Bury Our Bones in the Midnight Soil - V. E. Schwab - E-Book

Bury Our Bones in the Midnight Soil E-Book

V. E. Schwab

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Beschreibung

Love runs wild. Love bites deep. Love dies last … Ein epischer Vampirroman von Bestsellerautorin V. E. Schwab. Dies ist die Geschichte von drei Frauen und dem Blut, das sie verbindet. Von Maria, die im Jahre 1511 in dem kleinen Dorf Santo Domingo de la Calzada geboren wird. Sie heiratet einen spanischen Edelmann, nur um fortzukommen, doch ihr Mann ist streng und die Ehe keine glückliche. Erst als sie einer geheimnisvollen Witwe begegnet, scheint die Freiheit in Reichweite, doch der Preis ist hoch. Von Charlotte, die im Jahr 1827 in London verheiratet werden soll, doch es vorzieht, mit einer geheimnisvollen Adligen zu fliehen und ein Leben in Freiheit und Sünde zu verbringen. Sie reisen Jahrzehnte durch die europäischen Metropolen. Und ziehen eine Spur der Gewalt hinter sich her. Und von Alice, die im Jahr 2019 nach einem wilden One-Night-Stand mit höllischen Kopfschmerzen aufwacht und feststellt, dass sie eine seltsame Wunde am Hals hat. Und dass sie ein unstillbares Verlangen nach Blut entwickelt. Für Leser*innen von Anne Rice, Leigh Bardugo, Jay Kristoff und Carissa Broadbent

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Seitenzahl: 859

Veröffentlichungsjahr: 2025

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V. E. Schwab

Bury Our Bones in the Midnight Soil

Liebe stirbt zuletzt

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Huber und Sara Riffel

 

Über dieses Buch

 

 

Dies ist die Geschichte von drei Frauen und dem Blut, das sie verbindet.

Von Maria, die im Jahre 1511 in dem kleinen Dorf Santo Domingo de la Calzada geboren wird. Sie heiratet einen spanischen Edelmann, nur um fortzukommen, doch ihr Mann ist streng und die Ehe keine glückliche. Erst als sie einer geheimnisvollen Witwe begegnet, scheint die Freiheit in Reichweite, doch der Preis ist hoch.

Von Charlotte, die im Jahr 1827 in London verheiratet werden soll, doch es vorzieht, mit einer geheimnisvollen Adligen zu fliehen und ein Leben in Freiheit und Sünde zu verbringen. Sie reisen Jahrzehnte durch die europäischen Metropolen. Und ziehen eine Spur der Gewalt hinter sich her.

Und von Alice, die im Jahr 2019 nach einem wilden One-Night-Stand mit höllischen Kopfschmerzen aufwacht und feststellt, dass sie eine seltsame Wunde am Hals hat. Und dass sie ein unstillbares Verlangen nach Blut entwickelt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Victoria (V. E.) Schwab ist die Autorin der »Shades of Magic«-Trilogie, des Bestsellers »Das unsichtbare Leben der Addie LaRue« und des Gothic-Fantasy-Romans "Gallant". Ihre Werke wurden in über vierundzwanzig Sprachen übersetzt. Sie wurde 1987 als Kind einer englischen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren und ist seitdem von unstillbarem Fernweh getrieben. Wenn sie nicht gerade durch die Straßen von Paris streunt oder auf irgendeinen Hügel in England klettert, sitzt sie im hintersten Winkel eines Cafés und spinnt an ihren Geschichten.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erscheint 2025 unter dem Titel »Bury Our Bones in the Midnight Soil« bei Tor Books, New York.

Copyright © 2025 Victoria Schwab

Published in agreement with the author, c/o BAROR INT., Armonk, New York, U.S.A.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Lektorat: Alexandra Jordan

Covergestaltung: www.buerosued.de, nach einer Idee von Sara Wood

Coverabbildung: Sara Wood unter Verwendung von Motiven von Arcangel Images und Shutterstock

ISBN 978-3-10-491955-3

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

María

I

II

Alice

I

II

Lottie

I

María

I

II

III

IV

V

Alice

I

María

I

II

III

IV

V

VI

Alice

I

II

Sabine

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Alice

I

II

Sabine

I

II

III

IV

V

Alice

I

II

III

Sabine

I

II

III

IV

Alice

I

II

III

Charlotte

I

II

III

Clement Hall

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Alice

I

Charlotte

I

II

III

Paris, Frankreich

IV

V

VI

VII

Alice

I

Charlotte

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Alice

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Danksagung

Für alle, die hungrig sind –

nach Liebe, nach Zeit oder einfach danach, frei zu sein

Begrab meine Knochen in der Mitternachtserde,

pflanz sie flach und wässer sie reich,

lass sprießen daraus eine tödliche Rose,

mit roten Blüten und Fängen so bleich.

María

(gest. 1532)

I

Santo Domingo de la Calzada, Spanien1521

Die Witwe trifft an einem Mittwoch ein.

María erinnert sich daran, weil mittwochs Badetag ist und ihre Haare immer ewig brauchen, um zu trocknen, nachdem sie gewaschen und gekämmt sind. Sie erinnert sich, weil es für Ende April schon recht warm ist und sie in einem Fleckchen Sonne am Hofrand sitzt und an einem Kirschkern lutscht (einem der ersten in diesem Jahr) und eine Haarlocke ins Licht hochhält, um zu schauen, ob sie sich wirklich dunkler gefärbt hat oder einfach noch feucht ist.

Marías Mutter sagt, sie wäre zu eitel, dabei schickt sie María doch einmal die Woche mit Lehm in den Haaren ins Bett, weil sie hofft, die grelle Farbe so zu dämpfen. Soweit María feststellen kann, klappt es nicht. Wenn überhaupt, sind ihre Haare noch heller geworden.

Sie würde es nicht ganz so schlimm finden, Marías Mutter, wenn ihr Haar honigblond oder erdbraun oder auch rostrot wäre, aber ein derart wütender Rotton, sagt sie, ist ein schlechtes Omen. Keine warme Farbe, sondern das heiße Orange einer offenen Flamme. Eine, die sie anscheinend nicht ersticken kann.

Etwas kitzelt María am Schienbein. Am Saum ihres Kleides hat sich ein Faden gelöst. Sie wird ihre Mutter bitten müssen, ihn wieder festzunähen. Ihre Mutter ist Schneiderin, ihre schmalen Finger erschaffen perfekte Linien. Zum Nähen braucht man geduldige Hände und ein geduldiges Herz, sagt sie immer, aber María ist mit keinem von beidem auf die Welt gekommen. Sie sticht sich ständig mit der Nadel, wird wütend und schleudert die halbfertige Arbeit beiseite. Ein Unruhegeist, hat ihr Vater immer gesagt. Bei einem Sohn einerlei, aber schlecht bei einer Tochter.

María rollt den Kirschkern an der Innenseite ihrer Zähne entlang und zupft an dem Faden, räufelt das geduldige Herz ihrer Mutter noch etwas mehr auf, als die Kirchenglocken zu läuten beginnen.

Und schon ist der Tag um einiges interessanter geworden.

Sie springt auf und läuft barfuß die Straße entlang. Sie verheddert sich in ihren Röcken, bis sie sie rafft, um besser rennen zu können. Sie hält auf den Ort zu, von dem aus man am besten beobachten kann – das Dach von Ines’ Stall –, und stellt fest, dass Felipe schon dort ist.

»Geh wieder nach Hause«, ruft er, als sie sich erst auf einen Karren und dann auf die schrägen Dachschindeln zieht. »Hier ist es nicht sicher.«

Zwischen ihnen liegen nur drei Jahre, er dreizehn und sie zehn, aber in letzter Zeit benimmt er sich so, als sei es ein unüberbrückbarer Unterschied, als sei er schon vollständig erwachsen und sie noch ein Kind, obwohl er immer noch weint, wenn er traurig oder verletzt ist, und sie schon vor dem Tod ihres Vaters nicht mehr geweint hat.

»Ich mein’ es ernst, María«, schimpft er, aber sie beachtet ihn nicht, sondern blinzelt ins Licht des späten Nachmittags, während die Karawane in die Stadt rollt.

María kann weder lesen noch schreiben, aber zählen kann sie. Also zählt sie die Pferde, während sie näher kommen – sechs, sieben, acht, neun –, und hat auch schon angefangen, die Reiter zu zählen, als eine barsche Stimme zu ihnen hochschallt.

»Cadre de Dios. Kommt runter da, bevor ihr euch noch den Hals brecht.«

Felipe dreht sich um und hätte beinahe den Halt verloren, aber María macht sich gar nicht erst die Mühe. Es ist nur Rafa, und sie muss nicht nach unten schauen, um zu wissen, wie er aussieht – die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf in den Nacken gelegt und die Stirn gerunzelt, genau wie früher ihr Vater. Ihr ältester Bruder benimmt sich schon seit einem Jahr so, seit er den Platz ihres Vaters eingenommen hat. Als wäre das alles, was ihr Vater war: ein Paar Schultern, ein stoisches Kinn, eine harte Stimme. Ein leerer Raum, den er, Rafa, einfach so füllen kann.

