Camellia - Im zarten Glanz der Morgenröte - Lesley Pearse - E-Book
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Camellia - Im zarten Glanz der Morgenröte E-Book

Lesley Pearse

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Beschreibung

Wie weit gehst du auf der Suche nach deiner Herkunft?

England, Mitte der Sechzigerjahre: Camellia Norton ist 15, als sie ihr Leben ganz allein in die Hand nehmen muss. Ihre Mutter ist unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen, ihren Vater hat sie nie kennen gelernt. Im Nachlass ihrer Mutter findet Camellia geheimnisvolle Briefe von verschiedenen Männern, die ihr wertvolle Hinweise bei der Suche nach ihrer wahren Herkunft liefern. Es beginnt für sie eine folgenschwere Reise in die Vergangenheit, und Camellia muss so manche bittere Erfahrung machen. Doch wird sie am Ende ihr eigenes Glück finden?

Eine mitreißende Saga der englischen Bestseller-Autorin - fesselnd bis zur letzten Seite.

Weitere Titel von Lesley Pearse bei beHEARTBEAT:

Ellie - Als wir Freundinnen waren (die Vorgeschichte zu "Camellia"). Adele - Der Wind trägt dein Lächeln. Hope - Mein Herz war nie fort.

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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel

Weitere Titel der Autorin

Adele – Der Wind trägt dein Lächeln

Hope – Mein Herz war nie fort

Als wir Freundinnen waren

Bis dein Herz mich findet

Das Geheimnis von Carlisle

Das helle Licht der Sehnsucht

Das Mädchen aus Somerset

Den dunkel ist dein Herz

Der Wind trägt dein Lächeln

Durch stürmische Zeiten

Echo glücklicher Tage

In der Ferne ein Lied

Jeden Tag ein bisschen Zuversicht (September 2019)

Schatten der Erinnerung

Wenn tausend Sterne fallen

Wo das Glück zu Hause ist

Wo die Hoffnung blüht

Zeiten voller Hoffnung

Die Belle Trilogie:

Band 1: Doch du wirst nie vergessen

Band 2: Der Zauber eines frühen Morgens

Band 3: Am Horizont ein helles Licht

Weitere Titel in Planung.

Über dieses Buch

Wie weit gehst du auf der Suche nach deiner Herkunft?

England, Mitte der Sechzigerjahre: Camellia Norton ist 15, als sie ihr Leben ganz allein in die Hand nehmen muss. Ihre Mutter ist unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen, ihren Vater hat sie nie kennen gelernt. Im Nachlass ihrer Mutter findet Camellia geheimnisvolle Briefe von verschiedenen Männern, die ihr wertvolle Hinweise bei der Suche nach ihrer wahren Herkunft liefern. Es beginnt für sie eine folgenschwere Reise in die Vergangenheit, und Camellia muss so manche bittere Erfahrung machen. Doch wird sie am Ende ihr eigenes Glück finden?

Eine mitreißende Saga der englischen Bestseller-Autorin – fesselnd bis zur letzten Seite.

Über die Autorin

Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes für die Regionen Bath und West Wiltshire.

LESLEY PEARSE

Camellia

Im zarten Glanz der Morgenröte

Aus dem britischen Englisch von Michaela Link

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1997 by Lesley Pearse

Published by Arrangement with Lesley Pearse

Titel der englischen Originalausgabe: »Camellia«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2011/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Im zarten Glanz der Morgenröte«

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins; © shutterstock: Matt Gibson | Nicola Pullham

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6989-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

Rye, Sussex, August 1965

He, Mister.« Ein kleiner Junge zupfte den Polizisten am Ärmel. »Da liegt eine Frau im Fluss!«

Sergeant Simmonds stellte seine Teetasse auf die Theke der Imbissstube am Kai, blickte auf den Jungen mit den karottenfarbenen Haaren hinab und lächelte gutmütig. »Was tut sie denn, schwimmt sie, fährt sie Boot, oder besorgt sie ihre Wäsche?«

»Sie ist tot, Mister. Liegt im Schlamm!« Der Junge war höchstens sieben und trug zerrissene Shorts und ein schmuddeliges T-Shirt; seine schwarzen Turnschuhe waren schlammverkrustet, und in einem roten Spielzeugeimer zappelten eine Hand voll Würmer.

Sein Gesichtsausdruck war zu ernst für einen Streich. Er war außer Atem, und auf seiner kleinen sommersprossigen Nase standen Schweißperlen.

»Wo war denn das, Sohnemann?«

»Dahinten.« Der Junge zeigte über den Fluss, an die Stelle, wo Tillingham und Breed sich zum Flüsschen Rother vereinten und gemeinsam zum Hafen von Rye flossen. »Ich habe ein paar Würmer ausgegraben, um angeln zu gehen, und da habe ich ihre Arme gesehen.«

Es war ein herrlicher Augustmorgen. Der Nebel hatte sich bereits schnell und weit gehend zurückgezogen, und es sah ganz nach einem weiteren heißen, sonnigen Tag aus. Es war noch nicht einmal sieben, zu früh, als dass Urlauber die Ruhe am Kai gestört hätten; es würde noch Stunden dauern, bevor die Tagesausflügler in Scharen herbeiströmten, um die malerische alte Stadt zu bewundern.

Sergeant Simmonds tätschelte dem Jungen den Kopf. »Geh zum Frühstück nach Hause, Sohnemann. Überlass die Angelegenheit mir. Ich kümmere mich darum.«

»Vielleicht ist sie ja eine gestrandete Meerjungfrau?« Alf, der Besitzer der Imbissstube, beugte sich über die Theke, und auf seinem dunkelhäutigen, mageren Gesicht zeichnete sich ein boshaftes Grinsen ab. »Das wäre gut fürs Geschäft!«

»Was für eine Fantasie manche Kinder haben!« Simmonds sah dem Jungen, der zur Wish Ward hinunterlief, lachend nach. »Wahrscheinlich hat er nur ein Häufchen Treibholz gesehen. Aber ich sollte wohl mal nachsehen gehen.«

Bert Simmonds, sechsunddreißig Jahre alt, war in Rye der beliebteste Polizist. Die Männer bewunderten seine Umgänglichkeit und sein Geschick als Bowler in der örtlichen Kricket-Mannschaft, die Kinder wussten das freundschaftliche Interesse zu schätzen, mit dem er ihnen gegenübertrat, und auch die Tatsache, dass er ihre Eltern nicht immer über jede Ungezogenheit informierte – jedenfalls nicht, wenn er glaubte, dass ein scharfer Tadel stattdessen genügte. Die Frauen mochten einfach ihn; es ließ sich unbefangen mit ihm reden, und mit seinem blonden Haar und den meerblauen Augen war er attraktiv genug, um ihren Puls zu beschleunigen. Gleichzeitig war er bemerkenswert ahnungslos geblieben, was seine Wirkung auf das andere Geschlecht betraf.

Seine Liebenswürdigkeit verleitete die Menschen häufig zu der irrigen Annahme, Simmonds sei ein Weichling. In Wirklichkeit gab es in den ländlichen Gebieten von Kent und Sussex nur wenige Polizisten, die so viele Verhaftungen für sich verbuchen konnten, und noch weniger, die seine Kühnheit besaßen oder seinen scharfen Verstand.

Simmonds schlenderte ohne Hast den Kai entlang und über die Brücke. Jetzt war die Luft noch angenehm kühl. In ein oder zwei Stunden würde es heiß werden, und auf der Highstreet würde ein schreckliches Gedränge herrschen. Er liebte Rye, aber die Stadt war zu klein, um mit den Besuchermassen fertig zu werden, die sie im Sommer anzog.

Auf der anderen Seite des Flusses gab es keinen richtigen Fußweg, nur einen Pfad hinter der Wäscherei, und dieser Pfad war überwuchert mit wildem Schmetterlingsflieder und Brennnesseln. Bert musste mehrmals einen Bogen um alte Schuppen schlagen und durch Zäune kriechen, aber wenn er den bequemeren Weg über die New Winchelsea Road genommen hätte, wäre ihm möglicherweise entgangen, was der Junge gesehen hatte.

Bert blickte einen Moment lang über den Fluss. Man konnte mühelos erkennen, warum Rye so viele Touristen und Künstler anlockte. Die Boote, die am Kai vertäut lagen, die hohen, schwarzen Lagerhäuser, und dahinter dann die Stadt selbst, die sich seit dem Mittelalter mit ihren winzigen Häusern und den terrakottafarbenen Dachziegeln kaum verändert hatte.

Mit einem Lächeln ging Bert weiter und dachte dabei an die anderen »Leichen«, die ihm in der Vergangenheit gemeldet worden waren. Bei einer hatte es sich um eine wild entsorgte Schneiderpuppe gehandelt, eine andere war lediglich ein Stück Holz gewesen, dem irgendein Scherzbold alte Stiefel übergestreift hatte. Einmal hatten ihm zwei sehr ernste kleine Jungen berichtet, sie hätten einen Mann gesehen, der auf den Marschwiesen ein Baby begraben habe. Als sie Bert an die richtige Stelle geführt hatten, hatte er eine tote Katze vorgefunden. Trotzdem musste er natürlich allen Meldungen nachgehen. Jeden Sommer gab es einige Bootsunfälle, und manchmal unterschätzten Schwimmer die starke Strömung.

