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Sylke Hörhold

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Beschreibung

Wenn Angst dir den Atem nimmt und du dir selbst nicht mehr trauen kannst, wem vertraust du dann?

Entgegen all ihrer Bedenken übernimmt die Anwältin Julia Eisler einen Auftrag für einen anonymen Mandanten. Sie soll nach Spuren einer seit Jahren vermissten Frau fahnden, die vor Jahren Mann und Kinder verließ. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Den Ermittlern blieb dieser Fall ein ungelöstes Rätsel.

Julia stößt bei ihren Recherchen auf erbitterten Widerstand der Familie. Erst als sie sich bereit erklärt, in einem Stalking-Fall der jüngeren Tochter zu ermitteln, ohne die Polizei einzubeziehen, ist die Familie zur Kooperation bereit.

Julias Nachforschungen im Dorf werden zunehmend schwierig, als einer ihrer befragten Zeitzeugen im Wald unter mysteriösen Umständen tödlich verunglückt.

Bald spürt Julia, dass auch sie manipuliert wird und so mancher Schein trügt, bis sie in einem furiosen Finale der grausamen Wahrheit hinter allen Geheimnissen auf die Spur kommt.

Ein neuer Fall für Julia Eisler

Bisherige Veröffentlichungen:
Emmelie - der erste Fall: Band 1
Hexenbrennen - der zweite Fall: Band 2
Recht wie Wasser - der dritte Fall: Band 3

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Über die Autorin

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Impressum

Was dir den Atem nimmt

Der vierte Fall - Oberlausitzkrimi

Dem Wald gewidmet

Sylke Hörhold

www.sylke-hoerhold.de

Personenübersicht

Julias Familie in Finkendörfel

Julia Eisler – Rechtsanwältin – die Hauptperson

Dr. Paul Eisler – Arzt und Forschungsassistent – ihr Ehemann

Sophia - genannt Phi - ihre dreijährige Tochter

Ella-Ma – Julias Großmutter

Trude – deren enge Freundin und Gefährtin

Julias Familie und Team in Bautzen

Georg und MillaVeit – Julias Eltern

Sebastian Fink – Basti (heimlich „der Specht“ genannt) – Rechtsanwalt und Julias neuer Teilhaber der Kanzlei in Bautzen

Die Trögerin – Sekretärin der Kanzlei

Franzi, die zweite Anwaltssekretärin

Weitere wichtige Finkendörfler

Tilda (Matilda) – Julias neue Nachbarin, arbeitet in der Arztpraxis und ihr fünf Jahre alter Sohn Bennie

Fred (Frederik) Tildas jüngerer Bruder – Computer - und Netzspezialist

Sabine, Mutter von Tilda und Fred

Dr. Dennis Czerny – der neue Arzt

Familie Krahl und ihr Umkreis:

MarionKrahl (geborene Grünert) – vor 17 Jahren verschwunden

Jens Krahl, ihr Mann und einstiger Hauptverdächtiger

Jessy Krahl – ältere Tochter und Führerin von Holzverbringerpferden in der Nachfolge ihres Vater

Mia Krahl – jüngere Tochter, die mit ihrem Freund Marcel wieder nach Finkendörfel zurückgekehrt ist

Stan Grellert, Mias Ex-Freund

Thomas Müller – der „kleine“ Wald-Müller genannt – Jessys Hauptauftraggeber

Kai Marquart – Geschäftsmann, ehemaliger Chef und Geliebter von Marion

Sonstige Figuren:

Heinrich Herzog – ehemaliger Kriminalhauptkommissar

Kriminalkommissar Kruz, dessen Ermittlerkollege beim Vermisstenfall Marion Krahl

Kriminalhauptkommissarin Sonja Walther – leitende Ermittlerin

Isolde Arnold - Pflegemutter von Marion Krahl

Ruth - Betreuerin von Isolde Arnold

Kapitel

In den Wald bin ich geflüchtet, Ein zu Tod gehetztes Wild, Da die letzte Glut der Sonne Längs den glatten Stämmen quillt.

Keuchend lieg ich. Mir zur Seiten Blutet, siehe, Moos und Stein Strömt das Blut aus meinen Wunden? Oder ist‘s der Abendschein?

Conrad Ferdinand Meyer, Abendrot im Walde

Weiter! Weiter! Sieh dich nicht um. Jage durch den Wald, den toten Wald. Der Wald der Toten. Rindenlose Fichtenstämme neigen sich über dich wie rachsüchtige Geister. Nur weiter! Es stirbt sich leicht im toten Wald. Weiter! Lauf weiter! Lauf um dein Leben. Schüttele sie ab. Alle. Kämpfe! Mag es vergeblich sein, doch kämpfe. Bäume dich auf. Kämpfe!

Sieh nur, wie die kahlen Äste im fahlen Mondlicht nach dir greifen. Spüre wie kratzende Ranken dich hindern wollen zu entkommen. Ein Klagelaut lässt dich erzittern. Er kommt von fern. Ein Echo alter Pein. Du keuchst, du ringst nach Luft. Kannst nicht entrinnen. Wie ein Baum fällt, so fällst du. Bist gefällt. Gefangen. Verloren. Nur das Klagen des Windes um das unwerte Sein. Und dann diese Last! Die Last, die dir den Atem nimmt, das Leben aus dir quetscht. Verflucht. Verloren. Kein Klagen hilft hier weiter. Und in der Ferne bellt der Hund. – Der Hund!

Der Hund! Jessy fuhr aus ihrem Traum. Ihr Haar klebte an der schweißnassen Stirn. Sie zitterte. „Aus, Reg!“, befahl sie. Ihre Stimme war noch schwach unter dem Eindruck des Albs. Reg bellte weiter die Tür an. „Aus!“ Endlich gehorchte der Border Collie und setzte sich wachsam vor die Kammertür. Dahinter vernahm Jessy wieder diesen Klagelaut, der sie bis in ihren Traum verfolgt hatte. „Mia!“ Mit Mühe befreite sie sich aus dem Wust ihrer Decke. Dann war sie jedoch mit einem Satz aus dem Bett, lief zur Tür und riss sie auf. Mias zarte Gestalt kauerte an der Wand. Sie hatte ihren Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und weinte laut und jammernd. Reg kam hinzu. Er schnüffelte an ihr, bevor er sich setzte und zu Jessy aufblickte.

Sie atmete einmal tief durch. „Was sitzt du denn hier in der Kälte?“ Ihre Worte klangen barscher, als sie gewollt hatte. Jessy spürte die alte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen, wenn sie ihre Schwester in diesem Zustand sah. „Was hat er wieder gemacht, der Mistkerl?“

„Nichts“, schluchzte Mia. „Er ist gar nicht da. Nicht Marcel … Er ist es!“ Sie schob sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und schaute auf. Das nackte Grauen starrte Jessy aus den Augen ihrer Schwester an. „Er ist wieder da, Jess.“

„Das ist nicht möglich. Reg hätte sofort Alarm geschlagen.“

Mia schüttelte den Kopf. „Nicht hier im Haus. Er ist hier!“ Sie hielt ihr Handy hoch.

„Wie hat er das gemacht? Wie kommt das Schwein an deine Daten?“

„Ich … weiß es nicht.“ Mia bebte am ganzen Körper. „Marcel sagt, jeder kann so etwas ausspionieren.“

„Warst du etwa wieder online?“ Reg spitzte die Ohren, da Jessy ihre Stimme erhoben hatte.

„Nur über Marcel“, gab Mia angstvoll zu. „Ich dachte doch nicht, dass … Oh, Jess, es ist alles wieder da! Ich würde am liebsten Schluss machen, damit das endlich aufhört.“

„So weit kommt es noch! – Los! Komm! Hoch mit dir.“ Mühelos hob Jessy das zitternde Bündel hoch und trug es hinüber in ihr Bett. Sie kuschelten sich aneinander. Jessy strich ihrer Schwester die Locken aus der Stirn, bis Mia leise zu summen begann. Eine Fantasiemelodie. Was auch immer zuvor geschehen war: Es beruhigte sie. So hatten sie es schon immer gehalten, wenn Kummer, Angst und Ungewissheit über sie hereingebrochen waren wie ein böses Unwetter. Die Jahre fielen ab. Hier waren sie sicher und vereint in ihrer Höhle. Die starke Jessy und die schöne Mia. Da mochten die Dämonen kreischen und das Chaos toben unten in der Küche. Mias Melodie war ihr Zauberschild.