»Sofort!«, bellt er.

Unter Rafas wütendem Blick löst sich Felipes Wagemut in Luft auf und er klettert hinunter, schiebt sich vorsichtig über die Schindeln. María dagegen bleibt oben, nur um zu beweisen, dass sie es kann. Aber jetzt gibt es nichts mehr zu sehen. Die Karawane ist um die Ecke gebogen, auf dem Weg in die Innenstadt, also gehorcht sie doch, springt und landet in einer Pfütze, die ihre Röcke nass spritzt. Felipe ist genauso schmutzig, doch Rafas wütender Blick richtet sich trotzdem nur auf sie.

Bevor María außer Reichweite tänzeln kann, packt er sie an den Schultern.

»Du hättest runterfallen können.«

»Unsinn«, sagt sie. »Ich wäre geflogen.«

»Ich sehe an dir keine Flügel.«

»Flügel brauche ich nicht«, sagt sie grinsend. »Ich bin eine Hexe.«

Es war nur ein Scherz. Er hat sie letzte Woche so genannt, als er hereinkam und sie am Herd sitzen sah, ihr rotes Haar offen und wild, ihr Blick versonnen auf die Flammen gerichtet.

Doch als sie das Wort jetzt ausspricht, zuckt seine Hand vor, und er schlägt sie auf die Wange.

Der Schmerz ist plötzlich und heiß, aber die Tränen, die ihr in die Augen schießen, rühren von Schreck und Wut her, und einen Moment lang stellt sie sich vor, wie sie sich auf ihren Bruder stürzt, ihm ihre kurzen, spitzen Fingernägel über die Wange zieht, wie er dann dreinschauen würde, mit den blutigen sichelförmigen Kratzern im Gesicht.

Es ist jedoch eine wilde Wut, und María weiß, dass sie dafür nur ausgepeitscht werden würde, also beschließt sie, ihm stattdessen bloß Dung in seine guten Stiefel zu stecken. Bei dem Gedanken muss sie grinsen, und der Anblick scheint ihren Bruder noch mehr zu beunruhigen.

Rafa schüttelt den Kopf. »Geh nach Hause zu Mutter«, sagt er und wedelt mit der Hand, als wolle er eine streunende Katze verscheuchen. Er läuft weiter die Straße entlang, und Felipe folgt ihm schweigend wie ein Schatten. Die beiden Jungen gehen in die Innenstadt, um die Karawane zu begrüßen.

María reibt sich über die Wange und schaut ihnen nach. Zählt bis zehn, schiebt sich dann den Kirschkern zwischen die Zähne und beißt so fest zu, dass er zerbricht.

Sie spuckt die Bruchstücke auf den Boden und läuft hinter den beiden her.

***

Das Schicksal meint es gut mit Santo Domingo.

Die Stadt liegt am Pilgerweg, dem Camino de Santiago. Die Leute, die ihn gehen, haben María immer schon fasziniert. Ihr Vater sagte, sie unternähmen die Reise, um sich von Sünden reinzuwaschen, und als sie noch kleiner war, hat sie sich diese Sünden wie Felsbrocken vorgestellt, Bürden wie Diebstahl und Mord und Misshandlung, die so sehr auf den Menschen lasten, dass ihr Rücken gebeugt ist und die Seele unter der Last ächzt. Sie bestaunte den endlosen Strom der Verbrecher, die für ihre Schuld Abbitte leisten wollen und diese dadurch erst recht offen zur Schau tragen.

Erst später erklärte ihr ihre Mutter, dass nicht alle Sünden wie Felsbrocken sind, die meisten sogar eher wie Kieselsteine. Ein unfreundlicher Gedanke. Ein hungriges Herz. Kleine Verfehlungen wie Habgier und Neid und Wollust (Dinge, die ihr gar nicht wie Sünden vorkommen, aber anscheinend summieren sie sich). Noch enttäuschter war sie, als sie erfuhr, dass manche Pilger überhaupt keine Sünden begangen haben. Dass sie die Reise nicht unternehmen, um für ihre Vergangenheit zu büßen, sondern um ihre Zukunft zu sichern. Weil sie um Wunder oder himmlischen Beistand bitten oder sich einfach Gottes Segen versichern wollen.

Das kam María furchtbar langweilig vor, deswegen denkt sie sich seither für jeden einzelnen Reisenden Sünden aus.

Während die Karawane auf dem Marktplatz ihr Gepäck ablädt, stellt sie sich vor, der Mann an der Spitze hätte eine Kuh gestohlen, von einer Familie, die daraufhin den Winter nicht überlebte.

Die Frau dahinter hat den ungewollten Säugling einer anderen im Bad ertränkt und konnte danach selber keine Kinder mehr bekommen.

Der Mann mit dem roten Kreuz auf dem Umhang ist ein Ordensritter, der über die Gläubigen wacht, aber entlang des Wegs hat er unzählige Ehefrauen – ein Brotkrumenpfad der Sünden.

Der alte Mann hinter ihm hat gebetet, dass seine Frau stirbt, und dann ist es wirklich passiert.

Der junge hat jemanden im Duell erschlagen.

Und die Frau in Grau …

Die Frau in Grau …

María zögert.

Nicht dass ihre Phantasie sie im Stich lässt, aber es ist schwierig, sich eine Geschichte auszudenken, wenn sie das Gesicht der Fremden nicht erkennen kann. Sie ist in einfarbigen Stoff gehüllt wie eine aus Stein gemeißelte Säule oder eine Schlammzeichnung. Ein Geist in einer dunkelgrauen Kutte, ein grauer Hut, an dessen Rand ein grauer Schleier festgesteckt ist, die Hände trotz der Hitze des wolkigen Tages von Handschuhen aus demselben Stoff verhüllt. Inmitten der bunten Schar ist sie eine Statue, frostig und fahl.

María umrundet den Platz, bis sie Felipe gefunden hat. Sein Blick fällt auf sie, und er stößt einen müden Seufzer aus. »Rafa wird dich mit dem Stock verhauen.«

»Wenn er das versucht, beiße ich ihn«, gibt sie zurück und fletscht die Zähne.

Felipe verdreht die Augen und will ihr offenbar keine weitere Beachtung schenken, aber sie stößt ihm den Ellbogen in die Rippen.

»Was?«, zischt er.

Sie deutet auf die Frau und fragt, warum sie so seltsam aussieht. Und er antwortet leise, dass sie wohl eine Witwe ist und ein Trauergewand trägt. María runzelt die Stirn. Sie hat schon Witwen auf dem Pilgerweg gesehen. Aber sie waren nie so gekleidet.

Doch Felipe zuckt nur die Achseln und sagt: »Vielleicht ist sie Französin.«

Die Furchen in Marías Stirn vertiefen sich unzufrieden. Sie will sich die Frau genauer anschauen.

Die Glocken haben aufgehört zu läuten, und in der Stadt beginnen die üblichen Abläufe.

Der Bäckerssohn erscheint mit Brotlaiben, der Schenk mit Salzfisch und Bier. Marías Mutter taucht auf und bietet an, Löcher in der Reisekleidung zu stopfen, und das bringt sie auf eine Idee. María schleicht sich vor, auf das Pferd der Witwe zu, die sich gerade von einem Mann aus dem Sattel helfen lässt. Sie besitzt kein Bündel, nur eine kleine Holzkiste, die der Mann ihr herunterholt.

Als die Kiste durchgerüttelt wird, klingt es, als läuteten Glöckchen. María fragt sich, was wohl darin ist.

Sie hat die Witwe fast erreicht, will sie gerade fragen, ob ihre Kleidung ausgebessert werden muss, als die Frau sich zu ihr umdreht. Ihr Gesicht ist nur ein Schemen hinter dem schweren Schleier, aber María hat Rafas wütenden Blick oft genug gespürt, um zu wissen, dass die Witwe ihr genau in die Augen schaut. Und María, die glaubt, vor nichts Angst zu haben – nicht vor dunklen Ecken bei Nacht oder hohen Stalldächern oder Spinnen, die sich im Holzstapel verbergen –, bleibt jäh stehen, die Worte werden zu Steinen in ihrer Kehle.

Sie starrt die seltsame Frau an, verblüfft von dem Gefühl, das sie überkommt. Zweifellos hätte sie es abgeschüttelt und wäre weitergegangen, aber in diesem Moment legt sich Rafas Hand auf ihre Schulter, und da ist es zu spät. Die Witwe wendet sich ab, und die Reisegesellschaft zerstreut sich, die Pferde in den Stall, die Menschen ins Gasthaus, und María wird unsanft nach Hause geschoben.

***

Der nächste Tag ist heiß und hell und wolkenlos.

