Caller off Duty - Matthias Hockmann - E-Book

Caller off Duty E-Book

Matthias Hockmann

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Beschreibung

7:07 Uhr – Identitätsverlust – wer zur Hölle ist er – Christoph Kayser oder Max Mustermann? Statt im Callcenter soll er plötzlich als Erpresser arbeiten. Ständig wechselnde Perspektiven stellen immer mehr infrage, ob er nun Max, Christoph oder doch jemand ganz anders ist. Wer soll er sein? Wer will er sein? Und wer trifft diese Entscheidung – gibt es überhaupt eine Wahl? Das Selbstbild immer als Gegenspieler, versucht er, die Puzzleteile seiner Identität im Alltag einer offensichtlich völlig absurden Welt wiederzufinden.

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The two most important days in your life are

the day you are born

the day you find out why

Mark Twin

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2017

www.weeerd.be

© 2017 Verlag der Ideen, Volkachwww.verlag-der-ideen.de

ISBN 978-3-942006-25-5

Covergestaltung und Satz:Jonas Dinkhoff, www.starkwind-design.de

Coverillustration: Jonas Hauss

Printed in Germany

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-942006-85-9

Matthias Hockmann, ist Autor des Buches »Tridiversum«. »Caller off Duty« ist sein zweiter Roman. Matthias wurde 1983 in Papenburg geboren und studierte Jura in Osnabrück und Münster. Noch während dieser Zeit begann er, Musik- und Theaterrezensionen für die Neue Osnabrücker Zeitung zu schreiben. Er arbeitet freiberuflich als Musikprojektleiter an verschiedenen Privatschulen in Köln. In seiner Freizeit schreibt er Kurzgeschichten und Lyrik und komponiert.

Dieses Buch ist all jenen gewidmet,die [zu] utopisch denken,um Realisten zu sein.

Inhaltsformular

Identitäter

Strickmustermann

Balanzia

Identitäter

Caller

Caller Off Duty

Wer sich ein grobes Bild von einer Person machen möchte, kann ein simples Informationsdreieck aufspannen: Name, Alter, Beruf. Als Beispiel:

Gregor Brönner

52 Jahre

Call-Center Agent

Auf diese Weise wird schnell und effizient eine mit Sicherheit klischeelastige Vorstellung von einem gealterten Berufstelefonisten erzeugt, dessen wahre Identität sich natürlich nicht auf dieselben drei Punkte runterbrechen lässt. Sogar Gregor Brönner ist komplexer als das, ohne ihm jetzt allzu viel Persönlichkeit zuzusprechen. Ob dasselbe für mich gilt, bleibt abzuwarten. Meinem eigenen Informationsdreieck fehlt nämlich seit 07:07 Uhr eine Ecke:

Christoph Kayser

Alter bekannt

Call-Center Agent

Ich kenne mein Alter nicht, weil ich die Zeitspanne ausgeblendet habe, die es definiert. Deshalb ist die Person, die ich darstelle, mit dem Menschen, der ich bin, nicht verbunden. Zwischen den beiden herrscht Funkstille, seit der Kontakt abgebrochen wurde. Dieser Zustand fühlt sich, wenn ich ehrlich bin, ein kleines bisschen schizophren an, aber Schizophrenie als Diagnose lehne ich ab. Ich bin ja nicht geisteskrank. In diesem Sinne hole ich tief Luft, verstelle meine Stimme und sage:

»Wunderschönen guten Tag, mein Name ist Kayser, Christoph Kayser. Hätten Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für eine kurze Umfrage? Wir erkunden das Nutzerverhalten von …«

Der Anruft wird unterbrochen, und CallQuest, unser künstlich intelligenter Sklaventreiber, wirft mich sofort in den Verteiler zurück. Das Freizeichen ertönt keine zweieinhalb Sekunden später, nach dem ersten Klingeln hebt jemand irgendwo in Hessen ab. Ich wiederhole meine Begrüßungsformel, werde abgewürgt, bevor ich »Umfrage« sagen kann, und direkt einer neuen Adresse zugewiesen. CallQuest erwischt eine Telefonnummer, die nicht vergeben ist, danach eine, die zurzeit nicht erreichbar ist und dann eine Mailbox in München. Diese Verbindung unterbreche ich selbst, weil wir Anrufbeantworter nicht besprechen sollen. Die Rückrufwahrscheinlichkeit sei zu gering, sagt Gregor. Der sitzt links neben mir am Fenster und tippt mich gerade mit seinem übergroßen Zeigefinger an: »Ich habe jetzt mein erstes Interview geführt.«

»Schön für dich«, gebe ich angefressen zurück. Ich gönne ihm seinen Erfolg nicht. Gestern hat er schon zwei gemacht, und das weiß ich, weil er vorhin damit rumgeprahlt hat.