Reg ließ sich neben dem Bett nieder. Er legte seinen Kopf auf die Pfoten. Die Ohren waren aufmerksam nach vorn gerichtet, damit ihm kein anderes Geräusch im Haus entgehen konnte. Die Schwestern ließ er dabei nicht aus den Augen.

„Ich habe vom Wald geträumt“, sagte Jessy schließlich, als Mias Summen verebbte.

„Der Wald!“

Mia klang voller Sehnsucht, sodass Jessy sich hütete, ihr von dem Albtraum zu erzählen. Lieber ließ sie das Wort einfach stehen, in dem alle Schönheit, alles Abenteuer und aller Schrecken ihrer Kindheit wohnten. Der Wald! Der Wald lag im Sterben. Es zerriss ihr das Herz.

„Wie geht es Vater?“, fragte sie stattdessen.

Mia regte sich. Im Schein der Nachttischlampe leuchtete ihr schönes Gesicht auf. „Er schläft. Unruhig zwar. Doch die Tropfen wirken, die uns der neue Doktor gegeben hat. Er ist nett, findest du nicht?“

Jessy warf sich auf den Rücken. „Ach, Mia! Du und die Kerle!“

„Was du gleich wieder denkst.“ Mia knuffte Jessy in den Oberarm. „Das war doch nur beruflich.“

„Ja klar.“

Sie schwiegen eine Weile und starrten die Decke der Schlafkammer an.

„Es hat mich wie ein Blitz getroffen, dass Stan mir wieder geschrieben hat“, sagte Mia dann. „Gestern schon. Da dachte ich noch, dass das ein schlechter Scherz von Marcel sein müsste.“

Jessy fuhr hoch. „Wenn dieser Typ solche scheiß Scherze mit dir macht, fliegt er hier achtkantig raus! Das kannst du ihm gern bestellen.“

„Wir hatten uns etwas gekabbelt“, beschwichtigte Mia rasch. „Marcel wird doch so schnell eifersüchtig.“ Sie lächelte mit der eitlen Einfalt einer Frau, die wusste, was sie mit ihrem Aussehen bewirken konnte. „Früh war doch der neue Doktor da gewesen.“

„Noch so ein Schönling!“, ereiferte sich Jessy. „Pass auf, was du machst mit denen, Mia. Ich sage es dir: Die Kerle bringen dich noch mal ins Grab!“

„Oh! Sag doch nicht so was, Jess!“

Mias Rehaugen waren schreckgeweitet, sodass Jessy ihre Worte sofort bereute. Sie wuchtete ihren Körper aus dem Bett. „Wo steckt der überhaupt, dein Marcel? Wenn man den Typen mal braucht, macht der sich einen schlanken Fuß! Aber Besitzansprüche erheben. Eifersucht! Dass ich nicht lache.“

„Immer hackst du auf ihm herum, Jessy. Das ist nicht gerecht, weißt du?“

Jessy wusste es. Sie war ungerecht. Sie konnte nicht anders. Dieser lasche Typ, der sich seit Neuestem an ihre Schwester gehangen hatte, regte sie auf. Er brauchte nur in seiner schlaffen Haltung mit am Tisch zu sitzen, schon rastete sie innerlich aus. Oder wenn sie seine träge, schleppende Stimme hörte. Es reichte schon, dass sie seine schlürfenden Schritte vernahm. Reg war ganz Jessys Meinung. Gleich bei ihrer ersten Begegnung im Frühsommer, als Marcel plötzlich in Mias Schlepptau auf dem Hof erschienen war, hatte der kluge Reg bei der Begrüßung nach seiner Hand geschnappt. Seitdem hielt der Typ respektvoll Abstand. Alles an diesem Marcel hatte etwas so Klägliches an sich, dass sie sich beherrschen musste, ihn nicht ständig zu schütteln. Wie konnte so eine Flasche, so ein Schwächling ihre Schwester beschützen? – Mia behauptete, sie liebt ihn.

Jessy seufzte. „Der Typ hat sich an dich gehängt, weil er gesehen hat, dass du gerade schwach bist“, stellte sie resigniert fest. „Und nun klammert er.“

„Er klammert gar nicht! Er war einfach da, als ich ihn am meisten brauchte.“ Auch Mia schälte sich aus der Bettdecke.

„Glaube mir, Schwesterherz: Mit diesem Typen bist du von dem einen Psycho an den nächsten geraten!“

Mia funkelte ihre Schwester an. „Wie kannst du Marcel nur mit Stan vergleichen, diesem eiskalten Schwein!“

„Na gut“, gab Jessy zu. „Eiskalt ist er nicht, aber trotzdem ein Psycho.“

„Wir lieben uns! Davon verstehst du einfach nichts.“ Beleidigt zog sie an Jessy vorbei, die vor Zorn für einen Moment verstummt war. Diese Kränkung hatte gesessen.

Der Wecker machte ein klackendes Geräusch. Fünf Uhr. Jessys Zeit zum Aufstehen. Reg erhob sich schwanzwedelnd.

„Wirst du es melden?“, fragte Jessy. „Ich meine, Stan hat ja diese richterliche Verfügung, sich von dir fernzuhalten. In jeder Hinsicht. Auch da.“ Sie wies auf das Telefon in Mias Hand.

Mia war schon an der Tür. Sie wandte sich um. „Melden? Der Polizei? Niemals!“ Es schien, als richte sie sich bei diesen Worten ein Stück weit auf. Alle Angst war für den Moment gewichen und hatte ihrer alten Einigkeit Platz geschaffen. Keine Polizei. Niemals. Zu groß die Wunden der Vergangenheit. Doch dieser Augenblick schwesterlicher Eintracht zerstob, als ein Signal Mia auf ihr Telefon schauen ließ. Ihr erster Schrecken wich sogleich Erleichterung. „Es ist Marcel. Er schreibt, dass er heute zurückkommt. Er hilft mir mit diesem verdammten Stalker, hat er gesagt!“

Jessy entfuhr ein verächtliches Schnauben, was ihr einen wütenden Blick ihrer Schwester eintrug. Jessy winkte ab. „Schon gut“, meinte sie versöhnlich. Reg trottete an ihre Seite. „Versuche noch ein bissel zu schlafen, bevor Papa wach wird. Ich muss zu den Pferden.“

Kapitel

Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft‘ge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt!

Joseph von Eichendorff, Abschied vom Walde

„Was mag Julia nur aufgehalten haben?“ Ella-Ma stieg mit einiger Mühe aus dem Taxi.

„Vor allem: Warum geht sie nicht an ihr Telefon?“, ergänzte Trude brummig. Sie griff nach einem der Koffer, doch die Taxifahrerin nahm ihn ihr sofort wieder aus der Hand. „Lassen Sie mich das mal machen“, verkündete sie und packte kräftig Koffer und Tasche. Damit ging sie den beiden Alten voraus durch das Gartentor hinauf zum Umgebindehaus am Fuße des Kirchberges. Im Vorgarten leuchteten die Astern und das rote Laub des Hartriegels. Ihre betagten Fahrgäste folgten ihr Arm in Arm in kleinen, vorsichtigen Schritten.