Am späten Vormittag ist die Karawane weitergezogen, aber die Witwe nicht. Ihr Falbe steht noch im Stall beim Gasthaus, und sie bleibt in ihrem Zimmer, die Vorhänge zugezogen. Die Stunden vergehen, und währenddessen verlangt sie weder Wasser noch Wein und nimmt auch nichts zu essen an, bis manche sich fragen, ob sie eine Heilige werden will. Wenn es Frömmigkeit ist, dann gewiss von der stärksten Sorte. Wenn es Krankheit ist, dann will sich niemand damit anstecken.

Die Stunden vergehen, und währenddessen verbreiten sich die Gerüchte wie Schatten, und sie lauten so:

Vielleicht ist sie alt.

Vielleicht ist sie schwach.

Vielleicht braucht sie Ruhe.

Vielleicht ist sie krank.

Vielleicht ist die Reise zu viel für sie.

Vielleicht die Hitze …

Vielleicht die Sonne …

Einig ist man sich nur darin, dass sie den Männern nicht gefällt. Sie behandeln sie wie ein Ärgernis, ein Päckchen, das vom Pferd eines anderen Pilgers gefallen ist.

»Was für eine Frau reist denn ohne Begleitung?«, nörgeln sie.

»Was für eine Frau bleibt allein zurück?«

Die Antwort lautet natürlich: eine Witwe.

Aber danach folgt noch ein anderes Wort, leise geflüstert.

(Hexe.)

Eine Hexe würde jedoch niemals auf Pilgerschaft gehen.

Was immer der Grund ist, die Männer scheuen vor ihr zurück, die Frauen dagegen – die haben immer schon Gefallen an Gerüchten gefunden. Im Laufe des Tages statten viele der Witwe einen Besuch ab, verbringen eine Stunde mit ihr, vielleicht um ihr Gesellschaft zu leisten oder sich um sie zu kümmern oder einfach, um mit ihr zu reden und zu erfahren, wo sie herkommt und wohin sie unterwegs ist.

María denkt an die Holzkiste und fragt sich, ob die Witwe womöglich etwas verkauft. Das passiert nicht selten – Ameisen gleich schleppen Pilger Dinge den Weg entlang und tragen andere Orte wie Schlamm an ihren Fußsohlen herein.

Ihre Mutter schnalzt mit der Zunge und reicht ihr einen Korb mit frisch ausgebesserter Kleidung.

Die Witwe gefällt ihr nicht, und seit ihrer Ankunft ist sie verdrießlich. Aber als María sie danach fragt, antwortet sie nicht, sondern bekreuzigt sich nur – eine Geste, die Marías Interesse weckt, während sie den Korb nimmt und sich auf den Weg macht zu den Familien Baltierra und Muñoz und Cordona.

Am Hofrand stützt Rafa den Zaun ab, der stets so aussieht, als könnte er beim nächsten kräftigen Windstoß umfallen. Ihr Bruder schaut sie wütend an, und sie weiß, dass er nach etwas sucht, das er bemängeln kann. Steh gerade, María. Halte Ordnung, María. Sei anständig, María. Sie lächelt und macht im Vorbeigehen einen Knicks – eine Geste, die sich wie ein Fluch ausnimmt.

Der Tag hat heiß begonnen, aber bald schon ziehen Wolken auf, und als sie die Arbeit ihrer Mutter abgeliefert hat, braut sich ein Gewitter zusammen.

Sie läuft schneller, lässt den inzwischen leeren Korb von den Fingern baumeln, Regengeschmack auf der Zunge. Sie nimmt den Weg durch den Hain, der sich wie eine Straße am Stadtrand hinzieht, und fährt überrascht zusammen, als einer der Bäume vor ihr einen Schritt zur Seite macht und sie begreift, dass es gar kein Baum ist, sondern die Witwe.

Mit stockendem Atem bleibt María stehen.

Das Gesicht der Witwe ist unverhüllt, der Schleier über den Hut geschlagen. María starrt die blonden Locken an, die ihr bis auf die Schultern fallen. Die glatten Wangen, das spitze Kinn, die geschwungenen rosigen Lippen. Sie sieht weder krank noch alt noch schwach aus. Wenn überhaupt, ist sie jünger, als María gedacht hätte. Und doppelt so hübsch.

Die Holzkiste steht mit aufgeklapptem Deckel neben ihr im Gras, der Inhalt funkelt im Licht. Zu ihrer Enttäuschung sieht María nur kleine verkorkte Fläschchen, in denen anscheinend weder Blut noch Federn oder Knochen sind.

Die Witwe lässt sich am Fuß eines Baums auf die Knie sinken. Ihre behandschuhten Finger verschwinden zwischen den Wurzeln und …

»Was macht Ihr da?«, fragt María.

Die Witwe schreckt nicht zusammen, schaut nicht mal hoch.

Als sie spricht, klingt ihre Stimme weich und überraschend tief, und sie beherrscht das Kastilische so gut, dass sie wohl keine Französin ist.

»Ich sammle Kräuter.«

»Für einen Zauber?«, fragt María, ehe sie sich beherrschen kann.

Da schaut die Witwe doch hoch. Ihre Augen sind überraschend blau und von Lachfältchen umgeben. »Für ein Tonikum.«

María runzelt die Stirn. »Ist das dasselbe wie ein Zauber?«

»Nur für Narren«, sagt die Witwe. »Bist du eine Närrin, Kleine?«

María schüttelt den Kopf, kann jedoch nicht an sich halten. »Ihr seid also keine Hexe?«

Die Witwe richtet sich auf, und erneut fällt ihr Blick, hart wie Stein, auf María, dann gleitet er in Richtung Stadt. »So viel Aberglaube. Und das an einem Ort, an dem man der Überzeugung ist, eine gebratene Henne sei einst beim Abendessen von einem Teller gesprungen und hätte zu gackern begonnen.«

Sie spricht von der Legende, die Santo Domingo berühmt gemacht hat.

»Das«, erklärt María, »war ein Wunder.«

Die Witwe scheint darüber nachzudenken. »Und wie unterscheidet sich ein Wunder von Zauberei? Wer sagt, dass die Heilige keine Hexe war?« Sie sagt es unbekümmert, als hätten die Worte kein Gewicht. Und das schiere Ausmaß ihrer Blasphemie bringt María zum Grinsen. Rafa würde finster dreinschauen und ihre Mutter sich bekreuzigen.

»Ihr seid also doch eine Hexe?«, fragt sie aufgeräumt.

Die Witwe lacht. Es ist nicht das Lachen einer Hexe, das in Marías Vorstellung wie das Splittern von Holz oder das Krächzen von Krähen klingt. Dagegen ist das Lachen der Witwe weich und berauschend, so tief wie traumloser Schlaf.

»Nein«, sagt sie belustigt. »Und das hier ist keine Magie. Sondern Medizin.« Zwischen ihren behandschuhten Fingerspitzen hält sie ein kleines rotes Kraut hoch, als sei es eine Rose. »Die Natur gibt uns, was wir brauchen«, sagt sie, und zum ersten Mal glaubt María, in ihren Worten etwas Fremdartiges zu erkennen, einen leichten Akzent, den sie nicht einordnen kann. »Tees und Tonika lassen sich für vieles einsetzen«, fährt die Witwe fort. »Um Fieber oder Husten zu bekämpfen. Um einer Frau zu helfen, ein Kind zu bekommen oder eines loszuwerden. Um jemanden in Schlaf zu versetzen …«

Marías Blick fällt auf den Boden zwischen ihnen. Sie entdeckt einen weiteren blutroten Stängel und will ihn gerade herauszupfen, als die Witwe ihre Hand festhält.

Obwohl sie grade noch mehrere Schritte entfernt war.

Obwohl sie nicht gesehen hat, dass sich die Witwe bewegt hätte.

Jetzt ist sie hier, einen Kopf größer als María, und ihre verhüllte Hand umfasst ihr Handgelenk.

»Vorsicht. In der Natur dient Schönheit als Warnung. Was hübsch ist, ist nicht selten giftig.«

Aber María hat die Pflanze bereits vergessen. Sie sieht nur noch die Witwe.

Die Sonne ist jetzt hinter tiefhängenden Wolken verschwunden, und aus der Nähe duftet die Witwe nach kandierten Feigen und Wintergewürzen. Aus der Nähe sieht ihr graues Gewand gar nicht mehr langweilig aus, sondern erweist sich als fein geschneidert und mit glitzerndem Silberfaden umsäumt. Aus der Nähe leuchten ihre blauen Augen fiebrig, und unter ihren Wangenknochen sammeln sich Schatten, und María fragt sich, ob sie sich geirrt hat und die Witwe doch krank ist.

Der Mund der Frau zuckt, ein Winkel hebt sich zu einem reumütigen Lächeln. Ihre rosigen Lippen öffnen sich, und die Welt wird klein und eng wie ein angehaltener Atem. María hat das Gefühl, nach vorn zu fallen, obwohl sie sich keinen Fingerbreit bewegt hat.

Dann kracht Donner über ihren Köpfen wie ein zerbrechender Ast, und die Witwe zieht die Hand zurück.

