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In Finkendörfel ist der Teufel los. Rituelle Katzenmorde versetzen das Dorf in Angst und Schrecken. Für die Rechtsanwältin Julia Eisler ein guter Grund, sich gemeinsam mit der Katzenfreundin Trude auf die Spur der mörderischen Tierquäler zu begeben.
Bald ereignen sich unerklärliche Unfälle, Menschen verschwinden. Steckt eine satanische Sekte dahinter, wie man im Dorf munkelt?
Julia muss so manchen Irrweg gehen, ehe sich im Flammenschein der traditionellen Hexenfeuer, die am 30. April in der Oberlausitz entzündet werden, die vielen Puzzleteile zu einem schrecklichen Ganzen zusammenfügen.
Bisherige Veröffentlichungen:
Emmelie - der erste Fall: Band 1
Hexenbrennen - der zweite Fall: Band 2
Recht wie Wasser - der dritte Fall: Band 3
Was dir den Atem nimmt - der vierte Fall: Band 4 (erscheint im Oktober 2021)
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Personenübersicht
Danksagung
Mehr von Sylke Hörhold
Impressum
Hexenbrennen - der zweite Fall
Ein Oberlausitzkrimi
von
Sylke Hörhold
www.sylke-hoerhold.de
„Sag einfach die Wahrheit, Pya“, versuchte es Petra mit Güte. Doch bewirkte das bei ihrer Tochter genau das Gegenteil. „Die Wahrheit?“, schrie Pya. „Die Wahrheit? Die Wahrheit ist dir doch total egal. Genau wie ich.“
„Du weißt, dass das nicht stimmt“, erwiderte Petra hilflos. „Du weißt …“
„Einen Dreck weiß ich!“ Tränen der Wut standen Pya in den Augen. „Ich scheiß auf dich und deinen Kerl. Und auf dieses Ding in deinem Bauch.“
„Pya!“ Mühsam stemmte Petra ihren schweren Leib vom Küchenstuhl hoch. „Sag doch nicht so was.“ Ihre Stimme zitterte. Sie ging einen Schritt auf ihre Tochter zu, aber Pya wich vor ihr zurück wie vor einem ekligen Insekt.
Bodo saß mit hochrotem Kopf am Tisch und kämpfte mit der Regung, seiner Stieftochter eine Ohrfeige zu geben. Dieses Mädchen trieb ihn zur Weißglut. „Jetzt reiß dich mal zusammen!“, knirschte er. „Deine Mutter will nur, dass du die Sache klarstellst.“
„Lass mich bloß in Ruhe, Bodo Pohl“, kreischte Pya. „Du willst doch nur deinen Arsch retten.“
„Wenn es um den guten Ruf des Hofladens geht, ist es auch dein Arsch, Pya“, sagte Petra, die sich wieder fasste. „Wir sind noch neu hier. Der Laden ist unser Einkommen. Also geh zu dieser Lehrerin und sage, dass sie falsch liegt mit ihren Verdächtigungen.“
„Einen Scheiß mach ich. – Ihr könnt mich alle mal … – Ich hau ab.“ Ohne ein weiteres Wort stürmte das Mädchen aus der Küche. Wenig später hörten sie, wie die Haustür krachend ins Schloss fiel. Auf dem Nachbarhof begann der Hund zu kläffen.
„Verdammt!“ Bodo schnaufte. „Kriegst du die denn nicht in den Griff?“
Petra begann, den Tisch abzuräumen. „Ist halt ein schwieriges Alter“, murmelte sie.
Der geballte Hass ihrer Tochter auf alles, was mit ihrer neuen Familie zu tun hatte, lag ihr wie ein Mühlstein auf der Seele. Bald würde Pyas Brüderchen auf die Welt kommen. Ob das Kleine spürte, dass es nicht von allen so willkommen war wie von seinen Eltern? Seit einigen Tagen schon war der Kleine extrem unruhig. Das Ziehen in ihrem Leib war stärker geworden. Senkwehen meinte die Hebamme. Sie solle sich nun schonen, ein paar Wochen würden dem Kleinen noch guttun vor der Geburt. Dennoch war Petra voller Unruhe deswegen. Etwas hatte sich verändert. Sie konnte es nicht beschreiben, aber etwas überschattete ihr Haus, vergiftete tropfenweise ihr Leben. Es ging nicht nur um ihre widerspenstige Tochter und diese Lehrerin, die ihnen plötzlich mit völlig haltlosen Anschuldigungen zusetzte. Es war, als baue sich mit einem Mal von allen Seiten Unglück und Widerstand auf wie eine Unwetterfront, die sich an einem lichten Hochsommertag drückend schwül am Horizont auftürmt und die Ernte bedroht.
Dabei sollte alles so schön sein. Sie hatten sich in Finkendörfel ihren Traum von der eigenen Hofschlachterei mit Laden erfüllt. Nach sehr schmerzlichen Ehen hatten sie hier zu einem neuen gemeinsamen Anfang gefunden. Sie waren voller Hoffnung gewesen. Das größte Glück war jedoch, dass Petra noch einmal schwanger geworden war, trotz ihres Alters. Glück für sie und für Bodo.
Nur Pya schien es ein Ärgernis und Ursache all dieses schrecklichen Wandels, den sie gerade durchmachte.
Petra seufzte. Sie sah durch das Küchenfenster hinaus zur Hoflinde.
„Mach dich nicht fertig“, brummte Bodo, dem der traurige Atemzug seiner Frau nicht entgangen war. „Sie kriegt sich schon wieder ein. Wenn der Kleine dann erst mal da ist und so niedlich vor ihr liegt, da …“
„Bodo!“
Petras Stimme schien aus einer anderen Welt zu kommen. Ihr Gesicht war bleich wie das einer Toten. Sie wankte.
Mit einem Satz sprang er auf und war bei ihr. „Was ist? Geht es los?“
Sie schüttelte den Kopf, das Gesicht verzerrt vor Grauen. Ihre Augen blickten starr.
Bodo bekam es mit der Angst zu tun. Er schüttelte sie. „He! Was hast du?“
„Da“, stammelte sie, „da draußen!“ Sie wies mit dem Finger zum Fenster. Bodo drehte sich um und folgte ihrem Blick gen Hoflinde. Es dauerte, bis er bemerkte, was sie meinte. Ein länglicher, halb gehäuteter Tierkadaver war gekreuzigt an den Stamm genagelt worden. Bodo spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. „Verdammt!“
„Glaubst du, Pya hat das gesehen?“, fragte Petra zitternd. „Sie ist doch noch so fertig wegen Melanies Kätzchen. – O mein Gott!“ Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen. „Das sind diese Satanisten, Bodo. Der Fluch vom Bornbusch!“
„Unsinn!“
Unbeholfen tätschelte Bodo Pohl die Schulter seiner Frau. Auch ihn hatte der Schrecken an der Kehle gepackt.
„Es ist genau wie da! Wie bei diesen Katzenopfern!“ Schluchzen schüttelte sie.
Bodo brach der Schweiß aus. „Du darfst nicht alles glauben, was die alten Dorfweiber erzählen“, sagte er dennoch tapfer. „Nu, komm schon. Beruhige dich!“ Er drängte seine Frau, sich zu setzen. Dann rannte er hinaus. Nur wenig später war er in der Küche zurück. „Ein Karnucker!“, rief er schon an der Tür. Seine Frau starrte ihn ungläubig an. Bodo geriet in Eifer. „Der alte Rammler vom Hantzsch bestimmt, diesem Halunken! Hab schon gehört, dass er ihm neulich verreckt ist. Na, dem werd’ ich ein paar Takte erzählen. Wollte sich bestimmt rächen, weil ich ihn bei der Viechdoktern angezählt habe wegen seiner verdammten Schwarzschlachterei. Gekochtes Fleisch hat er den Leuten andrehen wollen. Fieberfleisch! – Die Leute sollen sich halt besser an eine Profi wenden, wenn sie schon zu Hause schlachten.“ Er redete noch weiter, erleichtert über die einfache Erklärung dieses grausigen Schabernacks. „Bloß gut, hast du’s entdeckt. Wäre gar nicht gut, wenn die Leute das sehen. Der Laden macht gleich auf.“ Er postierte seine wuchtige Gestalt vor seiner Frau und hielt ihr den Kaninchenkadaver unter die Nase als Beweis für seine Worte.
Petra schien durch ihn hindurchzusehen. Sie hörte nichts von dem, was Bodo da plapperte. Ganz andere Visionen dämmerten in ihren Schrecken hinein. Instinktiv umfasste sie ihren gewölbten Leib.
Es klingelte an der Tür.
Die Eheleute sahen sich beunruhigt an. Nach dem Aufstehen ließen sie ihre Haustür stets unverschlossen. Die Nachbarn kamen nach einem Klopfen einfach herein. Fremde Besucher waren ungewöhnlich zu dieser Morgenstunde. Doch jetzt klingelte es ein weiteres Mal, eindringlich und etwas ungeduldig, wie es den Pohls schien.