„Ach, Trude!“, gestand Ella-Ma. „Ich will nur noch auf meine Couch und die Beine hochlegen.“

„Das verstehe ich vollkommen, meine Liebe. – Was auch immer Julia gehindert hat, uns abzuholen, es ist …“

„Hoffentlich ist nichts mit Phi!“

Trude zuckte merklich zusammen. Der Gedanke, dass ihrer geliebten kleinen Sophia etwas zugestoßen sein könnte, versetzte sie in Aufruhr. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte und zerrte Ella-Ma mit sich der Haustür entgegen. „Der Husten ist vielleicht wieder schlimmer geworden“, unkte sie. „Hatte Julia nicht erst neulich von dem Verdacht auf Asthma gesprochen? Vielleicht sind sie im Krankenhaus?“

„Nun male doch nicht gleich den Teufel an die Wand, Trude! Du bist ja schlimmer als Julia.“

Doch Trude ließ ihre Freundin los und eilte zur Haustür, wo die Taxifahrerin schon mit dem Gepäck wartete. Sie schloss auf. „Bitte stellen Sie es doch gleich hier in den Flur!“

Mit sachten Schritten war Ella-Ma gefolgt. Sie nestelte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. „Das stimmt so und haben Sie vielen Dank!“

Sichtlich erfreut verabschiedete sich die Taxifahrerin.

Trude half Ella-Ma aus der Jacke, als sie heftig streitender Stimmen aus dem Anbau heraus gewahr wurden. Die Wohnungstür zu Julia und Paul war nur angelehnt. Sie hörten jedes wütende Wort.

Voller Besorgnis sahen sich die beiden Ankömmlinge an.

„Sturm im Wasserglas?“, vermutete Ella-Ma schließlich.

„Oder es ist doch etwas mit Phi? Warum ist sie nicht da? Oder hörst du unsere Kleine hier irgendwo?“

„Scht!“ Ella-Ma hob die Hand. Sie lauschten. Solchen leidenschaftlichen Streit waren sie von Julia und Paul nicht gewohnt.

„Du willst wissen, wie mein Tag war?“, wütete Julia mit schriller Stimme. „Interessiert es dich wahrhaftig, dass unsere Tochter heute zweimal aufs Töpfchen gekackt hat? Dass sie solchen Husten hatte, dass sie mir den Hustensaft auf die Hose gekotzt hat? Und dass mir unser ehrenwerter Dr. Köhler versichert hat, dem Kind fehle es lediglich an Ruhe und Ordnung?!“

Pauls Stimme war ruhiger, aber auch er klang deutlich verärgert, ohne dass sie seine Worte erfassen konnten.

„Was du nicht sagst“, war Julias schäumende Antwort. „Ich gehe das nächste Mal jedenfalls zu diesem neuen Arzt, den Köhler jetzt bei sich angestellt hat. Auf dich kann ich offensichtlich nicht mehr zählen, wenn es um die Gesundheit unseres Kindes geht. Dem Herrn Dr. Dr. Eisler ist ja seine Arbeit am Institut viel wichtiger.“

Pauls Einwand war erneut nicht zu verstehen. Doch wenn er besänftigen sollte, verfehlte er eindeutig sein Ziel. „Natürlich habe ich gesagt, dass ich mich um Sophia kümmere“, war Julias hitzige Entgegnung. „Das ist gar nicht der Punkt, sondern dass es eine Frage der Wertigkeit für dich ist. Was ist schon die Arbeit einer kleinen Anwältin gegenüber dem Ruf der Wissenschaft und der Rettung der Menschheit. Schließlich winkt da ja schon die Professur, nicht wahr?“

„Du bist ungerecht, Julia! Und das weißt du auch.“

„Mag sein“, wiegelte Julia ab, deren Wut mittlerweile erste Erschöpfung zeigte. „Es ist nur so, dass du mich hier mit allem so allein lässt. Die Niederungen eines normalen Familienalltags sind dir gerade mal eine kleine Nachfrage wert. Hast du eine Ahnung davon, wie so ein Tag bei uns abläuft? Telefonate mit Klienten auf dem Klo, damit sie nicht Phis Weinen oder ihren Husten hören. Alle Arbeitszeit ist gestohlene Zeit. Überall Unordnung, Wäsche, Chaos und Stapel von Unerledigtem. Gestern habe ich mit letzter Not noch eine Frist einhalten können. Wenn mich die Trögerin nicht wieder und wieder daran erinnert hätte. Mein Kopf ist so voll und leer zugleich. – Ach, manchmal könnte ich …!“ Ihre letzten Worte erstickten in Tränen.

Ella-Ma und Trude wechselten einen mitleidigen Blick. Dann nutzten sie die kleine Pause, um ihre heimliche Zuhörerschaft zu beenden. Nach einem kurzen Klopfen traten sie bei den Eislers ein.

„Hallo, ihr zwei“, sagte Trude trocken. „Hier brennt ja ordentlich die Luft.“

Julia nahm die Hände vom Gesicht. Sie starrte sie an wie Geister. Paul dagegen schien erleichtert über ihr Erscheinen. Doch als er sie mit einer Umarmung begrüßte, wurde sein Gesichtsausdruck fragend und er wandte sich nach Julia um. „Wolltest du unsere beiden lieben Alten nicht abholen?“

Julia stierte noch immer fassungslos auf die Ankömmlinge. „Ihr …“, stammelte sie schließlich und wischte sich die Tränen der Wut aus dem Gesicht. „Ihr seid schon da? – Oh mein Gott! Ich dachte, … Welchen Tag haben wir heute? – Warum habt ihr denn nicht …? – Wo ist mein verdammtes Telefon?“ Paul reichte es ihr. Es hing am Stromkabel. Der Stecker jedoch baumelte frei in der Luft. „Scheint tot zu sein“, murmelte er mitfühlend. „Akku leer.“

„Akku leer“, wiederholte Julia wie im Trance. Dann stürmte sie auf die beiden zu, um sie zu umarmen. „Es tut mir so leid! Ich habe …, ich dachte morgen … Ich habe es vergessen!“ Sie schluchzte in Trudes Jacke.

„Offensichtlich, mein liebes Kind“, meinte Ella-Ma, die sich nach diesem Ansturm vorsichtshalber auf einen der Stühle am Esstisch setzte. „Beruhige dich erst einmal. Du bist ja völlig außer dir.“

Julias Weinen wurde heftiger. Sie krallte sich in Trudes Jacke. „Aber ich hatte es doch versprochen!“, stieß sie zwischen ihren Schluchzern hervor. „Es tut mir so leid! – Da kommt ihr gerade von der Kur und Oma ist doch noch schwach und ich … Ich habe es vergessen! Was für ein Desaster!“

„Ist ja gut nun!“ Energisch befreite sich Trude aus Julias Klammergriff. „Setz dich! Und trockne deine Tränen.“ Sie drückte Julia auf den Stuhl neben Ella-Ma und reichte ihr ein gebügeltes Taschentuch aus ihrer Jackentasche. Dankbar schniefte Julia hinein. „Aber ich habe es doch versprochen! – Im Moment läuft einfach alles schief.“

Trude überhörte das geflissentlich und setzte sich ebenfalls. „Gibt es vielleicht einen Tee? Paul? Bist du so gut? – Und wo ist denn unsere kleine Phi?“

„Bei den Hellers drüben“, sagte Paul über seine Schulter hinweg. Er war nach nebenan in die Küche gegangen und machte sich am Wasserkocher zu schaffen.

Ella-Ma und Trude wechselten einen Blick. „Wie das?“

„Bei Tilda“, schniefte Julia. „Sie ist mit ihrer Mutter hergezogen. Die pflegt doch jetzt Friedegard nach ihrem Schlaganfall, damit die nicht ins Pflegeheim muss. Ist wohl ihre Tante.“

Trude wurde ganz aufmerksam. „Ach, das ist bestimmt die Sabine. Ja, die ist Krankenschwester, wenn ich mich richtig erinnere. Und diese Tilda ist also ihre Tochter?“ Familienbande hatten Trude schon immer fasziniert.

„Und Bennie, der Enkel ist auch mit“, ergänzte Julia. Sie schnaubte in das völlig durchnässte Taschentuch. Wortlos reichte ihr Ella-Ma ein Päckchen frischer Tempos aus ihrer Handtasche. „Danke.“ Schon wagte sich ein erstes Lächeln auf Julias verweintes Gesicht.