»Lauf nach Hause«, sagt sie, als die ersten Regentropfen durch das Blätterdach fallen. Und zum ersten Mal in ihrem kurzen, sturen Dasein gehorcht María. Sie macht kehrt, rennt aus dem Hain und die Straße entlang, als könnte sie vor dem Regen davonlaufen. Doch das klappt nicht, und als sie den leeren Korb im Haus hinter der Tür abstellt, ist sie völlig durchnässt.

Ihre Mutter murmelt etwas über nasse Kleider und Erkältungen, während sie ihr das Kleid auszieht und sie vors Feuer setzt, damit sie nicht krank wird.

Das wird sie nicht, aber in dieser Nacht stirbt Señor Baltierra im Schlaf.

Am nächsten Morgen ist die Witwe verschwunden.

Zehn Jahre wird es dauern, bis María sie wiedersieht.

II

1529

Es ist Ende Oktober, und María sitzt auf dem Stalldach, ihre nackten Füße baumeln in der Luft. Sie weiß, dass Rafa nach ihr sucht – schon seit gut einer Stunde. Sein Fehler, denkt sie, dass er nie nach oben schaut.

Summend wickelt sie sich eine feuerrote Haarsträhne um den Finger.

Jetzt ist sie schon fast achtzehn.

María weiß, dass es nicht über Nacht passiert ist. Sie ist nicht abends als Mädchen ins Bett gegangen und morgens als Frau wieder aufgewacht, auch wenn es ihr manchmal so vorkommt. Die Veränderungen haben sich Schritt für Schritt über die Jahre vollzogen. Haben sie langsam zu einer Fremden aufschießen lassen, ihr Körper zu dünn, ohne nennenswerte Hüften oder Brüste, und ihre Züge zu scharf geschnitten – ein langes Kinn, ein schmales Gesicht, eine hohe Stirn, von hellen Brauen durchbrochen. Felipe sagt immer, sie sehe aus wie langgezogener Brotteig, der nicht richtig aufgegangen ist.

Aber erst ihre Haare.

Am Ende sind all die Bemühungen ihrer Mutter umsonst gewesen. Es hat sich nicht einschüchtern lassen und durch Lehm oder Zeit einen gewöhnlicheren Farbton angenommen. Stattdessen ist es sogar wie aus Trotz Jahr für Jahr noch heller geworden, so dass es jetzt von geschmolzenem Licht durchtränkt scheint und wie flüssiges Kupfer in lockeren Wellen auf ihren Rücken fällt. Bei Sonnenschein glänzt es. Bei Nacht brennt es wie eine Laterne in der Dunkelheit.

Und wenn sie auch zu groß und dünn und zu wild ist, um hübsch zu sein, ist sie durch ihr seltsames Haar doch noch etwas Besseres. Markant. Kastilische Schönheit ist an María nicht verlorengegangen, aber ihr Aussehen ist unbestreitbar besonders. Eine urtümliche Anmut, zu der Männer ihre Köpfe und Pferde hinwenden, um die Jagd aufzunehmen.

Diese neue Kraft bemerkte sie, als die Männer in ihrer Stadt – manche noch Jungen, andere alt genug, um ihr Vater zu sein – sie anzustarren begannen.

Sie bemerkte es und wusste, dass etwas unternommen werden musste.

Jetzt stößt jemand einen kurzen, schrillen Pfiff aus, und sie schaut über den Rand und sieht Felipe mit gerecktem Hals unten stehen. Seine Wangen sind noch staubig von seiner Arbeit im Schatten des Schmieds.

»Rafa sucht nach dir«, ruft er und beschirmt mit einer Hand die Augen.

María lässt sich auf die sonnenwarmen Schindeln zurücksinken und betrachtet eine vorbeiziehende Wolke. »Ich weiß.«

Unten macht Felipe ein verärgertes Geräusch.

»María, bitte«, fleht er, und sie richtet sich seufzend wieder auf.

»Na gut.« Sie schwingt sich über die Kante. Das Dach ist hoch genug, dass ihr Bruder nervös die Luft einsaugt, aber sie landet geschmeidig wie eine Katze und versinkt mit den nackten Füßen im Heu.

Felipe führt sie nach Hause, eine Hand wie ein Gefängniswärter in ihren Rücken gelegt. Drinnen sitzt ihre Mutter mit einer Näharbeit im Schoß am Feuer. Rafa läuft nervös auf und ab.

Aber Marías Blick fällt auf den Fremden, der am Tisch sitzt.

Er ist gutaussehend, breitschultrig und dunkelhaarig. Sein Bart ist kurzgeschnitten, und seine hellbraunen Augen bilden einen Kontrast zu seiner Haut. Und obwohl er von durchschnittlicher Größe ist, wirkt er zu groß für das enge Haus, zu hochgeschossen für die niedrigen Deckenbalken, zu vornehm für den fadenscheinigen Läufer unter seinen Stiefeln.

»María«, sagt Rafa vorwurfsvoll wie immer. »Das ist Andrés de Guzmán, Vizconde von Olivares und dekorierter Ritter des Orden de Santiago.«

Sie fragt sich beiläufig, wie lange Rafa wohl gebraucht hat, um sich diese Kette von Wörtern zu merken. Aber ihr Blick bleibt auf den Vizconde gerichtet. Der Umhang über seinen Schultern ist mit schwarzem Pelz gefüttert. Sein Wams besteht aus feinem Brokat und wird mit juwelenbesetzten Schnallen geschlossen. Das Ordensmedaillon trägt er an einer Goldkette um den Hals. Alles an ihm funkelt, als wäre er ein Juwel inmitten von Flusssteinen.

»Verzeihung, dass Ihr warten musstet«, sagt sie und bemüht sich, atemlos zu klingen, als wäre sie durch die ganze Stadt gerannt, statt nur eine Gasse entlangzuschlendern.

Andrés de Guzmán steht auf und verneigt sich elegant. »Encantado, mi señora.«

»Sehr erfreut, Euch kennenzulernen, mi vizconde«, sagt sie und sinkt in einen tiefen Knicks. Gleich darauf spürt sie den Griff seiner behandschuhten Hand an ihrem Ellbogen, und der Vizconde zieht sie wieder hoch.

»Na, na«, sagt er. »Eine Frau muss nicht so tief knicksen, wenn sie ihren Verlobten trifft.«

Die Luft im Raum scheint um das Wort herum zu erstarren.

Nicht aber María.

Sie ist vieles – sturköpfig, gerissen, selbstsüchtig –, aber dumm war sie nie. Sie weiß, dass sie in diesen Körper hineingeboren wurde. Sie weiß, dass damit bestimmte Regeln verbunden sind. Die Frage war nie, ob sie heiraten würde, sondern nur wen.

Als sich also im letzten Jahr die ersten Köpfe in ihre Richtung drehten und Rafa an dem Thema Heirat zu kratzen begann wie an einer verschorften Wunde, schaute sie sich in Santo Domingo um und befand die Auswahl für mangelhaft. Sie schaute ihr Leben an und befand es für klein. Sah die Straße, die vor ihr lag, und es gab keine Kurven oder Biegungen; gerade und schmal verlief sie bis an ihr Ende. Sie sah es an den Händen ihrer Mutter, die vom Alter steif waren und mittlerweile ihre Mühe mit feinen Stickereien hatten, die ihnen früher leichtgefallen waren. Nur eine Frage der Zeit, bis María diese stumpfsinnige Arbeit übernehmen musste. Sie sah es an Rafas Frau Elana, der das Kind in ihrem runden Leib jetzt schon Schönheit und Jugend raubte. Und an Felipes Braut Lessandra, die ihm vor so langer Zeit versprochen wurde, dass sie nie auf den Gedanken kam, sich einen anderen zu suchen. Beide sind in ihr Hochzeitsbett gestiegen, ohne sich auch nur einmal umzuschauen, ob es noch andere Wege gibt.

Aber María weiß schon ihr Leben lang, dass sie für gewöhnliche Wege, für ärmliche Häuser und bescheidene Männer nicht bestimmt ist. Wenn sie den Pfad einer Frau gehen muss, dann soll er sie an einen neuen Ort führen.

Jetzt schaut sie den Vizconde an, der an ihrem Tisch sitzt, als wäre sie ihm noch nie begegnet.

Als hätte sie ihn nicht vor einem Monat an der Spitze der Karawane gesehen.

Als hätte er sie nicht am Rand der Menge erspäht und wäre ihr nicht über den Marktplatz in den Schatten der Kirche gefolgt.

Als hätte sie ihn nicht dorthin gelockt und Unschuld vorgetäuscht, als er sie abfing, sie mit Komplimenten überhäufte und sie bestürmte, um zu erfahren, was sie ihm geben wollte. Was er sich nehmen könnte.

Als hätte er nicht die Hand ausgestreckt und eine kupferfarbene Haarlocke um seinen Finger gewickelt.

Als hätte sie nicht den Hunger in seinen Augen gesehen und gewusst, dass sie ihn ausnutzen konnte.