Zurzeit herrschte Niedrigwasser, dicker, klebriger Schlamm glänzte in der frühen Morgensonne, und der Fluss war nur ein dünnes Rinnsal in der Mitte, das sich seinen Weg zum Meer bahnte. Vor Simmonds lag die Weite der Marschwiesen, deren Eintönigkeit nur von den Ruinen von Chamber Castle und einigen Häusern der Küstenwache am Horizont unterbrochen wurde. Schafe mit schwarzen Gesichtern hatten diese Welt ganz für sich allein. Die einzigen Geräusche weit und breit waren die klagenden Rufe von Brachvögeln und Möwen.

Die zahlreichen Möwen waren es, die Simmonds veranlassten, in Laufschritt zu verfallen, als er sich den Schleusentoren des Breed näherte. Ihr Kreischen und die engen Kreise, die sie zogen, deuteten darauf hin, dass dort tatsächlich irgendetwas im Schlamm lag, und sei es auch nur ein ertrunkenes Schaf.

Dann sah er von weitem etwas Türkisfarbenes aufblitzen. Es lag auf einem hohen, dreieckigen Schlammwall zwischen den beiden Zuflüssen und zeichnete sich leuchtend gegen den braunen Schlick ab. Vier oder fünf Möwen hatten sich darauf niedergelassen und hieben mit den Schnäbeln wild darauf ein; weitere Möwen schossen bereits wie Kampfflugzeuge herab.

»Weg mit euch, ihr Brut«, rief er und warf einen Stein nach den Vögeln. Kreischend vor Enttäuschung darüber, von ihrem Frühstück ablassen zu müssen, flogen die Tiere auf. Und Simmonds blieb wie angewurzelt stehen. Vor Entsetzen.

Der Junge hatte Recht. Es war eine Frau. Und Bert wusste instinktiv, um wen es sich handelte, obwohl ihr Gesicht halb im Schlamm steckte, sodass der Kopf nur von hinten zu sehen war. Die Wölbung ihrer Hüften, das wohl gerundete Gesäß und die langen, schlanken Beine verrieten sie sofort.

»Oh nein, nicht du, Bonny«, flüsterte er und kämpfte gegen die Übelkeit an. »Nicht so!«

Er kannte das Procedere, dem er nun gehorchen musste: Hilfe holen, bevor er sie auch nur anrührte. Aber etwas drängte ihn, zu ihr zu gehen und zu verhindern, dass die Möwen sich noch einmal an ihr vergreifen konnten. Er legte seine Jacke ab, ließ sich über die Kante des Steilufers hinab und schob sich unten im Flussbett zentimeterweise vorwärts.

Während seiner fünfzehn Jahre bei der Polizei von Rye hatte diese Frau es fertig gebracht, ihn das gesamte Spektrum der Gefühle durchleben zu lassen. Er hatte sie bewundert, begehrt und, in jüngerer Zeit, verachtet und bemitleidet. Als junger Constable war er von ihrer sinnlichen Schönheit bis in seine Träume verfolgt worden.

Jetzt zeigten ihre Oberschenkel und Arme die Spuren grausamer Schnabelhiebe, und als wieder eine Möwe herabstieß, um sich an der Leiche gütlich zu tun, stürzte er auf den Vogel zu.

»Weg mit euch, ihr verfluchten Aasgeier! Lasst sie in Ruhe«, schrie er, während seine Füße immer tiefer in den Schlick einsanken.

Die Ankunft eines Wagens auf der Brücke am Schleusentor brachte Simmonds wieder zur Besinnung. Als er sich umdrehte und die Constables Higgins und Rowe über den Zaun klettern sah, wurde ihm bewusst, dass er ohne Sicherung durch ein Seil ohne weiteres bis zur Taille in den Schlamm einsinken konnte.

»Wir gehen einem Anruf nach«, rief Higgins. »Ein alter Mann war mit seinem Hund unterwegs und hat etwas gesehen. Wir haben Watstiefel mitgebracht, für alle Fälle. Haben Sie schon eine Ahnung, wer es ist?«

»Bonny Norton«, rief Simmonds zurück, während er sich gleichzeitig bemühte, festen Boden unter die Füße zu bekommen und seine Fassung wiederzugewinnen. »Wir müssen sie hier rausholen, bevor sich die Schaulustigen einfinden. Zieht die Watstiefel an und bringt Seil und Bretter mit.«

Es war leicht obszön, eine so schöne Frau an den Füßen aus dem Schlamm zu ziehen. Da ihr Kleid sich im Schlick festgesogen hatte, wurde ihr Körper, nach dem es so viele Männer gelüstet hatte, auf intimste Weise entblößt. Der Fluss hatte ihren Spitzenschlüpfer schmutzig braun gefärbt, und ihre goldene Haut war dreckverkrustet. Aber als sie schließlich festeren Grund erreichten und sie umdrehten, löste sich eine Brust aus ihrem Mieder, makellos weiß, mit einer rosigen Spitze, klein und perfekt. Alle drei Männer wandten verlegen den Blick ab.

Higgins rührte sich als Erster und breitete eine Decke über sie. »Was zum Teufel hat sie bloß am Fluss zu suchen gehabt?«, fragte er mit belegter Stimme.

Rowe zuckte die Schultern. Er war einige Jahre jünger als seine Kollegen, ein mürrischer Mann ohne jedes Einfühlungsvermögen, der noch nicht lange genug in Rye war, um Bonny in ihren besseren Zeiten gekannt zu haben. »Sie war vermutlich wie immer betrunken.«

Um zwölf Uhr mittags am selben Tag trat Bert Simmonds aus der Polizeiwache und zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte ein wenig Zeit allein, um sich zu sammeln.

Die Wache lag auf dem Church Square, direkt gegenüber der Pfarrkirche: ein kleines viktorianisches Gebäude aus roten Ziegelsteinen, das ein wenig abseits der anderen Häuser in der Reihe lag, beinahe als müsste es sich dafür entschuldigen, dass es die Dreistigkeit besessen hatte, sich inmitten seiner Nachbarn aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert breit zu machen. In der Cinque Port Street in der Nähe des Bahnhofs wurde zurzeit eine neue Polizeiwache gebaut. Obwohl Bert diese Neuerung aus praktischen Gründen willkommen war, wusste er doch, dass er den friedlichen Kirchhof vermissen würde, den herrlichen Ausblick auf die Marschwiesen von den hinteren Räumen der Wache aus und die zentrale Lage. Aber heute war er in Gedanken nicht bei der Schönheit seiner Umgebung, wie es sonst geschah, wenn er hier seine Pause verbrachte. In seinem Kopf war nur Platz für Bonny.

Die Entdeckung ihrer Leiche war eins der dramatischsten Ereignisse in seiner ganzen Laufbahn. Jetzt stand er vor der Notwendigkeit, ihrer Tochter die Nachricht zu überbringen.

Es war so furchtbar heiß. Sein Hemd war feucht vom Schweiß, und seine Sergehose, die noch immer nach dem Schlick des Flusses stank, klebte ihm an den Beinen.

»Wie bringt man einer Fünfzehnjährigen so etwas schonend bei?«, seufzte er.

Bonny hatte vom ersten Tag im Sommer des Jahres 1950 an, als sie mit Ehemann und Baby in das hübsche Haus in der Mermaid Street gezogen war, Eindruck auf die Stadt gemacht. Das hatte nicht nur daran gelegen, dass sie erst einundzwanzig und atemberaubend schön gewesen war oder dass ihr ernst dreinblickender, viel älterer Ehemann über genügend Vermögen verfügt hatte, um für die Renovierung des Hauses Handwerker einzustellen. Nein, Bonny war einfach in jeder Hinsicht etwas Besonderes gewesen.

Sie hatte den Sprung nach vorn verkörpert, den Entwicklungsschub, der das Land von den spartanischen, vom Krieg gezeichneten Vierziger- bis zum Beginn der Fünfzigerjahre gebracht hatte. Ihr blondes Haar war reiner Hollywood-Glamour gewesen, sie hatte leuchtend bunte, eng anliegende Pullover getragen, wadenlange, nicht minder enge Röcke und hohe Absätze. Der Anblick ihres strammen, runden Hinterns, den sie provozierend wiegte, wenn sie ihr Baby im Kinderwagen über die Straße schob, genügte, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen, und die Unbekümmertheit, mit der sie von ihrer Zeit in den Westend-Theatern erzählte, verschlug ihren bürgerlicheren Nachbarn vor Erstaunen schier den Atem. Manche glaubten nicht wirklich, dass sie Tänzerin gewesen war, aber diesem Gerücht schob sie schon bald einen Riegel vor, indem sie sich einer Gruppe von Amateurschauspielern anschloss und die Mädchen aus dem Ort neben ihr wie Ackerpferde aussehen ließ. Der Dienst habende Sergeant fasste das Phänomen Bonny Norton mit den wohl gewählten Worten zusammen: »Ich habe Bilder von Mädchen gesehen, die man ›Sexbomben‹ nennt, aber bevor ich Bonny Norton begegnet bin, dachte ich immer, das sei lediglich ein fotografischer Trick.«

Bonny war ein Rätsel: ein Pin-up-Girl auf der einen Seite, aber eine liebende Ehefrau und Mutter auf der anderen – zumindest in jenen Tagen. Während die Männer John Norton beneideten und insgeheim seine Frau begehrten, waren ihre Gattinnen darauf aus, sich mit Bonny anzufreunden und zu versuchen, ihren Stil nachzuahmen.

