Café Katz - Der Tote in der Bibliothek - Sylke Hörhold - E-Book
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Café Katz - Der Tote in der Bibliothek E-Book

Sylke Hörhold

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Beschreibung

Der frühpensionierte Polizeipsychologe Franz Katz führt zusammen mit seiner Frau Luise ein Nachbarschaftscafé. Die Idylle wird jäh gestört, als seine Pflegetochter Amanda unter dem Verdacht verhaftet wird, ihren Ehemann ermordet zu haben. Der bekannte YouTube-Professor kam unter verdächtigen Umständen während Filmaufnahmen im historischen Büchersaal der Görlitzer Sammlungen ums Leben.

Trotz erdrückender Indizien sind die Freunde des Café Katz von Amandas Unschuld überzeugt und beschließen, auf eigene Faust zu ermitteln. Ihre turbulente Jagd nach den wahren Tätern führt sie in brenzlige Situationen, in denen Franz sich auch den Schatten seiner eigenen Vergangenheit stellen muss. Bis sich schließlich zwischen Bücherregalen und verborgenen Schätzen die ganze Wahrheit offenbart.

Diese humorvolle Hommage an die klassische englische Ära der psychologischen Rätselkrimis begeistert mit liebenswerten, schrulligen Charakteren und ist am besten zu genießen mit einer Tasse feinem Tee oder vielleicht einem Cappuccino.

Weitere Romane der Autorin:
Emmelien - Der erste Fall
Hexenfeuer - Der zweite Fall
Recht wie Wasser - Der dritte Fall
Was dir den Atem nimmt - Der vierte Fall

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


IMPRESSUM

© Neissuferverlag

Thrombergstraße 1, 02625 Bautzen

[email protected]

Lektorat/Korrektorat: Karin Damaschke

Umschlaggestaltung: Anne Gebhardt Design

Layout und Satz: Dorit Schneider

Portraitfoto: Tine Jurtz, Dresden

ISBN 9783759296221

Die Printausgabe des Buches ist mit der ISBN 978-3-910866-23-2 erhältlich.

www.neissuferverlag.de

Inhalt

Ein Wort zuvor

Figurenspiegel

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Epilog

Danksagung

Rezepte

Über die Autorin

Mehr Krimis im Neissuferverlag

Für meine Eltern

»Das Wunderbarste an den Wundern ist,

dass sie manchmal wirklich geschehen.«

G. K. Chesterton

Ein Wort zuvor

Ich danke den Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur ganz herzlich dafür, dass ich den wunderschönen historischen Büchersaal im Barockhaus als Tatort für meinen Krimi nutzen durfte. In diesem Zusammenhang möchte ich versichern, dass alle Geschehnisse und Figuren dieser Krimigeschichte meiner Fantasie entsprungen sind. Auch das Café Katz und seine Nachbarschaft der Fliederstraße in Bautzen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen, vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Nach diesem wichtigen Bekenntnis wünsche ich Ihnen nun ein spannendes Lesevergnügen.

Herzlich

Sylke Hörhold

Figurenspiegel

Die Leute vom Café Katz

Franz Katz, frühpensionierter Polizeipsychologe Luise Katz, genannt Lu, seine Frau und Betreiberin des NachbarschaftscafésNele, Barista und Social-Media-ExpertinTim, Dauergast im Café Katz und bekennender NerdSebastian Schicht, genannt Schnuffel, Kriminalrat a. D., ein langjähriger Freund der FamilieTante Elzie, fidele Erbtante von Franz Katz

Die Leute von den Görlitzer Sammlungen

Gisa Reuter, die leitende MuseumspädagoginFelicitas Katz, Tante Feli, ehrenamtliche Mitarbeiterin Dr. Amanda Rochardt, AngestellteConstanze Albrecht, Rechtsanwältin

Die Leute aus Dresden

Professor Dr. Leon Rochardt, Geschichtsexperte, Schatzsucher und YouTuber mit großer GefolgschaftJan Kirchner, Projektmanager und Rechercheur des ProfessorsLydia Turnov, Media-Assistentin und MarketingspezialistinHartmuth Müller, ein Hobby-Archäologe und SchatzsucherEine aufgeregte Produzentin und ihr Kameramann

Die Ermittler der Mordkommission

Lukas Reinhart, Kriminalhauptkommissar und Leiter der MordkommissionMarei Gräfe, KriminalkommissarinJordan Wiske, Kriminalhauptkommissar Susan Hirte, KriminalassistentinThomas Weidner, Kriminalkommissar

Prolog

»Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein.«

Novalis

Franz Katz blinzelte durch die halb geöffneten Augenlider. Er erkannte verschwommen Amandas schmale Gestalt. Regungslos stand sie am Dorothy-L.-Sayers-Regal der umfangreichen Krimisammlung. Seine Brille war ihm im Schlummer verrutscht. Mit vorsichtiger Geste schob er sie wieder in die richtige Position. Er entdeckte eine zerlesene Ausgabe der Lord-Peter-Wimsey-Reihe aufgeschlagen in Amandas Händen. Sie schaute nicht ins Buch, sondern durch die bodentiefen Fenster des Bibliothekszimmers hinaus in den schneelichtdurchfluteten Hof. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam entrückt, nicht verträumt, wie er es aus Kindertagen an ihr kannte, sondern ernst und so traurig, dass er ihren Schmerz nahezu körperlich mitfühlen konnte. Er räusperte sich: »Ich hoffe, du suchst da nicht nach einer passenden Mordmethode für ihn?«

Erschrocken klappte Amanda den Krimi zu. Dann lächelte sie ihn an. »Du bist wach!« Sie kam zu ihm an den Lesesessel, der ihm auch für seinen Mittagsschlummer gute Dienste leistete. Trotz seiner langen Genesungskur war er ruhebedürftiger, als ihm lieb sein konnte. Viel zu langsam gewann er seine körperliche Kraft wieder. Die seelische Genesung dauerte wohl noch länger. Doch er wollte Amanda nicht beunruhigen. Sie hatte genug eigenen Kummer.