„Lass nur, ich gehe“, sagte Petra. Sie trocknete ihre Tränen und wuchtete sich vom Stuhl hoch. „Kümmere du dich besser um das tote Vieh.“
Als Bodo vom Container für die Fleischabfälle aus dem Kühlhaus zurückkam, fand er seine Frau in Gesellschaft von zwei formell wirkenden Damen in der Küche. Sie alle hatten ernste Gesichter. „Sie wünschen?“, fragte Bodo.
„Die Frauen sind vom Jugendamt“, sagte Petra. „Wegen Pya.“
*
„Mit Gott bin ich ne streitch, aber mit dem Pfarrer!“ Hedwig Lebelt warf ihre Osterbastelei auf den Tisch des Gemeindehauses.
„Streitch?“, fragte Trude. „Hat Thieme etwa den falschen Konfirmationsspruch für euren Micha rausgesucht, Palmsonntag?“ Ihr Scherz misslang gründlich.
„Micha ist nicht konfirmiert worden“, sagte Hedwig finster. „Thieme hat sich geweigert.“
„Geweigert? – Was soll das heißen, er hat sich geweigert?“
Die dicke Leupolden beugte sich über den Tisch. „Der Micha hat was Schlimmes gemacht“, raunte sie Trude zu, ohne dass ihre Hände ruhten, die eben Heu zu einem Osternest flochten.
„Wieso: hat“, giftete Hedwig Lebelt. „Es ist überhaupt nichts bewiesen!“
„Mein Heinz hat gesehen, was er gesehen hat“, erwiderte die Leupolden gekränkt. „Er ist immer noch unter Schock, so schrecklich war das für ihn. Und das bei seinem schwachen Herzen. Eine Schande ist das Ganze, also wirklich!“
Die anderen Frauen in der Runde sahen nicht auf. Es war, als bilde sich um Hedwig ein luftleerer Raum. Trude erhob sich. Demonstrativ ging sie zu ihrer Freundin hinüber. „Micha und was Schlimmes? Das glaub ich nicht. Er hat sich so lieb um unsere Katzen gekümmert, während wir …“
„Genau!“ Hedwig schnäuzte sich und sah dankbar zu Trude auf. „Der Junge würde so was niemals machen. Das ist alles nur eine …, eine …“
„Eine Teufelei“, zischte die sonst so stille Friedegard. „Das ist es: eine Teufelei.“ Sie zurrte das Schmuckband besonders fest um ihr eben fertiggestelltes Osternest.
Steins Lisl nickte dazu.
„Vielleicht ist jetzt jemand so gut und erzählt mir, was hier los ist?“ Trude stemmte die Hände in die Seiten. „Kaum ist man mal ein paar Wochen nicht da, geht hier alles drunter und drüber.“
„Es passiert eben auch mal was in Finkendörfel, wenn sich die Damen von Welt in Amerika herumtreiben“, höhnte die Leupolden.
Friedegard blickte auf. „Susanna, du bist ungerecht!“
„Satanische Katzenmorde!“, wisperte Steins Lisl. „Das soll er gemacht haben, der Micha.“ Sie sah sich um, als stünde jemand hinter ihr. „Oben im Bornbusch“, fuhr sie dann atemlos fort. „Da war es. Sie haben die Katzen an die Bäume genagelt.“
„Katzen…morde?“ Trude war totenbleich geworden. „Das … ist nicht möglich“, murmelte sie. „Doch nicht Micha. Er versorgt doch immer unsere Kätzchen. Auch jetzt hat er …“
„Hast du auch genau geschaut, Trude?“, fragte Friedegard mitleidig. „Sind noch alle da von deinen Katzen?“
Trude rang ihre knochigen Hände. Im Geiste ging sie alle Zöglinge ihres Katzenasyls durch, das sie seit vielen Jahren mit ihrer Freundin Ella Veit unterhielt.
„Nein“, sagte sie dann zögernd. „Ich vermisse keines der Kätzchen. – Und überhaupt kann ich mir nicht vorstellen, dass Micha einem Tier etwas zuleide tun könnte. Es ist nicht das erste Mal, dass er die Katzenpflege übernommen hat. Außerdem würde er das seiner Mutter nie antun.“
„Genau“, rief Hedwig mit neu erwachter Zuversicht. „Unsere Sonja ist schließlich hier die Viechdoktern.“
Steins Lisl zuckte mit den Achseln. „Vielleicht ja gerade deshalb.“ Sie warf einen Seitenblick auf Hedwig. „Wenn der Mutter die Viecher wichtiger sind als ihr einziges Kind.“
„Du giftiges Rabenaas, du!“ Hedwig sprang auf. Doch Trude legte ihre Hand auf Hedwigs Schulter, bis die sich wieder setzte. „Dem Jungen hat es nie an Liebe gemangelt“, versicherte sie.
„Von euer Seite bestimmt nicht, Hedwig“, beschwichtigte nun auch Friedegard. „Lisl meint doch nur, dass eure Sonja so wenig Zeit für den Jungen hat wegen ihrer Arbeit. Stimmt’s Lisl?“ Herausfordernd sah sie Lisl an, die sich widerwillig wieder ihrer Bastelarbeit widmete.
„Für mich bleibt der Junge unschuldig“, erklärte Trude, „bis mir jemand beweist, dass …“
„Mein Heinz hat Michas Handy im Gebüsch gefunden“, unterbrach die Leupolden wichtigtuerisch. „Genau dort, wo sie die Katzen umgebracht haben. Es war grausig, sagt mein Heinz. Ganz grausig. Er ist seitdem nicht mehr er selbst.“ Sie ergänzte ihre Worte mit einem wogenden Seufzer. „Damit ist der Micha überführt. – Doch er schweigt wie ein Grab.“
„Was der auch immer für Sachen anzieht!“, ereiferte sich Lisl. „Alles immer nur schwarz. Überall Totenköpfe drauf und Zeichen des Bösen. Und dann diese Musik!“
„Aber so sind nun mal die jungen Leute“, verteidigte Hedwig ihren Enkelsohn. „Deswegen hat unser Micha noch lange nichts mit dieser Teufelei da oben zu tun!“ Da keiner antwortete, griff sie nach einem Heubüschel und begann mechanisch, ein weiteres Nest daraus zu flechten.
Langsam, wie in den Ketten eines bösen Traumes, ging Trude zu ihrem Platz zurück. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. „Was … was haben die gemacht mit den Katzen?“, fragte sie mit staubtrockener Zunge.
Bevor ihr eine der Frauen antworten konnte, ging die Tür des Gemeindesaales auf und Ella Veit trat ein. Mit raschen Schritten kam sie an den Tisch des Frauenkreises. „Entschuldigt die Verspätung“, sagte sie. „Ich hatte mit Thieme noch einige Einzelheiten wegen Ostern zu besprechen.“
Trude war beim Erscheinen ihrer Gefährtin aufgesprungen. „Ella, denk dir nur“, rief sie. „Thieme hat den Micha nicht konfirmiert, weil er …“
„Ja. Ich weiß“, unterbrach Ella sie mit ernster Miene. „Und ich kenne auch den Grund.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Micha so etwas tun könnte! Katzen töten!“ Auf Trudes dürrem Hals bildeten sich rote Flecken. „Du weißt, wie tierlieb der Micha ist. Er hat unsere Katzen so zuverlässig gehütet, als wir mit Julia bei Paul drüben waren. Es geht ihnen gut. Allen!“
„Es ist auch die Katze von der Kaltbachmühle, die es erwischt hat“, erklärte die Leupolden und nickte dabei wie ein Buddha auf ihr Doppelkinn.
„Und die von den Schönes da oben“, ergänzte Lisl. „Die Katze von ihrer Tochter. Die Kleine ist völlig fertig deswegen.“
„Von der Kaltbachmühle?“, fragte Ella. Sie kam an den Tisch heran, umarmte Trude herzhaft und setzte sich dann wie selbstverständlich auf deren Platz.
„Das war vielleicht ein Schlag für die arme Annabella“, tratschte Steins Lisl lustvoll weiter. „Wo sie doch erst seit ein paar Monaten wieder dort wohnt in ihrer Mühle. – Es heißt, sie sei sowieso etwas …“ Sie schlenkerte ihre freie Hand in Stirnhöhe, „etwas verdreht geworden da drüben.“
„Das kannst du laut sagen“, dröhnte die Leupolden. „Überall hockt sie mit ihrer Staffelei in der Gegend herum und malt. – Ist wohl eine Künstlerin geworden, nachdem sie mit diesem Miskowitz in den Westen abgehauen war damals.“
„Mein Gott, wie lange ist das her?“, fragte sich Ella.
„Über vierzig Jahre“, rief Lisl. „Der alte Gumpe war am Gurgeln, weil sie ihm damals entwischt ist.“
„Na, aber bekommen ist’s ihr halt nicht da im Westen. Hat wohl in so einer Kommune gelebt. – Künstler eben.“ Die Leupolden schnaufte verächtlich.
