4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Zurückgekehrt in ihre Oberlausitzer Heimat eröffnet die Rechtsanwältin Julia Eisler im Umgebindehaus ihrer Großmutter eine Anwaltspraxis. Julias erster Fall betrifft die Familie ihrer einstigen Schulfreundin Marina. Deren Tochter Emmelie starb angeblich an Herzversagen. Die Familie verstrickt sich in Verdächtigungen und Anschuldigungen und bittet Julia, die Umstände von Emmelies Tod zu klären, da die Polizei die Ermittlungen eingestellt hat. Bei ihren Nachforschungen zu Emmelies letztem Tag stößt Julia auf manch gut gehütetes Geheimnis, bis sich ihr die Wahrheit um den Tod des Mädchens in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit erschließt. Julia kommt nicht umhin, sich dabei auch ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Danksagung
Über die Autorin
Mehr von Sylke Hörhold
Impressum
Emmelie: der erste Fall
Oberlausitzkrimi
Sylke Hörhold
„Ja, würdest du denn dein Kind verbrennen lassen?“, wisperte Trude.
„Schscht!“, zischte Ella-Ma. „Denk an Julia!“ Sie drehte den Kopf kurz in Richtung ihrer Enkelin, die mit Paul weiter hinten in der Bank saß.
„Ich frage mich“, fuhr Trude unbeirrt fort, „warum die Degenharts darauf bestanden haben.“
„Trude!“
Der halblaute Streit weckte Getuschel um sie herum, das die Begräbnisstille durch die weit geöffnete Tür der Totenhalle jagte, hinaus in den plätschernden Regen. Im Grau des Oktobernachmittages leuchteten das goldene Laub der Pappeln und die unpassend bunten Regenschirme derer, die keinen Platz mehr in der überfüllten Halle gefunden hatten. Die Bänke im Inneren waren bis zum letzten Platz besetzt. In den Seitengängen drängten sich die Menschen, standen in Trauben die Stufen vor der Tür hinab und auf dem Vorplatz. Jeder hier im Dorf nahm Anteil am Leid der Apothekerfamilie.
„So ein süßes Mädel“, schnäuzte sich eine rundliche Bäuerin in ihr Taschentuch. „Ock, wie’s in manche Familien einschlägt.“
„Erst die Mutter, nun das Kind“, ergänzte ihr Mann kopfschüttelnd.
„Nun, die ist ja wenigstens noch am Leben“, mischte sich die nächste Nachbarin ein.
„Und alle haben sie es mit dem Herzen. Das liegt in der Familie.“
„Aber, so jung! In die Schule sollte das Mädel gehen.“
Die Bäuerin schnäuzte sich erneut. „Ach! Das ist das Schlimmste im Leben, wenn du so ein kleenes Fetzel verlierst.“
Die Nachbarin drehte sich vorsichtig um, doch nur einen Augenblick, dann beugte sie sich tiefer zu der Bäuerin herab. „Ist das nicht Veitens Julia, da hinten?“, flüsterte sie. „Die hat doch auch ihr Kleines …“
„Nu! Drüben, in Amerika.“
„War das nicht ein Junge?“
„Tot in der Wiege! Gerade drei Monate alt, wie die Trude erzählt hat.“
„Furchtbar.“
„Dass sie sich das hier antut …?“
Paul griff nach Julias Hand. Julia spürte den Ärger ihres Mannes. Am liebsten hätte er sie wohl hier herausgezerrt. Es war ihm nicht gelungen, sie vom Besuch der Trauerfeier abzuhalten. Julia rührte sich nicht. Beharrlich sah sie nach vorn.
Vor dem schlichten Holzkreuz an der Frontseite der Halle stand inmitten eines Gebirges aus Spielzeug und Blumen die weiße Porzellanurne mit der Asche von Emmelie Degenhart. Neben dem Rednerpult saß mit gefalteten Händen der Pfarrer. Ein missmutig dreinblickender Bestatter ging hinter ihm auf und ab. Die Stühle der Familie waren noch leer.
Mit dem Glockengeläut wehte der feuchte Atem des Herbsttages in die Halle und ließ Julia erschauern. Paul reagierte sofort. „Komm! Lass uns gehen“, raunte er ihr ins Ohr. Julias Nacken versteifte sich. „Nein!“
„Du bist unmöglich!“ Er schob ihre Hand wieder weg und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ein solch gereizter Ton herrschte schon lange zwischen ihnen, auch nach der Pause von über zehn Wochen, die Julia Ferien in Finkendörfel bei ihrer Großmutter und Trude gemacht hatte. Die Trennung hatte ihnen keine Heilung gebracht. Stevies Tod stand wie eine Mauer zwischen ihnen. Doch Julias Schmerz war stumpf geworden hier in der Halle, angesichts der Asche eines anderen toten Kindes: Marinas Tochter – Emmelie. Gestorben in der Nacht ihres siebenten Geburtstages an Herzversagen.
Löschte neues Leid ein altes aus?
„Andererseits“, nahm Trude wieder ihre halblaute Überlegung auf. „Wenn du die Asche hast, musst du wenigstens nicht die Vorstellung ertragen, dass dein Kind von Würmern zerfressen wird.“
„Trude!“ Ella-Ma rang nach Atem.
„Ja, was denn? Man macht sich halt so seine Gedanken.“
„Dann behalte sie für dich!“
„Aber wenn sie schon ihr Kind …“
„Das kann dir doch egal sein“, giftete Ella-Ma, „du hast schließlich keine.“
„Oma!“, murmelte Julia begütigend. So nannte sie Ella-Ma nur, wenn sie um etwas bettelte. Sie beugte sich vor und griff über Paul hinweg nach Trudes Arm. „Lass gut sein, mein liebes Trudchen“, sagte sie. „Eigentlich bin ich es, auf die alle wütend sind.“
„Aber, woher denn“, protestierten Ella-Ma und Trude wie aus einem Munde. Nur Paul nicht. Der nahm seine Brille ab und putzte sie angelegentlich, während er die Lippen fest zusammenpresste.
Julia lehnte sich mit einem Seufzer wieder in ihren Platz zurück. Sie fühlte sich schuldig an der schlechten Stimmung in ihrer Familie. Deutlich stand ihr die Szene am Frühstückstisch heute Morgen vor Augen, die ganz heiter und unverfänglich begonnen hatte, gerade mal überschattet von ihrem nahen Abschied von Finkendörfel.
Ihre Koffer waren da bereits gepackt gewesen und standen im Flur von Trudes Umgebindehäuschen, das Julia in den letzten Wochen ein so liebevolles Zuhause gewesen war. Ihre Eltern waren aus Bautzen gekommen zu einem letzten gemeinsamen Frühstück, bevor Julia und Paul wieder zurück nach Boston flogen.
„Ich bringe euch zu euerm Flieger“, verkündete ihr Vater. „Wann geht der Flug?“
„16 Uhr 50.“
„Dann sollten wir gegen drei starten.“
„Vielleicht unternehmen wir noch etwas heute Vormittag“, schlug Trude vor. Julias Vater winkte ab. „Ich muss um elf in der Kanzlei sein.“
„Wo ist eigentlich Eddie“, erkundigte sich Paul nach seinem Schwager.
„Ach, den habe ich ausschlafen lassen“, erklärte seine Schwiegermutter mit der ihr üblichen Nachsicht, wenn es um ihren Jüngsten ging. „Es sind doch die letzten Herbstferien vor seinem Abi.“
Trude ließ sich nicht so schnell von ihrem Vorhaben abbringen. „Wollt ihr nicht noch mal ins Böhmische?“
„Also, ich weiß nicht …“ Paul brachte es nur schwer über das Herz, Trude zu enttäuschen. Ella-Ma sprang ihm bei. „Das wird zu knapp“, erklärte sie bestimmt.