Das dunkle Haar ihres Pagenkopfes rutschte in ihr zartes Gesicht, als sie sich über ihn beugte, um ihn auf die Stirn zu küssen. »Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist, Franz.«

»Und ich erst.« Franz räusperte sich und griff nach dem Krimi in Amandas Hand. »Starkes Gift. Mhm. Muss ich mir Sorgen machen?«

»Ich hatte mal daran gedacht.« Sie versuchte, leichtherzig zu klingen, während sie akribisch die Utensilien auf dem Lesetisch sortierte. »Doch dann frage ich mich, ob so ein Liebeskummer diesen ganzen Aufwand wert ist. Ist es nicht die älteste Geschichte der Welt?« Das Brillenetui klappte mit einem leisen Knall zu. »Ehemann betrügt Ehefrau. Frau verlässt Mann. Ende der Geschichte.« Sie nahm Franz die Chesterton-Biografie von seiner Brust, wo sie seit seinem Einschlummern gelegen hatte. Sorgfältig fügte Amanda das Lesebändchen auf der richtigen Seite ein, bevor sie das Buch schloss und in akkurat paralleler Linie zum Brillenetui platzierte. »Zeit für mich, das zu überwinden und erwachsen zu werden«, murmelte sie dabei. Sie kauerte sich neben ihn. Ihr Gesicht nahm wieder diesen abwesend traurigen Gesichtsausdruck an.

»Wie schade«, sagte Franz.

»Das Überwinden oder das Erwachsenwerden?«

»Letzteres natürlich, mein liebes Kind.« Franz führte ihre schmale Hand an seine Wange. »Aber das geht wohl allen Eltern so, nicht nur Pflegevätern.«

»Ach, Franz!« Mit einem schmalen Lächeln machte sich Amanda von ihm los. »Ich kann nicht für immer bei euch unterschlüpfen. Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin euch so dankbar, dass ich bei euch zur Ruhe kommen konnte, als Leon mich …« Sie unterbrach sich kurz, um zu schlucken.

»Es wird immer dein Zuhause bleiben, Amanda. Das weißt du doch, oder? Du bist hier jederzeit willkommen.«

»Und dafür bin ich dir und Luise von Herzen dankbar.« Amanda fegte die Kekskrümel von seiner Weste in ihre Hand. Sie schaffte sie zum Papierkorb in der Ecke. Auf dem Rückweg kämpfte sie mit den Tränen, wie er besorgt bemerkte.

Sie mied seinen Blick. Wortlos nahm sie den Sayers-Krimi aus seiner Hand. Auf dem Weg zum Bücherregal studierte sie noch einmal den abgegriffenen Einband, als wolle sie sich etwas davon einprägen. Dann stellte sie das Buch zurück in die Reihe, sorgsam und genau an den richtigen Platz. Noch einmal strich sie gedankenverloren über die Buchrücken. Den zweiten Lesesessel hatte Kater Fox okkupiert, der misstrauisch blinzelte, ob ihm jemand seinen Lieblingsplatz streitig machen wollte. Doch Amanda strich ihm im Vorbeigehen nur kurz über den Kopf, bevor sie sich großmütig auf die Ecke des Leiterhockers setzte.

Franz beobachtete sie dabei. Aus dem Café drangen erste Geräusche der Betriebsamkeit zu ihnen herüber. Schon vernahm er das Kichern und Plappern der Kramer-Zwillinge und ihrer Gefährten der Jugendtheatergruppe. Das Türglöckchen des Cafés Katz bimmelte unentwegt. Nele, ihre Barista, würde alle Hände voll zu tun haben, zumal Luise noch bis Ende der Woche auf Reisen war. Und schon drang unwiderstehlich Kaffeeduft in Franz’ Refugium. Im Stillen seufzte er sehnsüchtig.

Endlich blickte Amanda ihn aus ihren dunklen Augen an. »Es wird Zeit, mit diesem unrühmlichen Kapitel abzuschließen, Franz«, sagte sie mit großem Ernst. »Ihr hattet von Anfang an recht: Für Leon und mich gab es keine Zukunft. Es war alles nur eine Farce.«

»Sei nicht so streng mit dir, Amanda. Du warst noch jung, als du ihn geheiratet hast.«

»Eben. Ich war zu jung für ihn, zu feige, zu …« Sie winkte ab.

»Gibst du Leon denn gar keine Verantwortung? Immerhin war er es, der dich betrogen hat.«

»Vielleicht hatte er seine Gründe dafür«, sagte Amanda.

»Seine Gründe?!« Franz wünschte, Luise wäre jetzt hier. Seine bessere Hälfte hätte schon passende Worte für den promiskuitiven Professor Rochardt gefunden. Ächzend versuchte Franz, sich im Sessel aufzurichten. Der Schmerz sprudelte wie ein Geysir auf. Unwillkürlich verzog er das Gesicht. Sofort war Amanda bei ihm. »Lass dir helfen!«

»Es geht schon.«

»Ich habe strikte Anweisung von Lu, mich um dich zu kümmern, bis sie wieder da ist.«

»Wie immer übertreibt mein liebes Weib mit ihrer Besorgnis.« Er konnte nicht verhindern, dass ihm vor Schmerz Schweißperlen auf die Stirn traten. Amandas Mundwinkel zuckten, als sie sich erneut neben ihn hockte und ihm die Stirn tupfte. »Wir dachten damals, wir hätten dich verloren, Franz«, sagte sie mit belegter Stimme. »Was zählt da schon ein Liebeskummer. Es ist mir schon fast peinlich, angesichts dessen, was du durchmachen musstest.«

Franz blickte erstaunt auf. »Und ich alter Döskopp dachte immer, die Liebe ist das Einzige, was zählt.«

»Du bist und bleibst ein heilloser Romantiker, Franz«, lachte Amanda.

»Früher warst du die Romantikerin. Doch das hat dir dein Professor wohl gründlich ausgetrieben mit seinem Verrat.«

»Hat er«, antwortete Amanda knapp.

Da war eine neue Härte an ihr, die er bei der sanften Amanda von früher nicht gekannt hatte. Er kam nicht umhin, das zu betrauern, so wie er bedauerte, dass diese junge Frau, die er liebte wie eine Tochter, einen solchen Schmerz durchleben musste. Eine Zeitlang hatten sie befürchtet, sie würde sich etwas antun.