Damals hatte sie schon fast ein Jahr lang ihren Blick auf die durchziehenden Pilger gerichtet, stets auf Messers Schneide zwischen zu dreist und zu scheu. Sie hatte gelernt, wann sie einen Blick erwidern und wann die Augen abwenden musste. Wann die Lippen zu einem leichten Lächeln verziehen und wann den Kopf neigen.

Wann sie ein Raubtier sein und wann die Rolle der Beute spielen musste.

Und an jenem Tag, im Schatten der Kirche, hat sie sie perfekt gespielt, dreist genug, um ihm ins Auge zu fallen, keusch genug, um ihn innehalten zu lassen. Andrés de Guzmán hatte sich zurückgezogen. Er hatte verstanden. Wenn er je mehr als Marías Haar berühren wollte, dann nur als ihr Ehemann.

Und so ging er.

Und nun ist er wieder da. Die Stille muss sich schon zu sehr in die Länge ziehen, denn Rafa räuspert sich.

»Der Vizconde ist hier, weil er um deine Hand anhalten will«, erklärt er, als sei sie zu beschränkt, um zu wissen, was ein Verlobter ist.

Sie erwarten ein Schauspiel, also gibt sie ihnen eines.

»Um zu heiraten?«, fragt sie und täuscht Überraschung vor, zieht die Brauen hoch, als sei das Ganze ein völlig unerwarteter Überfall. Sie wirft sogar einen hilfesuchenden Blick zu ihrer Mutter hin, deren Miene nur Erleichterung und Schicksalsergebenheit zeigt. Als würde ihr eine Last von den Schultern genommen, dabei war es in Wahrheit gar nicht ihre. Seit dem Tod ihres Vaters ist Rafa der Herr im Haus. María unter die Haube zu bringen, fällt demnach ihm zu. Und er erinnert sie daran. Häufig.

»Es ist ein Tag der Freude«, sagt ihre Mutter.

»Allerdings«, sagt Rafa und wirkt genauso selbstgefällig wie Andrés. Beide sind offenbar überzeugt, sie hätten dieses Treffen eingefädelt. Als hätte nicht María die Spielfiguren aufs Brett gestellt, so dass sie sie nur noch benutzen mussten.

»Und wenn ich ablehne?«, fragt sie, bloß um die Überraschung auf Andrés’ Gesicht auszukosten, das Erschrecken auf Felipes, das Entsetzen auf Rafas. Sie lässt die Frage für einen Moment im Raum hängen, dann lacht sie. Ihr Bruder sackt erleichtert zusammen, und seine Wangen färben sich vor Verlegenheit rot.

»Verzeihung, mi señor«, sagt er zum Vizconde und räuspert sich. »María hat einen seltsamen Sinn für Humor.«

Der Vizconde lacht nicht, aber er wirkt auch nicht gekränkt. Er antwortet Rafa, doch sein Blick bleibt auf sie gerichtet. »María ist bislang nur Schwester und Tochter gewesen. Sie wird bald lernen, eine Ehefrau zu sein.«

Das Wort lernen leicht betont, wie eine Gerte, die die Flanke eines Pferdes berührt.

Doch es braucht mehr als das, um sie zu erschrecken.

»Nun, María?«, fragt Rafa und drängt sie mit den Augen, das Angebot anzunehmen.

Und ausnahmsweise einmal fügt sie sich.

Sie nickt, streckt die Hand aus, und Andrés de Guzmáns Mund verzieht sich zu einem hochmütigen Lächeln, als sei er derjenige, der gespielt und gewonnen hat. Und als er sich vorneigt und die nackte Haut ihrer Fingerknöchel küsst, wo der Hochzeitsring sitzen wird, stellt María sich vor, wie die Straße vor ihr Kurven gewinnt, und lächelt ebenfalls.

***

Zwei Wochen später kehrt der Vizconde zurück, mit einer anderen Karawane im Schlepptau.

Karren um Karren drängt sich auf der Straße hinter seinem Pferd, von vornehm gekleideten Dienern gelenkt und randvoll mit Geschenken – herrliche Wandteppiche und Fässer mit Wein, kandierten Früchten und Räucherschinken. Auf einem Karren klappern Teller und Tassen – genug, um alle Münder der Stadt zu füttern. Ein anderer ist mit so vielen Hennen beladen, dass ihre Federn zwischen den Latten hervorschauen und wie Pusteblumensamen davonfliegen. Eine Hommage an das Wunder, das Santo Domingo berühmt gemacht hat, auch wenn hoffentlich keine von ihnen nach dem Braten wieder vom Teller aufstehen wird.

Binnen weniger Stunden ist der Marktplatz verwandelt.

Tische werden aus den Häusern getragen und auf dem Platz aufgestellt, sämtliche Öfen der Stadt werden angefeuert, um das Hochzeitsmahl vorzubereiten.

In der Nacht zuvor hat Marías Mutter ihr Haar hundertmal gebürstet, bis es so hell leuchtete wie das Feuer im Herd. Und währenddessen hat sie ihrer Tochter erzählt, was es heißt, eine Ehefrau zu sein.

Sanft. Liebevoll. Gehorsam.

Worte, die María erstarren ließen. Und als hätte ihre Mutter es gespürt, beugte sie sich vor und sagte: »Du wirst lernen, dass es besser ist, sich zu verbiegen, als zu brechen.«

María starrte ins Herdfeuer. »Warum soll ich diejenige sein, die sich verbiegen muss?«

Zischend stieß ihre Mutter die Luft aus. »Ich kenne dich, Tochter. Ich weiß, dass du immer mehr wolltest. Und du hast ein großartiges Leben gewählt. Aber es wird kein leichtes sein. Männer wie der Vizconde, die nehmen sich, was sie wollen.«

Genau wie ich, dachte María, während die Bürste durch ihre Haare fuhr, zischend wie Wasser auf heißen Kohlen.

Sie heiraten auf den Stufen der Kathedrale, Andrés in seinen prachtvollen Gewändern und María in einem brandneuen, mit Gold umsäumten Kleid. Es ist das schönste, was sie je getragen hat, und während der folgenden Messe und der endlosen Rede des Priesters fährt sie mit den Fingerspitzen über die Stickereien, zählt die Muster, als wären es Münzen, und sagt sich, dass sie das verdient hat.

Dass sie das wert ist.

Am Ende ergießt sich die Gemeinde hinaus auf den Platz, und der Wein fließt in Strömen, und Musik vermischt sich mit dem Gelächter und den Trinksprüchen. Auf die Gesundheit des Vizconde und auf ihre und auf ihr Glück.

Ihr frischgebackener Ehemann legt seine Hand auf ihre, und wenn er sie anspricht oder über sie redet, benutzt er nicht ihren Namen. Stattdessen nennt er sie esposa mía – meine Gattin –, die Worte kratzig wie grobe Wolle. Aber María lächelt nur und erinnert sich daran, dass sie ein Schlüssel sind, der die Türen zu einem besseren Leben öffnet.

Seine Eltern sind nicht anwesend, auch wenn er ihr versichert, dass sie Glückwünsche schicken und sie sie schon bald kennenlernen wird. Unterdessen ist Rafa selbstgefällig und Felipe betrunken und ihre Mutter wehmütig, und María fragt sich, ob sie sie wohl vermissen wird, wenn sie fort ist. Sie versucht es sich auszumalen, in der Erwartung, etwas zu fühlen, eine glückliche Trauer, Trennungsschmerz, aber da ist nichts.

Und dann ist es so weit.

Sie bleiben nicht auf dem Festmahl. Andrés hat es eilig, zu seinem Anwesen zurückzukehren. Marías Mutter weint, die steifen Hände verschränkt, Tränen rinnen ihr lautlos übers Gesicht. Und Marías Brüder umarmen sie, zuerst Felipe, der nach Holzspänen und Ruß riecht, und danach Rafa, der sie auf beide Wangen küsst und ihr einschärft: Sei eine gute Ehefrau.

Sanft. Liebevoll. Gehorsam.

Felipes Frau Lessandra lächelt und tupft ihre Wangen ab, aber Elana greift nach Marías Hand, in ihren Augen funkelt Hunger. »Vergiss uns nicht, Schwester.«

María spürt, wie Elanas gierige Finger nach dem Goldsaum ihres Ärmels tasten. Weiß, dass sie ihr ein Versprechen abnehmen will.

»Natürlich, Schwester«, sagt sie lächelnd. »Ich werde euch in meinem Herzen tragen.«

Und dann reißt sie sich los, ergreift den ausgestreckten Arm ihres Mannes und lässt sich von ihm wegführen, natürlich ohne zu wissen …

Sie wird ihre Familie niemals wiedersehen.

Alice

(gest. 2019)

I

Boston, Massachusetts2019

Das Haus hat ein Herz, und es pocht.

Der Bass lässt die Wand erzittern, und Alice lehnt sich dagegen – diese Wand, genauso unpassend wie sie, frisch hellgrün gestrichen und mit kleinen Neonblumenlichtern übersät –, so dass der Beat gegen ihre Rippen schlägt, und stellt sich vor, sie würde sich im Bauch eines großen Ungetüms befinden statt in dem überfüllten Co-op, wo sie mit einer Hand ihr Handy umklammert und in der anderen einen Becher mit etwas hält, das wie Terpentin riecht.