„Wieso?“
Da wurde Ella-Ma unruhig. Sie rutschte auf dem Küchenstuhl herum und klapperte mit dem Eierlöffel. „Na, du weißt schon“, wisperte sie mit einem Seitenblick auf Julia. „Die Trauerfeier.“
„Genau“, sagte Julia so gelassen wie möglich. „Ich möchte nicht zu spät kommen.“
„Du?“
„Du willst da hin?“
„Richtig.“
Sie starrten Julia an. Dann sagte Paul. „Du bist verrückt.“ Und dann redeten plötzlich alle auf einmal.
„Das ist aber keine gute Idee, Liebes.“
„Was für eine Unvernunft!“
„So lass doch die Wunde heilen, Kind.“
„In den Wochen hier zu Hause warst du doch …“
„Ich verstehe nicht, dass du immer wieder alles aufrühren musst.“
Am liebsten hätte sich Julia die Ohren zugehalten. „Warst du denn nicht gerade darüber hinweg?“, sagte ihre Mutter. Julia sprang so heftig vom Stuhl auf, dass der kippte. „Darüber kommt man nie hinweg!“
Das brachte die anderen zum Schweigen.
Paul erhob sich ebenfalls. Er stellte den umgefallenen Stuhl wieder auf. „Was soll das jetzt, Julia?“ Sein Ärger war unverhüllt und ließ seine Ohrenspitzen aufglühen. „Du hast da nichts verloren.“
„Habe ich wohl“, fuhr Julia ihn an. „Marina war unsere Freundin. Ihr Kind ist gestorben, so wie unseres. Heute trägt sie es zu Grabe. Wir sind hier. Und ich gehe da hin.“
„Und was …“ Er ruderte hilflos mit den Armen. „Was erwartest du dir davon?“
„Gedenken an mein Kind!“, warf ihm Julia entgegen. „An unser Kind! An unsere alte Freundschaft mit Marina.“
Verächtlich stieß er Luft aus. „Freundschaft!“
„Du kannst wohl nie verzeihen, was?“
„Ach!“ Paul machte eine wegwerfende Handbewegung. „Diese alten Kamellen!“
Trude stand mit einem Mal zwischen ihnen und nahm ihre Hände. Sie hatte Streit zwischen ihnen noch nie ertragen. „Vielleicht – wenigstens am Anfang – könntet ihr doch dabei sein, oder? Marina wird es guttun, euch zu sehen. Wir setzen uns ganz hinten hin, gleich beim Ausgang.“
Julias Vater blickte von einem zum anderen. Dann nickte er. „Nun, dann ist es beschlossen.“ Er kannte die Sturheit seiner Zweitältesten. „Um drei warte ich auf euch vor der Totenhalle.“
„Wo bleiben die nur?“
Seit einer Viertelstunde läuteten die Kirchenglocken, aber von der Familie Degenhart war noch niemand eingetroffen. Paul sah verstohlen auf die Uhr. Unter der Trauergemeinde wuchs die Unruhe. Füße scharrten. Man tuschelte. Der rundliche Pfarrer beriet sich mit dem Bestatter, der, seiner Miene nach zu urteilen, die Verspätung der Familie persönlich nahm. So zeichnete sich darauf auch eher Entrüstung als Erleichterung ab, als endlich das Geräusch bremsender Reifen auf Kies vor der Halle zu vernehmen war.
„Sie kommen!“
Die in den Bänken saßen, erhoben sich und die Menge, die draußen stand, teilte sich in verlegener Scheu, als die Familie die Stufen zur Halle hinaufstieg. Es wurde still. Regenluft dampfte über den Menschen. Ein Geiger setzte seine Violine an und begann, eine herzzerreißende Melodie zu spielen, gegen deren Schwermütigkeit Torsten Degenhart seine Frau durch den Gang in der Mitte der Sitzreihen vor zur Urnenstele führte. Aus der Menge stiegen Schluchzer auf. Die Bäuerin schnäuzte sich trompetend.
Marina ging mit kurzen, unsicheren Schritten wie eine alte Frau. Schwer stützte sie sich auf den Arm ihres Mannes. Den Kopf hielt sie gesenkt. Sie trug einen schlichten Anzug aus schwarzem Tuch und einen Schal, den sie wie einen Schleier vor ihren Mund hielt. Den Degenharts folgte Ludwig Meltzer, Marinas Vater. Seine Fäuste hielt er geballt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, als müsse er gegen einen starken Widerstand ankämpfen. Paul und Julia sahen sich betroffen an. Der Anblick ihres einst ebenso verhassten wie gefürchteten Schuldirektors erschütterte sie. „Das wünschst du deinem ärgsten Feind nicht“, murmelte Paul, der seine Augen wieder auf Meltzer richtete. Julia nickte stumm. Wie viel Leid, wie viel Verlust konnte ein Mensch ertragen, bis er an seinem Schicksal zerbrach?
Die kleine Trauerfamilie war an ihnen vorübergezogen. Sie verharrten vor der Urne. Marina und ihr Mann falteten die Hände, als sie sich vor der Asche ihres Kindes verbeugten. Meltzer dagegen stand aufrecht. Er schüttelte den Kopf, als sich der Pfarrer näherte und nach den Degenharts auch ihm die Hand geben wollte. Dann setzten sie sich auf die bereitstehenden Stühle und mit ihnen der Teil der Gemeinde, der sich frühzeitig den Vorteil eines Sitzplatzes gesichert hatte.
Julia und Paul sahen zum ersten Mal das Gesicht des Apothekers. Eine breite Verbrennungsnarbe entstellte die linke Hälfte vom Mundwinkel bis hin zum Ohr. Trude hatte sie natürlich schon lange darauf vorbereitet. Ein Unfall aus Kindertagen, wie es hieß. Nun blickten sie in ein von Trauer zerissenes Gesicht.
Der Pfarrer hievte seine kugelrunde Gestalt auf das Rednerpodest. Stockend begrüßte er die Gemeinde. Diese Beisetzung ging ihm persönlich so nahe, dass es ihm Mühe kostete, die rechten Worte des Trostes zu finden. Er brach ab, um sich zu schnäuzen. „Lied Nummer 376“, rief er zu seiner Rettung.
Zu den Klängen des Harmoniums setzte die Gemeinde mit trübselig murmelndem Gesang ein. Ella-Mas altersbrüchiger Sopran war herauszuhören. Es wäre ihr als eine Schande erschienen, das arme Kind ohne ordentlich gesungenes Gebet zu verabschieden. Aus Leibeskräften mühte sie sich, die Gemeinde aus ihrer trauerstarren Lethargie zu reißen. „So nimm denn meine Hände …“
Trude und Paul stimmten folgsam mit ein, nur Julia war die Kehle wie zugeschnürt. Ein Bild, tief in die Seele gebrannt, stand vor ihr: die Beerdigung eines weißen Kindersarges im verschneiten amerikanischen Osten. Fern der Heimat, die ihr kleines Söhnchen nie zu Gesicht bekommen hatte.
Sie schluckte und blickte zu Marina vor, die sich steif an ihren Stuhl klammerte, als fürchte sie, sonst den Halt zu verlieren. Torsten Degenhart hielt seine Frau mit dem linken Arm an der Schulter. Es lag viel Tröstliches in dieser Geste. Julia kämpfte gegen ein Gefühl völlig unangemessenen Neides an, das sie überfiel wie eine Krankheit. Wie oft hatte sie solchen Beistand, solchen Trost von Paul vermisst. Paul, der sie immer wieder ermahnte, sich abzulenken, sich zusammenzureißen, weiterzumachen, anstatt sich in ihrem Leid zu verkriechen, wie er es nannte.