»Doch, ich bin selbst schuld«, fuhr Amanda unvermutet fort, so als habe sie seine Gedanken gelesen. »Aber ich werde es überwinden und weiterleben.«

Wie zum Beweis erhob sich Amanda aus der Hocke. Kater Fox zuckte mit den Ohren. Er sprang vom Sessel, als hätte er einen stummen Befehl erhalten. Amanda wedelte mit der Hand ein paar rote Katerhaare von der Sitzfläche und setzte sich Franz gegenüber. »Ich bin mittlerweile überzeugt, dass es für mich Zeit wird, neu anzufangen. Ein Leben ohne Leon. Mein eigenes Leben. Meine eigene Arbeit. Meine eigene Wohnung. Erwachsen werden, verstehst du?«

Sie begann voller Vertrauen in seine väterliche Anteilnahme von ihren Plänen zu erzählen. So war es immer gewesen, wenn sie in seiner Nähe mit ihren Puppen und Kuscheltieren spielte und ihm dabei ausgedachte Geschichten erzählte. In der Öffentlichkeit brachte die hochbegabte Frau bis heute kaum ein Wort heraus. Sie hatte gar um ihren Abschluss kämpfen müssen, da die mündlichen Prüfungen für Amanda ein schier unüberwindliches Hindernis darstellten. Doch in der Geborgenheit, wenn sie sich sicher wusste, da brach alles Reden aus ihr heraus und niemand, der sie so erlebte, hätte von ihrer Blockade auch nur etwas geahnt. Er lauschte ihrer warmen, sanften Stimme und drohte schon wieder, in einen erschöpften Halbschlaf zu versinken.

»… kann ich mich nicht immer nur ablenken, Franz«, sagte Amanda gerade mit Nachdruck.

Franz versuchte, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Das aktive Zuhören, das ihm früher leichtgefallen war, kostete ihn jetzt so viel geistige Kraft, dass er sie kaum aufzubringen vermochte.

»Ich will mein Leben zurück. Wohnung. Arbeit. Einkommen.«

»Das hört sich wunderbar an, Amanda!«, murmelte Franz. »Ich bin stolz auf dich.«

»Ach, nicht stolz! Da gibt es nichts, worauf ich oder ihr stolz sein könntet bei meinem verpfuschten Leben.« Sie wischte mit einer ungeduldigen Geste eine Träne weg. »Entschuldige bitte, Franz. Ich wollte nicht jammern.«

Franz lächelte sie an. »Wir beide sind schon zwei Versehrte, was?«

»Es wird heilen, mein lieber Franz. Alles wird heilen.«

»Wenn du es sagst.« Er schämte sich seiner Mutlosigkeit.

Amanda erhob sich und reckte ihre Glieder wie eine Katze.

»Aufstehen und weitermachen«, befahl sie sich selbst. »Ich brauche eine Aufgabe, die mich fordert und mich ausfüllt. Einen Job, der mich ernährt.«

»Muss Leon denn nicht …«

»Ich will nichts von ihm haben. Gar nichts!« Ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit. »Ich schaffe mir ein eigenes Heim. Ein eigenes Leben.«

Franz nickte ihr aufmunternd zu. »Du weißt, du hast hier immer dein Zuhause«, wiederholte er sein Angebot.

»Ja, das weiß ich, lieber Franz.« Noch einmal bekam er einen herzhaften Kuss auf die hohe Stirn, wie Luise seine Glatze liebevoll nannte. »Hier fühle ich mich so sicher. Aber ich werde schon 32 nächsten Sommer!«

»Das ist natürlich ein biblisches Alter.«

Amanda rang sich ein Lächeln ab. »Ich kann nicht ewig Kaffeetante bei euch bleiben. Nele ist schon misstrauisch, ob ich ihr die Stellung streitig machen will.«

»Apropos Kaffee.« Mit einem Ächzen richtete sich Franz auf und stellte seinen Sessel von der Schlaf- auf die Sitzposition. »Bist du so lieb und bringst mir einen von diesen Lebensweckern?«

»Natürlich. Wird gemacht. Kommt sofort«, rief Amanda, die mit einmal voller Übermut schien, so als habe das Erzählen von ihren Plänen bereits die Verwirklichung in Gang gesetzt. »Schwarz mit zweimal Zucker, Sir?«

»The same procedure as every day, Darling! Und schau mal, ob der Kuchen schon eingetroffen ist.«

Sie war schon an der Tür, als sie sich nochmals zu ihm umdrehte. »Meinst du, Tante Feli könnte mich bei den Görlitzer Sammlungen unterbringen?«

»Aber Feli ist schon im Ruhestand.« Felicitas Katz war die jüngere Schwester seines Vaters. Sie war kinderlos, so wie er und Luise auch, nur dass es bei ihnen weder freiwillig noch schicksalhaft geblieben war. Damit endeten aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Genau wie seine Eltern hatte Tante Feli die Verbindung von Franz und Luise nie gutgeheißen. Ebenso wenig wie seine Arbeit als Polizeipsychologe. Seine Verletzung bei dem katastrophalen Einsatz im letzten Jahr bescherte seiner Familie die klammheimliche Genugtuung, recht behalten zu haben, was natürlich keiner auszusprechen wagte. Man bewahrte die verwandtschaftliche Höflichkeit und ging sich möglichst aus dem Weg, von den traditionellen Familientreffen abgesehen, auf die Familie Katz in allen Generationen großen Wert legte.

»Sie hat doch bestimmt noch Verbindungen, oder?« Amanda sah ihn eindringlich an. »Wollte sie da nicht sogar ehrenamtlich weitermachen? Ich dachte, sie hätte so etwas erwähnt beim Familientreffen im Advent.«

»Dir entgeht aber auch gar nichts.« Franz seufzte ergeben. »Du hast Glück, dass Lu gerade nicht da ist. Ich fürchte, sie hätte dir das auf der Stelle ausgeredet.«

»Das ist richtig«, lächelte Amanda in der vollkommenen Überzeugung, dennoch zu ihrer Unterstützung zu kommen.

Franz nickte ihr zu. »Ich will sehen, was ich tun kann bei Tante Feli. Aber erst nach dem Kaffee!«

1.