»Achtzehneinhalb Minuten«, freut er sich.

»Da hatte wohl jemand Gesprächsbedarf – Rentner?«

»Nein. Siebenundzwanzig.«

»Frühpensioniert?«

»Witzbold. Willst du mir meine neue Bestzeit madig machen?«

»Selbst für achtzehneinhalb Minuten müsste der eigentlich Schadensersatz verlangen.«

»Sie. Aber ich gebe dir Recht: Eine kleine Vergütung wäre angemessen.«

»Und besser für die Trefferquote allgemein.«

»Gewiss. Der Kunde möchte natürlich austesten, wie weit er ohne kommt.«

»Typisch Bank«, behaupte ich, ohne wirklich zu wissen, was typisch für eine Bank ist. Ich nehme es bloß an. Kunde jedenfalls wird bei uns ein Unternehmen genannt, das eine statistische Erhebungen in Auftrag gibt, die uns mindestens eine Woche lang mit Telefonaten beschäftigt. Ob sich eine Umfrage für den Befragten lohnt, kann uns dabei prinzipiell egal sein, aber die Aussicht auf ein Incentive erleichtert das Verkaufsgespräch. Glücklicherweise verkaufen wir ihm kein Produkt sondern die Bedeutsamkeit einer Statistik. Es sei wie mit Bundestagswahlen, erzähle ich manchen: Der Wähler gibt nur eine Stimme ab, aber jede Stimme zählt. Im vorliegenden Fall sei es zum Beispiel extrem wichtig, das Nutzerverhalten vor Bankautomaten unter 10- bis 30-Jährigen zu erfassen, um mit den natürlich anonym ausgewerteten Daten eine bessere Zukunft für kommende Generationen im Sinne der Bankautomatenbedienfreundlichkeit zu schaffen. Was wäre die Welt bloß ohne diesen Service? Richtig – dieselbe.

»Übrigens«, klärt Gregor mich auf, »Rentner fallen aus dem Raster.«

»Nicht mehr lange«, antworte ich belustigt, denn ich weiß zufällig über Konferenzraum C4 Bescheid. Den darf von uns 08/15-Callern keiner betreten, und dafür gibt es einen Grund, den ich offiziell nicht kenne, mir jedoch inoffiziell erschließen kann – schon erstaunlich: Welche Windungen mein Hirn so dreht, um nach Rom zu kommen, ist mir weiterhin ein Rätsel, aber die erstellten Verknüpfungen erscheinen mir logisch. »Alle Wege führen nach Rom«, meinte Gregor während der Tagesrunde. Eine Tatsache, die ich beruhigend finde, selbst wenn es sich dabei um ein unbestätigtes Gerücht handelt.

»Das haben wir nicht zu entscheiden«, entscheidet er in Reaktion auf meinen Kommentar. Der alte Mann hat offenbar kein Ohr für Sarkasmus. »Wenn die Zielperson unter zehn oder über 30 ist, klickst du auf das vorgesehene Kästchen und wirst automatisch …«, er unterbricht sich und klopft mit dem Riesenzeigefinger an sein Headset, um mir verständlich zu machen, dass er ein Umfrageopfer in der Leitung habe: »Ja, hier Brönner, vielen Dank fürs Abheben! Haben Sie zehn Minuten Zeit für mich? Das wäre eine gute Investition, kann Ihnen versprechen! Wieso? Nun, ich rufe im Auftrag der Erfolgsbank an! Dort haben Sie ein Konto, sagt mein Computer. Darf ich meinem Computer vertrauen?«

Er ruft die Maske für ein neues Interview auf – ich kassiere einen Korb aus dem Saarland. Der Riesenfinger beackert die linke Computermaustaste, und der Gregor daran wirft mit Glückwünschen um sich, weil er einen Zielgruppentreffer vermerken darf. Gehetzt rattert er den Fragenkatalog ab, um seine achtzehneinhalb Minuten von eben zu unterbieten. Gelegentlich gibt er ein Kichern von sich, das wie »gnhihihi« klingt.