Abzulenken!
Julia schüttelte es. Paul sah sie prüfend an.
„… dein armes Kind …“
Beharrlich heftete Julia ihre Augen auf das trauernde Elternpaar vorn.
Marina wirkte durchsichtig, so blass war sie. Ihre Figur war noch immer von dieser feengleichen Zartheit, die bei Männern Beschützerinstinkte auslöste. Julia wusste von dem Herzstillstand Marinas bei der Geburt von Emmelie. Niemand hatte ihre Herzschwäche zuvor ernst genommen. Sie und Paul auch nicht. Alle hielten Marina für hysterisch und etwas schwächlich. Julia schämte sich noch heute dafür.
Der schwarze Schal bedeckte Marinas blondes Haar, das in seltsamen Kontrast zu ihren tiefdunklen Augen stand. Sie hielt die Lider gesenkt. Trauer und Schmerz umschatteten sie. Furchtsam und in sich verkrochen saß Marina neben ihrem Mann. Es schien, als würde sie unter dem nächsten Gefühlsansturm zerbrechen. So nah Marina dem Tod damals gewesen war, sie überlebte, wenn auch kaum belastbar. Und nun war sie dazu verdammt, das schwerste aller Schicksale zu tragen. In Julia brannte Mitgefühl für die einstige Freundin. Sie wollte ihr nah sein. Jetzt.
„… und ewiglich.“
„Amen“, sagte der Pfarrer.
Unter Schnäuzen und Husten wurden die Gesangbücher weggelegt. „Liebe Familie Degenhart, lieber Herr Meltzer“, begann der Pfarrer noch immer unsicher, „liebe Gemeinde …“
Eine plötzliche Unruhe packte Julia. Etwas lag in der Luft. Sie sah sich um. Die offene Flügeltür war nun eng gefüllt mit Menschen, die dem Regen draußen entronnen waren. Dahinter in der Allee die gelben Pappeln. Da war nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre.
Julia ließ ihren Blick wieder nach vorn wandern. In diesem Moment sah Marina in ihre Richtung. Ein Ausdruck des Erkennens überflog ihre Züge. Alle Rivalität der Jugendjahre, die sich einst so gut als Freundschaft getarnt hatte, der Neid auf die andere, die Schönere, die Erfolgreichere, aus der Julia erst die Liebe zu Paul erlöst hatte, schien vergessen. Nun waren sie reduziert auf den Tod, diesen Dieb, waren zwei Mütter, die ihr einziges Kind verloren hatten. Für Marina würde es das Einzige bleiben. Ihr schwaches Herz überstände keine zweite Geburt. Marinas Schicksal wog noch schwerer als ihres, fand Julia, und ganz gewiss war sie auch ohne Schuld …
„Liebe Gemeinde“, nahm der Pfarrer noch einmal Anlauf, da seine Kraft beim ersten Versuch nicht zum Weiterreden gereicht hatte, „wir sind heute hier zusammengekommen, um …“
Unruhe unter den Menschen in der Eingangstür ließ ihn erneut abbrechen. Dann näherten sich mit klackendem Geräusch eilige Schritte. Alle Augen richteten sich auf die hochgewachsene Frau im dunklen Designerschick eines Ledermantels, den sie vor ihrer Brust zusammengerafft hatte. Ihre Haare waren von einem kostbaren, silbrig glänzenden Tuch bedeckt. Trotz des Regens trug sie eine Sonnenbrille.
„… zu spät kommen …“, flüsterten die Leute. „Ist das nicht die Schwester vom Apotheker?“
„Saskia Suter“, Trude schüttelte missbilligend den Kopf, „kommt zu spät zur Beerdigung ihres Patenkindes!“
Das Objekt allen Tadels störte sich nicht an dem Getuschel. Selbstsicher schritt Saskia Suter zur Stele vor und verneigte sich. Der Pfarrer lächelte ihr um Nachsicht bemüht entgegen. „Liebe Frau Suter“, setzte er zur weiteren Begrüßung an; doch als Saskia sich eben neben ihren Bruder setzen wollte, schrie Ludwig Meltzer auf.
„Nein!“ Mit einem Satz war er bei ihr. „Du nicht!“
Überrascht versuchte Saskia, den aufgebrachten Mann abzuwehren. Torsten sprang auf und stellte sich zwischen seinen Schwiegervater und seine Schwester.
„Vater! Ich bitte dich, so lass doch!“
„Du kommst mir hier nicht her, du Mörderin!“
„Herr Meltzer!“ Der Pfarrer eilte so schnell herüber, wie es ihm seine Leibesfülle erlaubte.
Ein Raunen ging durch die Gemeinde, viele erhoben sich, um besser sehen zu können. Auch Julia war bei Meltzers Angriff aufgesprungen.
„Du hast sie vergiftet“, heulte Meltzer auf, „du verfluchte Hexe, du …“
„Vater!“
Weder Torsten noch dem Pfarrer, noch dem herbeigeeilten Bestatter wollte es gelingen, Meltzer zu beruhigen. Erst ein Aufschrei der Menge ließ sie alle herumfahren. Marina war ohnmächtig von ihrem Stuhl geglitten. Das brachte ihren Vater zur Besinnung. Torsten kniete sich neben Marinas Kopf. „Einen Arzt, schnell!“
Paul war schon auf dem Weg nach vorn. Julia folgte ihm. Sie wollte Marina nahe sein. Als sie bei den Degenharts ankamen, kniete auch sie sich neben die Bewusstlose. Paul untersuchte Marinas Augen und Puls mit raschen, geübten Griffen. „Leg ihren Kopf auf deinen Schoß“, sagte er zu Julia, „damit ihr Oberkörper höher liegt.“ Julia folgte der Anweisung. Marinas Gesicht war von fahler Blässe. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Die Lippen waren bläulich verfärbt und von einem weißen Dreieck umgeben. Ihr Atem ging flach und stoßweise.
„Sie hat ein Spray für solche Anfälle“, sagte Torsten, der vor Aufregung keuchte. Fieberhaft kramte er in Marinas Tasche danach und reichte die Dose an Paul weiter. Der prüfte kurz die Aufschrift, öffnete Marinas Mund und gab mit dem Dosierkopf einen Sprühstoß auf ihre Zunge. „Es wird gleich wirken.“
„Ja!“ Das klang wie ein Stoßgebet.
Hinter Torsten, der wieder neben Marina kniete und beruhigend auf sie einredete, ragte die Gestalt von Saskia Suter auf. Sie presste die Lippen zusammen. Sonst war ihr Gesicht ausdruckslos, die Augen blieben hinter den dunklen Gläsern ihrer Brille verborgen. Auf der anderen Seite Marinas stand Meltzer. Wie betäubt sah er auf seine Tochter hinunter. Er weinte lautlos und mit solcher Hoffnungslosigkeit, dass Julia den Blick abwenden musste.
„Der Notarzt ist unterwegs“, ließ sich Ella-Mas energische Stimme vernehmen, „und dem Bestatter habe ich gesagt, er soll die Leute besser nach Hause schicken.“
Torsten Degenhart starrte sie ungläubig an.
„Nun, ich hielt es für das Beste.“
„Das ist es, meine liebe Frau Veit“, gab der Pfarrer erleichtert zu und wischte sich über die Stirn.