Alle anderen sehen aus, als hätten sie Spaß, also gibt Alice sich Mühe, sie zu spiegeln, und fragt sich zum dritten oder vierten Mal, was sie eigentlich hier macht. Sie erinnert sich vage, dass am frühen Abend jemand an die Tür ihrer Suite geklopft und »Party im Co-op« gesagt hat und sie eine Stunde später von ihren Mitbewohnerinnen Jana, Rachel und Lizbeth mitgeschleift wurde, die noch nicht ganz Freundinnen, aber auch keine Fremden mehr sind, zusammengeklebt durch ihre Neuheit und die ersten paar Wochen an der Uni.

Lizbeth, die aus Kent ist (die Universität hat ihnen ein gemeinsames Zimmer gegeben, vermutlich in dem Glauben, ihnen einen Gefallen zu tun, nicht wissend, wie unterschiedlich Engländer und Schotten sind) und einen Akzent hat, der als glatt und sauber bezeichnet werden kann (und den Alice hasst, weil er ihren im Vergleich knittrig und schmutzig klingen lässt), und die ihr Aussehen bei ihrer ersten Begegnung idyllisch genannt hat, als wäre Alice ein Gemälde und nicht ein Mädchen von der anderen Seite derselben Insel.

Rachel und Jana sind aus New Jersey und New York. Am ersten Tag hat es ein halbes Gespräch gedauert, bis Alice klar wurde, dass sie auch Englisch sprechen, weil sie beide so schnell reden, dass es den Anschein hat, als gingen alle Wörter ineinander über. Und als Alice endlich etwas einwerfen konnte, stieß Rachel ein freudiges Quietschen aus und sagte: »O mein Gott, du klingst wie aus Outlander!«, obwohl ihr Akzent nie so stark war. Über Lizbeths abgehackte Konsonanten haben sie sich aber genauso amüsiert und behauptet, sie klänge wie die Queen. Immerhin durfte Alice ihren Namen behalten, während sie Lizbeth jetzt nur noch Queenie nennen.

(Und Ihre Majestät, aber das bloß, wenn Lizbeth nicht dabei ist.)

Sie waren es, die Alice hierhergeschleppt haben. Eigentlich mag sie keine Partys, doch sie gibt sich Mühe, Neuanfang und so. Also hat sie sich von den anderen auftakeln lassen und ist mit ihnen im Rudel zum Co-op gegangen, und gerade als sie dachte, dass es vielleicht gar nicht so schlimm wird, hat sie die anderen irgendwie aus den Augen verloren. Und jetzt ist Alice allein und hält sich an der grünen Wand fest, als wäre sie ein Anker – eine Ziel- und keine Startlinie. Wäre ihre Schwester Catty hier, würde sie ihr vorwerfen, an der Wand festzukleben. Sie würde sie losreißen und wieder in die Wogen der Menge werfen. Aber Catty ist einen Ozean entfernt, also flüchtet sich Alice in ihr Handy und öffnet die Foto-App.

Manchmal knipst sie ein paar Fotos, aber meistens beobachtet sie nur. Es ist leichter, die Welt so zu betrachten. (Die zehn Zentimeter Metall und Glas sind wie ein Schild. Ein Handy fällt niemandem auf, und wenn doch, dann denken die Leute, dass man sich selbst anschaut.)

Auf ihrem Display ist die Party ein Bild in einem Rahmen. Jemand hat die Lampen mit farbigen Tüchern verhängt, so dass sie wie bunte Farbtupfer aussehen. Die Musik ist in Bewegung verwandelt, die Körper verschwimmen.

Alice schaut auf das Display und sucht das Meer der halb bekannten Gesichter nach ihren Mitbewohnerinnen ab. Sie findet sie nicht, entdeckt aber in der offenen Küche drei vertraute Köpfe, die sich vorbeugen, um ihre Drinks nachzufüllen. Andere Mädchen aus dem dritten Stock: Sam, Hannah und Elle.

(In Wahrheit ist sich Alice nicht sicher, wer Sam und wer Elle ist – nicht weil die beiden sich so ähnlich sehen, sondern weil sie immer im Doppelpack auftreten, und als Hannah sie als »Sam und Elle« vorgestellt hat, hat sie nicht gesagt, wer wer ist, und jetzt hat Alice das Gefühl, dass es zu spät ist, um zu fragen.)

Alice bewegt sich gegen den Strom. Ellbogen, Schultern und Hüften stoßen gegen sie, aber sie sagt: »Sorry«, »Sorry«, »Sorry«, und Hannah sieht sie herankommen, wirkt aber nicht erfreut und winkt auch nicht. Und Alice hat den Verdacht, es liegt daran, dass Hannah sich in der ersten Woche mit ihr über die geilsten Jungs ihrer Etage unterhalten wollte (und Alice hätte ihr gleich sagen sollen, dass sie lesbisch ist, aber im dritten wohnen nur Mädchen, und das Letzte, was sie gebrauchen kann, sind Drama oder vielsagende Blicke, als würde sie die anderen anbaggern wollen, nur weil sie die passenden Körperteile besaßen), also hat sie bloß die Achseln gezuckt und gesagt, dass sie alle ganz nett aussähen, und Hannah hat geschnaubt und erwidert, dass sie wohl so unkritisch sei, weil in Schottland die Auswahl so klein ist.

Und als sich Alice jetzt an das Gespräch erinnert, wollen ihre Beine sich nicht mehr bewegen, die Strömung ist zu stark, und die anderen Mädchen wirken plötzlich weit weg. Gerade will sie zu ihrem Platz an der grünen Wand zurückkehren, als jemand ihren Ellbogen anstößt und das Terpentin in ihrem Becher überschwappt. Eigentlich verschüttet sie das Getränk nicht mal, nur ein paar Tropfen auf ihrer schwarzen Jeans, aber die bieten ihr eine Ausrede, um zu fliehen.

Sie schlüpft in den Flur hinaus, und da ist der Ausgang und dahinter der anderthalb Kilometer lange Weg zum Yard, und es wäre so einfach zu gehen, zurück zur Matthews Hall, wo am Samstagabend wahrscheinlich die Zimmer leerstehen, weil alle Leute hier sind, und Alice weiß, sie sollte es nicht tun, weil sie an dem Tag, als sie von zu Hause abgereist ist, beschlossen hat, dass alles in Schottland damals und das hier jetzt ist.

Der Moment, in dem ihr Leben beginnt.

Aber sie ist nun schon drei Wochen hier, und die Jetzt beginnen sich anzuhäufen und an ihr vorbeizuziehen. Da war das Jetzt, als sie am Flughafen zum Abschied gewinkt hat, und das, nachdem das Flugzeug abgehoben war. Das Jetzt nach der Landung in Boston und nachdem das Taxi sie am Tor zur Uni ausgespuckt hat und nachdem sie ihre Taschen in ihr neues Zimmer geschleppt hat und nachdem der Unterricht anfing und nachdem sie dieses Haus betreten hat. Und es scheint keine magische Schwelle zu geben, keinen Neuanfang. Alice ist immer noch Alice. Vielleicht liegt es daran, dass die zu laute Musik ihre Zähne vibrieren lässt oder dass schon den ganzen Tag Gewitterstimmung herrschte und die Luft draußen vor dem Co-op genauso schwer ist wie drinnen, aber sie fühlt sich ein wenig benommen, ein wenig krank, ein wenig betrunken.

In der Suite hat sie nur zwei Schnäpse getrunken, die Rachel spendiert hat, gerade genug, um die scharfen Kanten ihrer Gedanken abzuschleifen, und es war eindeutig nicht genug, denn sie spürt die Panik wie eine Bombe hinter ihren Rippen ticken und …

(Manchmal, wenn ihr Kopf mal wieder ihren Körper als Geisel genommen hatte, ergriff Catty ihr Gesicht mit den Händen und sagte: »Hee, alles ist gut, du bist bloß verwirrt. Du hältst das für Panik, aber du irrst dich. Es ist Aufregung. Du hast Spaß! So fühlt sich Spaß an!«)

So fühlt sich Spaß an, sagt sie sich jetzt, wendet sich vom Ausgang ab und sucht stattdessen das Klo.

Ein Moment – das ist alles, was sie braucht. Ein Moment allein, eine Gelegenheit, sich zu sammeln. Ein Stück den Gang hinunter gibt es eine Toilette, aber davor stehen vier Leute Schlange, deshalb geht sie weiter, bis sie am Ende des Flurs ein Zimmer mit eigenem Bad entdeckt. Das Licht der Nachttischlampe wird von einem violetten Tuch gedämpft, und Alice verschwindet im Bad und schließt die Tür – ein Holzschild, der sie vor der Welt abschirmt. Einen Moment lang ist sie von Dunkelheit eingehüllt, ein massives, allumfassendes Schwarz, aber dann drückt sie auf den Schalter und zuckt in dem plötzlichen, viel zu weißen Licht zusammen.