Bert musste sich mehr als jeder andere den Vorwurf gefallen lassen, sie sich zu genau angesehen zu haben, als sie damals in der Stadt erschien. Auch er war zu jener Zeit erst einundzwanzig gewesen, der jüngste Constable auf der Wache, ein schüchterner, ziemlich unbeholfener junger Bursche. Es vergingen gut zwei Jahre, ohne dass er den Mut aufgebracht hätte, sie auch nur anzusprechen. Dann patrouillierte er eines Sommertages durch die Mermaid Street und schloss auf der Türschwelle der Nortons mit Bonnys inzwischen drei Jahre alter Tochter Camellia Bekanntschaft.

Sie spielte dort mit ihren Puppen, ein seltsames kleines Mädchen, sehr reizlos, wenn man die Schönheit seiner Mutter bedachte, mit glattem, dunklem Haar und mandelförmigen, dunkelbraunen Augen, die älter wirkten, als es ihren Jahren nach sein sollte. Bert vermutete damals, dass sie sich ein wenig einsam fühlte; er hatte sie nie mit anderen Kindern spielen sehen. An jenem Tag blieb er stehen, um mit ihr zu plaudern, und es dauerte nicht lange, bis ihre Gespräche ein fester Bestandteil seiner Runde wurden. Sie erzählte ihm, wo sich ihr Daddy auf seinen Geschäftsreisen aufhielt, und zeigte ihm ihre Puppen und Bücher. Bert brachte ihr häufig einige rationierte Süßigkeiten mit.

Berts erste Einladung in das Haus der Nortons war ihm unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt, vielleicht weil dies die erste Gelegenheit gewesen war, bei der er die drei als Familie wirklich aus der Nähe gesehen hatte. Es war an einem heißen Sommerabend gewesen, und wie immer hatte er sich länger als nötig in der Mermaid Street herumgetrieben.

Camellia saß in einem langen, rosafarbenen Nachthemd auf der Türschwelle, mit einer kleinen Puppe in den Händen. Als sie Bert kommen sah, verzog sie das ernste Gesicht zu einem breiten, frohen Lächeln. »Mein Daddy ist nach Hause gekommen«, verkündete sie.

»Ach ja?« Bert ging neben ihr in die Hocke. John Norton war als einer der wichtigsten Wissenschaftler von Shell Petroleum häufig im Nahen Osten unterwegs.

»Daddy hat mir ein paar neue Sachen für mein Puppenhaus mitgebracht. Willst du sie mal sehen?«

Plötzliches Gelächter aus dem Haus verriet Bert, dass die Nortons Besuch hatten. Er wollte sich gerade mit einer Entschuldigung wieder auf den Weg machen, als Mr. Norton in der Tür erschien. »Schlafenszeit, Melly«, sagte er und nahm das kleine Mädchen auf die Arme.

John Norton galt in Rye als ein »echter Gentleman«. Er war stets untadelig gekleidet mit seinen maßgeschneiderten Anzügen, sein dunkles Haar glatt gekämmt, sein Schurrbart säuberlich gestutzt, seine Stimme tief und doch sanft. Viele Frauen verglichen ihn mit dem Schauspieler Ronald Coleman. Sein Gesicht war zu mager, und er gab sich zu ernst, um als wirklich attraktiv gelten zu können, aber er besaß einen recht einnehmenden Charme. Er zog den Hut vor den Damen, vergaß die Namen derjenigen nicht, die er einmal kennen gelernt hatte, und erkundigte sich nach deren Familien, wenn er sie wiedertraf. Die Händler aus dem Ort brauchten ihm niemals Mahnungen zu schicken, damit er seine Rechnungen bezahlte. Er war höflich zu jedermann, wie bescheiden dessen Status im Leben auch sein mochte, und er war auf eine Art und Weise in der Gemeinschaft aufgenommen worden, wie es ein neu Zugezogener nur selten erlebte.

»Das ist Mr. Simmonds, mein Freund«, erklärte Camellia, die mit dem Schnurrbart ihres Vaters spielte. »Darf er reinkommen und sich mein Puppenhaus ansehen?«

»Ich habe schon eine Menge von Ihnen gehört, Mr. Simmonds«, sagte Mr. Norton, und er lächelte dabei, als gefiele ihm, was er gehört hatte. »Es freut mich, Sie endlich einmal kennen zu lernen. Im Haus herrscht wie immer ein Heidengedränge, aber kommen Sie doch bitte herein. Meine Frau würde Sie sicher auch sehr gern kennen lernen. Vielleicht lässt sich Camellia ja überreden, schlafen zu gehen, wenn sie Ihnen erst einmal ihre neuen Schätze gezeigt hat.«

Bert hatte das Innere des Hauses noch nie zuvor gesehen. Es war genauso vollkommen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Das ganze Erdgeschoss war ein einziger großer Raum mit poliertem Eichenparkett, dicken Fransenteppichen und antiken Möbeln. Alles strahlte jene dezente, vornehme Perfektion aus, mit der reiche Menschen ihr Zuhause einzurichten pflegten. Für Bert waren die Freunde der Nortons allesamt Fremde mit sonoren Stimmen, sechs Paare insgesamt, die, elegant gekleidet, mit Drinks in den Händen zusammenstanden. Als John ihn in der Runde vorstellte, lächelten sie, aber Bert fühlte sich trotzdem unbehaglich.

Bonny stand am anderen Ende des Raumes und entzündete lange grüne Kerzen auf dem Esstisch, der mit silbernem Besteck, gestärkten Servietten und Blumen fürs Abendessen gedeckt war. Hinter dem Tisch gaben geöffnete Fenster den Blick auf einen kleinen ummauerten Garten frei. Für Bert, der nur an Kantinen und Fernfahrercafés gewöhnt war, wirkte das Ganze wie aus einer Filmkulisse.

Bonny drehte sich um, um ihn zu begrüßen; sie war ein wenig unsicher auf den Füßen, als hätte sie bereits einige Drinks gehabt. »Dann lernen wir also endlich den Polizistenfreund unserer Kleinen kennen! Wir haben nicht erwartet, dass Sie so jung und so attraktiv sein würden«, fügte sie hinzu, und Bert errötete vor Verlegenheit. »Ich hoffe, sie hat Sie nicht belästigt, Mr. Simmonds. Sie ist mir sehr ähnlich und geht davon aus, dass jeder ihr zu Füßen liegt. Also, darf ich Ihnen einen Drink anbieten?«

Es wäre für jeden Mann schwer gewesen, Bonny Norton nicht zu Füßen zu liegen, insbesondere an diesem Abend. Sie trug ein locker fallendes blaues Kleid mit ausgestelltem Rock, und ihre nackten Arme waren goldbraun von der Sonne. Aus dem zu einer Hochfrisur gekämmten Haar lösten sich einzelne Strähnen und lockten sich um ihren Hals und ihre Ohren. Ihre Wangen waren von der Hitze gerötet.

»Ich bin im Dienst«, brachte er mit Mühe heraus, denn plötzlich war ihm sein schwerfälliger, ländlicher Akzent schmerzlich bewusst. Er hatte gerüchteweise gehört, dass die Nortons bisweilen auch adelige Gäste bewirteten. »Ich sehe mir schnell Camellias Puppenhaus an, dann bin ich Ihnen nicht länger im Weg.«

Camellias Kinderzimmer war das hübscheste, das Bert je gesehen hatte: ein weißes Himmelbett, Puppen, Teddybären und Regale voller Bücher, ein dicker Teppich und ein Polstersessel am Fenster mit Blick über die Dächer und die Marsch hinweg bis nach Winchelsea.

Camellia hüpfte durch den Raum und blieb vor dem großen, im Stil des achtzehnten Jahrhunderts gehaltenen Puppenhaus stehen. John lächelte Bert an. »Ich freue mich, dass ich endlich Gelegenheit habe, mich bei Ihnen dafür zu bedanken, dass Sie so nett zu Camellia sind«, bemerkte er mit echter Herzlichkeit. »Ich bin so viel auf Reisen, da ist es schön zu wissen, dass sie hier einen Freund hat.«

»Sie ist ein entzückendes Kind.« Der andere Mann war Bert sofort sympathisch. »Und sie zählt die Tage, bis Sie nach Hause kommen!«

»Komm, Mr. Simmonds«, mahnte Camellia seine Aufmerksamkeit an. »Das hier sind die neuen Sachen, die ich heute bekommen habe – das Klavier, die Dame, die daran sitzt, und das Zimmermädchen mit dem Teewagen.«

Für einen Mann von einfachem Geschmack wie Bert war das Puppenhaus mit seinem Inhalt kein Spielzeug, sondern ein Kunstwerk. Alle Möbel entsprachen dem Maßstab eines echten Hauses. Die Sessel waren chintzbezogen, und es gab Tischlampen und sogar Teller auf dem Esstisch.

Camellia griff nach dem Klavier und drückte es Bert in die Hand. Diese winzige Kopie eines echten Flügels musste ein kleines Vermögen gekostet haben.

