Bühlerhöhe - Brigitte Glaser - E-Book
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Brigitte Glaser

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Beschreibung

Deutschland, 1952: Zwei Frauen mit Vergangenheit, ein geheimer Auftrag Rosa Silbermann reist mit einem geheimen Auftrag in das Nobelhotel Bühlerhöhe. Sie soll Bundeskanzler Konrad Adenauer schützen. Rosa ist in den dreißiger Jahren aus Köln nach Palästina emigriert und arbeitet für den israelischen Geheimdienst. Ihre Gegenspielerin ist die misstrauische Hausdame Sophie Reisacher, die ihre Heimatstadt Straßburg verlassen musste und für den gesellschaftlichen Aufstieg alles geben würde. Rosa und Sophie wissen, was es heißt, wenn ein ganzes Land neu beginnen will. Beide verfolgen ihre eigenen Pläne. Vor dem Hintergrund der jungen Bundesrepublik erzählt Brigitte Glaser eine spannende Geschichte, die auf wahren historischen Ereignissen beruht. "Selten wurde so spannend und sprachlich präzise über die Gründungszeit der Bundesrepublik geschrieben." Verena Hagedorn, Barbara

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Das Buch

Sommer, 1952. Deutschland diskutiert das Wiedergutmachungsgesetz. Konrad Adenauer reist zur Frischzellenkur in den Schwarzwald. Es gibt Morddrohungen aus verschiedenen Richtungen, auch von einer Extremistengruppe aus Israel. Um den Kanzler zu schützen, schickt der Mossad die junge Rosa Silbermann in das Nobelhotel Bühlerhöhe. Rosa konnte vor dem Holocaust aus Deutschland fliehen. Die Ferien ihrer Kindheit verbrachte sie oft im Schwarzwald, sie kennt die Gegend, ihre Orts- und Sprachkenntnisse zeichnen sie aus.

Als Agentin betritt sie allerdings Neuland, und ihre Mission wird dadurch erschwert, dass ihre versprochene Unterstützung nicht rechtzeitig eintrifft.

Die beschauliche Landschaft des Schwarzwalds kann Rosa nicht beruhigen. Als Adenauer schließlich anreist, dauert es nur wenige Tage, bis der erste Anschlag auf ihn verübt wird.

Die Autorin

Brigitte Glaser, aufgewachsen am Rande des Schwarzwaldes, lebt und arbeitet seit über dreißig Jahren in Köln. Sie schreibt Bücher für Jugendliche und Krimis für Erwachsene, unter anderem ihre erfolgreiche Krimiserie um die Köchin Katharina Schweitzer.

Brigitte Glaser

Bühlerhöhe

Roman

List

Im Anhang finden Sie ein Glossar zur deutschen und israelischen Geschichte.

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

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ISBN 978-3-8437-1375-7

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagabbildung: © ullstein bild (Montage aus drei Bildern von Oscar Poss, IBERFOTO und CARO/Bernhard Pries)Autorenfoto: © Werner Meyer

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für RD

Vier Wochen vor der Ankunft des Kanzlers

Omarim

Die zwei jungen Männer tauchten während der Orangenernte im Kibbuz auf. Sie stiegen aus einem ehemaligen britischen Militärjeep, die Fahrertür voller rostiger Einschusslöcher. Chajm, Jakob und Tamar liefen auf sie zu, redeten mit ihnen und riefen dann nach Rosa, die auf dem oberen Feld Orangen pflückte.

»Bist du Rosa Silbermann?«, fragte der Größere der beiden, als sie zu ihnen getreten war, und fügte hinzu: »Oz Sharet will dich sprechen.«

Die Männer ließen ihr keine Zeit zum Waschen oder Umziehen, nur Ben durfte sie schnell adieu sagen. Der Größere setzte sich hinter das Steuer, der Kleinere neben sie auf die Rückbank.

»Was will Oz von mir?«, fragte Rosa, erhielt aber keine Antwort.

Auch die Fahrt verlief schweigsam. Während der Jeep durch Hitze und Staub in Richtung Genezareth holperte, dachte Rosa an die Zeit, als Oz noch bei ihnen in Omarim gelebt hatte, und suchte nach einer Erklärung, warum er sie sprechen wollte. Wegen Rachel? Etwas anderes fiel ihr nicht ein. In Tiberias bog der Wagen in die Straße nach Tu ra’an ab.

»Sagt mir wenigstens, wohin die Reise geht!«

»Haifa«, antwortete der Mann am Steuer und verstummte wieder.

In Haifa waren Rachel und sie vor fast zwanzig Jahren als Jugendliche angekommen. Rosa war seitdem nur selten in der Stadt gewesen, deshalb hätte sie nicht sagen können, in welches Viertel die beiden Männer sie brachten. Als sie endlich ausstiegen, konnte sie das Meer riechen, und ein frischer Seewind trieb Sandwolken durch die Straße. Die Männer begleiteten sie zu einem schmalen mehrstöckigen Wohnhaus. Im zweiten Stock baten sie sie, auf Oz zu warten.

Ein Tisch, ein Stuhl, mehr stand nicht in dem winzigen Raum. Aus einem Schacht unterhalb der Decke fiel Licht auf den Tisch. Darauf lagen drei Fotografien.

Rosa betrachtete auf der ersten das große zweiflügelige Herrenhaus, das nicht ganz mittig im Bild stand. Die Flügel waren durch einen breiten Turm miteinander verbunden. Vier Etagen, links und rechts fünf Fenster, zählte sie. Im Vordergrund links schroffer Fels, rechts Tannen und Buchen, ein Waldrand. Rosa kam das Haus bekannt vor, aber sie konnte es nicht einordnen.

Das zweite Foto zeigte die Terrasse des Hauses. Drei in Decken gehüllte Frauen auf Liegestühlen, alle trugen Sonnenbrillen und Kopftücher, die modisch ums Kinn geschlungen und im Nacken gebunden waren. An das große Vogelhäuschen auf der Balustrade erinnerte sich Rosa plötzlich. Dahinter, ganz in Scherenschnittschwarz, die Spitzen von fünf Tannenbäumen, in weiter Ferne und in mattem Grau zwei sanfte Berghügel. Die Bühlerhöhe. »Hirschterrasse«, las sie auf der Rückseite. »Blick über die Rheinebene bis zu den Vogesen«.

Das dritte Foto war ebenfalls auf dieser Terrasse aufgenommen. Eine Frau und ein Mann, beide wandten dem Fotografen den Rücken zu, beide hatten die Köpfe nach links gedreht und schauten in die Ferne. Das Profil der Frau lag in der Sonne, das des Mannes im Halbschatten. Die Frau war jung, sie lächelte, ihr lockiges Haar war am Hinterkopf zu einem weichen Knoten geschlungen. Der Mann hatte seinen linken Arm auf die Schulter der Frau gelegt. Sein Arm bildete ein Dreieck, aus dem die scherenschnittschwarzen Tannen zu wachsen schienen. Der Mann war viel älter als die Frau. Dünnes Haar, straff zurückgekämmt, große Ohren, eine markante Nase. Sie kannte sein Bild aus den Zeitungen: Konrad Adenauer, der ehemalige Oberbürgermeister ihrer Heimatstadt und erster Bundeskanzler der jungen Bundesrepublik Deutschland. Aber wer war sie? Seine neue Ehefrau? Seine Tochter? Rosa wusste es nicht. Für die Fotos fand sie genauso wenig eine Erklärung wie für das Treffen mit Oz.

»Schalom, Rivka.«

Oz sprach sie mit ihrem hebräischen Namen an. Vor Kraft strotzend, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und mit ausgebreiteten Armen stand er plötzlich vor ihr. Er war viel zu groß für den kleinen Raum. Mit der einen Hand griff er nach ihrem Arm, mit der anderen steckte er die Fotos ein. Energisch schob er Rosa vor sich aus dem Kabuff auf einen Flur und danach in ein größeres Zimmer, in dem man schon auf sie wartete. Oz bot ihr ein Glas Wasser und einen Platz am Tisch an und stellte ihr die versammelte Tafelrunde vor. Die Namen konnte sich Rosa auf die Schnelle nicht merken. Die auffälligste Person am Tisch war die einzige Frau: Sie war extrem dick und hielt einen winzigen Köter auf dem Schoß, den sie mit kleinen Matzestückchen fütterte. »Tilly Lapid, unsere Psychologin«, erklärte Oz. Die Berufe der Männer nannte er nicht. Militärs, vermutete Rosa, obwohl keiner von ihnen eine Uniform trug. Oz arbeitete seit einiger Zeit für den Mossad.

Er legte die Fotos zu den anderen auf den Tisch. Dann erklärte er Rosa, weshalb er sie hatte kommen lassen. Aber Rosa verstand nicht, warum ausgerechnet sie diesen Auftrag erledigen sollte.

»Auch ihr in Omarim wisst sicher, was für einen schweren Stand Ben Gurion wegen der sogenannten Wiedergutmachung hat«, holte Oz aus. »Menachem Begin hat in der Knesset geschäumt. ›Das wird ein Krieg auf Leben und Tod. Es gibt keinen Deutschen, der nicht unsere Väter ermordet hat. Adenauer ist ein Mörder. Jeder Deutsche ist ein Mörder‹, und so weiter. Seine Cherut-Anhänger haben versucht, die Knesset zu stürmen, es gab Straßenschlachten. Dieses Angebot der Deutschen spaltet unser Land. Auch Ben Gurion würde liebend gern auf das Geld der Deutschen verzichten, aber Israel braucht es.«

Danach schwiegen alle und richteten ihre Blicke auf Rosa.