Ich bin genervt. Gregor Brönner ist, statistisch gesehen, der erfolgreichste Caller bei uns. Ein hagerer, überkorrekter Hampelmann, der 12 Euro die Stunde einstreicht und dick Provision kriegt. Er telefoniert erst eine Stunde auf diese dämliche Bankstudie und ist bereits beim zweiten Interview! Ich wünsche ihm einen Abbruch. Meines Erachtens nimmt er den Job zu ernst. Außerdem stinkt er nach abgestandenem Schweiß. Ich mag ihn nicht. Trost finde ich in dem Gedanken, dass Telefone in Zukunft immer smarter werden und bald auch Körpergeruch übertragen wird. Dann muss sich Gregor verdammt warm einpacken. Gehässigkeit kommt von zu viel Niederlage, denke ich. Ein feiner Zug ist das natürlich nicht gerade, aber Gregor bringt halt das Charakterschwein in mir zum Vorschein. Seine autistische Professionalität macht mich wahnsinnig!

Nach einer Rufumleitung durch CallQuest nehme ich meinen Roboterdienst wieder auf und erhalte die erste Anzeigendrohung für heute. Auf mein Anraten hin löscht CallQuest die Nummer aus dem Verteiler. Sicher ist sicher, wenngleich ich nichts zu befürchten habe. So ist der Job. An einigen Tagen läuft es besser, an anderen läuft es schlecht. Heute, Dienstag, läuft es komplett anders. Heute ist der Tag, an dem ich vergessen habe, wer ich bin.

Alltagsfertig stand ich um 07:07 Uhr vor meiner Wohnungstür im dritten Obergeschoss, um abzuschließen. Offensichtlich bin ich ein gewissenhafter Mensch, weil sich die Türe zum Treppenhaus von außen nicht öffnen lässt. Die Klinke zu meiner Wohnung ist ein fest fixierter, silberner Knauf mit Schlüsselloch. Vielleicht bin ich ein Doppelt-hält-besser-Mensch, im besten Fall kein leichtsinniger. Als ich den Schlüssel drehte, blieb meine Aufmerksamkeit für Sekunden am Türspion hängen, und ich weiß noch, dass ich mir ausmalte, im Wohnungsflur von meinem eigenen Selbst beobachtet zu werden. Es musterte mich durch den Spion mit Augen aus Glas, stand da wie ein Bestatter auf einer Beerdigung und initiierte telepathisch den Auftakt des Weltuntergangs. Erschrocken zog ich den Schlüssel ab und erkannte, dass plötzlich alles gelöscht war, womit ich mich je identifiziert hatte!

Mein Leben vor dem Abschließen war ein nie gelebtes, XY eine unbekannte Nummer in der Datenbank des allmächtigen Programmierers. Ausgeschlossen, mit dem Schöpfergeist dieses Hirnficks in Dialog zu treten, ausgeschlossen, die damit verbundenen Konsequenzen richtig einzuschätzen. »Verdrängung ist König«, sagte ich mir also und fahre bis jetzt ganz gut damit, zumal ich kein sonderlich gefühlsbetonter Mensch bin. Mit Panik kann ich wenig anfangen, deshalb reduziere ich sie auf ein Minimum. Richtig beschissen fühlt es sich eh nur an, wenn ich zu lange darüber nachdenke, was einen Menschen zum Menschen macht oder einen Beruf zur Berufung. Solche Fragen lassen sich mangels Lebenserfahrung schlecht beantworten und treiben einen höchstens in den Wahnsinn. Zum Glück habe ich meinen Job noch. Erstens lenkt er mich von meiner Identitätskrise ab, und zweitens wäre ich ohne ihn lediglich

Christoph Kayser

Alter bekannt

Beruf bekannt

Nachdem ich mich von mir abgespalten hatte, klammerte ich mich mangels Optionen an das bisschen Routine, das mir geblieben war: Ich stieg um 07:24 Uhr in den Bus – die Haltestelle liegt bei mir um die Ecke, ganz in der Nähe einer uralten, knallgelben Telefonzelle – und fuhr zur Arbeit, wo ich nach der Tagesrunde im Besprechungszimmer seit 08:17 Uhr mit gesichtslosen Menschen telefoniere. Gesichter brauchen wir nicht; wir sind ein Call- und kein Skype-Center.