„Ich habe da mal geschaut, was die malt!“ Lisl wuchs bei dieser Erzählung um mindestens zehn Zentimeter. „Lauter komisches Zeug“, flüsterte sie dann begierig weiter, „gar nicht, was sie sieht.“
„Vielleicht gerade, was sie sieht“, versetzte Ella trocken. „Und du nicht.“
Lisl ließ sich nicht beirren. „Sie hat ihre eigene Katze gefunden“, fuhr sie mit Verschwörermiene fort. „Und die andere auch. Ganz gruselig zugerichtet. Zerrissen. Und an die Bäume im Bornbusch genagelt!“
Trude ächzte.
Über ihre Schulter hinweg griff Ella nach Trudes Hand.
„Ein Ritualmord“, ergänzte Lisl bedeutsam. „Sa-tans-kult.“
„Sa…“ Ella erhob sich. „Da hört doch wohl alles auf! Was spinnt ihr euch hier nur für abergläubisches Zeug zusammen? Ich kann nicht fassen, dass Thieme das duldet.“
„Er selbst hat den Teufel gesehen – glaubt er“, ergänzte Lisl, die unsicher wurde unter Ella Veits Blick.
„Hat Thieme euch das erzählt?“, fragte Ella.
Die Frauen nickten.
„Er hat Bella und ihren Sohn besuchen wollen, gleich nachdem er von dem schrecklichen Fund gehört hatte.“ Selbst Friedegards Stimme zitterte nun. „Da hat er ihn gesehen. Er huschte von der Mühle weg wie ein Schatten. Dann ist er im Wald verschwunden, in Richtung Bornbusch.“
„Und die Bella hat den Pfarrer nicht reingelassen und nur was vom Teufel geschrien“, ergänzte Lisl aufgeregt. „So verrückt hat sie geschrien, dass Thieme den Notdienst gerufen hat.“
„Da haben sie den Sohn angerufen. Oliver“, sagte Friedegard. „Er ist der neue Koch im Erbgericht. Er kam zum Glück noch rechtzeitig, sonst hätten die wohl die Tür aufgebrochen. Die Polizei war schon da.“
„Er will sie nicht in die Klinik bringen, der gute Oliver.“ Der Leupolden glänzten die Augen vor Rührung. „Obwohl seine Mutter doch so verrückt geworden ist da drüben.“
„Oder schon eher“, warf Ella mit einem Seufzer ein, „wenn man bedenkt, was Annabella in ihrer Jugend alles durchgemacht hat daheim.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe gar nicht, warum sie sich nun wieder an dieser Schreckensstätte niederlässt.“
„Der alte Gumpe ist tot“, sagte Friedegard mit einem Schulterzucken. „Die Kaltbachmühle ist ihr Erbe.“
„Thieme meint also, den Micha erkannt zu haben in dem schwarzen Mann?“, bohrte Trude nach.
„Aber, nein“, erwiderte Friedegard. „Dafür war der viel zu groß.“
„Ein riesiger, schwarzer Schatten, der da über die Wiese geflogen ist.“
„Also Lisl, wirklich“, rief Ella. „Vorhin war es noch ein Mann in dunkler Kleidung, der von der Kaltbachmühle weggerannt ist. Ein verhinderter Einbrecher vielleicht, der Bella erschreckt hat. Gewiss hat sie ihn mit ihrem Schreien in die Flucht geschlagen. – Ich kann mir nicht vorstellen, dass Thieme vom Teufel gesprochen hat.“
„Er hat gesagt: Wie der Leibhaftige“, erwiderte Lisl gekränkt.
„Ja: wie!“
„Auf jeden Fall geht hier Unheimliches vor in Finkendörfel“, beharrte auch Friedegard. „Erst heute Morgen hat man bei Schlachte-Pohl im Hof wieder eine tote Katze gefunden. Angenagelt an der Linde und halb gehäutet.“
„O mein Gott“, murmelte Trude entsetzt.
„Also, ich habe gehört, das war ein altes Kaninchen“, warf Lisl ein.
„In jedem Fall hat sich die Frau vom Pohl tüchtig erschreckt. Die ist doch schwanger. So ein Schreck tut dem Kind gar nicht gut.“ Die Leupolden nickte bedeutsam zu ihren eigenen Worten. „Wenn selbst mein Heinz …“
Hedwig Lebelt richtete sich auf. „Und das war wohl auch unser Micha, was?“
„Das behauptet ja keiner, Hedwig“, entgegnete Friedegard mühsam geduldig. „Die Nachbarn haben wohl auch eine dunkle Gestalt umgehen sehen im letzten Abendlicht gestern.“
Die Leupolden blickte sich verstohlen um. „Man redet von Flüchen wegen der toten Katzen. Böse Wünsche, die nun umgehen im Dorf.“
„Teufelsgesindel“, flüsterte Lisl. „Seid auf der Hut!“
„Zum Kuckuck mit eurem Teufelsspuk!“, rief Trude. „Hier ist eine Bande von Katzenmördern am Werk. Und ich finde die, das sage ich euch! Denen leuchte ich heim, so wahr ich hier stehe.“ Sie ballte ihre knochigen Hände.
„Wenn der Micha doch nur reden würde!“, meinte Friedegard mit einem betrüblichen Kopfschütteln. „Er ist wirklich sehr verstockt bisher.“
„Verstockt?“
„Es stimmt, was Friedegard sagt“, beruhigte Ella ihre Freundin rasch. „Der Kirchenvorstand hat sich wirklich um Micha bemüht. Solange er nicht reden will, hat man einstimmig beschlossen, seine Konfirmation aufzuschieben, bis sich diese Sache geklärt hat.“
„Sache?“, rief Trude hitzig. „Katzen sind doch keine Sachen, sondern Geschöpfe …“
„Ja, ja“, unterbrach Lisl Trude. „Dennoch ist klar, dass der Micha was weiß. Und sagen tut er nichts.“
Friedegard legte ihr fertiges Osternest auf den Basteltisch. „Also ist er entweder einer von denen oder aber …“
„Oder?“
„Oder er ist behext“, schloss Friedegard mit einem trotzigen Blick zu Ella.
Ella Veit unterdrückte ihre Erwiderung mit einiger Mühe. „Wir sollten schließen für heute“, sagte sie stattdessen. „Sprichst du den Segen, Susanna?“
Ella und Trude nahmen die Abkürzung über den Friedhof auf dem Weg zu ihrem Umgebindehaus am Fuße des Kirchberges. Sie sprachen nicht. Trude war tief in Gedanken. Am Familiengrab der Veits hielten die beiden Frauen inne. Das Zwergweidenbäumchen, das Paul, der Mann von Ellas Enkelin Julia, auf das Grab gepflanzt hatte, trug seine blühenden Kätzchen.
Ein Jahr war es jetzt her, dass Julia nach dem Tod ihres Sohnes in die Oberlausitz zurückgekehrt war. Inzwischen arbeitete sie nicht nur als Anwältin in Finkendörfel, sondern vertrat auch ab und an ihren Vater Georg, der in Bautzen eine Kanzlei hatte. Paul war in Boston geblieben.
Doch sie liebten sich noch, Julia und Paul, da war sich Ella sicher. In den Wochen, die sie bei Paul in Boston gewesen waren, hatte sie beobachten können, wie sich zwischen den getrennten Eheleuten eine neue Vertrautheit aufbaute. Sie hatte bisher nicht gewagt, ihre Hoffnung zu äußern, die jungen Leute würden sich versöhnen und wieder zusammenleben. Doch war genau das ihr innigster Wunsch.
„Ella?“, unterbrach Trude die Überlegungen ihrer Freundin, „glaubst du, Julia könnte uns hier helfen?“ Ella war ebenso vernarrt in Katzen wie Trude. Es tummelte sich eine ganze Horde Katzenasylanten unter dem Regime des Perserkaters Raki in ihrem Haus. So verstand sie nur zu gut, dass Trudes Gedanken unentwegt um den Katzenmörder kreisten.
„Ich weiß nicht“, gab sie zu bedenken. „Julia hat jetzt sicherlich viel zu tun, während sie Georg in der Kanzlei vertritt.“
„Du hast recht“, sagte Trude enttäuscht. Sie wandte sich ab und ging den breiten Kiesweg hinunter an der Kirche vorbei. Erst am Tor des Kirchplatzes hatte Ella sie wieder eingeholt. Sie zupfte Trude am Ärmel, damit sie stehen blieb. „Ich habe es mir überlegt“, sagte Ella. „Ich finde, wir sollten Julia trotzdem fragen. Sie kennt doch diesen Privatdetektiv, der ihr bei ihren Ermittlungen geholfen hat. Weißt du noch?“
Trudes Augen leuchteten auf. „Dieser dicke Kripomann? HaHa oder so ähnlich, nicht wahr?“
„Heinrich Herzog – genau der. Ich glaube, Julia war ganz zufrieden mit seiner Arbeit.“
„Was für ein wunderbarer Gedanke, Ella!“ Trude war bereits unterwegs in Richtung Haus. Sie zerrte Ella an der Hand hinter sich her. „Der war bei der Mordkommission früher. Das ist unser Mann. – Weißt du, ob Julia zu Hause ist?“
„Ich denke schon“, erwiderte Ella, die etwas außer Atem geriet bei dem Tempo, das Trude angeschlagen hatte. „Sie sagte doch heute Mittag, dass sie einen neuen Klienten aus dem Dorf erwartet.“
Doch im Haus fanden sie Julias Büro verwaist und einen Zettel auf dem Küchentisch, mit dem Julia ihrer Großmutter und Trude ihre spätere Heimkehr mitteilte. Sie habe ihren Klienten in Vaters Kanzlei nach Bautzen bestellt. Der Mann leide an einer Katzenhaarallergie.