»Wir sind mitten in der Orangenernte. Da werden alle Hände gebraucht«, versuchte Rosa weiter, sich entbehrlich zu machen. »Außerdem, wieso traut ihr dem Sicherheitsdienst der Deutschen nicht? Aufpassen können sie doch besser als alle anderen.«

»Im Prinzip hast du recht«, erklärte Oz. »Aber Adenauers Sicherheitschef ist auf einem Auge blind. Er ist auf die Kommunisten fixiert. Die sind das neue Feindbild. Dass auch von radikalen Zionisten Gefahr droht, will er nicht wahrhaben.«

Wieder blickten sie alle erwartungsvoll an.

»Ich will nicht nach Deutschland zurück«, sagte Rosa und sah dabei nur Oz an.

Oz schob krachend seinen Stuhl nach hinten, schnellte vom Sitz hoch und kam auf sie zu. »Wer will schon nach Deutschland? Außer …« Er sprach den Namen nicht aus. Rosa wusste auch so, dass er Nathan meinte. »Es ist deine Pflicht als überzeugte Israeli.« Oz wieder ganz ruhig. »Du hast in der Hagana gekämpft, du sprichst fließend Deutsch, du kannst dich in diesen bourgeoisen Kreisen bewegen und …«

Rosa unterbrach ihn. »Das trifft in Israel auf viele zu. Es leuchtet mir einfach nicht ein, warum ausgerechnet ich da hinsoll.«

»Glaub mir, wenn es eine Alternative gäbe, säßest du nicht hier.«

Oz zauberte von irgendwoher ein Lächeln herbei, strapazierte es fast bis zum Reißen, beugte sich dann zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Nachtwachen in Omarim im Winter 1938? Du hast mir von den Ferien mit deiner Familie erzählt. Von der Bühlerhöhe, dem Hundseck und dem Bretterwald. Jeden Sommer deiner Kindheit hast du dort verbracht.« Laut, damit es alle hören konnten, fügte er hinzu: »Keiner hier in Israel kennt diese Ecke des Schwarzwaldes besser als du.«

Doch, wollte Rosa antworten, Rachel. Ihre Schwester könnte diesen Auftrag viel besser erledigen. Aber Rachel war nach Tanger gegangen. Rosa sah Oz an, wusste, dass auch er an Rachel dachte.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, meldete sich einer von Oz’ Männern zu Wort. »Wenn unsere Informationen stimmen, reist Adenauer schon im nächsten Monat auf die Bühlerhöhe.«

»Ari, einer unserer erfahrensten Agenten in Europa, leitet die Operation«, schaltete sich die dicke Frau ein. Sie deutete auf die Fotos auf dem Tisch. »Er ist in Berlin aufgewachsen und kommt wie du aus gutbürgerlichem Haus. Ihr werdet euch verstehen, du kannst dich voll und ganz auf ihn verlassen.«

»Wie soll das gehen?«

»Als Ehepaar, ein Paar ist unauffälliger als ein einzelner Mann. In Baden-Baden trefft ihr euch, du reist als Rosa Goldberg, geborene Silbermann – Gold und Silber, das passt doch, findest du nicht? Davon abgesehen, Ari war noch nie im Schwarzwald, er ist auf dich angewiesen.« Die Psychologin lächelte aufmunternd.

»Die Frau von einem Fremden?« Rosa schüttelte den Kopf.

»Keine Angst, du musst nicht mit ihm ins Bett steigen, wenn du nicht willst. Ari ist ein Gentleman«, erklärte die dicke Frau, als sie Rosas Blick sah. »Wenn du allerdings für romantische Gefühle empfänglich bist, sei vorsichtig! Er ist ein attraktiver Mann und ein großer Charmeur. In Paris nennen sie ihn den schönen Artur.«

Rosa überging die Bemerkung, nahm stattdessen ein Foto nach dem anderen in die Hand und betrachtete es. »Der Mann sieht auf jedem Bild anders aus. Gibt es etwas, woran ich ihn erkennen kann?«, fragte sie.

»Sein Aussehen wechselt Ari schneller als das Hemd. Ihr erkennt euch über das Codewort.« Die Frau überlegte eine kleine Weile, dann fügte sie mit einem winzigen Augenzwinkern hinzu: »Falls du die Gelegenheit hast, ihn nackt zu sehen: Er hat eine Narbe auf der linken Schulter. Schussverletzung aus der Schlacht bei El Alamein.«

Sie fütterten Rosa mit weiteren Informationen, beantworteten Fragen, zerstreuten Zweifel, bastelten an ihrer Legende, stimmten sie mit der von Ari ab. Sie schmeichelten Rosa mit ihrer Kampferfahrung in der Kibbuz-Verteidigung und im Unabhängigkeitskrieg 1948/49, wiederholten, dass nur sie für diesen Auftrag in Frage käme.

»Ich muss also wirklich nur die Frau an seiner Seite spielen?« Als alle nickten, hakte Rosa, noch immer nicht ganz überzeugt, nach: »Was für eine Route würde ich nehmen?«

»Tanger«, antwortete Oz, und diesmal musste er sein Lächeln nicht strapazieren.

»Tanger«, wiederholte Rosa leise, und in ihren Augen blitzte ein kurzes Strahlen auf.

Wieder machten sie sich an die Arbeit. Sie spielten Was-wäre-wenn-Situationen durch, die Codes, die Kontakte, die Dossiers, alles, was Rosa wissen musste.

»Ich brauche eine anständige Frisur, Maniküre, Pediküre und eine entsprechende Garderobe«, erklärte sie und deutete auf ihre Feldkleidung aus Shorts und Khakihemd. »Wenn ich so auf der Bühlerhöhe ankomme, jagen sie mich sofort in den Wald.«

»In Tanger gibt es französische Schneider«, antwortete Oz. »Rachel wird dir bestimmt einen empfehlen können.«

Vier Tage vor der Ankunft des Kanzlers

Bühlerhöhe

Die Bühlerhöhe döste friedlich in der frühsommerlichen Morgensonne, als die Reisacher nach ihrem Rundgang den alten Diener Lepold nach der dicken Emma schickte. Der wusste, dass er als Unglücksbote herhalten musste, und schlurfte noch langsamer als sonst durch die marmorne Eingangshalle zum Küchentrakt, wo das Kabuff der Zimmermädchen lag. Emma sackte sofort das Herz in die Hose. Es half ihr nichts, zwei Köpfe größer als die Reisacher zu sein, ihre Angst vor den Launen der herrischen Madame war größer als die vor dem Fegefeuer. Mit gesenktem Kopf und feuchten Handflächen klopfte sie wenig später an die Bürotür hinter der Rezeption.

Zwei Handtücher nicht ausgetauscht, ein kleines Seifenstück fehlte am Waschbecken von Zimmer 107, ein Premièreclasse-Hotel erfordere Première-classe-Dienstboten, besonders jetzt, wo der Kanzler zu Besuch komme. Die Stimme der Reisacher leise, doch scharf, Emma konnte gar nicht richtig zuhören, so weh tat ihr diese Stimme. Am ganzen Körper zitternd, merkte sie, dass ihr Tränen in die Augen schossen.

»Hör sofort auf zu plärren und verlass mein Büro leise und unauffällig, sonst streich ich dir noch den Lohn für die letzten vierzehn Tage«, zischte die Hausdame, bevor sie Emma nach draußen scheuchte und die Tür hinter ihr schloss.

Für die Reisacher waren Zimmermädchen ein nie versiegender Quell an Ärgernissen, und wie schon oft schwor sie sich, nicht noch einmal eine wie Emma einzustellen. Leider war Personal für ein so einsam gelegenes Hotel wie die Bühlerhöhe schwer zu kriegen. Etwas anderes als Bauerntrampel, die auf ihren Höfen noch Tür an Tür mit Ochs und Esel schliefen, bot der Schwarzwald in der unmittelbaren Umgebung nicht. In Straßburg war das ganz anders! Aber Straßburg war wieder französisch, ein kleiner Grenzverkehr noch nicht möglich, und so konnte die Reisacher nur hoffen, dass die nächste Emma ein bisschen weniger trampelig und ein bisschen gelehriger war.

Ein verärgerter Seufzer, dann ein routinierter Blick in den Spiegel, Frisur, Blusenkragen und Sitz des Kostüms, und die Reisacher eilte nach draußen an die Rezeption. Sie brauchte das Gästebuch für ihr Treffen mit Hauptmann von Droste. Morgenthaler, der junge Rezeptionist, hielt ihr zwei Zettel hin, auf denen er in seiner liederlichen Schrift Namen und Telefonnummern notiert hatte. »Dich müsste man mit einem Erstklässler Schönschrift üben lassen«, kläffte sie ihn an und hätte ihn noch länger mit ihrer schlechten Laune zugekübelt, wenn der Hoteldirektor sie nicht in sein Büro zitiert hätte.

Gleich nach dem Frühstück habe ihm Regierungsrat Oberhuber aus der 310 sein Leid geklagt. – Klarbach schien wieder einmal besorgt über die nächtliche Ruhestörung, deren Ursprung eindeutig Zimmer 309 war. – Und gerade eben habe sich noch die Frau des Waschmittelfabrikanten Hamacher aus der 313 beschwert.

309 belegte, wie auf der Bühlerhöhe alle wussten, der Frankfurter Oberstaatsanwalt Brassel, der in der Schlacht von Stalingrad nicht nur ein Bein, sondern auch Teile seines Verstandes verloren hatte. Tagsüber war er stumm wie ein Fisch, aber nachts wurde er von Alpträumen geplagt, die ihn so schreckliche Schreie ausstoßen ließen, als kämen die Träume direkt aus der Hölle.

