vergoldeten Rahmen, dort eine riesige Keramikvase mit frischen Farnen auf dem Boden, die die Luft mit ihrem Duft versüßten. Ein schlichter Kronleuchter mit drei dicken Kerzen, die offensichtlich regelmäßig gewechselt wurden, da sie keine schlampigen Wachsnasen aufwiesen.

Viv begann, sich ihre eigene Gaststätte vorzustellen. Heller, dachte sie, dank der hohen Scheunendecke.Licht, das durch die hohen Fenster hereinfällt. Sie verstand auch, was Cal mit den Nischen gemeint hatte, aber vielleicht passte dazu noch ein langer Tisch in der Mitte des Raumes, mit Bänken, eine Art Gemeinschaftstafel.

Viv stellte sich vor, wie die großen Stalltüren weit offen standen, vielleicht mit ein paar Tischen dort im Eingangsbereich, um die milde Brise und die Sonne zu genießen. Der Steinfußboden wäre auf Hochglanz gewischt. Saubere, weiß getünchte Wände …

Ihre Gedanken wurden durch die Ankunft ihrer Mahlzeit unterbrochen, der ein appetitliches Aroma vorauswehte. Sie stellte fest, dass sie einen Bärenhunger hatte.

»Bevor du gehst«, sagte sie zu dem Mann, »wollte ich dich noch etwas fragen. Ist das hier deine Gaststätte?«

Der Halbelf blinzelte, und sein Lächeln wurde strahlender, nicht mehr nur professionell freundlich. »Aber sicher doch! Seit mittlerweile vier Jahren.«

»Wie hast du angefangen, wenn ich fragen darf?«

Er lehnte sich an die Theke. »Nun ja, es ist kein Familienbetrieb, falls du das wissen willst. Und mein erster Laden war natürlich auch nicht hier in der Hohen Straße.« Er kicherte bei der Vorstellung.

»Und lief das Geschäft anfangs zäh? Oder kamen die Gäste sofort?« Sie deutete in den Gastraum.