Trude und Ella sahen sich bedeutungsvoll an. Julias neuer Klient war Schlachtermeister Bodo Pohl.
Julia starrte auf das blutige Stück Fleisch vor sich.
„Ist das etwa das Kaninchen, das Sie heute früh an Ihrem Apfelbaum gefunden haben?“
„Aber, wo!“ Bodo Pohl lachte ohne jede Spur von Fröhlichkeit. „Das war bloß ein Racheakt von diesem verdammten Hantzsch. Hat mir seinen verreckten alten Rammler da in den Hof genagelt.“
Julia horchte auf. „Rache? Weswegen?“
„Na, weil der alte Hantzsch schon wieder versucht hat, jemanden gekochtes Fleisch anzudrehen, das hab ich nun endlich mal der Sonja Lebelt gesteckt!“
„Gekochtes Fleisch?“
„Von kranken Tieren.“
Bodo Pohl schnaufte vor Empörung. „Wenn die Viecher Fieber haben, dann ist das Fleisch wie gekocht. Verdammtes Schwarzschlachten! Nie lässt er sein Schlachtvieh untersuchen. Ist ihm zu teuer. Aber so kann’s ja wohl nicht gehen! Na, die wird ihm schon ein paar Takte erzählt haben.“
„Könnte dieser Hantzsch vielleicht auch hinter den Anschuldigungen gegen Sie stecken?“, fragte Julia. „Nee!“, erwiderte Pohl bestimmt. „Das kommt aus ner ganz anderen Ecke. Diese Lehrerin, diese Gerlach-Ziege. Die steckt dahinter. “ Er hielt inne und schob die Fleischertüte über den Schreibtisch zu Julia. „Das Karnucker hier“, sagte er dabei, „war ganz gesund und gut im Futter. Erst heute früh geschlachtet. Soll Ihr Osterbraten sein, dacht’ ich mir so.“ Er grinste über sein breites, rotes Gesicht und seine hell bewimperten Augen sahen Julia wie die eines Schuljungen an, der gespannt darauf wartet, wie Mutti nun sein selbst gebasteltes Geschenk findet.
Der Fleischgeruch bereitete Julia Übelkeit. „Danke“, murmelte sie.
Pohl wirkte auf sie wie ein unbeholfenes Riesenbaby. Dennoch schienen die angeblich haltlosen Anschuldigungen gegen ihn irgendwie zu passen. Und genau dieser Widerspruch bereitete Julia Unbehagen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen überhaupt helfen kann, Herr Pohl.“ Julia lehnte sich in den Bürosessel zurück.
Pohl winkte ab. Ahnte er etwa, wie bitter nötig Julia jedes Einkommen hatte? Die lange Reise zu Paul nach Boston hatte große Löcher in ihre ohnehin dünne Finanzdecke gerissen. Sie war heilfroh, ihren Vater nun für die drei kommenden Wochen in seiner Bautzener Kanzlei vertreten zu können, während der mit Mutter Milla Urlaub auf der Krim machte.
„Ich weiß nicht, ob eine Anwältin die geeignete Person ist, Ihre Stieftochter zu einer Aussage zu bringen“, gab Julia zu bedenken.
„Aber Pya sagt, sie redet nur mit einem Anwalt!“, rief Pohl. „Sie hat’s ihrer Mutter versprochen. Ist dem Mädel doch ganz schön an die Nieren gegangen, als sie sah, wie schlecht es ihrer Mutter ging. – Das sollte ihr mal wirklich eine Lehre sein!“ Er kratzte sich zufrieden am Bauch.
Julia betrachtete die kräftigen, behaarten Hände des Fleischermeisters. „Und wenn Pya mir nun etwas anvertraut, was die Anschuldigungen gegen Sie stützt?“
Pohl starrte sie an. „Aber das stimmt nicht!“ prustete er. „Das sind alles Lügen! Diese Gerlach-Ziege will mich doch nur fertig machen.“
„Haben Sie eine Ahnung, warum?“
Pohl schwitzte. Die Röte seines Gesichtes vertiefte sich. Er rutschte unruhig auf seinem Besuchersessel herum. „Weiß ich doch nich“, brummte er schließlich. „Ich kenne die doch gar nicht. Die ist auch noch gar nicht lange an der Schule. Erst seit September. Die Pya sagt selbst, dass das ne olle Schnalle ist.“ „Haben Sie mit Frau Gerlach schon das Gespräch gesucht?“
Pohl sprang auf. „Nee! Da vergesse ich mich! Das soll’n Sie ja machen. Machen Sie der klar, dass ich die wegen Verleumdung anzeige, wenn die nicht aufhört, so’n Mist über mich zu verbreiten! Die Leute reden schon. Ist gar nicht gut fürs Geschäft. Gar nicht gut.“ Er redete sich in Rage. „Wir haben nämlich auch erst alles aufbauen müssen, wissen Sie? Ist gar nicht so einfach auf dem Dorf, wenn man erst dazukommt.“ „Wie lange wohnen Sie denn schon in Finkendörfel“, fragte Julia, um ihn zu beruhigen. Sie bat ihn mit einer Handbewegung, wieder Platz zu nehmen. Doch Bodo Pohl ging stattdessen im Büro ihres Vaters auf und ab. Langsam legte sich seine Aufregung.
„Zwei Jahre“, sagte er dann stolz. „Gleich nach unsrer Hochzeit. Da wurde der Hof gerade frei. Wir haben alles aus eigner Kraft aufgebaut. Ist schwer in Ordnung, meine Petra. Bis vor einer Woche noch hat sie hinter der Theke gestanden. Doch nun geht’s ja bald los und dann ist der kleene Kerl da.“ Er strahlte. „Am 30. April ist der Termin.“ Schon der Gedanke an die Geburt seines Sohnes vermochte es, allen Zorn aus seinem Gesicht zu wischen.
„Also gut, Herr Pohl“, sagte Julia und erhob sich ebenfalls. „Ich versuche, in Ihrem Namen Kontakt zu der Lehrerin aufzunehmen, um da zu einer gütlichen Klärung abseits aller Anzeigen zu kommen. Und wenn Pya es wirklich will, rede ich auch mit ihr.“
Bodo Pohl nickte zufrieden. „Wir sind zu Hause über Ostern und auch in den Ferien“, sagte er, während sie zur Tür gingen. „Weil’s doch der Petra jetzt nicht so gut geht mit ihrem dicken Bauch, ne?“
„Ich melde mich.“
Julia lauschte seinen schweren Schritten die Treppe hinab und dem Krachen der Tür, die hinter Bodo Pohl ins Schloss fiel. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es. Die milde Süße des Frühlingsabends drang in das Kanzleizimmer. Über die Dächer der Stadt hinweg blickte Julia auf die bewaldeten Hänge des Drohmberges, der im milden Abendlicht lag wie ein friedlich schlafender Riese.
„Julia?“ Vater Georg steckte den Kopf zur Tür seines Büros herein. „Geschafft?“
Als Julia nickte, trat Georg Veit in seiner vollen Größe durch die Tür und kam zu Julia ans Fenster. Er biss von einem geräucherten Würstchen ab, das er sich heimlich von seinem Lieblingsfleischer geholt hatte, da Mutter Milla bis Ostern auf vegetarischer Kost bestand und ihren zur Stattlichkeit neigenden Gatten gleich mit in ihr Fasten einbezog. Nun war sie so sehr mit ihren Reisevorbereitungen beschäftigt, dass ihr anscheinend alle Anzeichen eines sündigen Lebenswandels bei ihrem Mann entgingen. Mit einem genüsslichen Happ verschwand der letzte Wurstzipfel in Georg Veits Mund. Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Finger und musterte seine Tochter von der Seite. „Und?“
„Eine Verleumdungsgeschichte. Ich werde wohl annehmen“, sagte Julia ohne großen Enthusiasmus.