Und da ist sie, im trüben Spiegel über dem Waschbecken.

Alice Moore, achtzehn und zwischen allen Stühlen.

Weder klein noch groß, das Haar eher aschfarben als blond, der Pony rausgewachsen, nachdem sie ihn sich über den Sommer kurz geschnitten hatte, so dass er ihr jetzt in die Augen fällt, die weder blau noch grün noch grau sind, sondern eine ungewisse Mischung, so wie alles an ihr unentschlossen und in der Schwebe ist.

Ein Aussehen, von dem ihre Oma immer sagte, dass sie noch hineinwachsen würde, als wäre ihre Haut ein Outfit, das maßgeschneidert, gestylt und richtig getragen werden muss – sie wünscht sich, es gäbe eine Anleitung dafür. Schließlich kennt sie diese Mädchen, die alles tragen können und an denen es trotzdem natürlich und schick aussieht – sie dagegen kommt sich immer so vor, als verkleidete sie sich mit den Sachen einer anderen, und sie sieht auch genauso aus. Nichts passt, selbst wenn es maßgeschneidert ist, weil es nicht um die Maße des Körpers geht oder wie er die Sachen ausfüllt, sondern darum, wie viel Raum er in der Welt einnimmt.

Alice schrumpft, wird verschluckt, verschwindet. Nein, verschwinden wäre sogar besser, weil sie dann in der Abwesenheit von Alice vielleicht jemand anderes werden könnte. Eines der wilden Mädchen, die in ihre Körper hineingepflanzt wurden, die ihr Aussehen sorgsam zurechtstutzen oder es frei wuchern lassen, die aus ihren vollen Brauen eine wölfische Kraft ziehen und ihre geschminkten Lippen wie Waffen gebrauchen.

Jetzt beugt Alice sich vor, bis ihre Hüfte gegen das Waschbecken stößt und ihr Atem das Glas beschlägt. Das Bild des Mädchens auf der anderen Seite verschwimmt.

Du hast Spaß, sagt sie ihrem Herzen, und ihr Herz hämmert dumm und ängstlich nein, nein, nein. Am liebsten würde sie es sich herausschneiden, eine andere Version ihrer selbst sein, eine, die nicht so verflucht unsicher ist.

Der Dunst auf dem Spiegel schmilzt und enthüllt ihr Gesicht.

Das Make-up hat sie noch in der Suite aufgelegt – Mascara, einen hochgezogenen Lidstrich und Smokey Eyes –, und sie erinnert sich nicht, sich übers Gesicht gewischt zu haben, aber das muss sie wohl, weil ein Auge völlig verschmiert ist und sich über einen Wangenknochen Schatten ziehen wie ein Bluterguss. Doch statt zu versuchen, das Ganze wieder zu richten – sie hat kein Make-up dabei, nicht mal eine Handtasche –, verschmiert sie auch noch das andere Auge, damit beide gleichermaßen misslungen sind. Sie bekommt Eyeliner in die Augen, die tränen und brennen, aber nun trägt sie einen dunklen Streifen wie eine Maske im Gesicht. Eine Verkleidung, und ganz kurz hat sie den Eindruck, als würde ihr jemand anderes aus dem Spiegel entgegenschauen. Eine andere Version ihrer selbst. Würde man jetzt ein Foto schießen, wäre von ihren Grübeleien und dem ängstlichen Herzen nichts mehr zu erkennen, man würde nur blaugrüne Augen sehen, die durch das Schwarz heller leuchten, und blassblondes Haar, das wegen der feuchten Luft wild vom Kopf absteht.

Wenn sie doch nur mit dem Mädchen im Spiegel tauschen könnte! Mit dieser anderen Alice, der alles egal ist, die Raum einnimmt, die nicht mehr in etwas hineinwachsen muss.

Wenn nicht für immer, dann zumindest für heute Abend.

Und vielleicht ist es der Bass, der durch die Wände hämmert, oder sie hat sich einfach nur selber satt, oder es ist all das Warten Warten Warten darauf, dass ihr Leben anfängt, aber sie beschließt, ein Risiko einzugehen. Wenn Catty hier wäre, würde sie ein Spiel daraus machen (nicht dass Catty eine Ausrede dafür bräuchte, waghalsig zu sein, aber Alice mag Spiele, weil sie Regeln haben und es leichter ist, mutig zu sein, wenn es Grenzen, Ränder und Enden gibt).

Das ist es also.

Das Spiel. Die Regeln.

Wenn Alice das Bad verlässt, wird sie nach rechts zur Party gehen, nicht nach links zum Ausgang, und sie wird das Mädchen im Spiegel sein, das genaue Gegenteil von ihr.

Nicht die Alte Alice, sondern die Neue.

Die Neue Alice, die sich vor- statt weglehnt.

Die Neue Alice, die sich nicht jedes Mal entschuldigt, wenn sie auch nur die Luft um jemanden streift, als dürfte sie keinen Raum einnehmen.

Die Neue Alice, die weiß, dass das Pochen ihres Herzens nur die Mitteilung ihres Körpers an ihr Gehirn ist, dass sie gerade Spaß hat …

(Außerdem ist es nicht für immer, Zeit, die sich wie eine Straße abspult, sondern nur für eine Nacht, verflucht, vielleicht sogar nur für eine Stunde, und danach kann sie sich wieder in einen Kürbis zurückverwandeln.)

Sie schaut auf ihr Handy und stellt fest, dass es Punkt elf ist.

Eine Stunde, denkt sie, dann beugt sie sich vor und küsst den Spiegel und hinterlässt einen geisterhaften rosa Abdruck auf dem Glas. Sie schaltet das Licht aus und reißt die Tür auf, plötzlich mutig, bereit, die tickende Uhr mit offenen Armen zu empfangen …

Und dann sieht sie das Mädchen auf dem Bett.

II

Mit einem Ruck kehrt Alice in ihren Körper zurück. Der Pep-Talk durch das Auftauchen eines anderen Menschen zunichtegemacht – die Intimität des Ganzen, nicht das Gedränge gesichtsloser Fremder auf der Party, sondern ein einzelnes Mädchen, das im Dunkeln sitzt.

In einem silbernen Babydoll-Kleid hat sie es sich auf der Tagesdecke gemütlich gemacht, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und versinkt in fremden Kissen. Die Beine übergeschlagen und der Kopf in den Nacken gelegt, so dass ihr schlanker Hals zu sehen ist. Ihre Lockenmähne ist vermutlich braun, aber wegen des Tuchs über der Nachttischlampe erscheint sie lila, und Alice’ erster Gedanke ist, dass sie gern ein Foto schießen würde. Vielleicht liegt es daran, wie das Licht alle Erhebungen und Vertiefungen am Körper des Mädchens umreißt und ihren Oberschenkel streift, genau an der Stelle, wo der silberne Saum ihres kurzen Kleides endet.

Und dann bemerkt Alice, dass die andere nicht länger zur Decke schaut, sondern zu ihr.

(»Du starrst mich an«, hat das erste Mädchen, in das Alice je verknallt war, zu ihr gesagt. Die Worte so scharf, dass sie ihr die Wangen versengten und sie den Kopf einzog, obwohl es gar nicht stimmte. Sie hat nur beim Tagträumen in die falsche Richtung geschaut.)

Jetzt starrt sie wirklich, kann den Blick nicht abwenden.

Wenn jemand sie so anschauen würde, liefe sie rot an, aber das Mädchen lächelt nur, und auf einer Wange erscheint ein Grübchen. Sie steht auf, und die Lichtstrahlen verbiegen sich wie Finger, die sie nicht loslassen wollen. Alice kann es ihnen nicht verübeln.

Das Mädchen kommt auf sie zu und bleibt erst stehen, als sie so nah ist, dass Alice erkennt, dass ihre Locken wirklich lila sind und es nicht bloß am Licht liegt, so nah, dass sie die Sommersprossen auf ihren gebräunten Wangen sehen und den Schwung ihrer granatapfelroten Lippen verfolgen kann, und Alice verspürt den plötzlichen Drang, sie zu küssen. Was wäre das für ein Einstand für ihr neues Ich! Aber dann gleitet der Blick des Mädchens zur Badtür, und Alice wird klar, dass sie im Weg steht.

»Sorry«, stammelt sie, entgegen ihren eigenen Regeln, doch das Mädchen legt nur amüsiert den Kopf schief, und ihre Augen wandern wie Finger an Alice hinab, ihre Stimme streift ihre Wange.

»Weshalb?«

Jetzt ist Alice noch verlegener, weiß nicht, was sie erwidern soll, befürchtet, dass sie alles noch zehnmal schlimmer macht, indem sie sich für ihren Blick entschuldigt, die Sehnsucht dahinter, den Beinahe-Kuss und dass sie den Weg versperrt, und dann kann sie das ganze alberne Spiel auch gleich aufgeben, zur Matthews Hall zurückkehren, sich unter der Bettdecke verkriechen und bis in alle Ewigkeit in Gedanken die Pleite dieses Abends Sekunde für Sekunde wieder durchleben.