Paul knurrte etwas zwischen seinen Zähnen hindurch, das klang wie: „… wieder mal typisch!“ Julia sah, wie er dabei ein Lächeln verbarg.
Im Hintergrund bewegte der Bestatter tatsächlich die Leute zum Gehen. Nur Trude bekam er nicht von ihrem Posten an der Tür weg, den sie zu verteidigen gedachte, bis auch die letzte Gefahr vorüber war, sie könnte etwas von Belang verpassen.
Marina rührte sich mit einem Stöhnen. Ein rosiger Hauch huschte über ihre Wangen. Mit flatternden Lidern schlug sie die Augen auf. Ihre Lippen waren noch blass, aber nicht mehr blau.
„Marina!“, sagte Paul bestimmt. „Sieh mich an!“
Ihr Blick taumelte über die Gesichter, bis er an Paul hängen blieb. Die Farbe ihrer Iris war so dunkel, dass sie von der Pupille kaum zu unterscheiden war, was ihrem Antlitz etwas Geisterhaftes gab.
„Paul“, sagte sie mit schwacher Stimme. Julia machte sogar den Versuch eines Lächelns aus. Marina wollte sich aufrichten, doch ihr Mann drückte sie sanft wieder auf Julias Oberschenkel, die sich kaum zu rühren wagte. „Ganz ruhig, Liebes“, murmelte er.
Julia schwieg, obwohl ihr das Herz übervoll war mit Worten.
„Sie können ihre Frau nun ruhig in den Arm nehmen“, sagte Paul. „Der Notarztwagen wird gleich eintreffen.“ Sofort zog Torsten Marina zu sich und begann, ihr innig ins Ohr zu flüstern. Sie weinten beide.
Blitzendes Blaulicht zeugte von der Ankunft der Sanitäter und des Notarztes, der zeitgleich mit dem Krankenwagen eingetroffen war. Sie bahnten sich mit ihren Koffern den Weg durch die ausharrende Menge auf dem Vorplatz. Als sie bei Marina ankamen, gab Paul kurzen Bericht.
„Emmelie …“, flüsterte Marina heiser, „ich kann doch nicht mein Kind …“
„Alles in Ordnung, Liebes. Es kommt alles wieder in Ordnung.“
Julia warf einen traurigen Blick auf die eng umschlungenen Degenharts. Mit einiger Mühe erhob sie sich. Sie taumelte nach der langen Zwangshaltung. Paul ergriff ihren Arm. „Lass mich!“, fauchte sie ihn an. „Es geht mir gut.“
„Das wird sein!“, erwiderte er grimmig und zog Julia in Richtung Ausgang.
Ella-Ma gesellte sich zu ihnen. „Ihr müsst euch sputen, Paul!“
Hinter ihnen rumorten die Sanitäter. „Sie ist stabil“, hörten sie den Arzt rufen. „Auf geht es!“
Auf eine Trage gelegt, wurde Marina eiligen Schrittes nach draußen getragen. Im Vorübergehen hörte Julia Marina ihren Namen rufen.
Sofort machte sie sich von Paul los und lief zu ihr. „Ich bin hier.“
Marina griff nach ihrer ausgestreckten Hand.
„Danke! Danke, dass du da warst.“
Julia nickte unter Tränen. Sie brachte kaum ein Wort heraus.
Inzwischen waren sie beim Krankenwagen angekommen. Die Männer betteten Marina auf die andere Liege, ohne das sie Julias Hand losgelassen hätte.
„… und … und bleibst du?“
„N…nein.“
„Und … kommst du wieder?“
Julia holte tief Luft, doch Paul, der neben sie getreten war, unterbrach sie: „Wir müssen aufbrechen, Marina“, sagte er ungewöhnlich sanft. „Unser Flug geht heute Nachmittag.“ Wie nebenbei packte er Julia wieder am Arm. „Auch wir müssen neu beginnen“, fuhr Paul fort. „Du wirst es schaffen, Marina.“
„Was“, fragte sie schwach, während ihre Hand aus der Julias glitt und die Trage in das Wageninnere geschoben wurde.
„Einen Neuanfang?“, sagte Paul leise, wie für sich selbst. Er starrte nachdenklich auf die Tür des Krankenwagens, die hinter Marina geschlossen wurde. Das Martinshorn ertönte und der Wagen brauste davon.
Torsten Degenhart trat an sie heran. „Ich danke Ihnen Dr. Eisler.“ Seine Worte irrten durch den Regen. „Ich danke auch Ihnen, Frau Eisler, Julia … Ihnen beiden, dass Sie gekommen sind. Sie sind Freunde von Marina, nicht wahr? Ich … ich weiß natürlich, was es ... was es bedeutet …, was es gerade Ihnen bedeutet …“
Paul schüttelte die dargebotene Hand. Er rang nach Worten. „Wir müssen aufbrechen“, brachte er schließlich heraus.
Julia sah, dass ihr Vater und Eddie aus dem Wagen gestiegen waren und ihnen ungeduldig zuwinkten.
„Es wird Zeit, ihr Lieben“, flötete auch Trude von den Stufen der Totenhalle herab. Paul ging los, doch mit einem heftigen Ziehen zwang Julia ihn, noch einmal stehen zu bleiben.
„Kommen Sie zurecht?“ fragte sie Marinas Mann. Torsten hob die Hände, als wollte er einen bösen Geist abwehren.
Oben auf den Stufen war Ludwig Meltzer erschienen, auf den der Pfarrer unablässig einredete. Saskia blieb verborgen. Um sie herum stand unverrückbar und entschlossen zu verharren die Menge der vertriebenen Trauergemeinde.
„Ich weiß es nicht“, sagte Torsten. „Ich weiß es einfach nicht.“
„Komm jetzt, Julia!“
„Ist irre!“, rief Eddie begeistert. „Warum sind wir nur nicht mit reingegangen?“
„Weil du erst jetzt gerade gesellschaftsfähig bist“, brummte sein Vater.
„Kein Wunder“, spottete Paul gutmütig „wer erst Mittag aus den Federn findet …“
Eddie winkte ab. „Jetzt mal kein Neid, ja?“
Georg Veit legte den ersten Gang ein und startete den Wagen. Vorsichtig rollten sie um die Menschmenge herum vom Vorplatz der Trauerhalle.
Kaum auf der Straße angelangt, kam Eddie hoffnungsvoll auf den Skandal zurück: „Oh, Mann! Was für’n Aufstand! Und so ’ne Anschuldigung!“
„Und an was für einem Ort“, vollendete sein Vater kopfschüttelnd.
Georg Veit hatte durchaus Sinn für Dramatik. Immerhin war er seit mehr als dreißig Jahren mit der ausgesprochen temperamentvollen Russin Ludmilla verheiratet. Julia wusste jedoch aus ihren ersten Berufsjahren in der Kanzlei ihres Vaters, dass ihm im Zusammenhang mit seinem Anwaltsberuf Pathos jeder Art suspekt war. Sie hütete sich also, Öl ins Feuer von Eddies Neugier zu gießen. In stummer Eintracht tat Paul es ihr gleich.