„Worum geht es?“
„Sexueller Missbrauch einer minderjährigen Schutzbefohlenen.“
Georg Veit pfiff durch die Zähne. „Starker Tobak!“
„Nach Meinung einer Lehrerin soll Bodo Pohl sich an seiner Stieftochter vergangen haben“, fuhr Julia fort. „Pya Schwarz heißt das Mädchen. Sie ist vierzehn. Tochter aus einer früheren Ehe der Mutter. Das Mädchen wäre plötzlich wesensverändert, sichtlich abgemagert und mit ihren schulischen Leistungen ins Bodenlose abgesackt.“
„Hat die Lehrerin denn einen konkreten Hinweis?“, fragte Georg.
„Davon ist nichts bekannt. Aber diese Rita Gerlach hat sich regelrecht in die Anschuldigung verbissen. Sie hat sogar das Jugendamt alarmiert. Die standen heute vor Pohls Haustür, just als die ersten Kunden in seinen Hofladen kamen. Das Gerede ist natürlich groß. Völlig klar, dass er sich dagegen wehren will. Auf dem Dorf sind solche Gerüchte tödlich.“
„Nicht nur das“, gab Georg Veit zu bedenken, „der neue Staatsanwalt ist ganz wild darauf, sich zu profilieren. Ein Missbrauch minderjähriger Schutzbefohlener ist da ein gefundenes Fressen.“
„Du meinst, er könnte Stimmung machen?“
„Indirekt schon.“
Julia seufzte. „Zum Glück ist es noch nicht so weit. Es geht vielleicht auch ohne Gerichte zu klären. Das hoffe ich zumindest“, fügte sie hinzu.
„Dennoch ist in einer solch heiklen Angelegenheit eine konkrete Anschuldigung seltsam“, gab Georg zu bedenken. „Ob es da eine Verbindung zwischen deinem Klienten und dieser Gerlach gibt? Eine alte Fehde?“
„Angeblich nicht“, sagte Julia. „Zu dumm, dass die Osterferien morgen beginnen. Ich denke, ich versuche gleich mal, diese Frau zu erreichen. Pohl jedenfalls wünscht eine außergerichtliche Einigung.“ Sie setzte sich an den Computer und suchte nach Rita Gerlach, nach einem Eintrag, einer Telefonnummer, fand aber nichts. Sie rief die Internetseite der Mittelschule Eckertswalde auf. Neben dem Logo und dem Foto der Schule prangte voller Stolz die Auszeichnung als „Drogenfreie Schule“ innerhalb eines Projektes des Schulfördervereins. „Na, die machen ja ganz schön was her“, sagte Georg Veit, der hinter sie getreten war und mit ihr den Bildschirm studierte. „Drogenfreie Schule, Anti-Mobbing-Kampagne, Generationenprojekt Altenbetreung – alle Achtung!“
„Ja“, sagte Julia, „da hat sich allerhand getan, seitdem Paul und ich da vor über zwanzig Jahren die Schulbank gedrückt haben. Im Guten wie im Schlechten, wie mir scheint.“
Schließlich stießen sie auf Rita Gerlach, die als neues Mitglied des Lehrerkollegiums vorgestellt wurde. Sie unterrichtete Mathematik und Gesellschaftskunde, fungierte als Vertrauenslehrer und war Klassenleiterin der Klasse 8b. Auf einem Klassenfoto vom Schuljahresanfang sah Julia eine schlanke Frau in einem knielangen Kostüm mit praktischer Kurzhaarfrisur neben den Schülern stehen. Ihr Gesicht war nicht klar zu erkennen, nur dass sie eine dunkel umrandete Brille trug und das Lächeln der schmalen, strengen Lippen sehr bemüht wirkte. Aufmerksam las Julia die Liste der Klassenmitglieder durch. Sie erkannte den Namen von Michael Lebelt, den Sohn der Tierärztin von Finkendörfel. Ihre Familien waren seit Generationen miteinander befreundet. Auch Pya Schwarz war eine Schülerin der Klasse.
Georg Veit steckte das Taschentuch in die Hosentasche und ging zum Fenster, um es zu schließen. „Komm“, sagte er. „Mehr bekommst du heute eh nicht heraus. Lass uns lieber oben noch einen Happen essen. Du siehst hungrig aus.“
„Mhm“, machte Julia unschlüssig, während sie den Computer herunterfuhr. Sie hatte in der Tat kaum etwas gegessen heute. Ihr war einfach nicht danach gewesen. Vielleicht rührte daher ihre Missmutigkeit? „Eine Kleinigkeit vielleicht“, sagte sie deshalb, während sie ihre Unterlagen von Vaters Schreibtisch zusammenklaubte.
Sie verließen die Kanzlei und gingen im Treppenhaus der Villa nach oben, wo Julias Eltern ihre Wohnung in den zwei oberen Etagen hatten. „Sag mal, wollt ihr ein frisch geschlachtetes Kaninchen haben?“ Julia hielt ihrem Vater die Tüte mit dem Fleisch unter die Nase. Er lugte sehnsüchtig hinein, lehnte dann aber doch ab. „Wir fliegen doch am Sonnabend. Gib es EllaMa. Deine Großmutter zaubert euch bestimmt einen wundervollen Osterbraten davon.“
„EllaMa hat Eddie und mich zum Osteressen ins Erbgericht eingeladen“, erzählte Julia, der bei diesem Gedanken plötzlich der Magen knurrte. „Katja hat sich wohl einen neuen Koch geangelt. Einer von Weltruf sozusagen. Er war schon in Wien und davor gar in Mexiko. Da sind wir natürlich alle neugierig.“
„Vor allem Trude, kann ich mir denken.“
Sie lachten.
„Sag mal, hast du vielleicht noch eines von diesen leckeren Würstchen, die du vorhin …“
„Ich und Würstchen? In der Fastenzeit? Wie kommst du denn auf so was?“ Er blinzelte verschwörerisch. „Weißt du was?“, flüsterte er, „am besten, wir essen sie ganz offensichtlich vor den Augen deiner Mutter. So merkt sie es am wenigsten, weißt du? Ein alter psychologischer Trick.“
„Verstehe. Jeder sieht nur, was er erwartet zu sehen.“
„Genau! Die perfekte Tarnung.“
Tatsächlich blieben sie unentdeckt. In der Küche ihrer Eltern verspeisten Julia und ihr Vater noch jeder drei dieser fettigen Köstlichkeiten, während Mutter Milla aufgeregt durch die Räume flatterte und alles für die große Reise auf die Krim packte. Julia vermutete, dass die halbe Bibliothek mitsollte, denn Ludmilla Veit war eine begeisterte Leserin. Der Gedanke, ohne Lesefutter an einem Ort zu sein, wo sich vielleicht gerade die Gelegenheit zu einer Schmökereinheit ergab, verursachte bei ihr Panikattacken.
„Wie ist dieser Bodo Pohl so?“, erkundigte sich Vater, nachdem er Julia in seinem Arbeitszimmer noch einige Anweisungen für die Kanzlei gegeben hatte. Julia berichtete ihm, was sie in der kurzen Zeit über Bodo Pohl erfahren hatte. „In seinem Fleischerladen habe ich ihn noch nie gesehen“, endete sie. „Er scheint sich mehr ums Schlachten und die Produktion zu kümmern.“
„Mhm.“ Vater Georg wiegte den Kopf. „Bodo Pohl“, sagte er gedehnt. „Wohnt der schon lange in Finkendörfel?“
„Seit zwei Jahren etwa.“
„Irgendwie bringt dieser Name etwas zum Klingeln in meiner Erinnerung. Wenn ich nur wüsste, in welchem Zusammenhang. – Hat er Vorstrafen?“
„Nichts“, erwiderte Julia. „Bisher ein völlig unbescholtener, braver Bürger.“
„Das klingt ja ganz besonders verdächtig, so wie du das sagst“, meinte Vater verschmitzt.
Julia winkte ab. „Ich halte ihn zumindest für fähig dessen, was dieses Kind …“
„Moment!“ Vater Georg erhob spielerisch drohend den Zeigefinger. „Keine Positionierung, bevor du dir ein Bild gemacht hast.“
„Du hast recht, Papa“, sagte Julia. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
Ihr Vater betrachtete sie mit liebevoller Besorgnis. „Du siehst so müde aus, mein Spatz“, sagte er. „Noch der Jetlag?“
„Nach einer halben Woche sollte ich den überwunden haben“, murmelte Julia und gähnte herzhaft. „Ich denke, ich mache wirklich Schluss für heute. Wir sehen uns noch vor Sonnabend?“
„Ja, natürlich.“ Er machte eine Pause. „Ist zwischen dir und Paul alles in Ordnung?“, fragte er dann.
Julia sah auf. „Ja, klar … Wenn man von der Trennung durch einen ganzen Ozean zwischen uns absieht – ja.“ Sie zögerte einen Moment. „Es ist eher Paul selbst, der mir Sorgen macht. Er wirkt so bedrückt. Verschlossen. Geradezu depressiv.“
„Habt ihr darüber gesprochen?“
Julia schüttelte den Kopf. „Wir haben über vieles geredet. Darüber nicht. Ich vermute, es hat etwas mit dieser Studie zu tun. Der Druck am Institut muss enorm sein. Aber ausgerechnet darüber will Paul überhaupt nicht sprechen.“
„Verstehe.“
Sie erhoben sich. „Ich fahre jetzt zurück zu unseren beiden lieben Alten“, sagte Julia. Sie gingen hinaus in den Flur. Im Badezimmer rauschte die Dusche. „Grüß Mama von mir“, sagte Julia während sie ihren Vater umarmte.