»Das ist jetzt aber wirklich ärgerlich!«, ruft Gregor. »Wo ist mein Interview hin?«

Zwischenblick, übersetze ich mir gedanklich das Wort »Interview«, runzle die Stirn darüber und fange gleichzeitig einen Anruf ab: »Wunderschönen guten Tag, mein Name ist …« Ich stutze: Bin ich wirklich Christoph Kayser? Klingt wie ausgedacht, vermute ich. Die meisten Caller verwenden Pseudonyme. Bin ich auch so ein Typ? Ein Pseudonym-Typ? Eher ja. Das verrät mir mein Bauchgefühl. Sofern es tatsächlich mein Bauchgefühl ist und nicht das von Christoph Kayser. Aber wie soll ich das rauskriegen? Gregor fragen? Apropos, warum muss der heute eigentlich unbedingt neben mir sitzen?

»Jaaa?«, fragt die Reibeisenstimme in der Leitung. »Hallo?«

»War der Techniker gestern nicht da?«, regt sich Gregor auf, fuchtelt mit den Armen und beschließt, bei der Abteilungsleitung eine Beschwerde vorzutragen. So könne er nicht arbeiten. Das sei unprofessionell. Er schiebt sich an mir und meiner Nachbarin, einer jungen Frau mit Kopftuch, vorbei. Sie telefoniert auf eine andere Studie in einer anderen Sprache, nimmt sich aber die Zeit, ihm einen Fluch zuzuwerfen. Per Blickkontakt. Ich nehme an, dass sie Türkin ist, entweder weil ich auf diese Assoziation sozialisiert bin oder rassistisch. Ich hoffe auf Sozialisierung, weil ich politisch korrekt zu sein scheine …

»Junger Mann«, fährt die Stimme in meiner Leitung fort. »Wer sind Sie, bitte schön?«

»Äh, Kayser ist mein Name, Christoph Kayser.«

»Prima. Damit hätten wir die erste Hürde genommen.« Die Stimme hustet. »Wobei kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Caller.«

»Was ist das?«

»Jemand, der in einem Call-Center arbeitet.«

»Call-Center? Wie interessant! Mit Ihnen wollte ich ja schon immer einmal telefonieren!«

»Das trifft sich gut«, antworte ich lachend. »Ich habe gerade zehn Minuten Zeit!«

Angestrengt versuche ich herauszufinden, um welches Geschlecht es sich handelt. Mein Datensatz ist unvollständig, und der Begrüßung habe ich nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich mir nun rückwirkend gewünscht hätte. Egal. Oberste Regel eines Callers: gnadenlos weiterquatschen. »Die meisten fühlen sich von uns belästigt«, quatsche ich weiter.

»Das sagt der Friedhelm auch immer. Der ist nicht gut auf euch zu sprechen. Teletubbys nennt der euch, weil er den Beruf so albern findet. Und Telefonterroristen, weil er so oft von euch angerufen wird. Ist aber von Natur aus auch sehr miesepetrig, der Friedhelm. Das können Sie mir glauben! Der regt sich über Gott und die Welt auf. Sie klingen ja ganz nett, junger Mann. Wie alt sind Sie denn?«

»Siebenundzwanzig«, rate ich und starte eigenmächtig das Interview. Die erste Frage lautet: Wie alt sind Sie? Darunter finde ich vier Kästchen:

bis einschließlich 10 Jahre

11 bis 20 Jahre

21 bis 30 Jahre

31 Jahre oder älter.

»Als ich in dem Alter war«, erzählt die Stimme in der Leitung, »gab es euren Beruf nicht. Da gab es auch keine Handys. Das war in den 50er Jahren.«