Nach einer Weile schweigend verbrachter Fahrt war es jedoch ihr Vater, der das Wort ergriff: „Ludwig wird sich noch eine Klage einhandeln von dieser Suter.“
„Ich glaube kaum, dass sie ihn anklagen wird deswegen“, erwiderte Paul spröde. „Schon allein wegen ihres Bruders nicht. Dem Meltzer sind doch einfach nur die Nerven durchgegangen.“
„Gibt es denn tatsächlich einen Anhalt für seine Behauptung?“, mischte sich nun auch Julia ein. „Irgendein Indiz, das bei den Ermittlungen übersehen wurde?“
„Wenn ja, dann werden die Ermittlungen wieder aufgenommen werden“, sagte Georg. „Doch ich habe da meine Zweifel.“
„Ermittlungen?“, wunderte sich Eddie. „Wieso haben denn Ermittlungen stattgefunden?“
„Bei einem plötzlichen Kindstod finden immer Ermittlungen statt“, belehrte Julia ihn mit scharfer Stimme. „Wegen des Fehlens einer Todesursache!“
Vater Georg und Paul warfen sich besorgte Blicke zu. Nur Eddie nahm wie immer keine Rücksicht auf die seelischen Befindlichkeiten seiner Schwester. „Ich denke, die Kleine ist an Herzversagen gestorben? Das ist doch was, oder? Hatte sie nicht so was Ähnliches wie die Mutter? So was, das man nicht gleich nachweisen kann? Also eine Herzschwäche ohne Herzfehler. Ist es nicht so? Gibt es so was überhaupt, Paul?“
„Natürlich“, sagte der verdrossen. „Vegetative Herzinsuffizienz. Meistens psychische Ursachen und meistens nicht gefährlich.“
„So ungefährlich, dass Marina nur knapp überlebt hat“, bemerkte Julia spitz, „und ihre Tochter ist daran gestorben.“
Georg Veit räusperte sich. „Soviel ich weiß, geht man von einer natürlichen Todesursache aus bei Emmelie Degenhart“, sagte er. „Die Ermittlungen haben keinerlei Verdacht auf Fremdeinwirkung ergeben, sonst hätte die Staatsanwaltschaft die Leiche nicht zur Kremation freigegeben.“
Ob dieser Fakten verstummten alle für eine Weile. Sie hatten den Autobahnzubringer bei Salzenforst erreicht. Georg drückte aufs Gas. Auf der Autobahn fand Eddie als Erster die Sprache wieder. „Dass die ihr Kind haben verbrennen lassen, ist schon stark.“
Paul stöhnte auf.
„Ich meine“, fuhr Eddie ungerührt fort, „wenn es nun doch ein Mord war, dann sind jetzt alle Spuren verwischt, nicht wahr?“
„Edgar!“, knirschte sein Vater.
Mit einem Ruck wandte sich Paul zu seinem Schwager um, der neben Julia auf dem Rücksitz saß. Seine Miene drückte alle Entschlossenheit aus, endlich das Thema zu wechseln. Die Augen hinter seiner Brille funkelten. „Sag mal, Eddie: Was willst du denn alles so anstellen in den letzten Herbstferien deiner Schullaufbahn?“
Eddie hatte seinen dürren Oberkörper aus dem Autofenster gezwängt und ruderte zum Abschied wild mit den Armen, während sein Vater den Wagen umlenkte und nach kurzem Handgruß seinem nächsten Termin entgegenbrauste.
Mit Wehmut sah Julia ihnen nach, als sie mit Paul matt zurückwinkte. Sie seufzte.
„Nun komm schon!“ Pauls Stimme war Ungeduld anzumerken. Auch er schien bedrückt. Er war noch einsilbiger als sonst. Julia fühlte sich schlecht, da sie ihn so spüren ließ, wie ungern sie wieder mit ihm nach Boston zurückkehrte. Insgeheim graute ihr, wieder an den Ort zurückzukehren, der ihr in den Monaten vor ihrer Abreise nach Deutschland zu einem düsteren Gefängnis ihrer Trauer geworden war. Wie würde ihr Alltag nun aussehen? Würde sie wieder nur daheim sitzen und die Wände anstarren, sich in Stevies Kinderzimmer verbarrikadieren? Julia lauschte in sich hinein. Nein. Das war vorbei. Sie spürte einen Hauch Beschämung bei der Erinnerung daran.
Paul kam mit einem Rollwagen zurück. Julia bemerkte die müden Schatten unter seinen Augen. Er arbeitete zu viel.
„Alles in Ordnung?“, fragte Julia.
„Bei mir schon“, knurrte Paul. Er packte die Koffer auf den Rollwagen und stiefelte los in Richtung Flughalle.
Voller Gewissensbisse folgte ihm Julia. Sollte sie nicht froh sein, wieder bei ihm zu sein? Sie liebte ihn doch. War es nicht so? War es nicht schon immer so, dass sie ihn liebte? Das war ein Bund für das ganze Leben. Jeder wusste das, der sie kannte. Julia liebte Paul und Paul liebte Julia.
Doch nach Stevies Tod war da auch Einsamkeit gewesen, Abstand, war da eine kalte Stille in dem kleinen Haus unweit des Hudson, in das sie sich damals so verliebt hatten in den glücklichen Tagen des Anfangs vor drei Jahren. Julia hatte Angst vor dieser Stille, die sich auch zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
„Wir treffen uns mit Alicia in München“, sagte Paul.
„Alicia?“ Julia war überrascht. „Ich dachte, sie ist schon längst wieder zurück in Boston.“
„Sie hat noch ein paar Tage Urlaub drangehängt. Sie wollte sich Deutschland ansehen und nicht nur die Kongresshalle.“
„Aber ich denke, ihr steckt mit euerm Forschungsprojekt gerade in einer kritischen Phase?“
Unwillig schüttelte Paul den Kopf. Neuerdings reagierte er ausgesprochen gereizt, wenn ihn jemand zu ihren Versuchen befragte. Alicia leitete eine Studie am Boston-X-Institut, in deren Verlauf ein Medikament gegen die Parkinson’sche Schüttellähmung entwickelt werden sollte. Die letzten Versuchsreihen während des Sommers waren von Fehlschlägen gekennzeichnet gewesen, wie Paul angedeutet hatte. Der Pharmakonzern machte den Forschern Druck. Dort wollte man Ergebnisse sehen für die Investition in das Institut.
Paul hatte über die Wirkung von Neurotransmittern seine Doktorarbeit geschrieben. Teil dieses Projektes geworden zu sein, erfüllte ihn mit Stolz. Es war eine Auszeichnung gewesen, als er von seinem Professor und Doktorvater diese Empfehlung nach Boston bekommen hatte.
„Und nun verkraftet ihr nach dem Münchner Symposium gleich noch zwei Urlauber?“, versuchte Julia zu scherzen. Mittlerweile waren sie am Schalter ihres Fluges angekommen.
„Alicia ist den ganzen Sommer über kaum aus dem Labor gekommen“, fuhr Paul sie an, „da wirst du ihr wohl die paar Tage Auszeit gönnen!“
Erschrocken legte Julia die Hand auf seinen Unterarm. Paul umklammerte den Griff des Rollwagens mit solcher Gewalt, dass die Fingerknöchel weiß waren.
„Ich gönne ihr alles Glück der Welt, das weißt du doch“, besänftigte sie ihn. „Nach all dem, was sie für uns getan hat.“
Alicia und ihr Mann Richard waren Freunde für sie geworden. Sie hatten sich ihrer wie Paten angenommen, als sie in Boston ankamen, und standen ihnen bei in den schmerzlichen Wochen nach Stevies Tod. Julia fuhr sich über die Stirn, als könnte sie damit die Erinnerung daran wegwischen, die sie überrollte wie eine dunkle Welle. Könnte sie nur hierbleiben!
Paul spürte die Veränderung sofort. Der Griff seiner Hände lockerte sich. Besorgt sah er sie an.