„Und du schlaf dich richtig aus, Spatz, ja?“
Sie lächelte. „Versprochen.“
„Ach – Julia?“
Julia war schon an der Tür. Sie wandte sich zu ihrem Vater um.
„Wegen Bodo Pohl: Schau doch mal in den Jugendstrafprozessen nach.“ Georg Veit wedelte mit der Hand. „Ich glaube, da war etwas. Das muss noch zu Ostzeiten gewesen sein oder gerade zur Wende. Irgendetwas … mit einem Mädchen?“
Die lange Dämmerung dieses Frühlingsabends legte sich wie ein schwerer Mantel auf Julias Gemüt, als sie mit dem Wagen die Landstraße zurück nach Finkendörfel fuhr. Vaters heimliche Würstchen spürte sie jetzt steinschwer im Magen. Innere Unruhe und Gereiztheit hatten ihr schon den ganzen Tag zu schaffen gemacht. Nun gesellten sich heftig pochende Kopfschmerzen hinzu. Sie sehnte sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Normalerweise zog sie in solchen Situationen ihre Laufschuhe an und machte sich auf in die Wälder und über die Wiesenpfade. Doch selbst zum Laufen fehlte ihr heute die Kraft. Wie gestern auch schon. Was war los mit ihr? Wurde sie jetzt träge, faul und übellaunig? Oder fehlte ihr ganz einfach Paul?
Julia dachte an die gemeinsamen Tage in Boston. Sie hatten sich geliebt. Nach so vielen Wochen und Monaten heftig und innig geliebt, süß und schmerzlich zugleich. Im Herzen war Stevie immer noch bei ihnen. Und doch fern, wie durch eine dicke Nebelwand von ihnen getrennt. Sie hatten darüber gesprochen, über diese abgebrochene Liebe, die nur sechs Wochen bei ihnen geblieben war. Im kommenden Sommer würde Stevie vier Jahre alt werden.
Julia stellte das Auto in der Mietgarage bei der Wohngenossenschaft ab und lief den Weg am Dorfbach entlang hinüber zum Kirchberg, an dessen Fuß das Umgebindehäuschen von Trude und EllaMa stand. Hier hatte sie ihr Zuhause gefunden.
Abendliche Stille hatte sich über den Ort gelegt. Der Frühlingsvogelgesang war bereits verstummt. In der Dämmerung verschwammen die Konturen der knospenden Büsche und Bäume, die einen süßen Duft verströmten. Julia atmete tief ein, als sie vor dem Gartentor stand. Plötzlich nahm sie huschende Schatten wahr. Sie wandte sich um. Niemand war zu sehen. Julia schüttelte den Kopf über ihre Sinnestäuschung.
Sie trat durch die Pforte und ging durch EllaMas sorgsam gehegten Garten. Seit ihrer Rückkehr aus Boston war ihre Großmutter von früh bis spät mit den Beeten beschäftigt, die bei ihrer Abreise noch dick verschneit gewesen waren. Es war ein selten langer und schneereicher Winter gewesen. Nun aber sprossen Schneeglöckchen und Christrosen neben unzähligen blauen und gelben Krokussen und ersten Osterglocken. In Bautzen war die Natur schon viel weiter in ihrem Jahreslauf. Im Pendeln zwischen Oberland und der Stadt hatte Julia das Vergnügen, den Frühling zweimal erleben zu dürfen. Eine äußerst belebende Aussicht, wie Julia fand. Also weg jetzt mit diesem unerklärlichen Missmut, ermahnte sie sich.
Auf der steinernen Stufe zur Eingangstür hatte einer der Katzenzöglinge des Hauses einen blutig zerbissenen Mäusefang als Ehrung für die Ziehmütter abgelegt. Julia zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche, um den winzigen Kadaver zu entsorgen. Sie bückte sich danach und erstarrte. Das war keine Maus. Auf dem penibel gescheuerten Granitstein lag eine blutige Pfote. Eine Katzenpfote. Julia stockte der Atem. Was für ein tragischer Unfall musste hier passiert sein. Mit besorgter Miene nahm Julia das Fellteil und klinkte auf.
Im Haus war es still.
Julia legte Tasche und die eingewickelte Katzenpfote auf der Kommode unter dem Wandspiegel ab. Ihre Jacke hängte sie an die Garderobe und schlüpfte aus ihren Schuhen. Aus der Küche vernahm sie leises Klappern. Sie griff nach dem Zellstoffpäckchen. Dann trat sie mit einem bemüht fröhlichen „Hallihallo“ in die Küche.
EllaMa stand an der Anrichte. Sie goss Tee auf.
„Julia! Schatz! – Du bist aber spät dran. Möchtest du einen Abendtee? Du bist bestimmt völlig geschafft.“ Trotz dieser eifrigen Worte spürte Julia tiefe Bedrückung in der Stimme ihrer Großmutter. Sie umarmte sie rasch. „Ist alles in Ordnung bei euch?“
Wie ertappt blickte EllaMa sie an. „Na … natürlich. Wieso fragst du?“
„Weil ich das hier vor unserer Haustür gefunden habe.“ Sie legte die abgetrennte Katzenpfote mit dem Taschentuch auf den Küchentisch.
„O mein Gott!“ EllaMa fasste sich ans Herz. „Nicht schon wieder!“
„Schon wieder? – Was meinst du damit?“
In wenigen Minuten war Julia durch EllaMa ins Bild gesetzt. Sie saßen sich gegenüber am Küchentisch.
„Katzenmorde!“ Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Satanisch?“
EllaMa nickte. „Wie es aussieht eine Art Ritualmord, ja. Trude ist schon bei der Polizei in Bautzen. Es hat ihr keine Ruhe gelassen. Sie glaubt nicht, dass Lebelts Micha damit zu tun hat. Und wenn du mich fragst, ich auch nicht.“
„Was macht dich so sicher?“, fragte Julia, der es nur mühsam gelang, ihre Gedanken wieder zu ordnen.
„Er ist einfach nicht der Typ dazu.“
„Wie ist denn deiner Meinung nach der Typ dazu?“ Julia stand auf, um sich ein Glas Wasser aus der Leitung einzulassen.
Noch bevor EllaMa Luft für ihre Antwort holen konnte, flog die Tür auf und Trude stürmte herein. „So eine bodenlose Frechheit!“, rief sie. „Dieser Flegel! Das lasse ich mir aber nicht gefallen! Ich werde mich beschweren, so viel ist sicher.“
„Aber, mein liebes Trudchen, was ist denn passiert?“
„Mich derart abzukanzeln! Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?“
„Welcher Kerl denn?“
„Na dieser …, dieser … Bulle! – Ach, was red‘ ich: Hornochse sollte man den nennen!“ Trude glühte vor Empörung.
„Was ist denn passiert?“, fragten Julia und EllaMa wie aus einem Mund.
„Was passiert ist?“, schnaufte Trude. „Gar nichts eben. Hat mich abblitzen lassen, als wäre ich nur eine alte verdrehte Schachtel. – Als könnte ich etwas dafür, dass man diesen Lümmel da Dienst tun lässt, während seine Kollegen im Osterurlaub sind. Davon hat er mir dauernd die Ohren vollgejammert und von den ganzen Einbruchserien in letzter Zeit, um die sich die Polizei schließlich kümmern müsse“, wetterte Trude ungebremst. „Diese teuflischen Katzenmorde sind dem Herrn zu minderwertig. Es sei kein Kapitalverbrechen und überhaupt sei ja niemanden ein Schaden daraus entstanden. – Kannst du dir diese Unverschämtheit vorstellen, Ella?“
„Das ist ja also wirklich … in der Tat, liebe Trude“, murmelte EllaMa.
Julia reckte sich. „Tierquälerei ist ein Straftatbestand und keine Kleinigkeit. Das sollte auch der Polizei klar sein.“
„Genau!“, rief Trude. „Neulich erst habe ich in unserem Land-Journal gelesen, dass aus Tierquälern ganz schnell Serienmörder werden können. Wehret den Anfängen, sage ich euch!“ Sie fuchtelte mit den Armen. „Aber es muss ja immer erst ein Mensch sterben, bevor diese Herrschaften munter werden. Dann! Ja, dann hat er endlich sein Kapitalverbrechen, dieser Herr Hornochse!“
„Also wirklich Trude …“, murmelte EllaMa ratlos.