»Wo Bereitschaft zur Abneigung ist, wird es an Anlass nie fehlen.«

aus »Lady Susan« von Jane Austen

Etwas war anders an diesem Montagvormittag. Felicitas spürte es zunächst nicht deutlich. Es war eher das unbestimmte, längst vergessen geglaubte Gefühl, nicht gut vorbereitet zur Schule zu gehen, wo eine Klassenarbeit zu erwarten war. Schule und Arbeitsleben lagen lange hinter Felicitas. Sie befand sich auf dem Weg zu ihrer einstigen Arbeitsstätte, um ihr Ehrenamt anzutreten, für das sie eine kunsthistorische Führung durch die reichen Schätze der Görlitzer Sammlungen entwickeln sollte. Sie war inzwischen Mitte siebzig, was ihre Vitalität nicht vermuten ließ, vielleicht aber ihre leichte Aufregung erklärte, wenn sie nun, nach längerer Pause, wieder an ihre Arbeit ging. Felicitas straffte sich und lief mit raschen Schritten über die Brüderstraße in Richtung Untermarkt.

Die sommerliche Altstadt war von friedvoller Gemächlichkeit geprägt. Nur wenige Touristengruppen waren unterwegs. Die Ladenbesitzer räumten seelenruhig ihre Auslagen auf die Straße. Der Antiquitätenhändler grüßte sie, als er sie erkannte, und lüpfte spielerisch sein Hütchen. Das Museum im Barockhaus hatte heute geschlossen. Beste Voraussetzungen also, in aller Ruhe im Lesesaal die neue Führung vorzubereiten. Es tat gut, nach der langen Pause durch Krankheit und Kur wieder etwas zu arbeiten. Felicitas hatte all das schmerzlich vermisst. Ihre Kollegen, die Bücher, die kostbare Atmosphäre der Sammlungen.

Als sie auf den Untermarkt kam und durch die Arkaden in Richtung Neißstraße lief, musste sie jedoch erkennen, dass dieser Vormittag alles andere als beschaulich werden würde. Vor dem prachtvollen Barockhaus an der Ecke hatte sich eine aufgeregte Menschenmenge zusammengefunden, die ihr den Zugang versperrte. Sogar Kamerateams waren dabei. Das war für die Filmstadt Görlitz an sich keine Besonderheit. Auch dass der berühmte historische Bibliothekssaal der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften als Drehort diente, war nicht ungewöhnlich. Doch hier hatte es offensichtlich Ärger gegeben. Ein Polizeiwagen stand auf der Neißstraße und viele Handys waren in die Höhe gestreckt, um zu erfassen, wer sich da lautstark Zugang zum Barockhaus verschaffen wollte. Ein kleiner Mann mit einer Cordschiebermütze empörte sich leidenschaftlich. Wilhelm, der Sicherheitsmann der Sammlungen, stand breitbeinig und mit der stoischen Gelassenheit seiner Bärengestalt zwischen den halb geöffneten roten Holztüren. Er hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und strahlte feste Entschlossenheit aus, die Bastion gegen alle Eindringlinge zu verteidigen.

Felicitas bog in die Weberstraße ein, um durch den hinteren Eingang zum Lesesaal der Bibliothek zu gelangen. Doch dieser war von einem Lastkraftwagen blockiert, der Stühle und Bühnenaufbau für das Sommertheater in den Innenhof des Barockhauses brachte. Seufzend machte sie wieder kehrt. Angesichts der Menschenmenge wollte sie eben unverrichteter Dinge nach Hause gehen, als Wilhelm sie entdeckte.

»Frau Katz! Da sind Se ja wieder!«, rief er leutselig über die Köpfe der Leute hinweg. »Ham Se sich jut erholt auf Ihre Reise?« Er war sichtlich froh darüber, der Debatte vor dem Tor ein Ende bereiten zu können. »Is jut nu!«, schnauzte er den kleinen Mann an. »Sie können hier nich rein, klar? Ham schon jenuch Ärger jemacht, Meester. Jetzt machen Se mal Platz, da kommt nämlich eine janz verdiente Mitarbeiterin von uns, die an ihre Arbeit will.«

Trotz der schalkhaften Note seines preußischen Dialekts verfehlte der Befehlston seine Wirkung nicht. Der Mann wich tatsächlich zurück und Wilhelm widmete sich wieder Felicitas. »Frau Katz? Bitte sehr, komm Se näher. Sie jehörn hier ja schon fast zum Inventar, nich.« Er schob den kleinen Mann beiseite, was der mit einem wütenden Blick quittierte, aber geschehen ließ. Auch die Leute wandten ihre Aufmerksamkeit nun Felicitas zu. So wenig an Sicherheitsabstand bereitete ihr Pein. Sie hatte das Gefühl, sich durch einen zähen Fluss an Menschenleibern kämpfen zu müssen. Es war eine bunt gemischte Menge. Jung und Alt, Einheimische mit Einkaufstüten und Hund, asiatische Touristen, die ihre Handys an langen Stielen über sich hielten und sich damit ständig zu fotografieren schienen. Eine Gruppe junger Leute, die aufgeregt miteinander schwatzte. Ein Fernsehteam und ein bekannter Journalist, der ihr aufmunternd zunickte.

Mit zusammengepressten Lippen bahnte sich Felicitas ihren Weg hin zum Eingangsgewölbe der einstigen Durchfahrt. Für den letzten halben Meter bot ihr Wilhelm seine Pranke, die sie dankbar ergriff. »Komm Se, meine Jute. Jetzt ham Se es jeschafft. Das ist vielleicht ein Aufstand heute, wa?«

Felicitas ordnete ihre Kostümjacke, als sie endlich zwischen den Statuen von Minerva und Merkur einen sicheren Stand gefunden hatte. »Was ist hier eigentlich los, Wilhelm? Haben wir heute einen Rockstar zu Gast?«

»Na, so ähnlich«, kicherte er, während er mit seiner freien Hand die Menge wieder hinter den Flügel der schweren Holztür schob. »Wissen Se denn nicht: Der Professor Rochardt lüftet doch heute det Jeheimnis von die Kriegskasse vom ollen Napoleon. Der ist ja richtig berühmt, also ick meine jetzt den Professor, nich Napoleon. Über Fernsehen und YouTube und so.«

»Was sagen Sie da?« Felicitas glaubte, jemand habe ihr einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gegossen. »Professor Rochardt ist hier in diesem Haus?«