„Ich habe einen ganz schön hohen Verbrauch heute, nicht wahr?“, versuchte sie zu scherzen.

„Wie schön, dass du in unseren neuen Nachbarn gleich eine Freundin gefunden hast“, sagte Ella-Ma sanft. „Wie geht es Friedegard denn?“ Ihr Versuch, Julias Gedanken behutsam in andere Bahnen zu lenken, schien zu gelingen. Julia knüllte die nassen Tränentücher zusammen und blickte auf. „Sie ist wohl sehr energisch, trotz ihrer Beeinträchtigung.“

Es lag Vorsicht in Julias Worten. Schon holte Trude Luft, um mehr darüber zu erfahren. Doch Paul stellte gerade ein paar dampfende Tassen mit heißem Wasser vor sie auf den Tisch. In jeder baumelte ein Teebeutel, was bei Ella-Ma für einen kurzen Moment der Enttäuschung sorgte. Sie fasste sich jedoch schnell. „Danke, mein Lieber.“

„Ich denke, ich sollte Sophia jetzt abholen“, sagte Paul. „Hattest du nicht gesagt, bis halb sechs?“ Die Frage war an Julia gerichtet und sorgte dafür, dass sie schon wieder in Aufruhr geriet. Sie schnappte sich ihr totes Telefon. „Mist!“ Sie sah auf die Uhr in der Küche. „Ich muss los!“

„Lass doch mich …“

„Nein, nein! Ich gehe!“ Julia war schon aufgestanden. „Ich mache das. Bereite du nur etwas Abendbrot für uns vor. Und hilf den beiden mit den Koffern, ja?“ Bevor jemand etwas erwidern konnte, war Julia aus der Wohnung. Sie hörten nur wenig später die Haustür zuklappen.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Dann ergriff Ella-Ma das Wort. „So, nun setze du dich mal, mein lieber Paul!“ Sie klopfte auf den Stuhl neben sich. „Und sage uns endlich, was hier los ist!“

*

Julia sah Tilda am Gatter zum Hühnerhof lehnen. Neben ihr stand ein schlaksiger junger Mann mit blassem Gesicht in einem viel zu großen schwarzen T-Shirt. „Keep cool play games“ stand darauf.

Tilda hatte die Ankunft ihres jüngeren Bruder Frederik für heute angekündigt, aber Julia fühlte sich im Moment nicht in der Lage, neue Bekanntschaften zu schließen. Die Aufruhr und ihr Versagen hatten sie erschöpft und frustriert. Eben wollte sie umdrehen und doch Paul rüberschicken, um Sophia abzuholen, als Tilda nach ihr rief. Schon kam sie auf Julia zugelaufen, fröhlich strahlend wie immer. Matilda hatte ein so sonniges Gemüt, dass Julia ganz schwarz im Herzen wurde vor Sehnsucht nach einer Prise dieser Leichtigkeit.

„Die Kinder bringen mit Mutti noch die Hühner rein“, rief sie. Flink kam die kleine, rundliche Tilda näher, doch plötzlich stockten ihre Schritte. „Mein Gott, Julia! Du siehst schrecklich aus.“ Tilda sah sich nach den Kindern um. Sie waren nicht zu sehen. Nur Fred winkte herüber. „Komm schnell in die Küche“, flüsterte sie und nahm Julia an der Hand, als fürchtete sie, Julia könnte entfliehen oder womöglich, was noch schlimmer wäre, die Kinder erschrecken mit ihrem Aussehen.

„Willst du einen Tee?“ In der großen Landhausküche der Hellers stand immer etwas zu essen und zu trinken bereit. „Komm, setz dich.“ Sie betrachtete Julia mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier. „Oder lieber etwas Stärkeres?“

„Tee.“ Müde ließ sich Julia auf einen der Küchenstühle plumpsen. „Sonst komme ich hier nie wieder hoch.“

„Was ist passiert?“ Tilda stellte die mit dem Haustee gefüllten Tassen auf den Tisch und setzte sich neben Julia.

In wenigen Sätzen erzählte Julia von ihrem neusten Drama. Neben vielen anderen Talenten besaß Tilda die Gabe, mit einer Engelsgeduld zuhören zu können. Julia wusste nicht, wie sie die letzten Wochen ohne diese Stunden in der Landhausküche, die tatkräftige Hilfe ihrer neuen Nachbarin und deren Freundschaft überlebt hätte. Ella-Ma und Trude zur Kur, Paul mit seiner neuen Arbeit am Institut beschäftigt und ihre Eltern auf Weltreise. Sophia immer wieder krank. Dazu Julias Ängste, sie könnte auch dieses Kind verlieren, so wie damals ihren Sohn Stevie, der am plötzlichen Kindstod gestorben war.

„Ich glaube, ich verliere so langsam den Verstand, Tilda!“, schloss sie und legte die Stirn auf die Tischplatte. „Ich habe das Gefühl, ich bin gar nicht mehr ich selbst. Nur noch eine funktionierende Mama-Maschine, die als Anwältin und Enkeltochter aber total versagt.“

„Unsinn“, sagte Tilda voller Überzeugung. Sie legte ihren Arm um Julias Schulter, um dann gleich energisch festzustellen. „Total abgeklappert bist du! Kein Wunder, wenn du keine Mauke mehr hast für deinen Alltag. Isst du denn auch richtig?“

Für Tilda ließen sich die meisten Dinge über leibliche Genüsse regulieren. In anderen Zeiten hätte sich Julia darüber amüsiert. Jetzt aber war sie nur noch müde, trostlos müde und ohne Kraft. Mit Mühe richtete sie sich wieder auf. „Morgen muss ich nach Bautzen in die Kanzlei. Ich überlege ernsthaft, mich krank zu melden.“

„Dann mache das doch!“

Julia schüttelte den Kopf. „Ist zu wichtig. Wir bekommen das Mandat für einen hiesigen Unternehmer, dem man schlecht etwas abschlagen kann. Außerdem will ich dem Specht die Genugtuung versagen, wieder auf mir herumzuhacken. – Von wegen: Ich erfülle meine Arbeit nicht. Dem werde ich es noch zeigen!“ Sie schaffte es sogar, ihre Fäuste zu ballen.

„So gefällst du mir schon besser“, sagte Tilda zufrieden und goss Tee nach. „Lass den Specht doch trommeln. – Wer ist übrigens dieser Specht?“

Unvermittelt lachte Julia auf. „Das ist mein neuer Partner. Nach Vaters Rückzug in den Ruhestand hat er sich in unserer Anwaltskanzlei eingenistet.“ Sie nahm einen tiefen Schluck vom Kräutertee. „Bürgerlicher Name: Sebastian Fink. Den Beinamen Specht hat er sich in unserer Familie durch seine dämliche Angewohnheit erworben, mit dem Stift auf der Tischplatte zu trommeln, wenn er seiner Rede Nachdruck verleihen will. Dieser wichtigtuerische Kraft-Zwerg! Er macht das natürlich besonders gern, wenn er eine seiner Intrigen spinnt.“ Julia klopfte theatralisch mit ihren Zeigefingern auf den Küchentisch. Jetzt lachten sie beide.

„Ach, Tilda! Schön, dass du jetzt hier eingezogen bist.“

„Danke.“ Verlegen machte sich Tilda an ihrer Teetasse zu schaffen. „Der Specht scheint dich immerhin ordentlich in Form zu bringen.“ Sie bedachte Julia mit einem nachdenklichen Blick. „Er entzündet deine Widerstandskraft.“

„Eher meine Mordlust“, bekannte Julia schon wieder einigermaßen fröhlich.

„Meine liebe Julia“, sagte Tilda nun mit Bestimmtheit, „ich sehe doch, dass dieser Specht die Kriegerin in dir weckt.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Das ist vermutlich genau das, was du jetzt brauchst: eine Herausforderung.“

„Ehrlich? – Ich schaffe ja kaum die Herausforderungen eines ganz normalen Tages.“

„Ich meine, eine richtige Herausforderung. Etwas, was die Anwältin in dir fordert.“

Julias eben erwachter Lebensmut sackte wieder in sich zusammen. „Ich will einfach nur den morgigen Tag überstehen“, murmelte sie.