Den Staatsanwalt konnte sie nicht umquartieren, überlegte die Reisacher, weil er schon seit Jahren das Zimmer und nur das Zimmer 309 buchte, und wegen des anstehenden Kanzlerbesuches fehlte ihr die Möglichkeit, den Hamachers und dem Amtsrat ruhigere Zimmer anzubieten, da die komplette zweite Etage von Adenauer und seiner Entourage blockiert war. Zudem hatte sie das Zimmer 312 bisher frei gehalten, um wenigstens auf dieser Seite des Flurs einen räumlichen Puffer zwischen dem Schreihals und seinen Nachbarn zu haben.

»Was, wenn der Lärm bis zum Kanzler durchdringt, Frau Reisacher?«

Einmal hatte sie den Staatsanwalt vorsichtig auf seine nächtlichen Qualen angesprochen, aber der hatte so getan, als wüsste er von nichts, und sie wie ein ordinäres Dienstmädchen weggescheucht.

Sie schlug Klarbach vor, den Nervenarzt der benachbarten Klinik zu konsultieren. Vielleicht verfügte Doktor Neuhaus über ein Pülverchen, das dem Staatsanwalt den Alp vertrieb.

Vielleicht, vielleicht, fuhr ihr der Direktor ins Wort, wenn der vielbeschäftigte Doktor mal Zeit habe. Aber für heute bleibe ihnen nichts anderes übrig, als die Gäste zu beruhigen und den alten Lepold weiches Bienenwachs für die geplagten Ohren der Zimmernachbarn besorgen zu lassen. »Sehen Sie zu, dass wir uns mit dem Doktor vor der Ankunft des Kanzlers beraten können! Sie wissen, wie sehr Doktor Adenauer durch seine Besuche das Renommee unseres Hauses stärkt. Jedes Grandhotel hätte gerne den deutschen Kanzler zu Gast. Und besorgen Sie ein Fläschchen Frauengold für die Hamacher und einen guten Cognac für den Regierungsrat. – Ach, gibt es etwas Neues von der Post?«

»Nein. Immer noch kann uns Postinspektor Huber den Termin für den Ausbau der Telefonleitungen nicht fix benennen. Seine Gründe kenne ich schon auswendig: Achtzig Prozent des deutschen Telefonnetzes wurden im Krieg zerstört, viele Postler sind im Krieg geblieben, aber jeder will telefonieren.«

»Vor allem die amerikanischen Gäste beschweren sich darüber, dass wir keine Telefonapparate auf den Zimmern haben. Bei denen gehört das zum Standard in der gehobenen Hotellerie. Mir ist es selbst schon ein bisschen peinlich: ein First-Class-Hotel mit nur drei Telefonkabinen im Foyer.«

»Unsere Gäste kommen ja nicht zum Telefonieren zu uns. Und für die Sonderleitung des Kanzlers hat der Huber prompt gesorgt.« Die Reisacher enervierte dieses Thema. Die Amerikaner machten zum Glück nicht das Gros ihrer Gäste aus. Den anderen genügten die drei Kabinen vollkommen. Ihr selbst auch, bei drei Leitungen konnte sie schnell entscheiden, welches Gespräch sie sinnvollerweise mithörte und welches nicht. Was aber, wenn es vierzig Leitungen im Haus gab? Die Hauptsache war doch, dass nicht nur in Klarbachs Büro, sondern auch in ihrem ein Telefonapparat stand. »Es tut mir leid, Herr Direktor, dass die Sache nicht vorangeht«, log sie mit einem Blick auf die Uhr. »Wenn Sie mich dann entschuldigen. Wie Sie wissen, muss ich Herrn von Droste empfangen.«

Der Hauptmann kam wie immer pünktlich. Er trug einen leichten grauen Sommeranzug, aber das Militärische in Haltung und Schritt konnte er nicht verbergen.

Genau das weckte in der Reisacher wehmütige Erinnerungen. Als junge Frau hatte sie sie geliebt, die deutschen Offiziere, die nach der Kapitulation Frankreichs plötzlich durch Straßburg spazierten. So schneidig, so forsch, so erfüllt von diesem Geist, dass ihnen bald die Welt gehörte. Gerne hatte sie den einen oder anderen von ihnen ins Kino oder zum Tanzen begleitet, so auch den feschen Rüdiger Reisacher, der ihr besonders eifrig den Hof machte. Zu spät bemerkte sie, dass sie nicht nur auf den falschen Mann, sondern auch auf das falsche Land gesetzt hatte. Ein typisches Elsässer Schicksal.

»Herr von Droste«, empfing sie ihren Gast. »Schön, Sie wieder auf der Bühlerhöhe willkommen zu heißen.«

»Madame Reisacher!« Kräftiger Händedruck, Hacken zusammenschlagen. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«

Bei seinem ersten Besuch auf der Bühlerhöhe hatte sie ihn sofort als einen der Straßburger Gäste von Gauleiter Wagner erkannt. Gesichter, auch nur einmal gesehene, vergaß sie nie. War er damals nicht bei der Abwehr gewesen? Genau wusste sie das nicht mehr. Um so etwas hatte sie sich als junges Ding nicht gekümmert. Allerdings hatte sie von Droste noch nie auf die Straßburger Zeit angesprochen. Man wusste heutzutage nicht, an was sich die hohen Herrschaften erinnern wollten und an was nicht. Wie auch immer, von Droste hatte den Krieg unbeschadet überstanden, dann das Tausendjährige Reich wie eine alte Rüstung abgestreift und reüssierte jetzt als Sicherheitschef von Adenauer. Vielen war diese wundersame Wandlung gelungen, sie brauchte sich nur ihre Gäste anzusehen.

Gemeinsam mit von Droste stieg sie die Treppe in die zweite Etage hinauf. Dort lag die Suite, die der Kanzler immer für sich und seine Tochter buchte. Sie öffnete Türen, wies auf die frisch gelegten Telefonanschlüsse und die doppelt verstärkte Etagentür hin, zeigte den Raum mit dem Fernschreiber, dann den mit dem Tresor, erwähnte, dass sie in Baden-Baden bereits zwei Sträuße »Reine Victoria« bestellt hatte, wo der Kanzler Bourbon-Rosen doch so liebte. Während von Droste seine eigene, vertrauliche Liste von Dingen abarbeitete, die in den Zimmern stimmen mussten, zog sie Betttücher glatt, entfernte Staubreste in verborgenen Winkeln und beobachtete ihn immer wieder verstohlen. Sie hatte den Eindruck, dass er alles noch genauer prüfte als sonst. Darauf wartend, dass er seine Inspektion beendete, öffnete sie die Balkontür im Salon des Kanzlers. Der Raum füllte sich mit dem würzigen Tannenduft, für den die Bühlerhöhe berühmt war. Es dauerte, bis von Droste zu ihr trat. Für einen Moment blickten sie schweigend hinunter in die Rheinebene und dann hinüber auf die andere Seite des Flusses, wo der Turm des Straßburger Münsters trügerisch nah aus dem klaren Sommermorgen ragte.

»Alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte die Reisacher mit einem leichten Seitenblick.

Von Droste nickte, zählte dann aber noch ein paar Kleinigkeiten auf, um die sie sich kümmern musste.

»Wann kommt der Kanzler?«

»Kann ich noch nicht genau sagen, die politische Situation ist heikel. Wenn alles gut läuft, in zwei oder drei Tagen. Ich gebe Ihnen telefonisch Bescheid.«

»Begleitet ihn seine Tochter wieder?«

Von Droste nickte. »Können wir noch die Gästeliste des Hauses durchgehen?«

Der Hauptmann folgte ihr hinunter in ihr kleines Büro, wo sie ihm das Gästebuch reichte. Von Droste notierte sich die Namen, und die Reisacher berichtete auf sein Stichwort hin, was sie über die Gäste wusste. Ein Großteil waren Stammgäste, andere auf Empfehlung gekommen, einige, vor allem die Industriellen, kannte auch von Droste. Drei Namen, die weder der Reisacher noch von Droste etwas sagten, schrieb er auf einen gesonderten Zettel.

»Nur der Vollständigkeit halber, Madame Reisacher, weil ja nicht immer alles notiert wird. In letzter Zeit irgendwelche Laufkundschaft? Durchgebrannte Paare? Streng geheime Stelldicheins?«

»Nicht in letzter Zeit.«

»Der Vollständigkeit halber zum Zweiten: Sie wissen, alles, was wir hier besprechen, ist vertraulich.«

»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.«

»Kettenkaul, Grünhagen, Goldberg«, wiederholte er die drei Namen, die ihnen beiden nichts sagten.

»Der alte Lepold erzählte mir vorhin, dass vor dem Krieg viele Juden zur Sommerfrische auf die Bühlerhöhe kamen«, sagte die Reisacher beiläufig. »Er kann sich an einen Salomon Goldberg aus Breslau erinnern. Damals allerdings schon ein alter Mann. Vielleicht ein Nachkomme?«, spekulierte sie.

Von Drostes Gesichtsausdruck war undurchdringlich.

»Hat entweder sein Geld zusammenhalten können oder schon neues gemacht …«

»Herr und Frau Goldberg«, wiederholte von Droste, ohne auf Reisachers Bemerkung einzugehen.

»Die Juden sollen jetzt auch Geld für ihre verlorenen Angehörigen bekommen. Achtzig Mark pro Toten, heißt es, und dass sie das Geld in Deutschland ausgeben müssen. Warum nicht bei uns?«

Der Hauptmann reagierte nicht. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet oder aber, so kam es der Reisacher vor, ganz nach drinnen ins Reich der Erinnerungen. »Wie hat sich das Paar angemeldet?«, fragte er.

»Schriftlich. Ein Brief, geschrieben auf Pariser Hotelpapier. Trois Nations heißt das Hotel. Sie wollen eine Woche bleiben.«

Von Droste nickte und starrte wieder in die Ferne. Da mochte ihn die Reisacher noch so aufmunternd ansehen, wo immer der Hauptmann mit seinen Gedanken war, er machte keine Anstalten, es ihr zu verraten.