»Aber ja doch. Deswegen ham se doch heute jeschlossen. Von wegen technische Gründe und so. Alles in Ordnung mit Ihnen, Frau Katz? Sie sind ja janz blass jeworden.«

»Mir fehlt nichts«, beeilte sich Felicitas zu versichern. »Danke, Wilhelm.« Sie rang nach Worten. »Weiß Amanda davon? Ich meine natürlich Frau Dr. Rochardt.«

»Na, die hat ihn doch einjeladen. Weil se doch diese Briefe jefunden hat. Das passt wohl jenau zu seine Recherchen. Und nun will er die Katze aus dem Sack lassen, da oben. Ist ne richtig große Sache.«

»Ein ordinärer Dieb, das ist er, der große Professor«, geiferte der kleine Mann mit der Cordmütze und drängelte sich wieder nach vorn. »Geistiges Eigentum anderer benutzen. Da kann jeder berühmt werden. Er hat meine Forschungsergebnisse gestohlen.«

Pfiffe und Gejohle aus der Menge hinter ihm unterstrichen seine Anklage.

»Janz ruhig, Meester«, wies ihn Wilhelm zurecht, »sonst holen wir wieder die Polizei ran. Die sind dann vielleicht nich mehr janz so freundlich wie vorhin.«

»Ich kenne meine Rechte!«

»Feli!«, rief eine Frauenstimme von der steinernen Treppe her, die in den ersten Stock zum Museum führte. Gisa Reuter stand dort mit erhobenen Händen wie eine Prophetin des Unheils. Sie wirkte zerzaust, was Felicitas abermals alarmierte, denn die leitende Museumspädagogin war sonst die Würde in Person. Es gehörte schon etwas dazu, Gisa Reuter aus dem Konzept zu bringen.

»Dich schickt der Himmel«, rief Gisa zudem noch ehrlich erleichtert. »Endlich mal ein vernunftbegabtes Wesen in diesen Hallen.«

»Was ist hier nur los?« Rasch lief Felicitas über das Kopfsteinpflaster des Durchgangs zur Treppe hinüber. Sie blieb eine Stufe unter Gisa stehen, sodass sich die Frauen etwa in Augenhöhe gegenüberstanden. Gisa war klein und kompakt.

»Hier ist der Wahnsinn ausgebrochen, meine liebe Feli! Ich habe ja schon vieles erlebt in unserem schönen Bibliothekssaal und es ist gewiss nicht die erste Filmaufnahme, die hier läuft, aber was diese Frau da abzieht, schlägt dem Fass den Boden aus. Das sage ich dir.«

»Welche Frau? Etwa Amanda?«

»Amanda? Dieses Lämmchen? Aber nicht doch. Es ist diese Produzentin. Eine Harpyie, sage ich dir. Stell dir vor, da fragt die mich doch tatsächlich, ob wir unsere Funde auch digitalisieren! Glaubt die denn, wir sind hier hinter dem Mond? Aber in unserem Alter klären wir solche Frechheiten mit dem Zucken einer Augenbraue, nicht wahr, meine liebe Feli. Was bin ich froh, dass du wieder da bist. Wie war deine Kur?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Felicitas an sich heran, um sie herzhaft zu begrüßen. Felicitas ließ das nur widerwillig geschehen, doch immerhin war Gisa eine langjährige Kollegin und Vertraute.

Eine Antwort blieb ihr erspart, denn am Eingang bei der Absperrung wurde es wieder lauter. »Komm, lass uns hochgehen«, sagte Gisa. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stieg die steinernen Stufen hinauf. »Wir müssen durch die Wohnung, weil Madame die Tür mit ihren Kisten verstellt hat.«

»Aber das geht doch nicht. Was ist, wenn ein Brand ausbricht?«

Gisa zuckte verächtlich die Schultern. »Ich habe ihr gesagt, dass sie dann drei Minuten haben, um rauszukommen, bevor der Stickstoff seine Wirkung tut.« Sie schenkte Feli über die Schulter hinweg ein sardonisches Lächeln. »Aber das hat sie alles im Griff, sagt sie. – Vorhin ist hier fast so ein Spinner eingedrungen. Er hat den Professor des geistigen Diebstahls bezichtigt und so weiter. Was für ein Gedanke!«

»Und? Hat er recht damit?«, fragte Felicitas spitz.

»Wer weiß das schon?«, erwiderte Gisa mit seltsamer Betonung. »Doch kann ich es mir bei Professor Rochardt gar nicht vorstellen.«

»Ich schon«, murmelte Felicitas. »Ich kann mir alles vorstellen bei Leon Rochardt!«

»Kennst du ihn etwa?« Gisa blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Ja, richtig! Ich vergaß. Amanda war doch dein Mündel, oder so etwas.«

»Sie ist die Pflegetochter meines Neffen Franz«, korrigierte Felicitas mit eisiger Stimme. »Und wenn ich jemanden jede Teufelei zutraue, dann ist es Leon Rochardt. Nach all dem, was er Amanda angetan hat.«

»Pst!«, machte Gisa, die schon die Hand an der Türklinke hatte. »Seine Neue ist gerade vorhin in der Wohnung verschwunden.« Sie klinkte auf.

»Was? Er hat sie auch mitgebracht?« Mit raschen Schritten ging Felicitas an Gisa vorbei in die Museumswohnung. »Das hätte ich mir denken können, dass diesem Kerl einfach nichts zu dumm ist. Ich frage mich nur, was Amanda geritten hat, ihm ihre Entdeckung preiszugeben.«

»Vielleicht hofft sie, ihn für sich zurückzugewinnen?«, spekulierte Gisa zaghaft. Ein solch dramatischer Gefühlsausbruch bei ihrer Freundin überraschte sie. »Er ist ausgesprochen zuvorkommend Amanda gegenüber«, ergänzte Gisa.