„Soll ich Sophia nehmen?“

„Nein, die Trögerin passt morgen auf Phi auf, wenn ich in Bautzen bin. – Das ist unsere altgediente Anwaltssekretärin“, ergänzte sie, als sie Tildas fragenden Blick bemerkte. „Aber ich danke dir für …“

In diesem Augenblick kamen die Kinder hereingestürmt. „Mama!“, rief Sophia begeistert. Ihre Augen glänzten und sie hatte gerötete Wangen. „Da ist ein Hund! Der Fredi hat einen Hund!“

„Ja, mein Schatz“, sagte Julia abwesend und fühlte besorgt Sophias Stirn. Hatte das Kind etwa schon wieder Fieber?

„Ein Shiba Inu“, bestätigte Tilda mit einigem Stolz in der Stimme. „Das ist eine japanische Rasse. So kommt Fred, der alte Stubenhocker, wenigstens ab und zu an die frische Luft. Der Hund heißt Takeshi.“

„Das bedeutet Krieger, Beschützer“, ließ sich Frederik von der Tür her vernehmen. Er war mit seinem Neffen Bennie auf dem Arm in die Küche getreten. Julia sah, dass er sein linkes Bein nachzog. „Tak-shi“, wiederholte der kleine Bennie versonnen. Er bohrte in der Nase.

„Gesundheit!“

Die Geschwister lachten. Sogar Julias Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Sophia quietschte vor Vergnügen und wand sich aus der mütterlichen Umarmung. „Ta-ke-shi!“ Sie klatschte in die Hände, während sie durch die Küche hopste.

„Ruhig, Phi! Sonst wirst du wieder krank und musst Medizin nehmen.“

„Jetzt klingst du wie eine Großmutter“, sagte Tilda mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. Fred feixte.

„Sophia ist ganz heiß an der Stirn“, rechtfertigte sich Julia, die ertappt errötete. „Fühl doch mal!“

„Das kommt vom Herumrennen.“ Tilda schüttelte den Kopf. „Entspann dich endlich!“

Das Klingeln des Haustelefons rettete Julia vor weiteren guten Ratschlägen. Es war Paul. Tilda reichte Julia den Apparat. „Wie es scheint, ist das Abendbrot fertig“, meinte Julia, während sie das Telefon entgegennahm.

„Nicht verplaudern“, brummte Paul. „Ihr werdet erwartet.“

„Sind gleich da!“ Sie winkte nach Sophia. „Papa“, flüsterte sie. Das zog immer. Sofort war das Mädchen bei ihr. „Papa! Papa!“ Sie haschte nach dem Telefon und sprang dabei auf und ab wie ein Gummiball.

„Der Specht verlangt nach dir“, sagte Paul.

Julia richtete sich auf. „Basti ist bei uns?“

„Nein. Er will, dass du zurückrufst.“

„Alles klar“, antwortete Julia aufatmend. „Wir sind gleich da.“ Sie begegnete Tildas besorgtem Blick. „Mach dir keine Gedanken“, versprach sie mit einem gequälten Lächeln. „Ich rufe erst nach dem Abendessen zurück und werde die Souveränität in Person sein.“

Sie umarmten sich zum Abschied. Frederik gab sie die Hand. „Schön, dass du jetzt auch hier bist. Das macht die Familie komplett.“

„Fast“, erwiderte Fred grinsend. Er wandte sich an Tilda. „Ich gehe noch eine Runde mit dem Hund.“

Julia wollte noch etwas sagen, doch Phi zog sie schon in Richtung Tür. „Ich will zu Papa!“

Kapitel

Tief die Welt verworren schallt, Oben einsam Rehe grasen, Und wir ziehen fort und blasen, Dass es tausendfach verhallt: Lebe wohl, Lebe wohl, du schöner Wald!

Joseph von Eichendorff, Der Jäger Abschied

Das gemeinsame Abendessen war in überraschender Harmonie verlaufen. Ella-Ma und Trude hatten munter von ihren Kurerlebnissen berichtet, wenn Sophia ihnen die Gelegenheit dazu gegeben hatte. Atemlos und nur einmal unterbrochen von einem Hustenanfall waren aus der Kleinen alle Abenteuer des Nachmittages bei den Hellers herausgesprudelt. Sie war Julia so glücklich dabei erschienen, dass sie es sich verkniffen hatte, zum Einhalt oder gar zum Essen zu mahnen. Stattdessen hatte es Julia einfach genossen, gemeinsam mit ihren Lieben am gedeckten Tisch zu sitzen und sich um nichts kümmern zu müssen.

Ella-Ma schien gut erholt von ihrem Schwächeanfall im Spätsommer und auch Trude hatte den Kuraufenthalt offensichtlich genutzt, um sich von ihrer Trauer zu erholen. Zumindest hatte sie ihren geliebten Perserkater Raki bisher noch mit keinem Wort erwähnt. Raki ruhte seit August in seinem Katergrab unter der alten Weide am Bach.

Vor allem jedoch hatten Sophias vor Glück strahlende Augen Julias sorgenvolles Herz erfreut. Sogar Paul hatte heute einmal mit ihnen am Tisch gesessen und die ganze Aufmerksamkeit ihrer kleinen Tochter als Preis dafür bekommen. Das wiederum gab Julia einen kleinen eifersüchtigen Stich, auch wenn es ihr Wohlgefühl nicht lange zu trüben vermochte. Die ruhige Kraft dieser familiären Stunde lag wie Balsam auf ihrer Seele.

Ella-Ma und Trude hatten sich nach dem Essen alsbald in ihre Wohnung zurückgezogen. Paul und Sophia lagen nun auch schon im Bett und erzählten Geschichten. Julia hörte Pauls ruhigen Bariton im Wechsel mit Phis Zwitschern. Vom Husten war nun nichts mehr zu bemerken bei Sophia. Sicherlich würde heute Abend auch nicht die Runde mit dem Auto fällig sein, bei der Sophia sonst am besten in den Schlaf fand. Was Glück so alles vermochte.

Für einen Augenblick erwog Julia, sich zu ihnen zu gesellen und den Specht noch etwas warten zu lassen. Doch dann blinkte eine Textnachricht auf: „Hast du kurz Zeit?“

Mit einem Seufzen ging Julia hinunter in ihr Büro und drückte die Rückruftaste. Es hupte nur einmal und ihr Partner war am Telefon. Sebastian Fink schien auch den Feierabend nur zu gern mit seiner Arbeit zu verbringen. Als eingefleischter Junggeselle war das vermutlich kein Problem für ihn. Kraftsport und Arbeit – das war es auch schon, was das Leben dieses Zwerges ausmachte. Julia schämte sich nur ganz wenig für ihre gehässigen Gedanken. „Hallo, Basti“, sagte sie so freundlich sie vermochte. Dabei trat sie kräftig auf die Holzstufen, damit der Specht hörte, dass auch sie unterwegs und sehr beschäftigt war.

„Hallo, meine Liebe“, antwortete er mit breitester Freundlichkeit im Singsang seiner Mädchenstimme. „Wie schön, dass du noch Zeit für mich gefunden hast, heute Abend. Na? Wie geht es der Familie?“

„Bestens.“ Julia ließ sich nicht einen Moment täuschen. Sie trat im Dunkeln in ihr Büro. Bevor sie Licht anschalten konnte, stieß sie an einen Holzwagen, den Sophia vom Spielen am Vormittag hatte stehen lassen. Der Schmerz schoss wie ein Dolch in ihren Knöchel. Mit Mühe unterdrückte sie einen Fluch.

„Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja klar“, keuchte Julia und rieb sich den Knöchel. „Geht es um morgen?“

„Na, ja“, antwortete der Specht gedehnt. „Auch das, ja.“ Julia hörte den Stift klopfen. Sie humpelte zu ihrem Schreibtisch.