„Zum Schluss hat er sich aber doch noch dazu bequemt, eine Anzeige wegen Tierquälerei aufzunehmen.“ Verächtlich warf sie ein Formular auf den Tisch. „Viel unternehmen werden die trotzdem nicht, sage ich euch. Nicht wegen ein paar Katzen, wie er mir klargemacht hat. So ein geklauter Rasenmäher ist denen doch viel wichtiger.“ Zornestränen blitzten in Trudes Augen.
„Nicht jeder ist so tierlieb wie du“, sagte Julia sanft, „die Polizei wird sicher …“
„Ach! Zum Kuckuck mit der Polizei“, rief Trude. Sie ließ sich auf den Stuhl neben Julia fallen. „Ich selbst werde diesen Unhold finden! Ich werde ihn jagen! Und wenn ich den zu fassen kriege, dann kann der sich auf etwas gefasst machen!“ In rachedurstiger Vorfreude ballte Trude ihre Fäuste, um sie gleich darauf auf die Tischplatte zurücksinken zu lassen. „Was … – Was ist das?“ Sie hatte die Katzenpfote entdeckt.
„Julia hat das auf der Stufe gefunden, vor unserer Haustür.“
Trude blickte auf und starrte ihre Freundin an. Die Küchenuhr tickte laut und unheilvoll in der Stille. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor Trude wieder erste Worte hervorbringen konnte. „Hast du schon …, ich meine – weißt du schon, wer …?“
EllaMa schüttelte den Kopf. „Julia ist eben erst rein.“
Mit einem Satz war Trude auf den Beinen. Ihre Mundwinkel zuckten. Doch der erwartete Gefühlsausbruch blieb aus. „Ich sehe nach“, sagte sie mit der grimmigen Entschlossenheit eines Generals.
„Ich komme mit.“ Julia stand auf, doch Trude drückte sie energisch auf den Stuhl zurück.
„Bleib! Ich gehe allein.“
Sie sahen zu, wie Trude nach dem Schürhaken griff, der neben dem Beistellherd hing. Dann schlug die Tür hinter ihr zu. EllaMa und Julia blieben in betroffenem Schweigen zurück.
„Ich glaube, der Tee ist jetzt so weit“, sagte EllaMa schließlich bedrückt. Sie erhob sich und goss den Kräutersud in die Tassen. „Ich frage mich, was Trude wohl finden wird“, fügte sie mit einer Verzagtheit hinzu, die Julia völlig neu war an ihrer Großmutter.
„Soll ich nicht doch zu Trude gehen?“, erbot sich Julia erneut. „Vielleicht kann ich helfen.“
„Nein, nein. Lass sie nur.“ EllaMa stellte die dampfende Tasse vor Julia ab.
Der Schmerz hinter Julias Stirn war wieder erwacht. Sie stützte den Kopf auf und massierte sich mit beiden Händen ihre Schläfen, bevor sie trank. Mit jedem kleinen Schluck brachten ihr Duft und Wärme des Tees etwas Entspannung. Auch vor Julia stand die bange Frage, ob es nun auch in ihrem Haus einen dieser Katzenmorde gab.
Wer? Warum? Das Ganze erschien als so sinnloser, grausamer Akt.
EllaMa setzte sich ihr gegenüber. „Glaubst du, dass du uns helfen kannst, wenn sich das bewahrheitet, was wir alle befürchten?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens.
„Ich?“
„Trude hofft so sehr darauf. – Wir wissen natürlich, dass du zurzeit viel Arbeit hast, Liebes.“
Mit einem Seufzer setzte Julia ihren Teepott ab. „Weißt du, es ist zurzeit wirklich … Also erst heute habe ich einen neuen Fall …“
„Du hast Bodo Pohl also als Klienten angenommen?“, fragte EllaMa.
„Natürlich“, log Julia forsch. „Er hat ein Recht auf eine Verteidigung gegen Anschuldigungen jedweder Art! Wie jeder andere auch.“
„Aber ja, mein Liebes“, begütigte sie EllaMa. „Ich finde das auch sehr …, sehr ehrenhaft von dir. Sehr professionell.“
„Aber?“ Julia war hellwach und angespitzt. Erwartungsvoll sah sie ihre Großmutter an.
Bevor EllaMa antworten konnte, öffnete sich die Küchentür. Trude stand auf der Schwelle. Sie hielt einen getigerten Tierkadaver in ihrer linken Hand. Der Schürhaken hing schlaff in ihrer rechten. Sie trat in die Küche mit so steifen Schritten, als stünde sie unter einem Bann. Julia und EllaMa waren bei ihrem Erscheinen aufgesprungen.
„Es ist der Kleine. Einer von den verwaisten Herbstkätzchen, die uns der Bestatter neulich brachte. Er hatte noch nicht einmal einen Namen.“ Tränen liefen über ihr Gesicht, das Julia nun wie das einer Greisin erschien.
Mit zwei Schritten war EllaMa bei ihrer Freundin und nahm sie wortlos in den Arm. Julia trat hinzu. Der Katze waren alle vier Pfoten und der Schwanz abgetrennt worden. Das Maul stand halb offen. Getrockneter Speichel klebte um die Nase herum im Fell. Doch es spiegelte sich nichts von Schmerz und Qual im Antlitz des toten Tieres wider. Es war so still und friedlich, als wäre das Leben unerwartet rasch aus dem kleinen Körper geflohen. Und dennoch waren Wären da nicht diese Verstümmlungen am Kadaver des Tigerkaters. Was für ein unfassbares Verbrechen an dieser harmlosen, verspielten Kreatur.
„Wo hast du ihn gefunden?“, fragte Julia. Hilflos streichelte sie Trudes Arm, während die an der Schulter ihrer Freundin weinte. „An der Pumpe“, schluchzte Trude. „Angenagelt! – Wie … wie an einem Kreuz.“
EllaMa erbleichte und sah Julia an. „Was sagst du da, Trude?“
„An die Pumpe genagelt“, wiederholte Trude tonlos. „Gekreuzigt.“
Julia spürte, wie ein kalter Schrecken nach ihrer Kehle griff. „Gibt es jemanden im Dorf, der euch Böses will?“
Die beiden Frauen lösten sich langsam aus ihrer Umarmung. Trude wischte sich die Tränen ab. „Nein“, sagte sie dann mit belegter Stimme, doch fest in der Überzeugung. Auch EllaMa schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste“, sagte sie. „Warum auch?“
„Könnte euer Katzenhüter, dieser Michael, sich vielleicht von euch verraten fühlen? Ungerecht behandelt?“
„Jetzt fängst du auch noch an, auf dem Jungen herumzuhacken!“
„Den Micha kennen wir als sehr tierlieb“, bestätigte EllaMa. „Du weißt doch, dass er Sonjas Sohn ist. Sonja Lebelt, unsere Tierärztin. Sie ist mit deiner Schwester Barbara in die Klasse gegangen.“
„Ja. Natürlich kenne ich Sonja“, seufzte Julia und rieb sich die Schläfen. „Welchen Verdacht habt ihr dann?“
Die beiden Gefragten zuckten die Schultern. „Im Dorf glauben sie, eine satanische Sekte treibe ihr Unwesen hier bei uns in Finkendörfel“, sagte EllaMa.
Trude prustete. „Satan? – Blödsinn! Verbrecher sind das. Perverse. Katzenmörder, nicht mehr und nicht weniger!“
„Wenn es tatsächlich mehrere sind, ist mindestens einer von denen von hier“, stellte Julia fest. „Jemand, der sich auskennt und keine Sorge hat, wenn er gesehen wird, hier bei euch.“
Sie sah, wie beide zusammenzuckten und betroffene Blicke tauschten. Trude sah auf den Kadaver hinunter, den sie immer noch in der Hand hielt. „Einer von hier?“, murmelte sie dann. „Wer sollte …? Und warum ausgerechnet jetzt?“
„Ja, das ist die Frage, nicht wahr?“ Julia wurde bei ihren Worten klar, dass sie bereits inmitten der Ermittlungen zu den Katzenmorden von Finkendörfel steckte. Es war wie ein Sog. Widerstand zwecklos. Dazu lagen ihr die Betroffenen viel zu sehr am Herzen. „Den Jungen schließt ihr beide aus“, fuhr Julia also fort. „Wer käme noch für eine solche Tat infrage? Wem traut ihr so etwas zu?“ Sie deutete auf die Katze.
„Bei Pohls hing ein gehäutetes Kaninchen an der Hoflinde“, erzählte EllaMa. „Vielleicht hat das was miteinander zu tun?“
Julia schüttelte den Kopf. „Das Kaninchen soll an Altersschwäche gestorben sein. Pohl selbst misst dem wenig Bedeutung bei. Er hält es für einen makaberen Scherz.“
„Das war ein Racheakt vom Hantzsch Rupert!“, rief Trude. „Diesem Halunken traue ich jede Teufelei zu. Der stellt Fallen auf! Das ist verboten.“
EllaMa war nicht überzeugt. „Doch Hantzsch ist deswegen kein Katzenmörder.“
„Wieso denn nicht“, ereiferte sich Trude. „Wenn Rupert mal wieder was über den Durst getrunken hat, ist der zu allem imstande.“
Julia legte ihr begütigend die Hand auf die Schulter.