»Man kann sogar darauf spielen«, erzählte sie andächtig, während sie mit einem Finger darauf herumklimperte. »Daddy schenkt mir die schönsten Sachen auf der ganzen Welt.«

Kurz nach jenem Abend im Haus der Nortons fand Bert heraus, dass Bonny sich einen Spaß daraus machte, ihn zu reizen. Sie spürte, dass er sich in sie verliebt hatte, und nutzte es zu ihrem Vorteil.

Häufig lud sie ihn zu einer Tasse Tee ein, und jedes Mal stellte sich heraus, dass sie irgendeine kleine Arbeit hatte, die er verrichten sollte, ein Möbelstück verrücken zum Beispiel. Das störte Bert zwar nicht im Mindesten, aber sie stellte ihm oft sehr persönliche Fragen, und manchmal hatte er das Gefühl, dass sie förmlich darauf wartete, dass er einen Annäherungsversuch unternahm. Eines sonnigen Nachmittags, als sie mit dem Tee in den Garten hinausgegangen waren, streifte Bonny plötzlich ihr Strandkleid ab. Darunter trug sie einen winzigen Bikini, etwas, das Bert zuvor nur auf gewissen Bildern in den Zeitschriften gesehen hatte.

»Na?«, fragte sie mit einem provokanten Schmollmund, während sie ihr Haar anhob und wie ein Model posierte. »Steht er mir?«

Sofort stieg ein Gefühl der Erregung in Bert auf. Schon im bekleideten Zustand war sie sensationell; fast nackt war sie umwerfend: eine schmale Taille, lange, schlanke Beine und ein kecker, wohl gerundeter Hintern. Hastig trank er seinen Tee aus, brach mit der denkbar dürftigsten Entschuldigung eilends auf – und verwünschte sich die nächsten paar Tage dafür, dass er nicht einmal den Mut aufgebracht hatte, ihr ein Kompliment zu machen. Natürlich wagte er es nicht, seinen Freunden im Revier von seiner wachsenden Leidenschaft für sie zu erzählen. Superintendent Willis war ein guter Freund von John Norton, und Bert wusste, dass er seinen Job sofort los gewesen wäre, hätte Willis davon Wind bekommen.

Als John in die Kricket-Mannschaft eintrat, wuchs Berts Verlegenheit noch. Mit einem Mal war Bonnys Mann keine schemenhafte Gestalt im Hintergrund mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der offensichtlich engen Kontakt zu der kleinen Gemeinde wünschte. Bert schätzte den stillen Humor des anderen, seine Intelligenz und den absoluten Mangel an Snobismus, und wären da seine Gefühle für Bonny nicht gewesen, hätte sich gewiss eine enge Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Bei ein paar Gläsern Bier nach einem Spiel sprach John gelegentlich von seiner Frau und seiner Tochter, und es war unverkennbar, dass die beiden für ihn das Wichtigste auf der Welt waren. Einmal vertraute er Bert an, von Somerset nach Rye gezogen zu sein, weil er es nicht gewagt hatte, seine junge Frau an einem so einsamen Ort allein zu lassen. Ein so lebhafter Mensch wie Bonny, fand er, brauche Leute um sich, Geschäfte, Kinos, Abwechslung. Es bereite ihm große Sorgen, dass er so häufig geschäftlich unterwegs sei. Bert hatte den Eindruck, dass John ihn unausgesprochen bat, ein Auge auf seine Frau und seine Tochter zu haben.

Bert gab sich große Mühe, in Bonny lediglich die Frau eines Freundes zu sehen, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder erwachte er aus lebhaften, erotischen Träumen von ihr, die ihn jedes Mal mit tiefer Scham erfüllten. Sein Herz schlug sogar schneller, wenn er sie in der Ferne sah, und er wusste, dass er sich immer wieder Ausreden ausdachte, um dem Haus in der Mermaid Street einen Besuch abzustatten.

Es war eine verwirrende und gefährliche Sucht und umso schlimmer, als er wusste, dass sie sich über seine Gefühle absolut im Klaren war. Sie musterte ihn mit ihren koketten türkisfarbenen Augen, die Lippen, die so sehr zum Küssen einluden, provozierend gespitzt, und hielt seine Hand gerade eine Spur zu lange fest.

Bisweilen ging sie noch ein wenig weiter, um ihn in Versuchung zu führen; sie befestigte in seiner Gegenwart ihre Strumpfhalter, beugte sich vor, sodass er tiefen Einblick in ihr Dekolletee nehmen konnte, und einmal öffnete sie ihm, nur mit einem Handtuch bekleidet, die Tür. Was Bert jedoch wirklich verwirrte, war die Frage, warum sie so mit ihm spielte. Denn sie hatte doch alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte.

Jetzt, etwa zehn Jahre später, kannte Bert die Antwort auf diese Frage. Bonny Norton war eine jener Frauen gewesen, die zur Befriedigung ihres Egos stets einige Bewunderer brauchten, die in ihren Netzen zappelten. Wenn John nicht so früh gestorben wäre, wäre sie dieser Gewohnheit vielleicht entwachsen und hätte begriffen, wie ungeheuer glücklich sie sich schätzen konnte. Aber als John unerwartet starb, war Bonny mit ihren siebenundzwanzig Jahren zu jung für die Witwenschaft gewesen und zu flatterhaft, um allein ein Kind großziehen zu können.

»Arme Camellia«, murmelte Bert. »Als hättest du nicht schon genug durchgemacht!«

2. Kapitel

Einen Penny für Ihre Gedanken, Sarge. Sie haben wohl gerade überlegt, ob Sie Ihren Lottoschein abgegeben haben, hm?«

Sergeant Simmonds zuckte zusammen, als Constable Carter ihn von hinten ansprach.

Wendy Carter war schon seit einigen Jahren bei der Truppe, arbeitete aber erst ein knappes Jahr in Rye. Sie war eine hervorragende Polizistin, mitfühlend, scharfsinnig und mit einem trockenen Sinn für Humor. Bert vermutete, dass sie es weit bringen würde. Aber sie hatte keine Ahnung von der Familiengeschichte der Nortons oder von seiner eigenen Verstrickung in diese Geschichte.

»Nichts so Triviales«, erwiderte er. »Ich habe an Bonny gedacht, wie sie früher einmal war. Und ich wünschte, nicht ausgerechnet ich müsste Melly die Nachricht überbringen.«

Wendy Carter sah ihn verwirrt an.

»Melly! Ich dachte, sie hieße Camellia?«

»Ihr Vater nannte sie Melly«, seufzte er. »Wahrscheinlich dreht er sich gerade im Grab um. Er hat mich vor Jahren gebeten, auf seine Frau und seine kleine Tochter aufzupassen. Ich habe meine Sache nicht besonders gut gemacht.«

Als sie zusammen entlang der East Street in Richtung High Street gingen, beobachtete Wendy den Sergeant aus den Augenwinkeln. Bert Simmonds war der Typ Mann, den sie gern geheiratet hätte. Stark, verlässlich, gutmütig und einfühlsam. Mit sechsunddreißig stand er in der Blüte seiner Jahre, hatte einen kräftigen, muskulösen Körper und von der Sonne gesträhntes blondes Haar, das er gerade eine Spur länger trug, als die Vorschriften es erlaubten. Man konnte ihn nicht direkt attraktiv nennen, aber er hatte ein nettes Gesicht, das von Zeit und Erfahrung gezeichnet war, und seine Augen waren graublau wie das Meer an einem trüben Tag. Sandra Simmonds hatte großes Glück gehabt, fand Constable Carter. Sie selbst hätte jedenfalls nichts dagegen gehabt, mit Bert das Bett zu teilen.

Wendy war nicht der Typ, dem die Männer nachpfiffen. Sie war eine reizlose, untersetzte Frau von neunundzwanzig Jahren mit mausbraunem Haar und Stupsnase, die sich auf ihren Verstand und ihr fröhliches Wesen verlassen musste, um Freunde zu finden, und diese Eigenschaften schienen sie bei Männern nicht allzu weit zu bringen.

Bonny Norton dagegen hatte nur mit den Fingern schnippen müssen, und die Männer waren ihr nachgelaufen. Wendy hatte die Frau viele Male gesehen, und wie fast alle anderen Menschen war sie von ihr fasziniert gewesen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, war Bonny stets in allem die Erste gewesen, die Erste, die damals in den Fünfzigern einen Bikini getragen hatte, die erste Erwachsene, die den Hula-Hopp-Reifen zu beherrschen lernte, und erst vor kurzem die erste Frau über dreißig, die es wagte, die neuen kurzen Röcke zu tragen. Eine solche Kühnheit konnte Wendy nur bewundern.

Vielleicht würde sie noch heute Abend herausfinden, ob all die Geschichten über Bonny Norton der Wahrheit entsprachen. Gewiss konnte keine Frau von sechsunddreißig Jahren all die Dinge getan haben, die man sich über sie erzählte: dass sie einen Hollywood-Vertrag abgelehnt hatte, um John Norton zu heiraten, dass sie sechs Jahre später Witwe geworden war und anschließend eine halbe Million Pfund vergeudet hatte. Es hieß, sie hätte die halbe männliche Bevölkerung der Stadt verführt, die Pubs leer getrunken und das Ganze schließlich mit dem Selbstmord im Fluss beendet! Warum sollte eine Frau in einem verschlafenen kleinen Provinznest wie Rye bleiben, wenn sie wirklich all das war, was man von ihr behauptete?