„Ist ja eine richtige Nummer im Holzgeschäft, unser neuer Mandant. – Schön, dass du es dir einrichten kannst, dabei zu sein. Das war dem Herrn sehr wichtig.“

Die Ewald-Holz GmbH. Julias Magen krampfte sich zusammen, wie vor einer schweren Prüfung, auf die sie sich nur halb vorbereitet hatte. Sie musste sich heute Nacht noch unbedingt in die Vertragsunterlagen einlesen und über die Firmengeschichte recherchieren. „Einer der Juniorpartner ist ein Bekannter deines Vaters, wie er sagt“, fuhr der Specht indessen im sanften Plauderton fort, mit dem er seine Mandanten vortrefflich einzulullen pflegte. „Sie nennen ihn den Wald-Müller. Kennst du ihn?“

„Nur dem Namen nach. Und aus den Unterlagen“, fügte sie hinzu. „Weswegen rufst du eigentlich an?“ Ihre Sinne waren mittlerweile wieder geschärft, wie immer, wenn sie mit Sebastian Fink zu tun hatte. Etwas in ihr warnte sie vor einem Angriff des Spechtes. Seine geölte Freundlichkeit konnte nur Tarnung für eine seiner versteckten Boshaftigkeiten sein. Julia war auf der Hut. Lange musste sie nicht warten.

Das Klopfen des Stiftes brach jäh ab. „Du, Julia?“, seine Stimme wurde väterlich mild. „Die Franzi sagte mir heute, dass das mit der Frist für die Klageerwiderung bei der Sache Richter gegen Richter beinahe schiefgegangen wäre?“

„Ist es aber nicht“, entgegnete Julia scharf. „Dank der Aufmerksamkeit der Trögerin, die mich rechtzeitig erinnert hat.“

„Na! Die gute Seele!“

Julia ballte ihre Faust. Der Schmerz im Knöchel war vergessen. Welche Infamie! Die Trögerin stand nur wenige Monate vor dem Ruhestand nach fast 40 Jahren in der Kanzlei Veit & Partner, an jedem Tag kurz vor ihrer Kündigung, so sehr brachte der Specht sie in Rage. Und jetzt raspelte der so ein Süßholz.

„Wenigstens eine, die aufpasst“, bemerkte sie spitz. „Unsere Franzi hält das ja nicht für unbedingt nötig.“ Julia betonte das ‚unsere‘. Der Specht hielt die neue Anwaltsgehilfin in aller Selbstherrlichkeit für seine alleinige Privatassistenz.

„Die Franzi hat so viel um die Ohren mit der Vorbereitung der Mandatsübertragung morgen“, beeilte sich der Specht prompt zu versichern. „Aber deswegen rufe ich dich auch gar nicht an, sondern wegen einer Anfrage von einer Hamburger Kanzlei, die dich interessieren könnte.“

„Lass hören!“ Julias Wachsamkeit war unvermindert hoch.

„Es geht um eine Erbschaftsangelegenheit. Doch die mögliche Erbin ist seit 17 Jahren verschwunden.“

„Verschollen oder verschwunden?“

Er druckste herum. „Na … Naja: Verschwunden eher. Es hat wohl mal zwischendurch ein Lebenszeichen gegeben. Eine Karte aus Hamburg oder war es Lübeck?“ Er tippte etwas in seinen Computer.

„Ist dafür nicht die Polizei zuständig?“, unterbrach ihn Julia ungeduldig. Sie fuhr sich über die Stirn. Müdigkeit überkam sie wie ein Fieberschauer. Sie hatte in der letzten Nacht nur drei Stunden geschlafen, um die Frist noch einhalten zu können.

„Das ist sie natürlich“, gab der Specht zu. Julia hörte das Klopfen wieder, doch zaghaft, so als sei sich Sebastian Fink ausnahmsweise nicht so sicher. „Damals haben sie sogar an einen Mord gedacht. Der Ehemann stand unter Verdacht. – Natürlich! Dem haben sie wohl das ganze Grundstück umgegraben nach dem Verschwinden seiner Frau. Doch keine Spur von ihr zu finden. Und dann natürlich der Liebhaber! Doch dem haben sie auch nichts nachweisen können.“

Julia unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. „Was sollten wir da tun können? – Wann sagtest du, ist die Frau verschwunden?“

„Vor 17 Jahren.“

Da waren sie und Paul glücklich verliebt gewesen als Studenten in Marburg. Noch keine Spur von Tod und Leid und Angst und Schmerz.

„Bist du noch da?“

„Ja, ja“, antwortete Julia zerstreut. „Ich dachte nur gerade daran, wo ich vor 17 Jahren war.“

„Ich habe da gerade mein Abi gemacht“, feixte der Specht. „Natürlich 1,0.“

„Natürlich!“ Julia straffte sich. „Nun komm zum Punkt, Basti. Ich bin hundemüde. Was sollte uns an diesem Fall interessieren, wenn die Polizei nirgendwo fündig geworden ist?“

„Na, das Geld natürlich!“, flötete der Specht und pochte nun wie wild mit seinem Stift auf die Unterlage. „Fantastische Konditionen. Sogar Vorschuss gibt dieser ominöse Erblasser. Und eine stattliche Erfolgsprämie. Na, was meinst du?“

„Viel Spaß damit.“

„Na! Das ist jetzt nicht dein Ernst. Liebe Julia! Ich denke doch, das ist gerade etwas für dich in deiner jetzigen Situation.“

Sofort schoss die Wut in ihr hoch. „Was willst du damit sagen?“

Der Specht ließ sich nicht beeindrucken. „Na, die Familie der Verschwundenen wohnt doch in Finkendörfel“, rief er, so begeistert von seiner eigenen Idee, dass er mit dem Klopfen aufhörte. „Du hättest praktisch ein Heimspiel. Und die …“

„Warum nimmt die Kanzlei des Erblassers nicht direkt Kontakt mit der Familie auf?“, fuhr ihm Julia dazwischen.

Für kurze Zeit war der Specht aus dem Konzept gebracht. „Sie lehnen wohl jeden Kontakt in Zusammenhang mit ihrer Mutter ab“, gab er schließlich im vertraulichen Unterton zu. „Kann man ihnen nicht verdenken, schließlich hat diese Frau ihre beiden süßen Kinder einfach so verlassen. Und den Ehemann natürlich.“

„Vielleicht hatte sie einen guten Grund dafür?“ Julias Missmut wuchs. Alles in ihr war voller Widerwille.

„Na, das sollst du ja herausbekommen. Schließlich bist du eine aus dem Dorf, eine Nachbarin quasi. Dir vertrauen sie bestimmt. Der Auftraggeber will alles über seine verschwundene Verwandte in Erfahrung bringen, was irgendwie in Erfahrung gebracht werden kann. – Du bist doch so eine fantastische Rechercheurin“, schmeichelte er. „Die Prämie gehört natürlich dir“, fügte er generös hinzu.

„Was du nicht sagst!“

„Na?“ Julia glaubte, das Grinsen auf seinem Gesicht sehen zu können. „Wie lautet deine Antwort?“

„Nein.“

„Was, nein? Willst du denn gar nicht wissen, wer …?“

„Nein, Basti. – Ich habe überhaupt kein gutes Gefühl dabei.“

„Gefühl? Was hat das denn mit Gefühl zu tun?“

„Mein Bauchgefühl hat mich schon immer vor irgendwelchen Gefahren gewarnt“, sagte Julia bestimmt. „Und hier klingeln bei mir alle Alarmglocken.“

„Willst du nicht wenigstens eine Nacht darüber schlafen?“

„Schlafen, ja – das ist eine gute Idee. Die andere Antwort ist: Nein! – Gute Nacht, Basti.“

*

„Vielleicht hättest du annehmen sollen“, meinte Paul wenige Tage später beim Frühstück, als Julia ihm davon als Anekdote erzählte. „Ist doch ein schönes Rätsel, findest du nicht?“

Julia schüttelte den Kopf. „Ich bin Anwältin, Schatz, keine Detektivin.“ Sie biss herzhaft in ihr Brötchen.