Baden-Baden

Eben war der Nachthimmel noch sternenklar gewesen, als Rosa Silbermann von einem Platzregen überrascht wurde. Weder Blitz noch Donner hatten ihn angekündigt. Während sie so schnell rannte, wie ihre Wildlederpumps das zuließen, verfluchte sie ihre Vorsichtsmaßnahme, das Taxi nicht zum Hotel zu bestellen.

»Zum Bahnhof«, keuchte sie, als sie vor dem Kasino in den wartenden Wagen stieg.

Der Chauffeur musterte sie misstrauisch, sei’s, weil sie wie ein begossener Pudel aussah, sei’s, weil er eine Frau für halbseiden hielt, die sich zu dieser unmöglichen Nachtzeit ein Taxi vors Kasino bestellte.

»Mein Mann kommt mit dem Nachtzug aus Paris«, erklärte sie und lächelte den Chauffeur leutselig an. Sie wand sich aus dem klammen Sommerjäckchen und rieb sich mit einem Taschentuch die Tropfen aus dem Gesicht.

»5 Uhr 10«, wusste der Taxifahrer, warf den Taxameter an und fuhr die schnurgerade Straße aus der Stadt hinaus. Keine drei Minuten später konnte er die Scheibenwischer ausstellen.

Am Bahnhof in Baden-Oos drückte Rosa ihm einen Geldschein in die Hand und bat ihn zu warten. Am Himmel blinkten wieder die Sterne, der Regen hing nur noch in ihren Kleidern. Viel zu laut klackten ihre Pumps auf dem Boden der spärlich beleuchteten, leeren Bahnhofshalle. An Decke und Wänden verkümmerten Stuck und Ornamente, Überreste aus Baden-Badens Glanzzeit, als das Kaiserpaar hier kurte und die Stadt im Sommer der Nabel der Welt gewesen war. So hatte es ihnen zumindest der Großvater erzählt, als sie hier aus dem Zug gestiegen waren. Rosa mühte sich, die Halle ohne weitere Erinnerungen zu durchqueren. Das Sommerkleid klebte mit jedem Schritt an ihren Beinen fest. Ein Blick auf die Uhr, noch zehn Minuten. Sie umklammerte den Griff der Schwingtür und trat hinaus auf den Bahnsteig.

Auf der einzigen Bank unter dem Vordach des Bahnhofes saß ein älteres Paar neben drei Koffern, die Frau strickte. Ein zeitunglesender Krüppel mit Krücken, bestimmt ein Kriegsversehrter, lehnte unter dem Schild »Ulmer Bier – trink es hier« an der Wand des Bahnhofsgebäudes. Weit entfernt von den dreien am Ende des Bahnsteiges – Perron hatte der Großvater dazu gesagt – stand ein Mann in Uniform. Diese vier und sie waren die Einzigen, die um fünf Uhr morgens auf den Nachtzug aus Paris warteten. Regennass glänzten die Gleise im Schein eines halben Mondes, die Steine dazwischen schimmerten tiefschwarz, als hätte man sie aus Bombenkratern hierhergeschafft.

Nicht nur die Kälte ließ Rosa zittern, sie war auch aufgeregt. Gleich würde sie zum ersten Mal »ihrem« Mann gegenüberstehen, und ein bisschen nervös darf eine Frau schon sein, die auf ihren Mann wartet, dachte sie. Betont langsam ging sie auf dem Bahnsteig auf und ab. Geduld war eine ihrer Stärken, aber im Moment spürte sie wenig davon.

Immerhin, das Taxi wartete auf sie, wie sie nach einem Blick auf die Straße vor dem Bahnhof beruhigt feststellte, und der Mann in Uniform war ein französischer Offizier, der sie mit einem knappen Kopfnicken grüßte, als sie an ihm vorbeiging. Die Schuhe waren die Hölle, wie ein Schraubstock umspannte das nasse Leder die Zehen, zudem rieben die feuchten Seidenstrümpfe ihre Fersen auf.

Wie lange noch? Zwei Minuten oder drei? Ob der Zug pünktlich kam? Zumindest die alte Frau schien damit zu rechnen. Sie steckte schon ihr Strickzeug weg, und ihr Mann trug die Koffer an die Bahnsteigkante. Der Offizier dagegen blieb unbewegt auf seinem Posten, auch der Kriegsversehrte rührte sich nicht, nur seine Zeitung knisterte beim Umblättern. Beobachtete er sie? Zeitungen wurden doch gerne dafür benutzt. Aber warum sollte er? Ihr Auftrag stand ihr nicht auf der Stirn geschrieben.

Ein leichter Wind kam auf, trieb den Duft von Rosen und Linden auf den Bahnsteig, mit einem Mal roch alles nach Frühsommer. Im Osten zeigte sich ein erster heller Streifen am Nachthimmel, von Süden kommend sah Rosa zwei verschwommene Lichter und hörte bald darauf das rhythmische Bollern der Lokomotive, dann die scharfen Bremsgeräusche. Der Zug aus Paris war pünktlich.

Kaum eine Waggontür öffnete sich, Baden-Baden war nicht mehr der Nabel der Welt, nur wenige Reisende stiegen hier aus. Auf der Suche nach Ari versuchte Rosa, alles gleichzeitig in den Blick zu bekommen: Ein weiterer französischer Offizier, eine Mutter mit Kind auf dem Arm, ein Mann in einem leichten Sommermantel, der Krüppel, der jetzt zum Zug hinkte, die Krücken nach drinnen warf, sich mit beiden Händen mühsam die zwei Stufen hochzog, das alte Ehepaar, das umständlich seine Koffer durch die schmale Waggontür hievte, zwei junge Frauen, die noch hastig auf den Bahnsteig sprangen, als hätten sie fast vergessen auszusteigen. Das war’s.

Kein Ari. Ihre »Ehe« fing ja gut an.

Der schrille Pfiff des Schaffners ließ Rosa zusammenzucken, dann sah sie dem langsam losfahrenden Zug nach. Als seine Rücklichter in der frühen Morgendämmerung verschwunden waren, bemerkte sie, dass nur noch sie auf dem Bahnsteig stand. Wieder kam Wind auf, die Luft jedoch roch nicht mehr nach Frühsommer, sondern nach kaltem Stahl. Eine Zeitung trieb über den Bahnsteig. Der Kriegsversehrte musste sie fallen oder liegengelassen haben. Rosa hob sie auf. Es war eine hiesige, Badische Neueste Nachrichten. Auf der politischen Seite eine kurze Notiz über die Konferenz in Wassenaar, die das Bundesentschädigungsgesetz vorbereitete, sowie ein längerer Artikel über den anstehenden Urlaub des Kanzlers, den er wieder im Schwarzwald verbringen würde. Die beiden Artikel kamen ihr wie ein Wink mit dem Zaunpfahl vor. Hatte der Krüppel die Zeitung für sie zurückgelassen? Hatte er sie die ganze Zeit beobachtet? Sie prüfte das Datum. Nein, nein. Es war eine aktuelle, der Krüppel ein normaler Reisender, der gelesen hatte, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Warum sollte sie beobachtet werden? Sie musste aufhören, Gespenster zu sehen. Nach kurzem Zögern warf sie die Zeitung in den Papierkorb.

Immer noch presste ihr das feuchte Leder die Zehen zusammen, aber das schnell getrocknete Sommerkleid flatterte schon wieder im Wind, als sie unentschlossen noch einmal den Bahnsteig auf und ab ging. Plötzlich kam ihr ein Wort in den Sinn, das sie früher oft benutzt hatten: Ameisenalarm. So nannten sie als Kinder dieses quirlige Kribbeln in der Herz- und Bauchgegend, das Aufregung und Abenteuer verhieß. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr daran gedacht. Erstaunt, ja sogar ein wenig beschwingt durch diesen Gedanken, straffte sie die Schultern und ging durch die Bahnhofshalle zurück auf die Straße.

In der kurzen Zeit war es bereits deutlich heller geworden, ein paar Vögel lärmten schon in den Lindenbäumen vor dem Bahnhof. Der Taxifahrer war ausgestiegen, er unterhielt sich mit dem Mann im Sommermantel, winkte ihr zu und blickte verwundert, als er sie allein kommen sah.

»Mein Mann muss den Zug verpasst haben. Vielleicht hat er die Metro oder den Bahnhof verwechselt, so was passiert ihm schon mal, er hat einen miserablen Orientierungssinn und ist mit seinen Gedanken immer woanders.« Improvisiere, hatten sie ihr gesagt, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Und frage dich immer, was die Frau, die du spielst, tun würde. »Er ist Wissenschaftler, wissen Sie, manchmal sind in seinem Kopf nur Hieroglyphen, und die Gegenwart ist ihm so fremd wie unsereins das alte Ägypten.«

»Wie kann ein Mann mit seinen Gedanken woanders sein, wenn er eine so schöne Frau hat?«, unterbrach sie der Mann im Sommermantel und zog den Hut vor ihr.

Rosa taxierte den Fremden. Da war ein leichter Akzent in seinem Deutsch, den sie nicht zuordnen konnte. Ein Schweizer? Ein Elsässer? Ein Luxemburger? Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Aris Alter, groß und schlank wie Ari, braune Augen wie Ari, und ein unverschämt charmantes Lächeln. »In Paris nennen sie ihn den schönen Artur«, erinnerte sie sich an die Worte der Psychologin. War das Ari, der vor ihr stand? Sie ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand und trat nah an ihn heran.

»Smadar«, flüsterte sie ihm verwirrt ins Ohr.