„Ist schon gut“, sagte sie rasch. „Ich freue mich auf Alicia.“
Die Freude auf Alicias Gesellschaft wuchs noch bei Julia auf dem Flug nach München, denn Paul war tief in Gedanken und in düsterer Stimmung, die sich vertiefte, je näher die Landung rückte.
Alicia erwartete sie bereits. Sie war eine hübsche, zierliche Person im schicken, grauen Kostüm, auf himmelhohen Absätzen. Ihr Haar trug sie hochgesteckt, doch eine widerspenstige Strähne wippte ihr über dem Ohr, als sie sich ihnen zögernd, fast scheu näherte. Bei genauerem Hinsehen fand Julia, dass auch Alicia abgekämpft aussah. Das schwache Lächeln und der müde Händedruck zur Begrüßung waren ebenso befremdlich wie Alicias hastige, nervöse Nachfrage nach Julias Befinden. Julia kannte Alicia als eine beherrschte, willensstarke Frau. Ihren Assistenten Paul bedachte Alicia gar nur mit einem Kopfnicken. Und Paul sah irgendwie an Alicia vorbei. So hatte Julia die beiden noch nie erlebt.
Als Wiedergutmachung für Pauls Unhöflichkeit begann Julia, Alicia nach ihrem Urlaub auszufragen. Sie bekam einsilbige Antworten wie „schön“ und „romantisch“. Paul unterbrach sie: „Gate 24“. Rasch ging er los in die angezeigte Richtung. Alicia schloss sich Paul sofort an.
Julia folgte ihnen kopfschüttelnd. Es sah Paul überhaupt nicht ähnlich, seine schlechte Laune an seiner Gruppenleiterin auszulassen, die er als gute Wissenschaftlerin und Freundin schätzte. Es konnte sich nur um die Studie handeln. Julia gab sich einen Ruck und beeilte sich, zu Alicia aufzuschließen, die Mühe hatte, Pauls Sturmschritt zu folgen.
„Ist etwas passiert“, nuschelte Julia zwischen den Zähnen hindurch, als sie mit Alicia auf gleicher Höhe war.
Abrupt blieb Alicia stehen. „Wie kommst du darauf?“, fragte sie erschrocken.
„Du siehst besorgt aus.“
Alicia schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die lockere Haarsträhne ins Gesicht flog, wobei sich der Ausdruck von Besorgnis in ihrem Gesicht noch verstärkte. „Nein. Es ist nur … der Flug. Ich hasse Flüge und dann auch noch so lange!“
Julia bemerkte, wie am Hals rote Flecken auf Alicias heller Haut entflammten. „Aber du musst doch so oft fliegen.“
„Das macht es nicht besser“, erwiderte Alicia schroff. „Wir sollten uns beeilen, Paul ist schon drin.“
„Wir haben doch noch über eine halbe Stunde Zeit“, rief ihr Julia hinterher, doch Alicia wandte sich nicht mehr um. Mittlerweile war sich Julia gewiss, dass die beiden sich gestritten haben mussten. Das Münchner Symposium hatte von ethischen Fragen gehandelt, soviel sie wusste. In Fragen der Moral und des ärztlichen Ethos war mit Musterschüler Paul nicht zu spaßen. Vielleicht hatten sie sich darüber entzweit?
Betont langsam ging sie ihnen nach. Viel lieber wäre sie wieder umgekehrt. Es war, als würden Gummiseile sie jeden Augenblick wieder zurückfliegen lassen. Zurück zu Ella-Ma und Trude in ihr kleines Umgebindehaus, in das Ausgedinge, das ihren Eltern einst die erste Familienwohnung gewesen war, bevor sie nach Eddies Geburt in die Stadt zogen. Danach hatte Paul dort als Untermieter gewohnt. Nun hatten es Trude und Ella-Ma zu einer Ferienwohnung umbauen lassen und Julia war ihr erster Gast gewesen. Die letzten Monate, die Julia zur Erholung in Finkendörfel verbringen durfte, hatten ihre Seele zur Ruhe kommen lassen. Jetzt spürte sie, wie die Wunden wieder aufrissen, je näher die Heimkehr nach Boston rückte. Ein viel zu zartes Pflänzchen wurde hier herausgerissen. Die zwei Menschen, die sie liebte und die ihr Halt geben sollten, waren verstritten und sie wusste nicht warum. Wenn sie nur einen Anhaltspunkt hätte, einen kleinen Faden greifen könnte.
In der freundlichsten Absicht gesellte sich Julia zu den beiden an einen der runden Tische, die im Wartesaal standen. Auf dem Rollfeld draußen ging ein schwerer Regenguss nieder.
„Möchtet ihr Kaffee?“ Alicia stand bereits am Automaten.
„Nein, danke!“, sagte Julia provozierend fröhlich und ließ ihre Reisetasche neben Paul auf den Boden klatschen. Doch der blickte nicht einmal aus der Tageszeitung auf, die er sich gegriffen hatte. Julia spürte, dass er kein Wort las, das dort geschrieben stand. Seine Augen sah sie nicht, doch sie war sich sicher, sie starrten nur auf einen Punkt. Mit gereiztem Geraschel schlug Paul die Seiten um, da er sich so eindringlich von ihr beobachtet fühlte. Alicia setzte sich mit ihrem Kaffee Paul gegenüber und blickte in den Regen hinaus.
Hilflos stand Julia zwischen ihrem Schweigen. Der Flug über den Atlantik würde endlos werden mit solch ungeselligen Gefährten. Langsam kochte Wut in Julia hoch. Warum sollte ausgerechnet sie der Sündenbock für einen ungeduldigen, geldgierigen Pharmakonzern sein?
„Ich hole mir etwas zu lesen“, verkündete Julia und lief los, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Wenig später kehrte sie mit einem Stapel schmaler Bändchen und Kurzgeschichten zurück, da ihr die Gefahr eines Missgriffs bei einem der dicken Romane zu groß erschienen war, wenn sie schon die nächsten neun Stunden mit Paul und Alicia eingesperrt sein würde. Sie fand den Tisch, an dem die beiden gesessen hatten, belegt von einer kleinen Familie. Die Wartehalle hatte sich nach ankommenden Flügen dicht mit Menschen gefüllt. Geschäftiges Summen wie in einem Bienenstock und Lautsprecherdurchsagen. Irgendeine Berühmtheit wurde mit einem großen Auflauf an Sicherheitskräften in den VIP-Bereich geschleust. Endlich entdeckte Julia die Vermissten. Sie standen mit dem Handgepäck an der Fensterfront zum Rollfeld gleich hinter den Sesselreihen. Alicia hatte ihr den Rücken zugewandt. Wie auch Paul hielt sie den Kopf gesenkt. Sie bemerkten Julia nicht, die sich vorsichtig näherte. Hatte es die klärende Aussprache schon gegeben? Traurig sahen sie aus, wie sie da beieinander standen, so als hätten sie etwas unwiderbringlich verloren. Julia hatte schon ein paar aufmunternde Worte auf den Lippen, als sie sah, wie sich Paul Alicias Gesicht näherte und sie küsste. Seine Hände hielten die von Alicia.
Die Bücher fielen Julia aus der Hand.
Sie fuhren herum, die Hände wie durch einen Schwertstreich getrennt. Alicia schlug die Hände vor den Mund und starrte Julia an. Ihr schossen Tränen in die Augen. Paul errötete bis unter die Wurzeln seiner stoppelkurzen Haare. Schweiß brach ihm aus auf der Stirn. Nervös nahm er die Brille ab. „Julia … Ich … Wir …“
„Sei still!“, entfuhr es Julia mit nicht gekanntem Hass. „Wie konntet ihr?“
„Es ist … es ist uns passiert.“
„Passiert?“ Julias Stimme überschlug sich fast. „Meine Tasche!“
„Julia, bitte!“
„Lass dir doch erklären …“
„Gib mir meine Tasche!“
„Du darfst nicht glauben …“
„Ich glaube an gar nichts mehr!“, schrie Julia.