„Ich meine ja nur … du hast doch schon einige Geheimnisse hier in Finkendörfel lüften können. Es wäre doch denkbar, dass dir auch diese Nachforschung gelingt. – Kennst du die Leute?“

Mit einem Blick sah Julia auf die Nachricht, die der Specht zum gefühlt hundertsten Mal an sie geschickt hatte. Er wollte sich einfach nicht mit ihrer Ablehnung abfinden. Ein Umstand, der Julia schon wieder in Rage brachte, doch sie unterdrückte die aufkommende Wut, um das gemeinsame Familienfrühstück nicht durch Ärger zu stören. Paul musste heute später aufbrechen als sonst. Er flog mit Kollegen zu einer Klausurtagung nach Wien und würde erst Samstag wieder zurück sein.

„Die Vermisste heißt Marion Krahl“, sagte Julia also friedfertig, doch bewusst desinteressiert. „Sie hat vor 17 Jahren ihren Mann und ihre beiden Töchter verlassen. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Abgesehen von einer Karte, die die jüngere Tochter erhalten hat. Doch die hätte Gott weiß wer abschicken können. – Vor 17 Jahren! Weißt du noch, Schatz, da waren wir gerade beim Studium in Marburg.“

„Was war vor 17 Jahren?“ Trude war mit Sophia hereingekommen.

„Eine Frau ist verschwunden“, antwortete Paul, der klugerweise ganz auf Trudes unermessliche Dorftratscherfahrung setzte. „Eine Marion Krahl.“

„Die flotte Marion?“ Trudes Gesicht flammte auf. „Diese liederliche Liese ist doch …“ Sie zügelte sich mit einiger Mühe. Sophia sah bereits interessiert zu ihr hoch. „Was ist eine Liederliese?“

„Ein Mädchen, das sein Spielzeug nicht aufräumt“, erwiderte Julia und warf Trude einen warnenden Blick zu, den die mit einem Achselzucken quittierte.

Julia stand auf. „Spielt auch keine Rolle, Trude. Es geht um eine Anwaltssache, klar?“

„Völlig klar.“ Trude und Paul grinsten in schönstem Einvernehmen.

„Also, meine Süße“, wandte sich Julia an ihre Tochter und gab ihr einen Schmuser, „machst du dir einen schönen Vormittag mit Trude? Mhm?“

„Wir spielen Verstecken“, rief die Kleine begeistert. „Oder Hascher!“

„Hascher?“ Trude sah alarmiert aus. „Dafür bin ich etwas zu alt“, bekannte sie verlegen. „Ich dachte eher an etwas Ruhigeres. – Vielleicht gehen wir ja mal die Tante Friedegard besuchen. Was meinst du, Phi?“

„Hühner füttern!“ Sophia strahlte.

„Schon besser. Wir machen also einen Besuch bei Friedegard, während die Mama mit Ella-Ma beim Orthopäden ist. Ist das so in Ordnung für dich?“ Trude schaute Julia an.

„Das ist es.“

Seit Julias schlimmen Streit mit Mutter Milla über die beste Versorgung Sophias traute sich keiner mehr in der Familie, Julia bei ihrer Kindererziehung in die Parade zu fahren. Julia fragte sich, ob der mütterliche Zorn darüber wohl verraucht sein würde, wenn die Eltern von ihrer Weltreise zurückkamen Anfang November. Denn im Streit geschieden zu sein, belastete sie genauso wie ihre Ängste um Sophia.

„Vorher wird natürlich das Zimmer aufgeräumt“, schob Trude derweil spitz nach. „Wir wollen ja nicht liederlich sein, stimmts, Phi?“

„Liederliese!“

„Prima, wieder ein neues Wort gelernt!“

„Nun sei nicht so sauertöpfisch, Julia.“

Julia wehrte müde lächelnd ab. „Ihr werdet schon euren Spaß haben. Wir müssen los.“ Kaum hatte sie sich erhoben, rannte Sophia zu Paul, um sich bei ihm auf den Schoß zu schwingen. „Papa!“

„Ich bin wirklich froh, dass die Kleine bei dir aufgeräumt ist“, sagte Julia zu Trude. „Tilda ist heute Vormittag bei Dr. Köhler. Sie hat als Sprechstundenassistentin bei dem neuen Doktor angefangen.“

„Sieh an, sieh an! Der neue Doktor, von dem sie alle so schwärmen. Da muss ich mir wohl auch mal ein Zipperlein einfallen lassen, um dem auf den Zahn zu fühlen.“

„Beschrei es nicht, Trude“, lachte Paul.

Julia sah auf die Uhr. „Ist Ella-Ma so weit? Bis Zittau gibt es einige Baustellen.“

„Hier bin ich schon.“ Angetan im besten Kostüm, mit Hut und umweht von ihrem Parfüm stand Ella-Ma in der Tür.

„Man könnte meinen, du hast ein Rendezvous“, stichelte Trude.

„Haltung“, erklärte Ella-Ma kühl. „Darum geht es, meine liebe Trude: um Haltung. Immerhin sehe ich die Frau Doktor heute zum ersten Mal.“

„Ärzte!“ Trude verzog das Gesicht. „Was für ein Getue immer! Als wären die sonst was. Du, Paul, bist natürlich eine Ausnahme.“

„Natürlich.“

Sophia giggelte, als Paul sie kitzelte.

„Komm, Oma“, sagte Julia. „Ich habe das Auto schon draußen stehen.“ Sie küsste Paul und ihr Kind, nickte Trude zu und ging, die Aktentasche unterm Arm, hinaus.

„Dein Telefon!“, rief ihr Paul hinterher.

Julia verspürte einen ersten Kratzer im Lack ihres Selbstbewusstseins heute Morgen, als sie umkehrte, um das Telefon vom Tisch zu nehmen. Es überraschte sie, wie sehr sie dieser kleine Fehler schon in Aufruhr versetzte. Verlegen gab sie Paul einen weiteren Kuss zum Abschied. „Guten Flug! Rufe mich an, ja?“

Haltung bewahren!

*

„Ich warte draußen im Auto“, sagte Julia, als sie die Anmeldeformalitäten in der Praxis beendet hatten. „Ich habe noch ein Telefonat mit einem Mandanten. Ist das in Ordnung für dich?“

„Alles gut, mein Kind. Ich komme zurecht. Notfalls rufe ich dich an.“ Ella-Ma wedelte lächelnd mit ihrem Seniorentelefon. „Ich kann sehr wohl dieses Ding benutzen.“

Julia quittierte das mit einem Scherz: „Da bin ich aber froh. Diesmal gehe ich auch bestimmt ran, versprochen!“ Schwungvoll verließ sie das Ärztehaus.

Wenig später hatte sie sich ein provisorisches Büro in ihrem Kombi eingerichtet. Das Internet lag hier leidlich gut an. Im Nu hatte Julia ihre E-Mails bearbeitet und mit der Trögerin alle Termine für die nächsten Tage und die kommende Woche abgesprochen. Schließlich war die Zeit ran für das Mandantengespräch mit Dr. Ewald, Seniorchef der Holzfirma Ewald-Holz GmbH. Sie war ihm erst einmal zur Mandatsübergabe begegnet. Ewald war ein bärbeißiger Mann, geradeheraus und noch ungeduldiger als sie selbst. Julia schätzte ihn als einen guten Fachmann ein. Er initiierte gerade eine Vereinigung aller Holzfirmen in der Oberlausitz, um mit starker Stimme gegen die großen Holzkonzerne bestehen zu können.