„Es soll aufgeklärt werden, mein liebes Trudchen: Ich verspreche es dir.“
„Du hilfst uns?“
In diesem Moment schob Julia endgültig ihre kleinlichen Bedenken beiseite. „Ja“, sagte sie. „Ich kenne da einen guten Detektiv, den ich sowieso wegen einer Angelegenheit zurate ziehen möchte. Vielleicht kann er uns auch hier weiterhelfen.“
Trude sah EllaMa dankbar an. Dann legte sie den Schürhaken beiseite und reichte Julia die Hand. „Dann ist es beschlossen!“ Den Katzenkadaver hielt Trude dabei wie beschwörend erhoben.
„Was soll nun mit dem Katerchen geschehen?“, fragte EllaMa.
Julia betrachtete nachdenklich die tote Katze. „Ich denke, davon sollte die Polizei Kenntnis haben“, sagte sie langsam. „Das hat doch etwas von einer Drohung. Am besten bringe ich das Tier zur Dienststelle nach Bautzen. Gib mir doch gleich mal die Anzeige, Trude!“
„So weit kommt es noch!“ Trude versteckte demonstrativ die Katze hinter ihrem Rücken. „Ich fahre! Ich werde Katerchen diesem Flegel auf seinen sauber geleckten Schreibtisch werfen. Da kann er sich gleich selbst ein Bild machen von seiner – ‚Sachbeschädigung’!“
„An die Pumpe genagelt?“, wiederholte Paul ungläubig.
„Ja.“ Julia schaute in Pauls müdes Gesicht auf dem Bildschirm ihres Computers. Einen Moment hob sie die Augen, um in die Kamera zu spähen, damit sich ihre Blicke einmal träfen, doch Paul blickte nicht auf. „Im Dorf fangen sie an, ihre Katzen einzusperren. Es geht um wie eine Seuche“, erzählte sie weiter, ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen.
„Was geht um?“
„Die Angst.“ Julia lehnte sich zurück in ihr Kopfkissen. „Heute kam eine Freundin von EllaMa zu ihr. Du kennst sie, es ist die Frau vom Leupold.“
„Heinz Leupold!“, knurrte Paul. „Wie könnte ich den vergessen. Wenn einer alle Klischees eines Blockwarts erfüllt, dann der. – Was hat der uns nachgestellt früher!“
„Jetzt fühlt er sich, als würde ihm nachgestellt“, sagte Julia. „Er war es, der die toten Katzen fand am Bornbusch.“
„Ist er nicht Jäger?“
„Ja, das ist er“, bestätigte Julia. „Immer auf der Pirsch. Dieser Fund jedoch hat ihn so erschüttert, dass seine Frau jetzt Angst um ihn hat.“
„Inwiefern?“
„Sie erzählte EllaMa, dass ihr Heinz nur noch mit Gewehr herumlaufe und es selbst mit ins Bett nehme. Er rede lauter dummes Zeug, sagte sie und fühle sich verfolgt. Er glaubt, er sei verflucht.“
„Verflucht?“ Jetzt sah Paul auf. „Das ist ja ein Ding. – Aber einen Hang zum Fanatischen hatte der Leupold schon immer.“
„Jetzt jedenfalls verbreitet er selbst Furcht und Schrecken, zumindest bei seiner Frau.“
„Er sollte sich in eine Therapie begeben“, schlug Paul vor.
Julia seufzte. „Den will ich sehen, der ihn dahinbringt.“
„Undenkbar, in der Tat“, bestätigte Paul mit einem unfrohen Lachen.
Sie schwiegen eine Weile.
„Wie tragen es unsere beiden lieben Alten?“, fragte Paul dann.
„EllaMa ist sehr still“, sagte Julia, „doch Trude will in den Krieg ziehen und den Katzenmörder jagen.“
„Recht hat sie!“ Für einen Moment blitzte der vertraute Paul längst vergangener Tage auf in dem abgekämpften, übernächtigten Mann, der da in Boston an seinem Schreibtisch saß und mit seiner Frau über das Internet sprach. „Du hilfst ihnen doch, nicht wahr?“
„So gut ich kann“, versicherte Julia. „Du weißt natürlich, dass ich Papa in der Kanzlei vertrete nach Ostern.“
„Ach ja, die Reise auf die Krim.“
Sie redeten eine Weile über Julias Eltern und ihren jüngeren Bruder Eddie, der sich auf drei Wochen sturmfreie Bude in Bautzen freute. Das brachte etwas Leichtigkeit in Julias Herz.
„Und wie geht es bei dir?“ Julia hielt den Atem an, während sie auf seine Reaktion wartete.
Wie immer bei dieser Frage verschloss sich Pauls Gesicht. „Geht so“, sagte er. „Der Druck ist groß. Der Auftraggeber will Ergebnisse sehen, damit sie in die Produktion gehen können.“
„Seid ihr denn schon so weit?“
„Ich kann nichts darüber sagen.“
Es schien Julia, als läge nicht nur ein halber Kontinent und ein Ozean zwischen ihnen, sondern ein ganzes Universum. Wann immer die Rede auf Pauls Forschungsarbeit am pharmazeutischen Institut in Bosten kam, verdüsterte er sich und wurde zu einem Fremden. Für einen Moment wallte in Julia die alte Kränkung auf, wegen Pauls Affäre mit seiner Kollegin Alicia, die ihre Ehe damals an den Rand des Abgrunds getrieben hatte. Julia glaubte, Paul verziehen zu haben. Doch tief im Herzen saß noch ein vergifteter Stachel des Misstrauens.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sagte Paul, als habe er ihre Gedanken erraten. „Es ist nur der Stress. Nichts anderes.“
Julia errötete. „Wie lange willst du diesen Stress noch aushalten mit eurer Studie?“, fragte sie rasch.
Paul machte eine wegwerfende Bewegung. „Es ist eine schwierige, doch wichtige Phase jetzt. Wir gehen in die klinische Erprobung des Präparates. Jetzt kommt es darauf an.“ Dann presste er die Lippen zusammen, als hätte er schon zu viel verraten. „Mehr kann ich darüber wirklich nicht sagen. – Glaube mir bitte!“ Jetzt sah auch er in die Kamera über seinem Bildschirm und Julia konnte ihm in die Augen sehen.
„Du fehlst mir“, sagte sie leise. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Du mir auch.“ Seine Augen waren wieder auf den Bildschirm gerichtet. Die lichte Verbindung durchschnitten. Ein hohler Abklatsch dessen, was sein könnte.
„Pass gut auf dich auf“, sagte sie.
„Mach ich“, erwiderte Paul mit einem müden Lächeln. „Und du auf unsere beiden lieben Alten.“ Er zögerte einen Moment. „Werdet ihr Ostern zusammen verbringen?“
„Ja“, sagte Julia gedämpft, die seine Einsamkeit in Boston spürte. „EllaMa lädt uns Restfamilie zum Essen ins Erbgericht ein. Eddie kommt auch.“
Sie plauderte noch etwas über Eddie und seinen Sozialeinsatz bei der Caritas, was EllaMa und Trude mit so unbändigem Stolz erfüllte, dass sie es bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnten. Doch ihre Worte vermochten nicht, die tiefe Traurigkeit aus Pauls Gesicht zu wischen.
Noch lange, nachdem sie sich verabschiedet hatten, saß Julia in ihrem Bett, den noch warmen Laptop auf ihrem Schoß und die Kopfhörer in der Hand. Sie hatte das Licht gelöscht und starrte in die Dunkelheit. Die Sehnsucht nach einer Umarmung von Paul zog sich wie ein Reif um ihre Brust, so eng, dass sie kaum Luft bekam. Tränen liefen ihr über die Wangen. Es war so hoffnungslos. Absolut hoffnungslos.
Das Donnergrollen der Böllersalven rollte in Wellen durch das morgendlich stille Tal. Erste zarte Dämmerung weckte Vogelgesang. Von den Hängen des Bornbusches und des Eckertsberges leuchteten noch schwach die Reste der Osterfeuer. Im Süden hing ein verschleierter Halbmond tief am Himmel. Wind frischte auf.
Julia fröstelte. Sie war so früh erwacht heute, dass sie kaum glaubte, überhaupt Schlaf gefunden zu haben. Eine innere Unruhe trieb sie hinaus in die Osternacht. Sie hatte EllaMa und Trude die Nachricht hinterlassen, dass sie zur Frühmette gehen würde und nicht, wie ausgemacht, gemeinsam mit ihnen in den Festgottesdienst. Julia brauchte im Moment eine Prise Einsamkeit. Sie hoffte, dadurch Klarheit zu gewinnen. Das Wummern der Karbidkannen störte sie dabei nicht. Vielleicht vermochte es dieser alte Brauch zur Austreibung von Winterdämonen sogar, ihre quälenden Gedanken zu verjagen.