Die Umstehenden wandten sich neugierig zu ihnen um.
„Gib mir die Tasche!“
„Julia, bitte!“
Julia riss sie ihm aus der Hand.
Alicia schluchzte auf. „Es war doch nur, weil du …“ Julia schüttelte sie ab. „Ach, weil ich! Ich bin schuld!“ Wieder fasste Alicia nach ihrem Arm. „Nein, nein! Es ist vorbei, Julia.“
„Lass mich los!“
„Julia …“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging. Nur widerwillig öffneten die Gaffer eine Gasse für sie. Nicht ein Mal wandte sie sich um. Paul rief ihr hinterher. Seine Stimme klang fremd und fern. Keine Macht der Welt hätte sie in diesem Augenblick zur Umkehr bewegen können. Der aufgeflammte Zorn gab Julia ungeahnte Kräfte. In seiner Glut verdampften alle Tränen.
Schneetreiben vor dem Zugfenster. Julia erschien es wie ein magischer Sog in die graue Weite des Dezembertages, ins Nirgendwo, wo Zeit und Raum vergessen waren. Warum nur liefen ihr immer wieder die Tränen über die Wangen, so als wäre ein Überlaufventil zerbrochen und der Fluss ließ sich nun einfach nicht mehr stoppen. Überlastungsbruch vermutlich. Julia wischte sich verstohlen über das Gesicht.
„Wenn ich Ihnen doch nur helfen könnte“, sagte die alte Dame gerade wieder. Sie war in Leipzig zugestiegen und hatte Julia in diesem Elendszustand vorgefunden, der seit Frankfurt/Main alle anderen Passagiere erfolgreich aus ihrem Abteil vertrieben hatte. Diese Dame war beherzter. In mütterlicher Fürsorge nahm sie sich Julias an. „Nehmen Sie doch noch ein Stück Konfekt!“ Die rundliche Figur der Dame zeugte davon, dass sie selbst gut auf die Schokoladentherapie ansprach. Mit einem gequälten Lächeln griff Julia zu. „Danke.“
„Sie fahren sicherlich zu Ihrer Familie über die Feiertage.“
Julia nickte.
„Mein Enkel arbeitet auch im Westen“, erzählte die Dame voller Stolz. „In Köln.“
„Ah“, machte Julia höflich.
„Aber es ist schon eine Schande, dass die Jugend weggeht von uns, nicht wahr?“
„Manche kommen auch wieder zurück.“
Die Dame strahlte. „Ja, nicht wahr? Und wenigstens zu Weihnachten ist die ganze Familie dann einmal wieder zusammen, nicht wahr?“
Julia dachte an Paul, der in diesem Jahr fehlen würde. Das reichte, um den inneren Wasserstand wieder bedenklich steigen zu lassen. Warum nur hatte sie das miese Gefühl, wenn er doch der Verräter war? Julia schnäuzte sich.
„Noch ein Konfekt?“ Der Dame war die Verschlechterung von Julias Zustand nicht entgangen. „Nein, danke. Vielen Dank.“ Julia warf das durchweichte Taschentuch zu den anderen in den Mülleimer und richtete sich auf. Höchste Zeit, wieder etwas Haltung anzunehmen. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte sie mit einem mutigen Lächeln. „Ich bin wohl etwas überarbeitet.“
„Das ist ja auch Stress geworden in der Arbeitswelt, nicht wahr? Wohin hat es Sie denn verschlagen?“
„Frankfurt“, erzählte Julia brav. „Ich arbeite dort in einer Kanzlei.“
„Ah, Sie sind Anwältin!“
Julia fühlte sich eher wie die Sklavin eines Anwaltes. Und sie musste auch noch dankbar sein, dass sie durch Fürsprache ihres ehemaligen Professors Reesenhagen diese Chance für ihren beruflichen Wiedereinstieg geboten bekommen hatte, weil er sie noch als so hervorragende Studentin in Erinnerung behalten hatte. Reesenhagen und seine Partner speisten sie mit Honoraraufträgen wie mit Almosen. Tapfer kämpfte sie sich durch Geschäftsunterlagen, Mietstreitigkeiten und Verkehrsdelikte, in jeder freien Minute auf Weiterbildung bedacht, da es galt, drei Jahre Auszeit von der Juristerei aufzuholen. In den Telefonaten mit Paul viel Schweigen. Manchmal Streit. Streit um Geld. Das hatte es noch nie gegeben. Doch ihr Honorar reichte nicht zum Leben. Julia wurde kalt, wenn sie daran dachte. Paul riet ihr, doch wieder bei ihrem Vater einzusteigen. Das würde so vieles vereinfachen, bis sie eine Lösung gefunden hätten. Eine Lösung! Als handelte es sich bei ihrer Ehe um die Lösung einer Mathematikaufgabe. Wieder einmal vermochte Paul nicht zu begreifen, dass es Gefühle gab, ganz jenseits aller praktischen Erwägungen. Julia hörte im Geist schon, wie man sich in ihres Vaters Kanzlei das Maul zerreißen würde, über die Rückkehr der verlorenen Tochter, die es nicht geschafft hat und deren Ehe kaputt war. Nein, diese Demütigung war sie nicht bereit zu tragen. Dann schon lieber Frondienst bei Reesenhagen, dann lieber Einsamkeit und Fremde. Trost gab es allein durch eine gelegentliche Überdosis Rotwein. Kein Wunder also, dass sie nach diesen harten Wochen kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
„Wo wohnen Sie denn da in Frankfurt“, erkundigte sich die Dame freundlich. Sie hatte ihr Strickzeug herausgenommen, da ihr die größte Tränenflut ihrer Begleiterin gebannt schien.
„Niederrad. Ein kleines Appartement.“
„Oh, ein Appartement, wie schön!“
Julia lächelte. „Das ist weniger luxuriös, als es sich anhört. Es ist winzig. In der Nähe braust die Stadtautobahn und das Klärwerk flussaufwärts versüßt nicht gerade das Atmen.“
„Das tut mir leid. Haben Sie denn nichts anderes gefunden?“
„Oh, ich wollte es unbedingt haben“, sagte Julia. „Es gibt da viel Grün ringsherum und ich laufe sehr gern. Außerdem wollte ich unbedingt wieder an einem Fluss wohnen.“ Sie verstummte. Die Erinnerung an ihr hübsches Haus am Hudson überrollte sie wie eine Welle. Stevie! Stevie und Paul. Paul…
„Ach, nun weinen Sie ja wieder, mein Kind!“ Aufgeregt packte die Dame ihr Strickzeug weg.
Julia riss sich zusammen. „Es geht mir gut“, versicherte sie schniefend. „Verzeihen Sie!“ Sie probierte ein Lächeln, doch ohne Überzeugungskraft. Die Dame zückte wieder die Konfektschachtel. „Sie sind ja völlig am Ende, sie armes Kind!“
„Nur etwas überarbeitet. Danke.“
„Eine Schande, was man heute so von den Leuten abverlangt, nicht wahr?“
Julia arbeitete weiter an ihrem Lächeln, das ihr nun schon besser gelang, auch wenn es durch das Kauen der Praline etwas grimassig geriet.