Als sie die Bäckerei der Rowlands erreichten, krampfte Berts Magen sich zusammen. Er konnte Camellia hinter der Theke sehen, wie sie fröhlich klappernd einem Kunden Kuchen servierte. Irgendwie wirkte der Kontrast zwischen diesem reizlosen, dicken Mädchen und seiner schönen, schlanken, blonden Mutter jetzt, da Bonny im Leichenschauhaus lag, noch krasser.

Camellia war groß, gut einen Meter siebzig, und sie wog mindestens fünfundsiebzig Kilo. Sie hatte ein blasses, teigiges Gesicht mit dunklen, mandelförmigen Augen, die fast im Fleisch untergingen. Das glatte dunkelbraune Haar hatte sie sich wenig schmeichelhaft mit einer Spange am Hinterkopf zusammengebunden, sodass die breite Stirn noch betont wurde. Auch der rosa-weiß karierte Overall, den sie trug, war ein Missgriff. Er war zu eng, und wo immer er sich an ihren Körper schmiegte, kamen Fleischwülste zum Vorschein.

Als er in der Tür erschien, zeichnete sich auf Camellias Gesicht ein breites, herzliches Lächeln ab. Sie freute sich immer, Bert zu sehen, und hatte ihn während ihrer ganzen Kindheit als einen besonderen Freund betrachtet, auch wenn sie ihn inzwischen nicht mehr duzte. Heute traf ihre Begrüßung ihn bis ins Mark.

»Hallo, Mr. Simmonds. Was darf es denn sein? Wir haben ein paar wunderbare Hühnerpasteten da. Sind gerade frisch aus dem Ofen gekommen.«

Man musste es dem Mädchen hoch anrechnen, dass es versuchte, sich dem schlechten Ruf seiner Mutter zum Trotz zu behaupten. Camellia arbeitete hart, sie war immer fröhlich, und Mrs. Rowlands zufolge war sie auch sehr ehrlich. Letzteres schien die Bäckersfrau mehr zu überraschen als alles andere.

»Nichts, vielen Dank.« Bert errötete. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht darüber nachgedacht, wie er es anstellen sollte, mit Camellia unter vier Augen zu sprechen. »Ist Mrs. Rowlands in der Nähe?«

Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, kam Enid Rowlands aus der Bäckerei herein und wischte sich die mehlbestäubten Hände an ihrer weißen Schürze ab. Sie war der Inbegriff einer Bäckerin, so dick und rund wie einer ihrer eigenen Doughnuts und mit einem allzeit geröteten Gesicht, das von grauem, gelocktem Haar umrahmt wurde.

»Hallo, Bert«, grüßte sie, und ihre hellen Knopfaugen leuchteten bei der Aussicht auf ein wenig Klatsch und Tratsch auf. »Was ist denn heute Morgen am Fluss los gewesen? Ich habe alle möglichen Gerüchte gehört.«

Enid lebte für Klatsch und Tratsch. In Rye geschah nichts, ohne dass sie alle Einzelheiten in Erfahrung brachte. Bert kam der leise Verdacht, dass sie Camellia vielleicht nur deshalb für die Sommerferien eingestellt hatte, weil sie hoffte, auf diese Weise etwas Vertrauliches über Bonny in Erfahrung zu bringen.

»Eigentlich bin ich hier, um mit Camellia zu sprechen«, antwortete er mit gesenkter Stimme und betete, dass Enid den Wink verstand. »Am besten draußen. Constable Carter wird alles erklären.«

In Enids Augen flackerte sofort Verdacht auf. Sie warf einen Blick auf ihre Angestellte, die gerade eine Kuchenschachtel für einen Kunden füllte, dann sah sie wieder zu Bert hinüber. »Was hat sie angestellt?«, flüsterte sie kaum hörbar.

Bert legte einen Finger an die Lippen und flehte Mrs. Rowlands mit den Augen an, ein wenig Takt zu zeigen.

Enid schien verwirrt zu sein, trat aber auf das junge Mädchen zu und nahm ihm die Kuchenschachtel ab. »Ich mache hier weiter. Mr. Simmonds möchte ein paar Worte mit dir reden. Ihr könnt in den Garten gehen.«

Camellia war offensichtlich vollkommen ahnungslos und schenkte Bert ein dankbares Lächeln, weil er sie aus dem drückend heißen Laden befreit hatte. »Es tut so gut, für ein Weilchen rauszukommen«, stöhnte sie, als sie kurz darauf im Freien waren. Sie ließ sich im Schatten auf eine kleine Holzbank fallen und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Da drin sind es schon fast dreißig Grad, und ich stehe seit sieben Uhr heute Morgen im Laden.«

Bert schaute sie voller Mitgefühl an; er sah mehr als nur den übergewichtigen Körper. Melly hatte eine gewisse Haltung, die nicht einmal die Demütigungen, die sie ihrer Mutter verdankte, hatten beeinträchtigen können. Wenn nur irgendjemand sie unter seine Fittiche nähme, ihr gut zuredete, den Babyspeck abzustreifen, und ihr ein paar anständige Kleider kaufte, könnte sie durchaus passabel aussehen. Sie war intelligent, hatte ein hübsches Lächeln und wusste sich sogar gewählt auszudrücken. Alles, was sie brauchte, war jemand, der sich ihrer annahm.

»Kein Wunder, dass Mrs. Rowlands sonst niemanden finden konnte, der diesen Sommer in ihrem Laden arbeiten wollte«, bemerkte sie mit einem Lachen, das kleine, sehr weiße Zähne freigab. »Ich war so dankbar für den Job, dass ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe, warum ihn sonst niemand wollte.«

Normalerweise waren die Leute nervös, wenn Bert mit ihnen sprechen wollte, und bei jeder anderen Gelegenheit hätte er Camellias Freimütigkeit erfrischend gefunden. »Du machst deine Sache sehr gut«, sagte er, um ihr ein wenig Selbstbewusstsein einzuflößen. »Ich bin davon überzeugt, Mrs. Rowlands hat dich ausgesucht, weil sie wusste, dass du hart arbeiten würdest.«

Es folgte eine kurze Pause, während derer Camellia sich weiter Luft zufächelte. Bert starrte einen Stapel mit Backblechen an und wünschte, Wendy Carter käme heraus, um ihm zu helfen.

»Weswegen wollten Sie mich sprechen, Mr. Simmonds?«, fragte Camellia plötzlich.

Bert holte tief Luft. Noch nie hatte er einem so jungen Menschen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen müssen, und ihm fehlten die Worte. »Es geht um deine Mum«, brachte er schließlich hervor.

Ihr Gesicht bewölkte sich. Sie sah auf einmal aus wie die Mutter eines schwierigen Kindes, die mit dem Schlimmsten rechnet, sobald dessen Name erwähnt wird. »Was hat sie jetzt wieder angestellt?«

Bert hätte am liebsten Wendy laut zu Hilfe gerufen. Sie hätte hier sein sollen, an seiner Seite, um die Art von Trost zu spenden, die nur eine Frau geben konnte. Aber er wusste, dass sie sich absichtlich fern hielt, weil sie glaubte, er allein könne dem jungen Mädchen die Nachricht schonender beibringen als sie beide zusammen.

Bert stand auf, hockte sich vor Camellia hin und umfasste ihre Hände. »Es tut mir Leid, Melly«, begann er. »Es gibt keine sanfte Art, dir zu sagen, was ich zu sagen habe, deshalb werde ich ohne Umschweife zur Sache kommen.« Er hielt inne, sein Mund war trocken und sein Magen immer noch verkrampft. »Deine Mum ist tot, Liebes. Es tut mir furchtbar Leid.«

Zuerst reagierte sie überhaupt nicht. Ihr dickes, blasses Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, so nichts sagend wie die Brötchen im Schaufenster der Bäckerei.

»Das ist unmöglich. Sie ist in London.« Camellia legte den Kopf zur Seite, sah ihm in die Augen und ließ den Blick dann auf seine Hände sinken, die ihre umfasst hielten.

»Sie ist hier gestorben, in Rye«, erwiderte Bert, der am liebsten alles in einem einzigen Atemzug hervorgestoßen hätte. »Sie ist im Fluss ertrunken, ganz früh heute Morgen.«

Zu Berts Erstaunen lachte Camellia, und ihr Doppelkinn bebte. »Reden Sie keinen Unsinn, Mr. Simmonds!«, rief sie. »Sie haben die Falsche erwischt. Meine Mum würde niemals auch nur in die Nähe eines Flusses gehen. Sie ist in London.«

Manche Menschen nahmen etwas, das sie nicht wahrhaben wollen, einfach nicht zur Kenntnis, das wusste Bert, aber von Camellia hatte er dieses Verhalten nicht erwartet. »Melly, ich habe sie selbst aus dem Wasser gezogen. Meinst du nicht, dass ich sie gut genug kenne, um sie zu identifizieren?«

Schweigen. Kein Wort von ihr, nicht einmal eine Regung. Ihr Blick war auf irgendetwas oberhalb seines Kopfes gerichtet und vollkommen starr. Er hoffte, dass sie sich an ihre enge Freundschaft erinnerte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, an die Kricketspiele, die sie sich mit Bonny zusammen angesehen hatte und bei denen sie ihm und John gleichermaßen applaudiert hatte. Wahrscheinlich aber würde sie sich eher an die Zeiten erinnern, da sie ihre Mutter in betrunkenem Zustand mit ihm hatte flirten sehen, oder an die Nächte, in denen er in seiner offiziellen Eigenschaft als Polizist erschienen war, weil sie die Nachbarschaft mit überlauter Musik belästigt hatte. Jetzt wünschte er, sie würde etwas sagen, irgendetwas. Er wusste nicht, ob sie seine Worte wirklich aufgenommen hatte.