»Pardon?«, gab er zurück, und sofort ärgerte sie sich. Der Mann war nicht Ari. Natürlich nicht. Ari hätte auf dem Bahnsteig nach ihr Ausschau gehalten, sie in die Arme genommen und geküsst, und dann hätten sie sich das Codewort ins Ohr geflüstert.

»Der Herr fragt, ob er mit nach Baden-Baden fahren kann«, erklärte der Chauffeur. »So frühmorgens wird er hier kein anderes Taxi finden.«

»Ich übernehme selbstverständlich die Kosten, gnädige Frau«, erbot sich der Fremde, immer noch mit diesem unverschämten Lächeln auf den Lippen.

Sei misstrauisch allen Fremden gegenüber, hatten sie ihr eingebläut, und vor allem verhalte dich unauffällig. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie drei alleine waren. Wo waren eigentlich die anderen Reisenden geblieben? Der französische Offizier war von seinem Kollegen empfangen worden, das hatte Rosa gesehen. Aber die Mutter mit dem Kleinkind und die beiden jungen Frauen? Waren sie sofort losgelaufen und warteten nun einen halben Kilometer weiter an der Bundesstraße auf den ersten Bus? Gab es für den Fremden wirklich keine andere Möglichkeit, nach Baden-Baden zu gelangen, als ausgerechnet ihr Taxi? Steckte er mit dem Chauffeur unter einer Decke?

Überlege immer, was die Frau, die du spielst, tun würde, hatten sie ihr eingebläut. Ja, was würde sie tun? Sie würde den Fremden mitfahren lassen, entschied Rosa.

Der Mann bedankte sich überschwänglich, öffnete ihr die Tür im Fond des Wagens, setzte sich dann links neben sie und machte eine lustige Bemerkung über seine langen Beine, die er hinter dem Fahrersitz verknoten musste. Einer, dem es leichtfällt, Leute um den Finger zu wickeln, so schätzte Rosa ihn ein. War ihm das auch während des Krieges gelungen? Wen hatte er geschmiert, bestochen, belogen, umgebracht? Solche Fragen durfte sie sich nicht stellen. Sie musste sich auf ihren Auftrag konzentrieren.

»Wo kommen Sie her? Kuren Sie in Baden-Baden?«, erkundigte sich der Fremde munter.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass ihm nichts passiert ist«, seufzte sie und sah aus dem Fenster. Sie war eine Frau, deren Mann nicht angekommen war. So eine machte keine Konversation übers Kuren, so eine machte sich Sorgen um den Gemahl.

Das Taxi fuhr sie in den frühen Morgen hinein. Rosa betrachtete wieder die Siedlung mit den im Bau befindlichen rechteckigen, drei- oder vierstöckigen Häusern, die ihr bereits bei ihrer Ankunft aufgefallen waren. Billiges Baumaterial, eilige Bauweise, das sah man von weitem. Manche Rechtecke hatten bereits ein Dach, hier und da stand erst das Gebälk, die Ziegel fehlten noch. Andere aber waren bereits fertiggestellt. Mit Windeln behängte Wäscheleinen und mit Stecken abgezirkelte Parzellen, auf denen mal Gemüse gezogen werden sollte, verrieten, dass sie schon bewohnt waren. Rosa hatte auf ihrer Reise die zerstörten Innenstädte von Mainz und Frankfurt genauso gesehen wie die vielen Baustellen für neuen Wohnraum. Wo hatten die Deutschen so kurz nach dem Krieg das Geld für den Wiederaufbau her? Alles Marshallplan? Daheim dagegen war die Wohnungsnot viel größer, immer noch strömten Heimatlose, Überlebende der Lager, Displaced Persons nach Israel. Eine riesige Herausforderung, dafür brauchte ihr Land dringend mehr Geld.

Bald ließ das Taxi die Billigbauten hinter sich, und sie passierten die ersten Fin-de-Siècle-Straßenzüge von Baden-Baden. »In Baden-Baden trifft gallischer Esprit auf deutsche Gemütlichkeit. Die Crème de la Crème der europäischen Aristokratie hat in der Kaiserzeit hier Häuser gebaut«, hatte der Großvater geschwärmt. »Schaut, Kinder, hier Zuckerbäckervillen mit neckischen Türmchen, dort Säulen, wie ihr sie auch in Athen finden könntet.« Die Zuckerbäckervillen, die Türmchen, die Säulen, das alles gab es noch. Baden-Baden hatte der Krieg nicht zerstört, die alten Fassaden erzählten Märchen von Dauer und Beständigkeit. Rosa fand die zerbombten Städte ehrlicher.

Sie ließ sich vor dem Kurhaus absetzen. Sie wolle noch ein paar Schritte zu Fuß gehen, erklärte sie dem Fremden, der darauf bestand, bis vor ihr Hotel zu fahren. Ohne sich nach dem Taxi umzudrehen, lenkte Rosa ihre Schritte in Richtung Kurhaus. Jetzt lobte sie sich für ihre Umsicht, den Wagen auf dem Hinweg nicht zum Hotel bestellt zu haben. So wusste der Chauffeur nicht, wo sie abgestiegen war, und konnte es auch nicht ausplaudern. Überhaupt hatte sie bisher alles richtig gemacht, sah man von dem Ausrutscher mit dem Codewort ab. Aber der Fremde würde es, so er sich das Wort überhaupt gemerkt hatte, als verwirrte Äußerung einer Frau erinnern, deren Mann nicht angekommen war.

Nachdem sie einmal den Musikpavillon umkreist hatte und durch den Rosengarten der Gönneranlage spaziert war, ließ sie sich im Schlepptau von ein paar angetrunkenen Kasinobesuchern in Richtung Innenstadt treiben, schlenderte dann scheinbar ziellos durch die engen Gässchen der Altstadt, pausierte gelegentlich in dunklen Hofeinfahrten. Erst als sie sicher war, dass ihr niemand folgte, suchte sie ihr Hotel auf, wo sie endlich die schmerzenden Schuhe abstreifen konnte.

Noch einen Tag Baden-Baden also. In der Nacht würde sie wieder zum Bahnhof fahren und auf Ari warten, so wie es ausgemacht war.

Drei Tage vor der Ankunft des Kanzlers

Bühlerhöhe

Nach ihrer morgendlichen Inspektionsrunde durchs Haus telefonierte die Reisacher mit dem Kurhaus Sand und dem Plättig. Weder das eine noch das andere Hotel konnte ihr auf die Schnelle einen Ersatz für die dicke Emma offerieren. Blieb noch Hartmann. Der hatte sich schon öfter als Retter in der Not erwiesen. Also wählte sie die Nummer des Hundseck und verlangte den Direktor zu sprechen.

»Sie wissen, wie gerne ich Ihnen immer zu Diensten bin.« Hartmanns Stimme vibrierte vor Eifrigkeit, und die Reisacher sah regelrecht vor sich, wie er, den Telefonhörer am Ohr, einen Bückling machte.

»Von meinen Zimmermädchen kann ich Ihnen keines ausleihen, wir sind ausgebucht, also leider nein. Versuchen Sie es doch mal mit einer Heimatvertriebenen. Die sind dankbar und parieren aufs Wort, anders als die sturen Schwarzwälder Bauernmädchen. Fragen Sie im Arbeitsamt in Bühl oder Achern nach. Natürlich, Sie haben völlig recht, gutes Personal für die Hauptsaison ist immer schwer zu finden, wem sagen Sie das! Mir fehlen selbst zwei Hilfskellner. Diese Ausflugsbusse, ich sage Ihnen, das Geschäft damit ist nicht leicht! Mal kommt am Tag nur einer, mal kommen vier auf einen Schlag, und dann sitzen da von jetzt auf gleich fünfzig lustige Witwen oder ein kompletter Kirchenchor bei uns in der Gaststube und schreien nach Schwarzwälder Kirschtorte oder Liebfrauenmilch.«

Die Reisacher machte mal wieder fünf Kreuze, weil die Bühlerhöhe nicht auf das Tagesgeschäft mit Ausflugsbussen angewiesen war. Heerscharen von Sonntagsausflüglern, die ihr frisches Wirtschaftswundergeld in Kuchen oder Wein umsetzten, das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Heimatvertriebene? Ich danke Ihnen für den Tipp, lieber Hartmann.« Sie beendete das Gespräch. Der junge Morgenthaler machte ihr im Türrahmen ein Zeichen, dass er einen weiteren Anruf für sie in der Leitung hatte, und formte dabei mit den Lippen die Worte »Monsieur Pfister«. Sie nickte, legte den Hörer auf und wartete, bis es erneut klingelte.

»Xavier!«

»Rate mal, wo ich bin, Sophie.«

Fröhlich und draufgängerisch klang er, wie immer. Als wäre er noch ein Heidelberger Student und kein gestandener Geschäftsmann. Ein bisschen von seiner Abenteuerlust sprang sofort auf sie über. Sie kicherte wie ein junges Ding und kam sich albern vor. »Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.«

»Baden-Baden. Morgen komme ich in den Schwarzwald, habe Hundseck gebucht, treffe mich dort mit Fritsch und Frey.«

»Den schwäbischen Nähmaschinenfabrikanten?«

»Genau so ist’s.«

»Handelst du jetzt mit Nähmaschinen?«

Die Antwort ein ausweichendes Lachen. So offenherzig er von seinen Reisen erzählte, Paris vor allem, aber auch Tanger, Kairo, überhaupt der Maghreb – aus Casablanca hatte er ihr im Herbst ein wunderschönes Armband mitgebracht –, so wenig sprach er über die Geschäfte, die ihn dorthin führten. Das tat er nur, wenn er dafür ihre Hilfe brauchte.