»Oh, das tut mir Leid«, sage ich enttäuscht und setze mit der Computermaus im vierten Kästchen ein Häkchen, das in diesem Fall ein X ist:

bis einschließlich 10 Jahre

11 bis 20 Jahre

21 bis 30 Jahre

31 Jahre oder älter.

»Nein, nein. Das waren sehr schöne Zeiten. Viel weniger Hektik. Und die meisten Menschen haben einander zugehört. Mir geht das alles zu schnell mit der Technik. Ich bin schon froh, dass ich mein Telefon noch bedienen kann … Telefon schreibt man dieser Tage mit F, nicht wahr?«

»Wie? Äh, ja. Kleines Missverständnis – ich meine, es tut mir leid, dass Sie an unserer Studie nicht teilnehmen können. Die Altersgrenze liegt bei dreißig.«

Vom System erhalte ich den Hinweis, dass das Interview beendet sei. »Vielen Dank für Ihre Teilnahme!«, steht da. »Wenn Sie Interesse an weiteren Produkten der Erfolgsbank haben, trägt unser Mitarbeiter/unsere Mitarbeiterin Sie gerne für unseren Newsletter ein. Ihre Daten werden selbstverständlich nicht an Dritte weitergegeben. Ihre Privatsphäre ist der Erfolgsbank besonders wichtig. Deshalb lautet unser Motto: Datenschutz ist Bankgeheimnis!«

Diesen Schmand soll ich jetzt genau so vorlesen. In mir sträubt sich alles. Ich mag den Kunden nicht, wahrscheinlich, weil ich selbst bei ihm Kunde bin.

»Da bin ich weit drüber!« Die Stimme lacht. »Ich gehe auf die achtzig zu, junger Mann.«

»Dann mal alles Gute«, antworte ich. »Herzlichen Dank, dass Sie mich nicht beschimpft haben. Auf Wiederhören!«

»Sie wollen schon auflegen?«

»Leider. Fürs Telefonieren wird hier niemand bezahlt.«

»Na, jetzt ziehen Sie mich aber auf! Der Friedhelm sagt immer …«

»Der Friedhelm!«, unterbreche ich schroff, »der redet so viel, der könnte glatt bei uns arbeiten. Wenn ich bis Feierabend nicht mindestens drei Interviews gemacht habe, stehe ich morgen unter verschärfter Beobachtung. Wissen Sie, was das heißt? Kein Arbeitsplatz ist sicher in Zeiten wie diesen.« Ich lache dreckig. »Der Wettbewerb frisst seine Kinder, ich bin eins davon. «

»Kopf hoch, junger Mann! Sie schaffen das! Worum handelt es sich denn bei Ihrer Studie?«

»Es geht um das Nutzerverhalten vor Bankautomaten.«

»Verstehe ich gar nicht.«

»Dazu müssten wir ins Interview einsteigen. Allerdings ist das, wie bereits gesagt, nicht möglich. Sie … sind zu alt«, wollte ich nicht sagen. Deshalb wich ich aus: »… fallen nicht in unsere Zielgruppe.« Offenbar bin ich hin und wieder ein diplomatischer Typ.

»Könnten Sie da nicht ein Auge zudrücken?«

Verlockender Gedanke. Könnte ich? Dazu müsste ich die Maske refreshen und das erste Kreuz woanders setzen. Geht das?

»Es bleibt auch unser kleines Geh…«, verspricht mir die Stimme, hustet, »…heim…«, hustet stärker, »…nis«, und hustet ab.

»Hoppla«, sage ich. »Ihr Husten ist bestimmt auch schon über dem Verfallsdatum!«

»Ja, man wird nicht jünger im Alter.«

»Deprimierend«, stelle ich fest. Andererseits tut es gut, mit jemandem zu sprechen, der einem nicht gleich die Pest an den Hals wünscht. Pest am Hals führt zu Artikulationsschwierigkeiten, und Artikulationsschwierigkeiten haben sicher noch keinem Caller zu einer Vertragsverlängerung verholfen. Ich muss mich trotzdem sputen. Gregor kommt gleich aus dem Büro der Abteilungsleitung zurück. Ich will unbedingt vermeiden, dass er mir wieder mit seinen fünf Geboten der Kommunikationseffizienz auf die Nerven geht. Er ist nebenberuflich Klugscheißer.

»Und wie lange müssen Sie heute arbeiten?«, fragt die Stimme in der Leitung.