Langsam löste sich die Starre ihres Gesichts. Zuerst öffnete sich der breite Mund, die Augen schlossen sich, dann quollen Tränen unter ihren Lidern hervor. Sie formten sich zu winzigen diamanthellen Tropfen auf ihren teigigen Wangen und rollten ihr eine nach der anderen übers Kinn.

»Wer war es?«, stieß sie heiser hervor. »Wer hat ihr das angetan?«

Bert konnte sie nur in die Arme schließen, sie an sich ziehen und hoffen, er würde die richtigen Worte finden. »Wir glauben nicht, dass eine zweite Person beteiligt war«, flüsterte er in ihr Haar. »Wir nehmen an, deine Mum ist in den Fluss gesprungen, Liebes, weil sie so unglücklich war. Es hat ihr niemand Gewalt angetan …«

»Sie irren sich.« Camellia schüttelte heftig den Kopf und befreite sich aus seiner Umarmung. »Mummy war immer glücklich, wenn sie nach London gefahren ist, und sie hatte Angst vor dem Wasser. Sie wäre niemals in einen Fluss gesprungen.«

Bonny hatte stets gern von dem Tag erzählt, an dem sie als Kind beinahe ertrunken wäre. Bert hatte die Geschichte aus ihrem eigenen Mund gehört und konnte sich ohne weiteres den breiten, eiskalten Fluss in Sussex und Bonnys heldenhafte Rettung durch ihre Jugendliebe vorstellen. Er hatte dem Polizeiarzt gegenüber sogar ihre Angst vor dem Wasser als Grund dafür genannt, warum sie seiner Meinung nach ihrem Leben nicht auf solche Weise ein Ende gesetzt hatte. Der Arzt hatte ihm jedoch widersprochen und erklärt, dieser Umstand sei ein weiterer Hinweis auf die Depression, unter der sie gelitten habe.

»Es kommt manchmal vor, dass Menschen plötzlich nicht mehr weiterwissen.« Bert versuchte, dem Mädchen zu erklären, was er zuvor von dem Arzt erfahren hatte. Er spürte, dass Wendy Carter in den Garten getreten war, drehte sich aber nicht nach ihr um. »Manchmal kommen viele kleine Sorgen zusammen und ergeben ein einziges riesiges Problem, das man glaubt nicht lösen zu können.«

Camellia lehnte sich an ihn und schluchzte in sein Hemd. Währenddessen hielt er sie einfach in den Armen und gab Wendy ein Zeichen, Camellia über die Einzelheiten ins Bild zu setzen, die er ihr nicht mitteilen konnte.

Er zuckte selbst zusammen, als die junge Polizistin mit ihrem Bericht begann. Man hatte den Zeitpunkt von Bonnys Tod ungefähr bestimmen können; es musste etwa zwei Uhr morgens gewesen sein, bei Hochwasser. Ihr Koffer und ihre Schuhe waren unter einem Strauch gefunden worden. Camellia reagierte nicht auf die Nachricht, dass sie ins Leichenschauhaus würde gehen müssen, um ihre Mutter offiziell zu identifizieren, aber als Wendy die Autopsie erwähnte, richtete das Mädchen sich mit von Entsetzen geweiteten Augen auf.

»Soll das heißen, sie wollen sie aufschneiden? Das dürfen sie nicht!«

»Es lässt sich nicht vermeiden.« Wendy trat auf Camellia zu und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Es ist so, wir müssen nach Drogen suchen, nach Alkohol, nach irgendetwas, das uns hilft, uns ein Bild davon zu machen, was genau passiert ist.«

Während Bert Camellia in diesem stillen kleinen Garten in den Armen hielt, trauerte er mit ihr. Bonny war für ihn ebenso sehr ein Teil des Lebens von Rye gewesen wie die altmodischen Teestuben, das Gefängnis aus der Zeit Napoleons und die Uferpromenade. Morgen würde er ihr vielleicht böse sein, dass sie nicht daran gedacht hatte, was ihr Tod für ihr Kind bedeuten musste, doch heute wollte er nichts anderes, als um eine alte, von Sorgen gequälte Freundin trauern.

Kurze Zeit später brachte Wendy ihnen Tee in den Garten. Mrs. Rowlands spähte ängstlich durch die Tür; sie wäre gern in den Garten hinausgegangen, um dem Mädchen Trost zuzusprechen, konnte aber, genau wie Bert, nicht die richtigen Worte finden.

»Hast du eine Freundin, die dir jetzt Gesellschaft leisten könnte?«, erkundigte sich Wendy Carter. Sie war erhitzt, Schweißflecken prangten auf ihrem weißen Hemd, und das kurze blonde Haar klebte ihr am Kopf. »Ich könnte jemanden für dich anrufen.«

Camellia richtete sich auf, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und sah die wohl meinende Polizistin offen an. »Ich habe keine Freunde«, erwiderte sie, und in ihren dunklen Augen stand ein neuer, harter Ausdruck. »Wussten Sie das nicht? Ich bin wie eine Leprakranke. Dafür hat Mum gesorgt.«

In diesem Moment verblassten all die guten Erinnerungen, die Bert an Bonny hatte.

»Ich würde gern für ein paar Minuten allein sein, wenn Sie nichts dagegen haben«, fügte Camellia nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Ich meine, bevor ich Mum identifizieren muss.«

Bert nickte. Eigentlich hätte das bis zum nächsten Morgen Zeit, aber Bert hatte inzwischen den Eindruck gewonnen, dass sich Camellia lieber all den Schrecken, die das Schicksal für sie bereithielt, an einem einzigen Tag stellen wollte. »Ich hole dich in einer halben Stunde ab«, meinte er und stand auf. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und zog Wendy mit sich fort.

Sobald sie allein im Garten war, lehnte Camellia sich an die Mauer, schloss die Augen und dachte an den Tag zurück, an dem sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte. An den vierzehnten März 1956. Sie war damals sechs Jahre alt gewesen. An diesem Tag hatte ihre behagliche, berechenbare Welt zu zerfallen begonnen.

Abgesehen davon, dass es ein besonders kalter, windiger Morgen gewesen war, hatte der Tag begonnen wie jeder andere Schultag auch. Sie frühstückte in der Küche, und während sie aß, flocht ihre Mutter ihr Haar zu Zöpfen und band jeden mit einer hübschen Schleife zusammen.

Wie stolz sie damals auf ihre Mutter war! Viele Leute verglichen Bonny mit Marilyn Monroe, weil sie das gleiche gewellte blonde Haar hatte, die gleichen hinreißenden engen Röcke und die gleichen eng anliegenden Pullover trug. Camellia fand ihre Mutter noch hübscher als die berühmte Schauspielerin. Selbst jetzt, um acht Uhr morgens, trug sie einen Zweiteiler aus rosafarbener Wolle und hochhackige Schuhe, und ihr Haar war perfekt frisiert.

»Ich hoffe, dass der Wind sich bis morgen legt«, bemerkte Bonny, während sie die zweite Schleife zurechtzupfte. »Daddy ist kein allzu guter Segler.«

John Norton war in Brüssel, wo er an einer Konferenz über die Unruhen in Ägypten teilnahm. Man befürchtete, die Ägypter könnten den Suezkanal sperren, sodass die Öltanker vom Golf den langen Weg um das Kap der Guten Hoffnung würden nehmen müssen. Er hatte am Montagmorgen von Dover aus die Autofähre genommen und sollte am Freitag zurückkommen.

»Ich wünschte, Daddy müsste nicht so oft fort«, seufzte Camellia wehmütig. »Es wäre schön, wenn er jeden Abend nach Hause käme.«

Bonny lächelte und strich ihrer Tochter liebevoll übers Haar. Sie war davon überzeugt, dass diese Probleme im Nahen Osten nur ein Sturm im Wasserglas waren. Aber John befürchtete, sie könnten zu einem Krieg führen, und er war in den letzten Wochen sehr angespannt gewesen. Bonny vermutete, dass ihre Tochter seine Unruhe gespürt hatte und sich nun ihrerseits um den Vater sorgte.

»Am Wochenende ist er wieder da. Und wenn das Wetter sich bessert, wird er sicher mit dir auf die Marschwiesen gehen, um nach neugeborenen Lämmern Ausschau zu halten. Daddy wäre heute Abend bestimmt auch lieber bei uns, aber so verdient er nun mal sein Geld, Schätzchen. Er ist ein sehr wichtiger Mann.«

Als Camellia das Ende der Mermaid Street erreichte, drehte sie sich um. Bonny stand noch immer in der Tür, bereit, ein letztes Mal zu winken. Camellia winkte zurück und trottete weiter. Die Geschäfte öffneten gerade; Mr. Bankworth vom Lebensmittelladen rief ihr zu, sie solle ihren Hut festhalten, und Mr. Simmonds, ihr besonderer Freund von der Polizei, fuhr auf seinem Fahrrad vorbei und grüßte sie mit einem lustigen Klingeln.