Dr. Ewald meldete sich brummig, doch sichtlich erfreut über ihre Pünktlichkeit. Ein paar Höflichkeitsfloskeln wurden gewechselt und Julia erklärte ihr provisorisches Büro im Auto mit all den Nebengeräuschen rund um das Krankenhaus herum. „Ich begleite gerade meine Großmutter zu einem Arzttermin.“ Familiensinn fand offenbar das ganze Wohlwollen des Holz-Patriarchen. Dann wurde es geschäftlich. Julia war gut vorbereitet. Sie waren schon ein gutes Stück vorangekommen, als ein Summton einen weiteren Teilnehmer anzeigte. Es war Trudes Nummer. Julias Herzschlag setzte einen Moment aus. Sophia!

„Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Herr Dr. Ewald“, bat Julia. Mit fliegenden Fingern nahm sie das Gespräch an und setzte ihren Mandanten in die Warteschleife. „Trude? Alles in Ordnung bei euch?“

„Eher nicht“, meldete sich eine unbekannte männliche Stimme und stellte sich als Notarztassistenz vor. Den Namen konnte sich Julia unmöglich merken. Alles Blut wich aus ihrem Kopf. Die Welt um sie herum drehte sich, ihr Verstand stand still.

„Es hat einen Unfall gegeben.“

Jetzt war es so weit. Alles war wieder da. Die Stille im Kinderbett. Diese entsetzliche Stille. Und die Kälte der Haut …

„Wie geht es Sophia?“ Julias Mund war so trocken, dass die Worte wie ein Röcheln klangen. „Was ist mit meinem Kind?“

„Hier ist kein Kind“, sagte der Mann. „Ihre Tante ist gestürzt und war kurze Zeit bewusstlos. Die Nachbarn haben uns gerufen.“

„Wo ist Sophia?“ Jetzt schrillte ihre Stimme vor Angst. „Da muss ein kleines Mädchen sein. Drei Jahre. Fast. Bunte Latzhose. Zöpfe mit Marienkäferspangen. Sie müssen …“ Sie stockte und besann sich einen Moment. „Wie geht es Trude? Hat sie sich sehr verletzt? – Hören Sie: Sie müssen unbedingt mein Kind finden. Rufen Sie die Polizei!“

Sie hörte den Mann etwas in den Raum sagen. „Wir kümmern uns darum. Ihre Tante ist bei Bewusstsein, aber nicht orientiert. Sie hat eine Kopfverletzung. Immerhin hat sie uns ihr Telefon gegeben.“ Offenbar wusste der Sanitäter mit solchen Ausfällen umzugehen, er blieb ruhig und klar. „Wir werden ihre Tante sicherlich mit ins Krankenhaus nehmen. Der Notarzt trifft jeden Augenblick hier ein.“

„Ich komme“, rief Julia. „Ich muss nur … oh mein Gott: Ella-Ma! Ich muss ihr Bescheid sagen. – Ich rufe gleich zurück. Bitte! Finden Sie Sophia!“ Sie drückte das Telefon aus und schwang sich aus dem Auto. Im Sprint ging es zur Anmeldung. Ella-Ma kam gerade aus der Röntgenabteilung. Sie sah sofort, dass etwas passiert sein musste. Julia brach in Tränen aus, als sie ihr kurz berichtete, was sie erfahren hatte. Ella-Ma konnte nur fassungslos ihre Hand tätscheln.

„Ich muss nach Hause. Ich muss Sophia finden. Und Trude! Was ist da nur passiert?“

„Vielleicht ist Phi ja bei den Hellers drüben“, versuchte Ella-Ma ihre Enkelin zu beruhigen. „Um Trude mache dir mal keine Sorgen. Dieses Oberlausitzer Urgestein hat einen Granitschädel.“

„Ich muss los. Ich melde mich.“

„Natürlich musst du das. Fahre trotzdem vorsichtig, hörst du?“

Julia rannte schon wieder zum Ausgang. Sie lief wie durch einen Tunnel. Den Wagen starten und losfahren. Ein Beinahe-Crash schon bei der Ausfahrt, nachdem sie endlich mit ihren zittrigen Händen die Parkkarte in den Schlitz bekommen hatte. Die Schranke ging hoch. Julia schoss aus der Ausfahrt. Die quietschenden Bremsen des Kleintransporters, dem sie vor die Stoßstange gefahren war, und das wütende Hupen des Fahrers brachten sie notdürftig zur Besinnung. Sie musste sich konzentrieren. Ein Unfall genügte für heute. Doch ihre Gedanken jagten unaufhörlich weiter. Wo war Sophia? War auch ihr etwas geschehen? Hatte sie sich vor Schreck irgendwo versteckt? War sie vielleicht entführt worden und der Sturz war gar kein Unfall, sondern ein Überfall auf Trude gewesen?

In Julias Fantasie überstürzten sich die Horrorszenarien. Panik galoppierte, sie konnte nicht noch ein Kind verlieren. Undenkbar, dass es sich wiederholte, dass sie ihr totes Kind in den Armen halten musste. Atemlose Stille ohne Leben. Todeskälte.

Kaum hatte sie den Innenstadtring verlassen, rief Julia über ihre Freisprechanlage Trudes Telefon an. Niemand nahm ab. Der Reihe nach probierte sie es bei Paul, Tilda und wieder bei Trude. Nirgends war jemand zu erreichen. Paul saß bestimmt schon im Flieger und Tilda war sicher in der Sprechstunde. Sie rief die Praxis von Dr. Köhler an. Endlich hatte sie Erfolg, auch wenn sie es eine ganze Weile läuten lassen musste. Mit professioneller Fröhlichkeit meldete sich eine junge Frauenstimme, die Julia jedoch sofort unterbrach. Vor Aufregung sprudelte es nur so aus ihr heraus. Die Frau an der Rezeption musste sie für eine Wahnsinnige halten. Zum Glück war sie keine Unbekannte, Paul hatte vor drei Jahren für einige Zeit bei Dr. Köhler gearbeitet. „Keine Sorge, Frau Eisler“, sagte die Frau deshalb mit einem Hauch mitleidiger Nachsicht in der Stimme, „ich verbinde Sie gleich mal mit Dr. Czerny.“

Julia musste nicht lange der albernen Melodie der Warteschleife lauschen.

„Ja, Czerny hier.“ Seine ruhige Stimme wirkte wie ein balsamisches Tonikum auf Julia. „Hallo, Frau Eisler. – Tilda telefoniert gerade mit ihrer Mutter. Es sieht so aus, als sei die Suche nach Ihrer Tochter im vollen Gange… Ah! Da kommt sie schon. Ich reiche weiter.“

„Julia?“ Tilda japste vor Aufregung. „Sophia ist da! Takeshi hat sie gefunden. Sie hat sich bei euch im Katzenschuppen versteckt.“

„Gott sei Dank!“ Julia lenkte ihr Auto an den Straßenrand und schaltete die Warnblinker an. Sie zitterte vor Erleichterung.

„Es ist alles in Ordnung mit deiner Süßen. Die Kleine ist nur noch etwas durch den Wind. Immerfort will sie sich verkriechen, sie muss sich tüchtig erschreckt haben, als Trude gestürzt ist. Ja? Trude haben sie mit ins Krankenhaus genommen.“ Tilda sprach nebenbei noch in ein anderes Telefon, wie es Julia schien. „Mutti sagt gerade, die Polizei wäre da“, fuhr Tilda dann fort. „Du sollst dir keine Sorgen machen. Fred will die Kleine zu uns in die Praxis bringen. Ein Spaziergang mit Takeshi …“

„Nein!“, rief Julia von einer neuen, ganz unbekannten Befürchtung überrollt. „Die Polizei … die Polizei soll Sophia nehmen, bis ich da bin.“

Ein kurzes erstauntes Schweigen am anderen Ende der Verbindung zeigte Julia, dass sie Tilda gekränkt hatte. „Bitte verstehe mich! Ich kenne Fred noch nicht. Ich will nicht …“

„Schon gut“, erwiderte Tilda merklich abgekühlt. „Mach wie du denkst.“

Kaum hatte sie aufgelegt, als Ella-Ma sich meldete. Sie hatte Bekannte aus ihrem Hauskreis getroffen, die sie mit zurück nach Finkendörfel nehmen würden.

---ENDE DER LESEPROBE---