»Bis vier. Um zwölf hab ich Mittagspause. Da führe ich dann Gespräche ohne Telefon.« Ich wundere mich einmal mehr über den selektiven Bereitschaftsdienst meines Gedächtnisses. Vermutlich ist es kein wesentlicher Bestandteil meiner Persönlichkeit, bis vier zu arbeiten und um zwölf in die Mittagspause zu gehen. Wieso sonst sollte ich mir so etwas merken? Um mich zu foltern? Wie zum Henker wurde aus mir ein Teletubby ohne Identität? Ob ich jemals Persönlichkeit hatte? Ich meine, so ein Transparentpapier wie Gregor würde den Blödsinn, der bei uns bezahlt wird, vermutlich sogar unter Mindestlohnbedingungen machen. Der hat eben keine besonders hohen Ansprüche ans Leben. Nur fünf Gebote der Kommunikationseffizienz, die ich mir nicht merken will! Ist Christoph Kayser aber vielleicht selbst so ein Typ? Bin ich ein Gregor-Brönner-Typ? Eher nein. Auch das verrät mir mein Bauchgefühl. Ich bin ein Pseudonym-Typ, und Gregor heißt so, weil es in seiner Geburtsurkunde drin steht. Mir fällt etwas ein: Ich besitze doch einen Personalausweis! Auf dem Ding sollte mein bürgerlicher Name eigentlich vermerkt sein, oder? Ist schließlich Vorschrift (soweit es mein Allgemeinwissen über Vorschriften betrifft).

»Sie sind mit einem mal ganz schön unkonzentriert, junger Mann.«

»Wie bitte?« Ich krame nach meiner Brieftasche und ziehe das Dokument heraus. Was lese ich?

Max MustermannMusterstraße 1234567 Musterstadt

»Brauchen Sie vielleicht Urlaub?«, fragt die Stimme in der Leitung. »Der Friedhelm sagt immer, dass eure Arbeit wie Urlaub sein muss: den ganzen Tag rumdaddeln und Telefonstreiche spielen.«

»Entschuldigung. Ich bin etwas durcheinander. Ich habe heute morgen vor der Wohnungstür meine Identität verloren.«

»Papperlapapp«, schimpft die Stimme als ginge es bei dieser Information um Geschmack. »Sie können Ihre Identität nicht verlieren! Sie sind erst 27!«

»Oha! Das hört sich ja wie ein Vorwurf an.«

»Junger Mann, vertrauen Sie einer alten Frau mit der Lebenserfahrung eines Dreivierteljahrhunderts. In Ihrem Alter ist Identität ein kleiner Punkt am Horizont. Den müssen Sie nicht wiederfinden, den müssen Sie überhaupt erst einmal finden!«

»Dann brauch ich also ein Fernglas und kein Ferngespräch«, lache ich und schiebe meinen Personalausweis zurück ins Brieftaschenfach. Bevor ich glaube, dass ich Max Mustermann bin, glaube ich lieber, Christoph Kayser zu sein; Christoph mit PH, nicht mit F.

»Sie brauchen Urlaub.«

»Das gebe ich gern an meinen Vorgesetzten weiter, Frau …« Ich warte, bis sie mir mit ihrem bürgerlichen Namen aus der Patsche hilft. Allerdings werde ich just von Gregor abgelenkt, der eine Wolke aus abgestandenem Schweiß, seine Hausmarke, in den Raum stellt, während er sich auf seinen Platz begibt, um dort irgendwelche Zettel zu sortieren und Büroklammern zu entfernen. Seine Anwesenheit stört, sein Geruch belästigt. Gregor ist durch die Bank weg ein Scheiß-Arbeitskollege!

» … und das ist die ganze Kunst, ein zufriedenes Leben zu führen«, sagt die Frau in der Leitung. »Eine kleine Weisheit zum Schluss für Sie.«

»Vielen Dank für Ihre Anteilnahme«, antworte ich trocken, lege auf und rümpfe die Nase. Mir ist entgangen, wie sie heißt, wo sie wohnt und was ihre kleine Weisheit zum Schluss für mich war, aber einprägen werde ich mir, dass ich Urlaub brauche. Von Gregor!