„Wenn Ihre Mutter Sie erst einmal in die Arme schließt“, fuhr die Dame gütig fort, „dann wird alles wieder gut.“
Es fehlte nicht viel und Julia hätte sich am Rest des Konfektes verschluckt. Ihre Augen wurden glasig. Mutter Milla – und alles wieder gut? Nicht zu diesem Weihnachtsfest, dem ersten ohne Paul seit 18 Jahren. Mutter war eine besonders begeisterte Vasallin des treulosen Paul. Sie war es vom ersten Tag an, da Paul nach dem Unfalltod seiner Eltern für das letzte Schuljahr in das Ausgedinge bei Ella-Ma und Trude gezogen war. Von da an war Paul Mitglied der Familie Veit und untrennbarer Bestandteil von Julias Leben. Julia erinnerte sich an den stürmischen Kuss, mit dem sie Paul bedacht hatte, als sie ihm damals vom Vorschlag ihrer Familie erzählte, bei ihrer Großmutter einzuziehen bis zum Abschluss der Prüfungen. Sie war ganz überrascht gewesen. Alle hatten gedacht, Marina und Paul würden ein Paar werden. Doch es war Julia, mit der Paul nun ging. Bis heute. Bis … kürzlich. Bis alles Vertrauen zerbrach.
Julia schluckte.
Sie machte sich nichts vor. Es war Mutter Milla, deren Begegnung sie tief im Inneren fürchtete. Ludmilla Veit hatte ausgesprochen archaische Auffassungen, wenn es um die Ehe ging.
„So ein kleiner Ausrutscher!“, hatte sie erst letzte Woche Julia am Telefon ihre Meinung kundgetan. „Gewiss hast du ihn so weit getrieben. Kein Wunder, wenn du dich immer noch verkriechst und dich dein Mann überhaupt nicht mehr kümmert.“
„Ich habe mein Kind verloren, Mama!“
„Über zwei Jahre ist das nun her. Es wird Zeit, dass du dich wieder den Lebenden zuwendest, mein Schatz!“
Es war Julia völlig klar, welcher Lebende ihrer Mutter vorschwebte. Doch genau der hatte im Moment keine Chance. Zu tief saß die Verletzung. Mochte nun Weihnachten sein oder nicht.
Julia seufzte. Die Dame hob die Augenbrauen. Rasch wehrte Julia mit einem Lächeln ab. „Ich freue mich auf zu Hause“, log Julia, um die nette Dame nicht zu enttäuschen. Derweil hätte sie die Feiertage lieber bei Ella-Ma und Trude in Finkendörfel verbracht, weit weg von Mutter Millas unnachgiebig bohrenden Fragen. Die beiden bauten allerdings schon wieder an ihrem Umgebindehäuschen herum. So kurz vor dem Winter und wieder mal völlig über das Knie gebrochen, hatte Mutter Milla Julia ungnädig bei demselben Telefonat mitgeteilt. Manche Dinge galt es zu ertragen. Und ein so ein Ding war die unvermeidliche „Wie-konntest-du-nur“-Predigt ihrer Mutter.
Julia unterdrückte ein weiteres Seufzen. Der Zug näherte sich langsam der Bahnhofshalle von Dresden-Neustadt. „Ich steige hier um“, sagte sie.
Die Dame überschlug sich mit guten Wünschen für die Familie und das Weihnachtsfest. Julia vermochte es, wacker mitzuhalten. Bevor die Dame sie adoptieren konnte, war sie dem Abteil entronnen.
Die Türme von Bautzen und die Wasserkunst erschienen im Norden, als die Bahn Richtung Görlitz über die Spreebrücke fuhr. Julia wurde bereits erwartet. Eddie und sein Freund Tobias standen auf dem Bahnsteig, als der Zug einrollte. „Wie siehst du denn aus?“, empfing Eddie seine Schwester mit all der Herzlosigkeit seiner siebzehn Jahre. „Bist du depri oder was?“
„Ich stehe kurz vor dem Selbstmord, wie alle betrogenen Ehefrauen“, belehrte Julia ihn kühl, die davon ausging, dass Tobias über die Details ihrer Geschichte bestens informiert war. „Allein deine Gegenwart, mein liebes Bruderherz, kann mich davon abhalten, mich augenblicklich vor die nächste Lok zu stürzen.“
Tobias errötete, was Julias Vermutung über den Grad seiner Anteilnahme bestätigte. Ihr völlig unbeeindruckter Bruder bekam einen tränenverschmierten Kuss von ihr auf die Wange gedrückt, worauf Tobias vorsichtshalber einen Schritt zurückwich, falls Julia in Erwägung zog, in diesem fragwürdigen Zustand auch ihn in die familiäre Begrüßung einzubeziehen. Sie hätte ihm durchaus zugestanden. Seit Monaten schon gab es keinen Eddie ohne Tobias. Die Burschen schienen derzeit miteinander verwachsen zu sein. Mutter Milla freute sich darüber. So konnten wenigstens keine „Weibergeschichten“ ihr Lieblingskind vom Lernen abhalten. Ihre Sorge darum war allen unverständlich. Wenn sich Eddie nicht noch krimineller Machenschaften schuldig machte, würde er mit aufreizender Lässigkeit und trotz zum Himmel stinkender Faulheit sein Abitur nächstes Jahr summa cum laude bestehen.
Eddie packte Julias Reisetasche und Tobias bemühte sich um ihren Rollkoffer. So liefen sie aus der weihnachtlich geschmückten Bahnhofshalle hinaus, durch die Straßen von Bautzen, hinunter in Richtung Milchhof, wo in einer stillen Seitenstraße das Haus ihrer Eltern stand, in dem sich auch Georg Veits Anwaltskanzlei befand.
Wieder saß Julia ein Kloß im Hals. Sie zögerte zu sprechen, um nicht zu weinerlich zu klingen. „Irgendwelche Besonderheiten im Plan?“, fragte sie schließlich.
Eddie schüttelte den Kopf. Seine langen Haare flogen. „Bist du verrückt? Mama erstarrt doch zur Salzsäule, wenn sie sich umsieht und jemand hat unsere Weihnachtstraditionen geändert.“
Tobias lachte meckernd.
„Wirst du denn das Weihnachtsfest mit uns feiern?“, fragte ihn Julia, ehrlich gespannt, ob er wohl eine eigene Familie hatte. Tobias hatte. Und seine Familie erhob sogar strikten Anspruch auf seine Anwesenheit zu den Feiertagen. „Total spießig“, befand Eddie.
„Wieso denn? Wir sind doch auch alle bei unserer Familie zu Weihnachten.“
Eddie rümpfte die Nase. „Mama kocht auf jeden Fall Mampfe, als würde morgen eine Kompanie bei uns einrücken.“
„Wie üblich also.“
Julia lächelte. Im Geist sah sie ihre Mutter mit glühenden Wangen durch die Küche wirbeln. Ludmilla Veit war eine begnadete Köchin. Neben der russischen Literatur war es die Küche, die sie voller Stolz über ihre Wurzeln sein ließ. Darüber ließ sie nicht mit sich diskutieren – wie über so vieles andere nicht.
„Na klar“, ergänzte Eddie mit einem tiefen Seufzer, der von all den Strapazen kündete, die man als jugendliches Mitglied einer Familie ertragen musste, wenn bei der Mutter die Weihnachtspanik ausgebrochen war. „Gut, dass du da bist. Mama dreht total am Rad mit den Fressalien. Ella-Ma hat schon vorgeschlagen, die Bahnhofspenner zum Essen einzuladen.“
Diese kleine Plauderei ließ Julias Herz endlich leichter schlagen.