»Wann sehen wir uns, ma belle?«, überging er ihre Frage. »Es ist so lange her seit dem letzten Mal.«

Sie sei sehr eingespannt, die Bühlerhöhe voller Gäste und dann der anstehende Kanzlerbesuch …

»Sophie«, schnurrte er. »Ich sterbe, wenn der Kanzler für dich wichtiger ist als ich. Ich muss dich sehen.«

Natürlich. Irgendeinen Weg würde sie finden. Xavier rief an, und sie schmolz dahin wie Schweizer Schokolade. Ob das Liebe war? Was war schon Liebe? Ein flirrendes Gefühl für junge Dinger und die Garantie für klingelnde Kinokassen. Liebe war nettes Beiwerk, versüßte das Leben wie das Sahnehäubchen den Kuchen. Aber Sophie Reisacher wollte sich nicht mit dem Sahnehäubchen begnügen, sie wollte den Kuchen. Xavier Pfister sollte sie endlich heiraten.

Baden-Baden

Der Ameisenalarm war vorüber, der neue Tag machte Rosa das Herz schwer. Für sie war es nicht gut, noch länger warten zu müssen. Warten bedeutete, unnütze Zeit zu haben, und unnütze Zeit war ein gefährliches Pulver. Ein bisschen davon auf die gut verschlossene Kiste voll von Verlust, Schmerz und Erinnerung gestreut, und diese explodierte und ließ alles in Fetzen im Kopf herumschwirren. Das Vergessen war lebensnotwendig. Wer nicht vergessen konnte, wurde wahnsinnig. Sie war eine Meisterin im Vergessen. Nur so war das Leben auszuhalten. Schon wegen Ben musste sie nach vorne blicken.

In Israel konnte sie die Büchse der Pandora unter Verschluss halten, aber hier in Baden-Baden gelang ihr das nicht ganz so gut. Denn in Baden-Baden war sie nicht nur mit Rachel und dem Großvater gewesen, Baden-Baden war auch Nathans Stadt. Zumindest an ihre erste Begegnung mit ihm erlaubte sie sich zu denken.

Während der Weinlese im Herbst 1942 war er nach einer Flucht voller Hindernisse und Gefahren in Omarim angekommen. Die Rebstöcke, die die Pioniere zwanzig Jahre zuvor gesetzt hatten, trugen zum ersten Mal, und alle freuten sich über die gute Ernte. Die Frauen schnitten die Trauben von den Stöcken, die Männer leerten ihre Körbe in große Bottiche und hievten diese auf den Maultierkarren. Der alte Isaak kutschierte damit zu dem Keller, in dem Vittorio, ein ehemaliger Weinhändler aus Verona, die Fässer für die erste große Weinernte präpariert hatte. Mehrfach wurde der Karren be- und entladen, und als Isaak das zweite oder dritte Mal damit zurück auf die Felder kam, erzählte er, dass ein Neuer im Kibbuz angekommen war. »Einer für dich, Rosa, ein Deutscher!« Die wenigsten Flüchtlinge sprachen Hebräisch, manche nicht mal Jiddisch, und deshalb wurden sie immer von den Kibbuznikim betreut, die ihre Sprache sprachen.

Es war ein schöner Tag gewesen: vom See Genezareth her ein frischer Wind, die Traubenernte leichte Arbeit, die Araber auf den Golanhöhen friedlich. Rosa hatte mit ihren Freundinnen gesungen und gelacht, alle hatten sich auf das Stampfen der Trauben gefreut.

Der Neue wartete vor dem Gemeinschaftshaus. Ein langer Lulatsch mit einem Birnenkopf, einer geflickten Brille und kahlgeschorenen Haaren, wahrscheinlich hatte er sich irgendwo Läuse eingefangen. Er stank nach der langen Reise und all den Alpträumen, die ihn währenddessen sicher geplagt hatten.

»Nathan Nagelstein, ich komme aus Beirut, eigentlich aus Baden-Baden, aber das …«

Rosa brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Den schönen Tag wollte sie sich nicht von einer weiteren grässlichen Flüchtlingsgeschichte verderben lassen, außerdem wollte sie so schnell wie möglich zum Traubenstampfen. Sie zeigte dem jungen Mann das Gemeinschaftshaus, den Männerschlafsaal und die Duschen, besorgte ihm frische Kleider, Bettzeug, ein Handtuch und Seife und verabschiedete ihn mit der Bitte, zum Frühstück pünktlich um fünf im Speisesaal zu erscheinen.

»Also, was kannst du?«, fragte sie ihn nach dem Frühstück. »Keltern, mähen, melken, misten? Schlachten oder angeln? Pflügen, säen, sägen? Hast du Ahnung von Buchhaltung?« Nichts, Nathan konnte nichts von alledem. »Kannst du wenigstens schießen?«

»Warum schießen?«, fragte er ungläubig. »Kannst du das etwa?«

Rosa holte tief Luft. Immer dasselbe mit diesen Flüchtlingen. Hatten keine Ahnung, was sie in Palästina erwartete. »Glaubst du, die Araber spielen mit uns Ringelreihen? Die haben uns zwar einen Teil von ihrem Land verkauft, denken aber heute, dass der Preis viel zu niedrig war. Vor allem seit wir die Wüste in blühende Landschaften verwandeln. Wir sind denen ein Dorn im Auge. Allein im letzten Jahr gab es drei Überfälle auf den Kibbuz. Das ist aber unser Boden, unser Land, aus dem wir vor zweitausend Jahren vertrieben wurden. Das lassen wir uns nicht mehr wegnehmen. Wenn du also nicht mit einer Waffe umgehen kannst, musst du es eben lernen. Nach der Arbeit um acht auf dem Schießstand.«

»Das kommt gar nicht in Frage, ich bin Pazifist.«

Rosa traute ihren Ohren nicht. Was wollte einer, der nicht bereit war, Land und Leben zu verteidigen, in einem Kibbuz? »Dann geh zu den Schtetl-Juden nach Jerusalem und studiere mit ihnen den Talmud.«

»Ich bin nicht gläubig.«

»Was machst du dann hier? Kannst du überhaupt irgendwas?« Rosa war ehrlich überrascht.

»Ich bin Musiker. Ich brauche eine Geige«, sagte er, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. »Meine wurde in Beirut gestohlen, stell dir vor, so kurz vor dem Ziel. Gehütet habe ich sie wie einen Augapfel, und dann in dem Gedränge am Hafen, ich wollte unbedingt noch auf das Schiff nach Haifa, ein Moment der Unachtsamkeit …«

»Der Herr braucht also eine Geige. Was darf’s denn sein? Eine Stradivari?«, spottete Rosa. »Was glaubt er denn, wo er hier gelandet ist, der Herr? In einem Erste-Klasse-Hotel, wo er nur mit dem Finger schnipsen muss, damit er kriegt, wonach ihm verlangt?«

Am Abend berichtete Rosa in der Kibbuz-Versammlung über den Neuen, schlug vor, ihn erst mal zum Ziegenhüten einzuteilen. Dabei konnte er am allerwenigsten falsch machen. Zudem, so beschlossen sie, könne man es mit ihm als Musiklehrer versuchen, und ein Fiedler sei auch nicht schlecht, für die Hochzeit von Chajm und Dana am nächsten Wochenende. Und eine Geige, nu ja, der alte Jakob hatte noch die von seinem Vetter Shmuel aus Riga, und wenn das jingele gut darauf spielen konnte …

Bühlerhöhe

Der junge Morgenthaler riss die Reisacher aus ihren Hochzeitsträumen. Er meldete Doktor Neuhaus, der auf der Hirschterrasse auf sie wartete. Wie immer saß der Nervenarzt an einem Tisch direkt an der Balustrade, dort ließ sich besonders gut Hof halten. Vor ihm standen eine Tasse Kaffee und der übliche Cognac. Er war schlecht gelaunt, das sah die Reisacher sofort.

Wann denn der Kanzler nun genau komme, zischte der Wiener giftig, bevor er ihr gnädig einen Platz anbot, und wie viele Termine Doktor Adenauer diesmal für die Zellulartherapie einplane. Es sei ja nicht so, dass der Kanzler sein einziger Patient sei, beileibe nicht. Die Reisacher wisse selbst am besten, was für ein vielbeschäftigter Mann er sei, er könne sich vor Anfragen für seine Frischzellenkur nicht retten. »Wissen S’ was? Diese Woche hat mich ein Anruf aus Rom erreicht«, flüsterte er ihr zu. »Der Papst persönlich hat von der Wunderwirkung meiner Kur gehört und überlegt …«

Die Reisacher zauberte im Wechsel Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Bewunderung auf ihr Gesicht und stellte gleichzeitig die Ohren auf Durchzug. Sie hielt diesen spitznasigen Zwerg für einen Kurpfuscher, dem der Erfolg mit seiner Frischzellenkur zu Kopf gestiegen war. Spritzte seinen Patienten Zellen, gewonnen aus den Föten von Lämmern und Kälbern, als Serum gegen das Altern. Verkaufte die Kur als Versprechen von ewiger Jugend. Als ehemaliger Prediger konnte er das sehr gut.

Die Reisacher ließ ihn noch eine Zeitlang schwadronieren und seinen Cognac schwenken. Sie versäumte es nicht, ihm ein wenig Honig um den Bart zu schmieren, indem sie betonte, wie wichtig er und seine Klinik für die Bühlerhöhe sei, viele Gäste gerade die Kombination von Kur und Erste-Klasse-Hotel schätzten, sie sozusagen beidseitig profitierten. Dann erst kam sie auf Adenauer zu sprechen. Die Politik sei halt unberechenbar, das brauche sie ihm nicht zu erzählen. Er werde aber selbstverständlich der Erste sein, den sie über die Ankunft des Kanzlers informierte.

Etwas besänftigt kippte Neuhaus den letzten Schluck Cognac hinunter. Mit einer kleinen Kopfbewegung bat die Reisacher den Kellner, dem Arzt nachzuschenken. Neuhaus murmelte etwas von anderen wichtigen Terminen, wehrte sich aber nicht gegen einen weiteren Cognac und blieb sitzen.