Felicitas stieß verächtlich Luft aus. »Bis er hat, was er will, dann kann sie wieder in den Schatten treten. Er hätte sie beinahe umgebracht mit seinem Verrat.« Sie schritt durch die Diele der Museumswohnung, die einst als Empfangsraum der Kaufmannsfamilie gedient hatte. Die geordnete, zentrierte Atmosphäre des Raumes beruhigte sie. Zwischen den Ornamenten der hellen Stuckdecke und dem erdenden Dunkel der Holzdielen fand Felicitas ihre Gelassenheit wieder. Sie wandte sich zu Gisa um. »Es war ein Glücksfall, dass Amanda diese Stelle hier angenommen hat, weit weg von seinem Narzissmus, seiner Selbstherrlichkeit und dem Rummel, den er immerzu veranstaltet, weit weg von dem Kerl, der sie so schamlos betrogen hat.« Felicitas fasste sich ans Herz, als sie an Amandas schwarze Verzweiflung dachte, mit der sie im vergangenen Herbst plötzlich bei Franz und Luise in Bautzen aufgetaucht war. Mit vereinten Kräften hatte die kleine Gemeinschaft vom Café Katz der jungen Frau erst wieder Lebensmut und Selbstbewusstsein schenken müssen, damit sie den Schritt zurück ins Leben wagen konnte. »Eine hübsche kleine Wohnung in der Altstadt und eine Arbeit, die sie liebt«, echauffierte sich Felicitas ein weiteres Mal. »Ich war so froh, dass Amanda sich hier bei uns wieder in Arbeit anstatt in Liebeskummer vergraben konnte. Und jetzt lässt sie mit ihrer ersten Entdeckung ihren Ex-Mann wieder triumphal in ihr Leben einziehen?«

»Noch-Ehemann«, traute sich Gisa anzumerken. »Er spricht immerfort von seiner Frau, wenn er die Entdeckung Amandas und die Briefe erwähnt.«

»Immerhin!«, schnaubte Felicitas. Sie liefen durch den Raum hinaus in den Flur, von dem ein Frühstücksraum und die kleine historische Küche abgingen.

»Frau Reuter?«, ertönte durchdringend eine Frauenstimme. Sie klang, als habe sie alle Mühsal der Welt zu tragen und sei nicht eine Minute länger bereit dazu. »Frau Reu-ter!«

Gisa verdrehte die Augen. »Die Harpyie!«, flüsterte sie. »Vielleicht sollte ich mich in der Küche verstecken?«

Es war zu spät. Den Gang entlang der Fensterfront zum Hof flatterte eine rabenschwarz gekleidete Frau mit ebenso gefärbter Haarpracht heran. »Ah, da sind Sie ja.« Sie landete direkt vor ihnen, wobei sie Felicitas vollkommen zu übersehen geruhte. »Was heute schief gehen kann, geht schief. Erst bekommt Leon einen Hustenanfall, dann seine Frau einen Anfall von Schüchternheit.« Sie schüttelte ihr Gefieder. »Ich frage mich, wann wir die letzten paar Filmminuten abgedreht haben werden. Dieser nichtsnutzige Jan kommt ewig nicht aus der Apotheke zurück und jetzt vermissen wir auch noch unsere Assistentin. Haben Sie Lydia irgendwo gesehen?«

»Ich bin hier.«

Sie fuhren herum, als sie die Stimme vernahmen, tränenstickig und bedrückt. Lydia war eine hübsche junge Frau mit blonder Lockenmähne und den traurigsten blauen Augen, die Felicitas jemals gesehen hatte. Sollte Gisa am Ende recht haben und Amanda wollte sich wieder mit Leon versöhnen? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Dieser Egomane hatte keine dieser jungen Frauen verdient. Seine einstigen Studentinnen! Sie könnten seine Töchter sein.

»Leon braucht endlich sein Spray«, fuhr die Produzentin Lydia an, die zusammenzuckte, als hätte man ihr einen Schlag verpasst. »Kannst du nicht einen Inhalator oder irgendetwas herzaubern? Er hustet sich die Seele aus dem Leib. Und Jan ist offenbar zu blöd, das Spray zu besorgen.« Gisa, die Lydia einen mitleidigen Blick schenkte, machte sich mit ihr und der fortwährend zeternden Produzentin sofort auf.

Felicitas folgte den drei Frauen voll unfreundlicher Gedanken den Gang entlang der Bibliothek, vorbei an zahllosen Fundstücken und Erfindungen aus einer Zeit voller Forschungsdrang und Wunder, als die Welt noch endlos war und dennoch überschaubar. Sie sehnte sich nach der Stille ihrer Arbeit. Sich versenken in historische Artefakte und Abhandlungen, fernab all der menschlichen Zerwürfnisse und der emotionalen Aufruhr, die sie mit sich brachten. Solche Dramen waren für sie am besten zwischen zwei Buchdeckeln aufgehoben, einzig genießbar bei einer guten Tasse Tee im Lesesessel. Sie hatte Amanda auch so eingeschätzt, doch nun wurde sie wohl eines Besseren belehrt. Mit dieser Erkenntnis fühlte sich Felicitas selbst wie ein Museumsstück.

Der Gang umrundete den Innenhof. Felicitas warf einen Blick durch die Fenster auf die gegenüberliegende Seite, wo sich die Räume des historischen Bibliothekssaales und der Schatzkammer befanden. Das hier war viele Jahre ihre Welt gewesen. Eine Welt der Forschung, des Geistes und der Kultur, von Religion, Schöpfergeist und Humanität. Sie war mit vielen anderen eine der Hüterinnen gewesen. Nun erschien ihr diese erhabene Welt bedroht vom Profanen. Alles musste heutzutage eine Show sein, inszeniert und vermarktet. Dass sich ausgerechnet Amanda diesem Weg anschloss, enttäuschte sie. Sie hatte diese kluge, stille junge Frau als eine Art Nachfolgerin von Gisa gesehen, die wiederum ihre Nachfolgerin geworden war. Doch wenn Liebe im Spiel war, enttäuschte Liebe zumal, wer wollte da schon urteilen. Seufzend machte sich Felicitas wieder auf den Weg, den anderen zu folgen, da kamen ihr Lydia und Gisa bereits entgegen.