Der Wind wurde im Laufe des Tages noch kräftiger und klapperte an den Fenstern ihres Klassenzimmers. Sie lernten das Einmalacht und schrieben ein Diktat. Miss Grady gab ihnen für den nächsten Tag weitere zehn Worte zu lernen auf und sagte: »Wehe, einer von euch kann sie morgen nicht richtig schreiben.«

Es überraschte Camellia, dass ihre Mutter sie um halb vier nicht am Schultor erwartete. Meistens holte sie sie nach dem Unterricht ab, und manchmal gingen sie zu »Noras Teestube« am Landgate, um Hörnchen zu essen und Tee zu trinken. Camellia war jedoch nicht allzu betrübt über die Abwesenheit ihrer Mutter. Auf diese Weise hatte sie nämlich Gelegenheit, sich die Auslagen bei Woolworth anzuschauen. Bonny hatte nicht viel übrig für Woolworth, sie fand, dort rieche es komisch wegen des Holzfußbodens. Aber Camellia störte das nicht weiter, da sie sich so gern die Süßigkeiten und das Limonadenpulver in den Glaskästen ansah und die Verkäuferinnen beobachtete, wie sie all diese Köstlichkeiten in Zellophantüten abwogen. Es war ihr größter Ehrgeiz, dort zu arbeiten, wenn sie erwachsen war, obwohl Dad immer lachte, wenn sie ihm das erzählte, und meinte, sie könne ihre Ziele wohl ein klein wenig höher stecken.

Als sie kurz nach vier die Mermaid Street hinunterging, sang sie Alma Cogans Never do a Tango with an Eskimo. Sie hatte das Lied bei Woolworth aufgeschnappt und war fest entschlossen, sich die Worte genau einzuprägen, damit sie es Daddy vorsingen konnte, wenn er von Belgien nach Hause kam.

Die zweite Überraschung des Tages erwartete sie, als Kommissar Willis die Haustür öffnete. Er war ein Freund ihrer Eltern und kam manchmal mit seiner Frau zum Abendessen, aber bis zu diesem Tag hatte sie ihn noch nie in seiner Polizeiuniform gesehen. Er war ein großer Mann mit rauem, rotem Gesicht, als wäre er wochenlang draußen im Wind gewesen. Doch heute erschien er ihr noch größer als sonst – die kleine Diele schien viel zu eng für ihn zu sein.

»Hallo, Mr. Willis«, grüßte sie und ließ ihren Tornister auf den Fußboden fallen. »Wo ist Mummy?« Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben, schlüpfte sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer.

Sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert war, kaum dass sie einen Blick auf ihre Mutter geworfen hatte. Bonny saß in sich zusammengesunken in einem Sessel, starrte ins Feuer und drehte nicht einmal den Kopf, als ihre Tochter in den Raum trat. Außerdem saß noch eine junge Polizistin mit blondem, wuscheligem Haar auf dem Sofa, die jedoch sofort aufsprang; ihr Gesicht war gerötet, als wäre ihr die Situation peinlich.

»Mummy! Was ist denn los?«, fragte Camellia und lief auf ihre Mutter zu, erschreckt von ihrem tränenüberströmten Gesicht und den geschwollenen Augen. »Ist etwas passiert? Warum ist die Polizei hier?«

Einen Augenblick lang herrschte betroffenes Schweigen. Camellia konnte die Standuhr ticken und das Feuer im Kamin prasseln hören. Alle drei Erwachsenen im Raum waren offensichtlich so sehr in das Problem vertieft gewesen, dass sie sie ganz vergessen hatten. »Mummy?« Ihr war plötzlich kalt bis auf die Knochen. »Sag es mir!«

»Oh, Schätzchen! Es ist Daddy«, antwortete ihre Mutter mit einer seltsam erstickten Stimme, und mit einem Mal schluchzte sie auf, zog Camellia auf ihren Schoß und drückte sie so fest an sich, dass das Mädchen kaum noch Luft bekam.

Es war Mr. Willis, der Camellia schließlich erklärte, was geschehen war. Er hockte sich vor sie hin und sagte: »Dein Daddy hat in Brüssel einen Herzinfarkt erlitten, Liebes.«

»Aber wann kommt er nach Hause?«, wollte sie verwirrt wissen und blickte zuerst in Mr. Willis’ rotes Gesicht, dann in das weiße Gesicht der Polizistin und schließlich wieder zu ihrer schluchzenden Mutter. »Er kommt doch nach Hause, oder?«

Die große Hand des Mannes lag jetzt auf ihrer Schulter und fühlte sich so merkwürdig schwer an. Sein sonst so fröhliches Gesicht schien in sich zusammenzufallen. »Ich fürchte, er wird nie wieder nach Hause kommen, mein Kind«, erwiderte er schroff. »Verstehst du, er ist an dem Herzinfarkt gestorben. Daddy wohnt jetzt bei Jesus.«

Als Camellia in jener Nacht neben ihrer schlafenden Mutter im Bett ihrer Eltern lag, versuchte sie, all die Dinge zu verstehen, die sie in den letzten sechs oder sieben Stunden gehört und beobachtet hatte. Es kam ihr wie ein böser Traum vor, obwohl sie wusste, dass es kein Traum war. Dr. Negus war ins Haus gekommen und hatte ihrer Mutter eine Medizin gegeben, sodass sie endlich aufhörte zu weinen und einschlief. Mrs. Tully, die Putzfrau, schlief jetzt in Camellias Bett, und morgen würde Granny kommen, um sich um sie zu kümmern. Obwohl es warm und gemütlich in dem großen Bett war und die Nähe ihrer Mutter etwas Tröstliches hatte, konnte Camellia nicht einschlafen.

Die Straßenlaternen draußen auf der Mermaid Street warfen ihr Licht in das Zimmer ihrer Eltern, sodass sie die Dinge deutlich erkennen konnte. Bonnys Parfümfläschchen auf dem Ankleidetisch glitzerten, und ein duftiges weißes Negligee, das hinter der Schlafzimmertür hing, glänzte schaurig. Dieser Raum war für Camellia stets ein kleines Heiligtum gewesen, das die Persönlichkeit ihres Dads und ihrer Mum widerspiegelte: die Bücher ihres Daddys und die Schachtel mit Manschettenknöpfen an seiner Seite des Bettes, Mummys Handcreme und der Nagellack auf ihrer Seite. Selbst das Bett roch nach ihnen beiden, Daddys Kissen nach seinem Haaröl, Mummys nach Parfüm. An den Wochenenden war Camellia morgens stets zu ihnen ins Bett gekrochen, und bei einer Tasse Tee hatten sie zu dritt darüber gesprochen, was in den nächsten Tagen zu erledigen war und welche Ausflüge sie unternehmen wollten. Aber als sie nun dort lag, den Duft ihres Vaters in der Nase, und über Bruchstücke aus den Gesprächen der Erwachsenen während der vergangenen Stunden nachdachte, wusste sie nur eins: Alles, was ihr noch am Morgen so sicher und verlässlich erschienen war, lag nun in Trümmern.

Vier Wochen nach der Beerdigung ihres Vaters hörte Camellia dann ihre Mutter und Granny im großen Schlafzimmer streiten, während sie unten saß und malte. Sie wollte nicht zuhören, konnte es aber auch nicht verhindern, da die Stimmen der beiden Frauen durch das kleine Haus hallten.

»Ich erlaube dir nicht, so mit mir zu sprechen«, schimpfte Granny, und ihre Stimme zitterte, als weinte sie. »Ich bin hergekommen, um zu helfen, doch das kann ich nur, wenn du mich unterstützt.«

»Verschwinde doch, geh zurück nach London«, fuhr Bonny sie an. »Du hast mich ohnehin bisher nur kritisiert und herumgeschubst. Ich versuche, zur Normalität zurückzufinden, aber du lässt es nicht zu.«

»Du kannst nicht so kurz nach dem Tod deines Mannes in einem rosafarbenen Kleid herumlaufen«, gab Granny zurück. »Was sollen die Leute denn denken?«

»Es ist mir egal, was sie denken.« Bonnys Stimme war noch lauter geworden. »Ich habe es satt, wie ein altes Weib auszusehen; ich habe es satt, hier bei dir im Haus zu hocken, während du putzt und wäschst wie eine frustrierte Glucke. Ich habe das alles so satt!«

Camellia begann zu weinen. Sie akzeptierte langsam die Tatsache, dass ohne Daddy nichts jemals wieder ganz so sein würde wie früher, aber sie verstand nicht, warum ihre Mutter so gemein zu Granny war. Sie allein hatte das alltägliche Leben in den letzten Wochen ein wenig erträglicher gemacht, sie kochte und putzte, sie ging mit Camellia auf den Spielplatz, brachte sie in die Schule und zeigte ihr abends, wie man strickte und nähte. Sie mochte sich manchmal zu sehr aufplustern, doch sie war nett und liebevoll.