Stattdessen tritt sie beiseite und sagt, »Gehört ganz dir«. Das Mädchen lächelt so, dass Alice sich fragt, ob das womöglich stimmt – vielleicht ist es ja wirklich ihr Haus, ihr Bett, ihr Zimmer, aber das Mädchen gleitet nur an ihr vorbei ins Bad und schließt die Tür, ohne das Licht einzuschalten.

Alice verlässt das Zimmer.

Das grade tut sie als kleines Stolpern ab, einen Fehlstart, und auf halbem Weg den Gang hinunter hat sich die Neue Alice wieder im Griff. Die Musik ist so laut, dass sie die meisten ihrer Zweifel übertönt, und ihre Haut summt von dem kurzen Treffen mit dem lila Mädchen, ihre Wangen sind warm von der Erinnerung an ihren abschätzenden Blick, und wahrscheinlich hat sie gar nicht geflirtet, aber dennoch war dieser freche Blick wie ein Glas Wodka, das in ihrer Brust brennt, und das ist das Problem, denkt sie – die Neue Alice ist zu nüchtern.

Sie sieht einen Typen aus ihrem Gebäude, der einen halb gerauchten Joint in der Hand hält. Den nimmt sie ihm ab, zieht daran und ist für einen Moment fünftausend Kilometer weit weg, sitzt auf einer niedrigen Steinmauer. Steinchen und loser Beton bröckeln herab, wenn sie mit den Hacken dagegen schlägt, und auf ihrem Handy spielt ein Song, und dann atmet sie aus, haucht den Rauch in den Raum zwischen ihnen, dazu ein Dankeschön.

Mit glasigen Augen beugt sich der Typ vor, scheint mit ihr flirten zu wollen, aber die Neue Alice hat kein Interesse, bleibt nicht stehen und gibt auch den Joint nicht zurück. Sie hat ihn für sich beansprucht, rosa Lippenstiftflecken auf dem Papier. Sie dreht sich um und nimmt einen weiteren Zug, zieht Rauch hinter sich her, während sie den überfüllten Gang entlanggeht. Die Leute machen ihr nicht direkt Platz, aber sie schlängelt sich zwischen ihnen hindurch, nicht länger gegen den Strom, sondern mit ihm. Sie kommt durch die Küche, wo die verschiedenfarbigen Flaschen das Licht reflektieren.

Sie greift sich die, die am hübschesten aussieht, und gießt sich einen Schluck bernsteinfarbenen Scotch ein, kippt ihn hinunter und füllt nach, und während die Alte Alice jammert, dass sie Schnaps noch nie gut vertragen hat, dass sie noch einen Aufsatz fertig schreiben muss, dass es nicht klug ist, aus offenen Flaschen zu trinken, schüttet die Neue Alice auch den zweiten Schluck hinunter und drückt den Stummel des Joints in der Scotchpfütze aus, um Glut und Protest zu ersticken.

Ein Abend, denkt sie, und das Pochen in ihrer Brust klingt wie das stete Ticken einer Uhr. Tick tack. Tick tack. Tick tack. Die Wirkung von Schnaps und Gras tritt gleichzeitig ein, endlich blüht Wärme in ihrer Brust auf, und ihr Kopf fühlt sich leicht an, und das ist das Geheimnis, denkt sie, so wird man am leichtesten jemand anderes.

Sie hat jetzt die Küche verlassen, Musik streicht ihr wie Finger durchs Haar, der Bass legt sich um ihre Knochen, und sie geht darauf zu, fährt mit der Hand an der Wand entlang, um das Gleichgewicht zu halten, bis sie wieder bei der hellgrünen Farbe und den Lichtblüten angekommen ist. Sie beugt sich vor und lehnt die Stirn gegen die Wand.

Ihre Wand.

Vom Lärm eingehüllt, schließt sie die Augen, bis sie das Gefühl hat, in der grünen Farbe zu versinken. Die Oberfläche wird schwammig und weich und verschluckt ihre Hände bis zu den Gelenken.

Alice schreckt zurück, rechnet damit, dass die Wand sie festhalten wird, aber die Farbe ist nur Farbe, und sie stolpert und stößt mit der Schulter gegen jemanden. Eine Hand hält sie fest, und irgendwie weiß sie, noch bevor sie sich umdreht, dass sie es ist.

Das lila Mädchen.

Und so ist es auch.

Das sorry ist schon halb heraus, als das Mädchen lächelnd eine Braue hochzieht, als wüsste sie Bescheid, und Alice verschluckt den Rest des Wortes, so dass es bei einem so bleibt, ihre Lippen gerundet. Die Hand des Mädchens liegt auf ihrer Schulter. Sie scheint sich dort wohl zu fühlen. Die Musik ist so laut, dass man sich nur schreiend verständigen kann, aber Alice liest die Worte der anderen von ihren granatapfelroten Lippen ab.

Tanz mit mir.

Wenn Alice sich umschauen würde, dann wüsste sie, dass es keine ungewöhnliche Bitte ist – inzwischen tanzen alle, der Raum ist ein wogendes Meer aus Gliedmaßen –, doch das tut sie nicht, weil sie dann den Blick von dem lila Mädchen abwenden müsste, mit den gefärbten Locken, den hohen Wangenknochen und den großen braunen Augen. Braun, die gewöhnlichste Farbe der Welt, und doch ist an den Augen der anderen nichts Gewöhnliches. An den Rändern sind sie goldfarben, als würde dort ein Licht von innen durchscheinen, in der Mitte jedoch so dunkel, dass man meinen könnte, die Pupillen wären geweitet, aber Alice sieht, dass sie trotz des gedämpften Lichts auf der Party nur stecknadelkopfgroß sind.

Die Alte Alice wäre vielleicht ins Schleudern geraten und hätte den Flirt vermasselt, aber die schiere Lautstärke der Musik macht schüchterne oder schlagfertige Antworten überflüssig. Sie muss nur nicken, und schon gleitet die Hand des Mädchens zu ihrem Shirt, ihre Finger krallen sich in den Stoff, und sie zieht Alice zu sich heran.

Die Musik ist wie eine Strömung, der Bass das Auf und Ab der Wellen, und sie steigen und sinken gemeinsam. Aus der Nähe riecht das Mädchen nicht nach Vanille oder Kokosnussshampoo oder irgendeinem schweren Blumenduft, wie er am frühen Abend in der Suite gehangen hat, als die Mädchen sich zum Ausgehen fertig gemacht haben.

Nein, sie riecht nach feuchter Erde, Schmiedeeisen und rohem Zucker.

Sie umschlingen einander nicht, sondern falten sich ineinander, Arm an Arm, Rippen an Rippen, ein Mädchen und sein Schatten oder ein Schatten und sein Licht, und Alice hat hundert Songs und Sprüche darüber gehört, wie der richtige Mensch die ganze Welt verschwinden lassen kann, aber die Welt ist noch da, tobt um sie herum, doch es ist nur Hintergrundlärm, eine Kulisse, und zum ersten Mal in ihrem Leben steht sie in der Mitte der Bühne und gibt eine Vorführung für eine Person, das lila Mädchen.

»Ich bin Alice«, ruft sie über die Musik und stellt dabei fest, wie nutzlos es ist; sie kann nicht mal ihre eigene Stimme hören. Die andere scheint sie dennoch zu verstehen. Sie antwortet, doch ihr Name geht in der Brandung unter. Stirnrunzelnd schüttelt Alice den Kopf. Das Mädchen beugt sich vor, legt ihre Wange an die von Alice und wiederholt ihn. Eigentlich hätte es höchstens ein Ausatmen sein müssen, das ihr Ohr kitzelt, aber genau in diesem Moment wird die Musik leiser, und sie kann ihn verstehen.

Lottie.

Das Mädchen neigt den Kopf, ihre Locken kitzeln Alice am Hals, und sie spürt den Kuss, den sie ihr auf die nackte Haut über dem Ausschnitt ihres Shirts drückt. Alice erschauert, giert nach der Berührung, und will gerade Lotties Gesicht anheben und sie küssen, als plötzlich ein zu lautes, zu schrilles Geräusch ertönt. Anfangs hält sie es für den langgezogenen Beat eines Songs, aber der schiefe Ton hebt sich von der Musik ab, und dann verstummt sie ganz, und der Ton bleibt, und sie erkennt, was es ist: ein Feueralarm.

Alles bricht zusammen.

Die Lichter gehen an, und plötzlich ist das Co-op nur ein Haus, zu überfüllt und hell, und Alice schaut sich um, aber das lila Mädchen ist weg, und die Körper, durch die sie sich den ganzen Abend gekämpft hat, bewegen sich jetzt alle in eine Richtung, eine Flut, die Alice davonträgt, den Flur entlang, durch die Tür hinaus und die Treppe hinunter auf die Straße.