»Lassen Sie sich nicht einschüchtern«, sagte Gisa gerade zu der jungen Frau. »Wenn Sie zum Auto müssen, sollten Sie den hinteren Ausgang nutzen. Und die Toiletten finden Sie im Erdgeschoss, raus auf den Hof und dann gleich …« Sie hielt inne, da Lydia stehen geblieben war und entsetzt die Augen aufgerissen hatte. »Keine Sorge«, beruhigte Gisa sie mütterlich. »Am besten nehmen Sie den Fahrstuhl hinunter ins Erdgeschoss und dann durch den Museumsshop hinaus auf den Hof. Der Eingang ist gleich gegenüber links über ein paar Steinstufen. Sie huschen da ganz einfach durch und …, nanu, was ist das?« Sie drückte am Fahrstuhl auf die Knöpfe. »Wieso funktioniert der nicht?«

Lydia entfuhr ein Schluchzen.

»Du kannst das arme Ding doch nicht an den Menschenmassen vorbeijagen«, mischte sich Felicitas ein.

»Aber der Professor hat wirklich Mühe mit dem Atmen«, erwiderte Gisa. Sie sah sich nach Lydia um.

»Jan kommt bestimmt gleich mit dem neuen Spray«, murmelte diese. »Wer weiß, was ihn aufgehalten hat. Ich hoffe, ich finde noch ein Fläschchen im Handschuhfach.«

»Da unten sind Journalisten dabei«, gab Felicitas zu bedenken, die Leons Atemlosigkeit weniger interessierte, da sie es nur wieder für eine Variante hielt, Aufmerksamkeit zu bekommen. »Und es gibt jede Menge Bilderjäger mit ihren Handys.«

Gisa überlegte kurz. »Du hast recht, Feli.« Entschlossen griff sie nach ihrem Generalschlüssel und lief ein Stück zurück. Sie hakte die dicke Kordel ab, die vor der Treppe zum Hof hing. »Kommen Sie hier entlang. Der andere Zugang zum Sanitärbereich ist gleich links, wenn Sie auf den Hof kommen. Aber Vorsicht, die bauen gerade die Bühne und die Rampe für das Sommertheater auf.«

Die beiden Frauen stiegen die Treppe hinab und entschwanden Felicitas’ Blickfeld. Sie bog um die Ecke in den Gang, der direkt zur Schatzkammer der Bibliothek führte. Durch diesen Raum gelangte man zum historischen Bibliothekssaal, in dem die Aufnahmen stattfanden, wie sie unschwer an der schrillen Stimme der rabenschwarzen Produzentin erkennen konnte. Eben betrat Felicitas die Schwelle, als sie Amanda erblickte. Amanda verharrte regungslos vor der doppelflügligen Tür zwischen den vergitterten Bücherregalen, die beide Seiten des Ganges säumten. In dieser Haltung glich sie der Statue einer ägyptischen Tempelwächterin. Versunken stand sie da, körperlich anwesend, doch mit ihren Gedanken offenbar weit weg in einer anderen Dimension. Sie bemerkte auch nicht, als Felicitas näher kam, obwohl die sich keine Mühe gab, ihre Schritte zu dämpfen. Etwas an Amanda hielt Felicitas davon ab, sie von Weitem anzusprechen. Sie bemerkte die Ebenholzschatulle, die Amanda in ihren beiden Händen hielt wie eine Monstranz. Sie umklammerte sie so fest, dass ihre zarten Finger weiß waren vom Druck. Am befremdlichsten jedoch waren die versteinerte Miene und der seltsame Blick Amandas. Auch wenn er ins Leere zu fließen schien, fand sich ein Stachel darin, den Felicitas nicht zu deuten vermochte. War es Hass? Kummer? Oder Furcht?

»Hallo, Amanda.«

Vor Schreck hätte Amanda fast die Schatulle fallen lassen. Der seltsame Gesichtsausdruck verschwand wie ein Gespenst beim ersten Morgenlicht. »Tante Feli!« Mit Mühe fasste sich Amanda und raffte sich zu einem Lächeln auf.

»Oh, bitte, nenne mich nicht Tante, sonst wächst mir gleich ein Bart.« Sie reichte Amanda die Hand, die diese zitternd ergriff, nachdem sie die Schatulle unter den Arm gesteckt hatte. Sie hauchten sich Küsschen auf die Wangen.

»Ich wusste gar nicht, dass du schon zurück bist von deiner Kur.«

»Vorgestern«, sagte Felicitas knapp, »und gerade rechtzeitig, wie mir scheint. Sonst hätte ich hier noch etwas verpasst.«

Amanda errötete. »Oh, das … Bitte denke nicht schlecht von mir«, stammelte sie. »Ich konnte den Fund dieser Briefe nicht vor Leon geheim halten. Sie sind eine kleine Sensation, finde ich. Es wäre …, es wäre so billig gewesen.«

»Billig?«

»Kleinlich. Unprofessionell.« Ihr Gesicht verschloss sich wieder, ihre Finger umklammerten die Schatulle. Weitere Erklärungen blieben Amanda erspart, denn die Seitentür öffnete sich und die Raben-Produzentin steckte ihren Kopf heraus. Ihre Gesichtszüge verzogen sich, als sie Felicitas erblickte, so als würde die hier nun als Letzte hingehören. Doch sie fing sich schnell. »Jan hat sich endlich gemeldet. Die Apotheke rückt ohne ein Rezept kein Spray raus. Er bringt jetzt irgendetwas anderes mit, was helfen soll.«

»Geht es Leon noch nicht besser?«, fragte Amanda bang.

»Nicht wirklich«, seufzte die Produzentin theatralisch. »Und Lydia ist offensichtlich in den Menschenmassen da unten stecken geblieben. Kannst du Leons Tasche holen, Amanda? Er sagt, da könnte vielleicht auch ein Spray drin sein.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Amanda sofort. »Ist die noch im Zimmer des Bibliothekars?«

»Ich glaube, ja.«

Amanda drückte der Rabenfrau die Schatulle in die Hand und lief los.

»Was hat denn die Aktentasche des Professors im Zimmer des Bibliothekars zu suchen?«, empörte sich Felicitas. »Das ist doch keine Abstellkammer. Was glauben Sie denn, wo Sie sich hier befinden?« Sie hatte ihre Stimme erhoben.