Bis zum Tod ihres Vaters war »Granny« nicht mehr als der Name einer gesichtslosen Person gewesen, die ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten selbst gestrickte Pullover und wunderschön angezogene Puppen schickte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte Granny sie bis zum Tod ihres Schwiegersohns nie zuvor besucht, zumindest nicht, soweit Camellia sich erinnern konnte. Aber nachdem sie die alte Dame jetzt kennen gelernt hatte, wollte sie nicht, dass sie wieder fortging.

»Ich werde nach Hause fahren, wenn es das ist, was du willst«, erklärte Granny, aber jetzt wurde auch ihre Stimme lauter, als verlöre sie endgültig die Geduld. »Ich habe dich nie verstanden, Bonny. Ich habe dir alles gegeben, ich habe niemals an mich gedacht. Du bist ein egoistisches, hartherziges kleines Luder. Diese Tränen weinst du nicht um John, sondern nur um dich selbst. Du solltest Gott lieber auf Knien für die guten Jahre danken, die er dir geschenkt hat, für Camellia und ein schönes Haus. Was hatte ich denn, als Arnold starb? Eine Sozialwohnung, eine Tochter, der ich herzlich egal war, und eine Witwenpension. Aber das kümmerte mich nicht, ich habe nur Arnold vermisst, und ich vermisse ihn immer noch.«

Der Streit war endlich verebbt, doch es dauerte noch gut zehn Minuten, bis Granny die Treppe herunterkam. Und obwohl sie sich das Gesicht gepudert hatte, waren ihre Augen noch geschwollen. Sie lächelte Camellia zu, aber die intelligente Sechsjährige durchschaute ihren jämmerlichen Versuch, Normalität vorzutäuschen, sofort.

»Geh nicht weg, Granny«, flehte Camellia sie an. »Ich finde es so schön, wenn du hier bist.«

»Ich muss gehen, mein Liebes.« Granny setzte sich neben sie aufs Sofa und nahm sie auf den Schoß. »Vielleicht wird Mummy besser zurechtkommen, wenn ich erst fort bin. Sie hört nicht auf mich, egal, was ich sage, und mehr kann ich einfach nicht tun.«

Camellia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Also schmiegte sie sich nur in die Arme der älteren Frau und wünschte, ihr würde irgendetwas einfallen, um die beiden Frauen wieder miteinander zu versöhnen.

»Wie sollen wir denn ohne dich zurechtkommen?«, begehrte Camellia auf. Es war noch gar nicht lange her, dass ihre Mutter den ganzen Tag im Bett verbracht hatte, und selbst jetzt überließ sie Granny noch alle Arbeit. »Wird Mummy wieder Essen kochen und einkaufen gehen?«

»Das wird sie bestimmt.« Die ältere Frau unterdrückte ein Schluchzen. »Es wird ihr gar nichts anderes übrig bleiben, nicht wahr?«

»Ich vermisse Daddy schrecklich«, platzte Camellia heraus. Ihre Mutter wurde böse, wenn sie so etwas sagte, das wusste sie. »Wird es jetzt immer so sein?«

Eigentlich meinte sie: Würde das große Loch, das ihr Vater in ihrem Leben hinterlassen hatte, je wieder gefüllt werden? Würde es jemals wieder einen Abend geben, an dem sie nicht mehr an seine abendlichen Gutenachtgeschichten dachte? Oder ein Wochenende, an dem sie nicht ihre gemeinsamen Spaziergänge über die Marschwiesen vor ihrem inneren Auge sah? Mummy hatte sich nie so sehr wie Daddy dafür interessiert, was sie in der Schule durchnahm, oder für ihre Freundinnen oder für ihre Gedanken. Sie hatte versucht, nicht länger über diese Dinge nachzudenken, aber es gelang ihr einfach nicht.

»Es wird besser werden«, versicherte Granny entschieden. »Ich kann dir nicht versprechen, dass es über Nacht passieren wird, und all diese Erinnerungen an deinen Daddy werden in deinem Kopf bleiben, weil sie etwas ganz Besonderes sind und weil du sie gewiss nicht verlieren willst. Doch schon bald wirst du feststellen, dass es nicht mehr so wehtut.«

»Warst du auch so wie Mummy, als Großpapa starb?«, fragte Camellia.

»Nein, ich habe damals nicht so einen Wirbel veranstaltet«, antwortete Granny bedächtig. »Aber andererseits war Großpapa siebzig, und ich wusste, dass er nicht ewig leben würde. Für Mummy ist es anders. Sie ist erst siebenundzwanzig und hat damit gerechnet, dass dein Daddy noch viele Jahre bei ihr sein würde.«

Camellia hätte gern noch eine Menge andere Fragen gestellt, zum Beispiel, warum ihre Mutter sich nicht länger für sie zu interessieren schien. Warum sie ein rosafarbenes Kleid anziehen wollte, kein schwarzes, und warum Granny Bonny nicht besonders zu mögen schien, obwohl sie ihre Mutter war. Aber irgendwie wusste sie, dass diese und andere Fragen, die an ihr nagten, am besten unausgesprochen blieben.

»Wirst du mich wieder besuchen kommen?«, wollte sie stattdessen wissen.

Abermals zögerte die alte Frau. Sie wusste, dass sie den nächsten Zug nehmen würde, falls Bonny sie jemals brauchen sollte – trotz all der bösen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren. Aber ihre Tochter hatte die Absicht, alle Brücken zur Vergangenheit hinter sich abzubrechen, weil sie das Trauern so satt war, das sagte ihr ein sechster Sinn. »Ich werde kommen, wenn du mich brauchst«, versprach sie leise. »Vielleicht wird Mummy dir erlauben, mich in den Ferien zu besuchen. Du musst mir schreiben, mein Liebes. Denk immer daran, dass ich deine Granny bin und dich lieb habe.«

Camellias Erinnerung an den Tod ihres Vaters hatte neuerliche Tränen ausgelöst. Sie wischte sie mit dem Saum ihres Hosenbeins weg und starrte zum Himmel empor. Aber eine weitere lebendige und diesmal beschämende Erinnerung stahl sich in ihre Gedanken.

Es war fünf Jahre nach dem Tod ihres Vaters gewesen, im Februar 1961, als Camellia spät an einem Freitagabend von Johnny Kidds Shakin’ All Over geweckt wurde. Die Musik war nicht nur laut, sie war ohrenbetäubend gewesen. Nachdem sie das Licht eingeschaltet hatte, sah Camellia, dass es zehn nach eins war, und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis einer der Nachbarn die Polizei rief.

Wenn das Foto neben ihrem Bett nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht geglaubt, diese behaglichen, stillen Tage ihrer frühen Kindheit seien nur eine Fantasie, die sie sich zu ihrem Trost erträumt hatte.

Es war ein Schwarz-Weiß-Bild der kleinen Familie. Camellia war fünf gewesen, als es aufgenommen worden war. Sie trug ein samtenes Partykleid mit Spitzenkragen, ihre Mutter ein inzwischen ziemlich aus der Mode gekommenes tailliertes Kostüm und viel kürzeres Haar als heute, und ihr Vater stand in einem dunklen Anzug hinter dem Sofa.

Camellia war schon damals pummelig, aber sie sah irgendwie süß aus, wenn auch zu ernst. Jetzt war sie fett, wirklich fett, und ihre dunklen Augen schienen sich wie zwei schwarze Schlitze in das aufgedunsene Fleisch zurückgezogen zu haben. John Norton war tot. Die süße kleine Camellia war nun ein dickes Kalb. Und Bonny war keine richtige Mutter mehr.

Selbst die glücklichen Tage auf der erstklassigen Collegiate School waren vorüber – sie waren im Dezember, zwei Tage vor ihrem elften Geburtstag, abrupt beendet worden.

Bonny behauptete, die Direktorin habe ihr dazu geraten; da Camellia die Prüfung für die weiterführenden Schulen nicht bestehen würde, könne sie im neuen Jahr geradeso gut die staatliche Schule besuchen und von dort dann im nächsten September zur Mittelschule wechseln. Aber das war eine gemeine Lüge, sie hatte immer zu den Besten der Klasse gehört, und Miss Grady hatte oft gesagt, sie sei klug genug, um ein Stipendium für eine der besten Mädchenschulen zu bekommen.

Camellia schaltete das Licht aus und zog sich das Kissen über den Kopf, um den Lärm nicht mehr hören zu müssen. Sie brauchte nicht nach unten zu gehen, um zu wissen, was dort vorging. Allzu gut konnte sie sich die Szene im Wohnzimmer vorstellen, denn sie hatte das Gleiche in der Vergangenheit ungezählte Male mit angesehen. Bonny würde wie immer im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Wahrscheinlich hatte sie sich ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug eins ihrer Petticoat-Kleider mit einem breiten Gürtel, der ihre Wespentaille gut zur Geltung brachte. Sie tanzte sicher mit irgendjemandem, wahrscheinlich mit diesem grässlichen Mann, den Camellia in letzter Zeit häufig gesehen hatte. Alle anderen Männer starrten vermutlich wie gebannt auf Bonnys Beine, um einen Blick auf ihre Strumpfbänder zu erhaschen, während sie wie wild herumwirbelte.