Es ist unfassbar, aber ich bin tatsächlich Kunde bei der Erfolgsbank! Auf meiner Girokontokarte steht:

Max MustermannIBAN: DE12 3456 7891 2345 6789 12BIC: ERFOLG1234

Ich muss verflucht sein!, denke ich und werde aus meiner Kontemplation darüber herausgerissen, als mich die Assistant Managerin von hinten anspricht: »Christoph, folgst du mir bitte?«

Beschämt verstecke ich die Bankkarte unter Papieren und ziehe mir das Headset vom Kopf. »Dauert das länger?«, frage ich vorsichtig, während ich die Uhrzeit am PC überprüfe.

»Ja. Melde dich ab.«

»Ich muss bis vier. Abzüglich Mittagspause.«

»Die geht aufs Haus, der Rest geht auf Stempelkarte.«

»So? Ist das denn erlaubt?«

Ezra Kübra wirft mir einen scharfen, dann Gregor einen nervösen Blick zu. Der Streber ist mit seinem dritten Interview beschäftigt und hat die Welt um sich herum vergessen. Er mag der Caller des Jahres sein, aber einen Preis für Scharfsinn kriegt er nicht.

»Fragen dazu beantworte ich später«, zischt sie.

Etwas Kurzurlaub wird mir guttun, überlege ich, in erster Linie, weil ich Gregors Schweißsakko nicht mehr riechen kann. Das hängt über der Stuhllehne und sondert einen Geruch ab, der mich an kalte Füße erinnert. Ich verabscheue kalte Füße. Das kann ich mit Sicherheit sagen, weil mir schon die Redewendung nicht gefällt. Ich möchte wohl gerne von mir glauben, dass ich keine kalten Füße kriege, wenn es drauf ankommt. Mein Selbstwertgefühl scheint intakt zu sein, mein Sprachgefühl ist es auch.

Dankbar lasse ich mir von CallQuest meinen Feierabend bestätigen und folge Ezra in den Personalaufzug. Wir fahren ein Stockwerk tiefer. Im Untergeschoss befindet sich ein quadratisch angelegter Flurbereich. Roter Teppichboden, ein Ledersessel, ein Beistelltisch mit Pop-Kultur-Magazinen, zwei Metalltüren. An der Tür zu meiner Rechten ist auf einem goldgerahmten Einsteckschild zu lesen:

Ezra KübraAssistant Management

»Mein Büro«, erklärt Ezra stolz.

»Ein Untergrundbüro«, scherze ich.

»In der Tat. Die Abgeschiedenheit des Kellers hält mir den Rücken frei. Caller können wie Kakerlaken sein: sehr lästig.«

Ich lache. »Die meisten Caller wissen nicht mal, wer du bist.«

»Das ist Kalkül. Wo sich andere in meiner Position einen Dienstwagen aus der A-Klasse zulegen würden, leiste ich mir den Luxus größtmöglicher Anonymität. Womit wir bei dem Gebäudeabschnitt wären, der in Zukunft für dich relevant sein wird. Direkt gegenüber.«

Wir betreten das Zimmer zu meiner Linken. Es ist mit Zutritt verboten! beschildert und könnte genauso gut der elektrische Betriebsraum sein. Ist es aber nicht.

»C4«, flüstere ich andächtig.

Der ominöse Konferenzraum bietet Platz für zwei gemütlich eingerichtete Kabinen, die durch eine Glasscheibe voneinander getrennt sind. In jeder steht ein Ledersessel vor einem PC, in der zweiten hockt Karsten Torff. Er nickt uns kurz zu und konzentriert sich wieder auf seinen Monitor. Fühlt sich nicht ganz sauber an, was er da tut. Untergrundgeschäfte, denke ich. In meiner Vorstellung ist Karsten Torff ein identitätsloser Mensch. Damit kann ich heute zufällig sympathisieren. Seit ich diesem Unternehmen meine Seele verkauft habe, haben wir allerdings nie ein Wort miteinander gewechselt, wobei es natürlich absurd ist, dass ich mir offenbar merken kann, wer keine Rolle in meinem Leben spielt. Was sind das für Lebensbedingungen? Verwaltet mein Hirn bloß Fakten, die total irrelevant sind? Ich teste es: Es weiß zum Beispiel, dass mein Gehalt, acht Euro fünfzig die Stunde, zu niedrig ist, um ein identitätsstiftendes Leben zu führen. Mindestens so niedrig wie Gisella Sielmann. Im Wettkampf um den Titel Caller des Jahres