»Lieber Doktor, ich brauche Ihren fachlichen Rat in einer delikaten Angelegenheit.« Sie erzählte, natürlich ohne die Nennung eines Namens, von den Problemen mit dem nachts brüllenden Staatsanwalt, auch von ihrem vergeblichen Versuch, gemeinsam mit ihm nach einer Linderung zu suchen.

»Was erwarten S’? Dass ich Ihnen frei Haus ein paar Ampullen Morphium liefere, die Sie dem Gast in den Allerwertesten spritzen?«

Die Reisacher hasste den nörgelnden, wienerischen Tonfall. »Natürlich nicht!« Sie gab sich entrüstet. Dabei hätte sie nichts gegen ein kleines Morphindepot, das als Geheimwaffe bei unangenehmen Gästen zum Einsatz kommen könnte. »Ich dachte eher an Schlaftabletten …«

»Was Sie schildern, klingt nicht nach einer Schlafstörung, sondern eher nach einem Kriegstrauma. Stalingrad, sagen S’? Kein Wunder! So was lässt sich nicht mit Schlaftabletten behandeln. Wahnsinn ist ein Land, in das nicht ein jeder Zutritt hat, das hat schon der Doktor Freud gewusst. Schicken S’ den Mann zu mir in meine Klinik, anders kann ich ihm nicht helfen. Küss die Hand, gnädige Frau.«

Er kippte den zweiten Cognac im Stehen, um dann noch eilige Honneurs bei zwei herausgeputzten Amerikanerinnen zu machen, die schon zum dritten Mal zur Frischzellenkur kamen. Dann rauschte er davon.

Die Reisacher, durch das Gespräch nicht weniger schlecht gelaunt, erhob sich ebenfalls. Ihr Blick wanderte über die halbrunde Terrasse, registrierte die kleinste Unstimmigkeit. Sie rückte die Wolldecken auf den Liegestühlen gerade, überprüfte, ob der Hausmeister den Vogeldreck von den Bronzehirschen entfernt hatte, befahl dem Kellner, die Decken an Tisch 3 und 6 auszutauschen, und traf auf dem Rückweg zur Rundhalle ausgerechnet auf den hinkenden nächtlichen Krawallmacher, der sie wieder mal wie Luft behandelte. Zu gern hätte sie ihm wirklich eine Ampulle in seinen mageren Hintern gejagt oder ihm ein Bein gestellt, ihn überhaupt an die Luft gesetzt mit dem Hinweis, dass die Bühlerhöhe auf Brüllaffen wie ihn verzichten könne. Stattdessen würde sie den Nachtportier anweisen müssen, regelmäßig in der dritten Etage zu patrouillieren, und falls der Brassel schrie, diesen sofort durch Klopfen zu wecken, in der Hoffnung, dass ihm danach die Rückkehr in seinen Alptraum versperrt war und er Ruhe gab.

Um alles, wirklich um alles musste sie sich selbst kümmern, und keiner dankte es ihr. Manchmal hatte sie nicht übel Lust, die ganze Bühlerhöhe anzuzünden und lichterloh brennen zu sehen, so wie es diese Mrs Danvers mit dem Herrensitz Manderley in dem Buch tat, das sie neulich gelesen hatte. Diese Figur der Mrs Danvers beschäftigte sie. Auf keinen Fall wollte die Reisacher so enden wie sie. Als verbitterte alte Jungfer, geplatzten Träumen nachhängend, dem Wahnsinn verfallen. Sie war schon fünfunddreißig und seit neun Jahren Witwe. Zeit für eine neue Ehe, und Xavier Pfister war der richtige Mann dafür.

Baden-Baden

In der Nacht ließ sich Rosa von einem anderen Taxiunternehmen zum Bahnhof chauffieren. Diesmal war sie die Einzige, die auf den Zug aus Paris wartete. Sie setzte sich auf die Bank, auf der in der letzten Nacht das alte Paar gesessen hatte, und dachte an das Schmuckgeschäft Kupfermüller.

»Unser Haus liegt in der Luisenstraße«, hatte Nathan ihr erzählt. »Beste Baden-Badener Einkaufslage, mein Großvater hat es gekauft. Die erste Etage hat einen kleinen Erker, auf dem ein Steinengel sitzt, der sieht ein bisschen aus wie du.« Am Nachmittag hatte sie das Haus gefunden. Der Erker, der Steinengel, der ihr überhaupt nicht ähnelte, die Eingangstür mit dem goldenen Löwenknauf. Das Schmuckgeschäft Nagelstein hieß jetzt Kupfermüller. Sie hatte das Haus von der anderen Straßenseite aus betrachtet. Wie eine Statue hatte sie dagestanden, wie versteinert, inmitten von Touristen und Kurgästen, die durch diese nicht zerstörte Stadt schlenderten, als hätte es die Lager und den Krieg nie gegeben. Wenn man in Palästina von dem blutgetränkten deutschen Boden sprach, hatte sie sich diesen bildlich vorgestellt: Blut zwischen Kopfsteinpflaster, Blut in Wasserlachen, Blut auf Wiesen und Weizenfeldern, Blut auf Feldwegen und Chausseen. Natürlich wusste sie, dass der Boden sieben Jahre nach Kriegsende nicht mehr blutgetränkt sein konnte, aber mit anderen sichtbaren Spuren der Nazigräuel hatte sie gerechnet. Doch in Baden-Baden war alles blitzsauber, Vertreibung und Massenmord wie weggewischt, die Stadt wirkte, als wäre nichts geschehen, seit sie mit dem Großvater das letzte Mal hier gewesen war.

Widerwillig überquerte sie die Straße und besah sich die Schaufensterauslagen: Eheringe und Goldkreuzchen, Uhren und Perlenketten, Broschen und Armbänder. Sie hörte den hellen Silberklang der Türglocke, als ein Kunde das Geschäft verließ, aber sie betrat es nicht. Rachel, da war sie sich sicher, wäre hineingegangen. »Ist das nicht das Geschäft der Nagelsteins?«, hätte sie laut gefragt. »Wann haben Sie es übernommen? 1938? Zu einem Spottpreis, vermute ich. Und die Wohnung der Nagelsteins gleich mit. Das Klavier genauso wie die Spielsachen der Kinder … Und die Nagelsteins haben Ihnen das alles so mir nichts, dir nichts überlassen? Die sind verschwunden, sagen Sie? Von einem Tag auf den anderen? Haben sich einfach in Luft aufgelöst? Wie praktisch!« Und dann hätte sie davon gesprochen, wohin die Nagelsteins »verschwunden« waren, hätte die Fotografie, die sie mit sich trug, seit sie von den Lagern wusste, auf die blankpolierte Einkaufstheke gelegt und die Kupfermüllers gezwungen, sich die Leichenberge anzusehen.

Rachel traute sich das, sie traute sich alles. Es gab nichts, wovor Rachel Angst hatte. Schon hier im Schwarzwald, mit dreizehn, hatte sie es der bärenstarken Walburg, dem Bauernmädchen aus dem Bühlertal, gezeigt und eine ganze Nacht lang im Wald ausgeharrt, ohne Reißaus zu nehmen. Mit fünfzehn begeisterte sie Rosa für die zionistische Idee und plante ihre Aussiedlung nach Palästina. Die Mutter wollte nicht mitkommen. Wegen Ben, dem kleinen Bruder, wegen des Großvaters, wegen des Hauses, und überhaupt war sie zuversichtlich, dass die Schikanen gegen die Juden bald aufhören würden. Eine blinde, eine tödliche Hoffnung. Aber wie hätte man das Unvorstellbare ahnen können? Man hätte! Rachel warf es sich vor, je mehr Informationen über das Grauen in den Lagern Palästina erreichten. Die Schuld drückte sie so schwer, dass sie die Orangenplantagen, die Weinstöcke, den in der Sonne glitzernden See Genezareth nicht mehr aushielt und ins flirrende, fiebrige Tanger floh.

Damals waren sie also allein gereist, zwei Mädchen, die eine sechzehn, die andere vierzehn Jahre alt. Tausend Schrecken hatten sie überstehen müssen, aber mit Rachel an ihrer Seite hatte sich Rosa immer beschützt gefühlt.

Bis heute schlug sich Rachel überall durch, selbst im Moloch Tanger behauptete sie sich. Oz hätte sie nach Deutschland schicken sollen. Aber nachdem Rachel ihn und Israel verlassen hatte, traute er ihr nicht mehr. Deshalb nahm er mit ihrer kleinen Schwester vorlieb.

Rosa schreckte auf, als ein Mann die Schwingtür der Bahnhofshalle aufstieß und mit einem Cellokasten auf den Bahnsteig hastete. Nur noch eine Minute bis zur Ankunft des Zuges. Der Mann lief direkt zur Bahnsteigkante, ein weiterer Mann mit einem Geigenkoffer stürmte hinter ihm her. Rosa stockte der Atem, als der Geigenspieler sich umdrehte. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, es wäre … aber nein, der Mann war viel älter als Nathan. Ob Nathan noch in München wohnte? Ob er seit seiner Rückkehr nach Deutschland Baden-Baden, die Luisenstraße, die Kupfermüllers besucht hatte? Ob Rosa ihn je wiedersehen, ihm je von Ben erzählen würde? Ben! Er war so in sein Spiel mit Jokele und Aaron vertieft gewesen, dass er ihr beim Abschied nur für einen Moment den Kopf zudrehte und kurz winkte.