Das lockte Leon Rochardt heraus. Widerwillig musste Felicitas anerkennen, dass er überaus attraktiv war. Ein sportlicher Mittfünfziger, gekleidet in edelste Materialien, der, das wusste sie, gern die Weltläufigkeit eines Globetrotters heraushängen ließ. Jetzt jedoch rang der berühmte YouTuber um Atem und sah alles andere als lässig aus, was Felicitas rachsüchtige Genugtuung verschaffte. Er hatte Mühe zu sprechen und sein Gesicht war gerötet vor Anstrengung. Seinem professionellen Charme vermochte jedoch selbst ein Asthmaanfall nicht zu bremsen. »Sieh an, die Tante Feli!«, keuchte er und verzog seinen Mund zu einem Zahnpastawerbelächeln.

»Guten Tag, Professor Rochardt«, entgegnete Felicitas mit Gletscherkälte.

Er lachte, japste nach Luft und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. »Immer noch die Alte, wie ich sehe. Die Hüterin der Bücher.« Er verneigte sich. »Ich versichere, dass Sie alles in bester Ordnung vorfinden werden im Zimmer des Bibliothekars.« Ein wüster Hustenanfall brachte allen Sarkasmus zum Einsturz.

»Wir haben dort als Erstes gedreht«, erklärte die Produzentin mühsam geduldig. »Wo bleibt Lydia? Wo ist dieser gottverdammte Jan? Leon braucht endlich sein Spray oder was auch immer diesem grässlichen Husten ein Ende bereitet!«

»Und etwas Wasser«, ergänzte der Professor ächzend.

»Ich hole dir welches«, erbot sich die Produzentin und schüttelte genervt ihre Rabenmähne. Sie reichte die Schatulle an Leon weiter, der sie mit andächtigem Zögern in beide Hände nahm. »Und ihr macht hier bitte, bitte weiter!«, rief die Produzentin. »Sonst kriege ich noch einen Anfall.«

Sie flatterte davon.

Leon scheiterte mit einem kläglichen Versuch, sein Lächeln aufzusetzen. »Ich hatte letzte Woche einen kleinen Infekt«, erklärte er unnötigerweise. »Das ist nur noch ein Reizhusten.«

Felicitas blieb ungerührt. »Vielleicht sind Sie neuerdings allergisch auf alte Bücher?«

»Nur auf Erdnüsse.« Er zwinkerte ihr zu. »Sie werden doch nicht etwa eine Tüte davon zwischen den Inkunabeln verstecken, Tante Feli?«

»Ich empfehle, den Defibrillator von der Rezeption zu holen«, erwiderte Felicitas. »Vielleicht haben Sie damit eine Chance, Ihre Filmaufnahmen zu überleben.« Sie rückte an ihrer Kostümjacke.

Ihre Worte beeindruckten ihn erstaunlicherweise. »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand, Tante Feli«, murmelte er. Felicitas erinnerte sich, dass Amanda schon einmal um ihn gebangt hatte, als er nach einem solchen Anfall einen schweren anaphylaktischen Schock erlitten hatte. Dies erweckte ein winziges Gefühl der Beschämung in ihr. Doch das währte nicht lang.

Inzwischen war Amanda mit der berühmten braunen Aktentasche des Professors wieder da, aus der er bei seinen Auftritten sein ebenso berühmtes, in Leder gebundenes Notizbuch zu holen pflegte, um das staunende Publikum mit seiner neuesten Entdeckung zu überraschen. Felicitas rümpfte die Nase.

»Es ist kein Spray darin«, sagte Amanda. »Nur deine Notizen.«

»Das kann nicht sein.« Leon drückte ihr das Kästchen in die Hand und durchwühlte die Tasche. »Nicht einmal ein Hustenbonbon!«, schimpfte er. »Irgendwo muss doch so ein verdammtes Spray sein. Ich habe überall eine Notfalldose seit damals.«

»Ich glaube, Ihre Gelie…, Ihre Assistentin ist bereits auf der Suche danach«, gab Felicitas bekannt.

Amanda schenkte ihr dafür einen Blick, den sie als eine Warnung auffasste. »Ich glaube, da kommen sie schon«, sagte Amanda und zeigte mit ihrer freien Hand auf die Fensterfront auf der anderen Hofseite.

»Warum hat das nur so lange gedauert!«, krächzte Leon.

»Würden Sie den Gang nicht mit Ihren Kisten blockieren, hätten Ihre Leute keinen Umweg gehen müssen, Professor«, merkte Felicitas kritisch an.

Leon winkte schnaufend ab. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er. »Vorhin wollte sich so ein irrer Typ Zutritt verschaffen.«

»Ich hörte davon.« Felicitas wandte sich um, da sie Schritte am Eingang zur Schatzkammer vernahm.

Hinter Lydia lief eilfertig ein dünner Mann mit schütterem Haar und einer randlosen Brille auf der spitzen Nase. Er schwitzte. Trotz der sommerlichen Hitze trug er ein Jackett.

»Kein Spray im Auto«, verkündete Lydia, als sie bei ihnen angekommen waren. Ihre Tränenspuren waren verschwunden. »Und Jan hat es auch nicht besonders weit gebracht in der Apotheke.«

Der Mann errötete. »Einen guten Hustenstiller hat mir die Apothekerin aber empfohlen«, haspelte er. Er holte zwei Schachteln aus der Jackentasche. »Dragees und Tropfen. Sie sollen rasch wirken.«

Der Professor riss ihm beides aus der Hand. Er sah kurz auf die Verpackungen. »Mhm! Kenne ich«, murmelte er, ohne den Überbringer der Arznei eines Blickes zu würdigen.

»Und hier kommt das Wasser!« Die Produzentin kam um die Ecke gefegt, den Arm voller kleiner Wasserflaschen. Sie nahm die Ankunft der beiden mit einem Augenrollen zur Kenntnis. »Na, prima! Da können wir endlich weitermachen!« Damit verschwand sie im Bibliothekssaal. Hustend und keuchend wollte Leon ihr folgen.

»Wird es denn gehen, Leon?«, fragte Jan.

»Ja, ja.« Leon wedelte mit seinem Notizbuch herum und klemmte sich die Aktentasche unter den Arm.

»Wenn wir in dem Tempo weiterdrehen, sind wir morgen früh noch nicht fertig«, rief Lydia in einem nörgeligen Ton, der Felicitas neu war an der jungen Frau.

---ENDE DER LESEPROBE---