Der einfahrende Zug wischte ihre Gedanken fort, jetzt war nur noch Ari wichtig. Sie wollte ihn nicht noch einmal mit einem Fremden verwechseln. Rosa lief ein Stück den Bahnsteig hinunter, ungefähr dahin, wo die mittleren Waggons zum Stehen kamen. Wieder öffneten sich nur wenige Türen. Der Schaffner half einer alten Dame beim Aussteigen, etwas weiter hinten sprangen zwei französische Soldaten auf den Bahnsteig. Und das war’s auch schon.

Ari war wieder nicht gekommen. Länger, das hatten sie ihr gesagt, durfte sie nicht auf ihn warten. Morgen früh musste sie alleine zur Bühlerhöhe fahren.

Zwei Tage vor der Ankunft des Kanzlers

Bühlerhöhe

In der 105 fehlte ein Handtuch, auf dem Balkon der 302 musste eine vertrocknete Geranie entfernt werden, im Billardsalon steckten mal wieder nicht alle Queues in den dafür vorgesehenen Halterungen, notierte die Reisacher nach ihrer morgendlichen Inspektionsrunde, als Morgenthaler ihr den Direktor des Hundseck am Telefon annoncierte.

»Wissen Sie schon, wann der Kanzler kommt?«, erkundigte sich Hartmann. »Wird er wieder bei uns schwimmen?«

Die Reisacher verdrehte die Augen. Egal, weswegen sie mit Hartmann telefonierte, nie vergaß er, sein Schwimmbad zu erwähnen. Keines der anderen Höhenhotels an der Schwarzwaldhochstraße, nicht mal das Grandhotel Bühlerhöhe, verfügte über ein Freibad. Nur das Hundseck. Natursteinbecken, aus eigener Quelle gespeist, wunderbar weiches Wasser. Seit der Kanzler es bei einem seiner letzten Besuche entdeckt und auch benutzt hatte, war Hartmann stolz wie Oskar. Wahrscheinlich hatte er neben dem Becken schon ein Messingschild mit der Inschrift »Hier badete der Kanzler« anbringen lassen.

Leider, leider sei ihr die genaue Ankunftszeit des Kanzlers noch nicht bekannt. Die Reisacher seufzte fast unhörbar. Aber selbstverständlich werde sie sich sofort bei ihm melden, wenn sie etwas Neues wisse.

»Und? Haben Sie schon Ersatz für Ihr Zimmermädchen gefunden?«, erkundigte sich Hartmann.

»Das Arbeitsamt Bühl schickt mir eine Heimatvertriebene.«

»Wie gesagt, ich habe sehr, sehr …«

»Oh, entschuldigen Sie, aber ich muss Schluss machen«, unterbrach ihn die Reisacher, die froh war, dass es an ihre Tür klopfte. Der gute Hartmann! Rief wegen jeder Kleinigkeit an und telefonierte dann ewig. Er hielt große Stücke auf sie. Aber der Mann war Witwer und zwanzig Jahre älter. Und, Schwimmbad hin oder her, was wollte sie mit einem besseren Landgasthof? »Ja?«, rief sie in Richtung Tür.

»Frau Goldberg ist angekommen«, meldete der junge Morgenthaler eifrig, und seine Segelohren glühten noch ein wenig heftiger als sonst.

Die Reisacher hatte ihm aufgetragen, sie sofort zu benachrichtigen, wenn die Goldbergs, Grünhagens oder Kettenkaul eintrafen, und wenigstens das hatte sich der Bengel gemerkt. »Nur die Frau?«, fragte sie.

»Ja. Sie ist allein gekommen. Mit einem Taxi aus Baden-Baden. Ich habe mir sogar die Firma gemerkt: Fuhrunternehmen Haas«, berichtete er stolz.

Nun ja, vielleicht wurde aus ihm doch noch ein anständiger Rezeptionist. Sie komme gleich, bedeutete die Reisacher ihm. Erst nachdem sie ihren Lippenstift nachgezogen und den Sitz von Frisur und Kostüm geprüft hatte, folgte sie ihm nach draußen.

Die Reisacher hielt große Stücke auf ihre Menschenkenntnis. Ein Brief oder ein Telefongespräch, ein paar magere Fakten, das eine oder andere Gerücht, und vor ihrem geistigen Auge setzte sich bereits das Bild des Gastes zusammen. Und meist stimmte es mit der Wirklichkeit überein. Aber was die Goldbergs betraf, irrte sie. Sie hatte mit einem älteren Ehepaar gerechnet, einem zerzauselten Professor mit Brille und einem verhuschten Weiblein mit grauem Dutt, schwarzem Kleid und Spitzenkrägelchen.

Stattdessen stand eine Frau ihres Alters in einem hinreißenden, in Weiß und frischem Grün gestreiften Sommerkleid vor ihr. Das Kleid passte wie angegossen, und um den Hals trug sie einen Schal aus Crêpe de Chine im Grünton des Kleides. Auch das braungelockte Haar saß perfekt. Sie trug es zurückgekämmt in einem modischen Kurzhaarschnitt, darauf einen winzigen Strohhut, dernier cri. Sie war ungeschminkt, und die Reisacher musste zugeben, dass sie das auch nicht nötig hatte. Sie gehörte zu dem Typ Frau, der mit natürlicher Schönheit gesegnet war und diese als gottgegeben ansah. Eine, die im Gegensatz zu ihr nie zu Lippenstift, Tusche oder Rouge greifen musste, um sich ins rechte Licht zu rücken. Da brauchte man sich nur das Strahlen des jungen Morgenthaler und seine weiterhin glühenden Segelohren anzugucken. Selbst dem zufällig vorbeikommenden Krawallmacher Brassel fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er seinen Hut lüpfte und ein »Enchanté, Madame« murmelte.

»Willkommen auf der Bühlerhöhe, Frau Goldberg«, flötete die Reisacher.

»Mein Mann wird noch beruflich in Paris festgehalten«, erklärte die Goldberg und nahm ihren Schal ab. »Ich war auf Familienbesuch in Frankfurt. Wegen des Termins zur Frischzellenkur bei Doktor Neuhaus habe ich mich dazu entschlossen, allein anzureisen. Mein Mann wird in ein, zwei Tagen nachkommen. Hat er sich bereits gemeldet?«

Die Reisacher schüttelte bedauernd den Kopf, bat um den Pass und darum, dass ihr neuer Gast den Anmeldezettel ausfüllte. Dabei betrachtete sie Hals und Dekolleté ihres Gegenübers: beides intensiv gebräunt, genau wie die Arme und das Gesicht. Nicht die zarte Bräune einer vierzehntägigen Sommerfrische, sondern die von jemandem, der die meiste Zeit des Tages im Freien verbringt. Eine Bräune, die die Haut spätestens mit vierzig hart und ledern werden ließ.

Die Goldberg entledigte sich ihres rechten Häkelhandschuhs, der ebenfalls im Grünton des Kleides gehalten war, und begann das Formular auszufüllen.

Hände, wusste die Reisacher aus langjähriger Beobachtung, verrieten immer etwas über den dazugehörigen Menschen. Und die Hände der Frau Goldberg … Fein manikürt waren sie, ja, ja, aber die tiefen Schrunden in den Fingerkuppen konnte auch die sorgfältigste Maniküre nicht verschwinden lassen. Diese Hände sahen nach schwerer körperlicher Arbeit aus, Feldarbeit, Fabrik, Küche, was auch immer. Diese Hände waren niemals die Hände einer Professorengattin. Die Frau gab vor, etwas anderes zu sein, als sie war. Aber warum?

Frau Goldberg schob den ausgefüllten Anmeldezettel über den Rezeptionstresen und stülpte schnell wieder den grünen Handschuh über die verräterischen Finger. Sie war eine geborene Silbermann, ihr Geburtsort war Köln, aber als Heimatadresse hatte sie einen der Reisacher völlig unbekannten Ort in Israel angegeben. Wer weiß, auf welchem Weg sie an das Briefpapier des Pariser Hotels gelangt war? Und der Gatte, existierte der überhaupt? Reisachers innere Alarmglocke schrillte, ihr Jagdinstinkt war geweckt. Sie würde schon herausfinden, was mit dieser Frau nicht stimmte. Zunächst galt es, ihre Bonität zu prüfen.

»Sie sind zum ersten Mal in unserem Haus zu Gast, deshalb müssen wir auf Vorkasse bestehen.« Sie legte einen bedauernden Ton in ihre Stimme.

»Ich stelle Ihnen einen Scheck aus«, erwiderte die Goldberg sofort und nestelte ein Scheckheft der Banque de Suisse aus der Handtasche.

»Pardon, gnädige Frau. Aber wir akzeptieren nur Bares.«

Neben der Reisacher begann der junge Morgenthaler unruhig von einem Bein aufs andere zu treten. Schecks der Banque de Suisse wurden auf der Bühlerhöhe immer akzeptiert. Sie schickte ihn nach dem Hotelpagen.

»In Frankfurt habe ich das Hotel ohne Probleme mit Scheck bezahlen können«, warf die Goldberg eher verwirrt als empört ein.

»Bedaure, aber wir müssen auf Nummer sicher gehen. In Bühl gibt es eine Sparkasse, wo Sie Schecks einlösen können. Der nächste Bus dorthin fährt in einer halben Stunde. Selbstverständlich kann ich Ihnen auch ein Taxi rufen.«

Wie ein verirrtes Reh, das nicht wusste, in welche Richtung es davonspringen sollte, blickte die Goldberg abwechselnd die Reisacher, die Eingangstür, die Telefonkabinen und ihren Koffer an. »Das Gepäck kann ich hierlassen?«

Die Reisacher nickte gnädig und hielt Ausschau nach dem Hotelpagen. Aber der nichtsnutzige Morgenthaler war nicht zu ihm gelaufen, sondern zu Klarbach, der nun hinter Morgenthaler herkommend auf die Rezeption zustrebte.