Ellie - Als wir Freundinnen waren - Lesley Pearse - E-Book

Ellie - Als wir Freundinnen waren E-Book

Lesley Pearse

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Beschreibung

Das Schicksal zweier Frauen in einer entbehrungsreichen Zeit ...

London in den 40er-Jahren: Wie so viele strandet auch die junge Ellie in der großen Stadt. Der Krieg hat ihr alles genommen. Doch sie kämpft für ihren Traum von einem Leben auf der Bühne und verdingt sich als Sängerin und Tänzerin in Varietés. Als sie in der hübschen Bonny eine Gleichgesinnte trifft, scheint den Freundinnen die Welt offenzustehen. Bis schreckliche Geschehnisse den Traum der beiden Frauen zu zerstören drohen - und auch ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen ...

Bestsellerautorin Lesley Pearse entführt uns in das vibrierende London der 40er-Jahre!

Die Geschichte geht weiter - mit "Camellia - Im zarten Glanz der Morgenröte".

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Adele – Der Wind trägt dein Lächeln

Hope – Mein Herz war nie fort

Camellia – Im zarten Glanz der Morgenröte

Bis dein Herz mich findet

Das Geheimnis von Carlisle

Das helle Licht der Sehnsucht

Das Mädchen aus Somerset

Den dunkel ist dein Herz

Der Wind trägt dein Lächeln

Durch stürmische Zeiten

Echo glücklicher Tage

In der Ferne ein Lied

Jeden Tag ein bisschen Zuversicht (September 2019)

Schatten der Erinnerung

Wenn tausend Sterne fallen

Wo das Glück zu Hause ist

Wo die Hoffnung blüht

Zeiten voller Hoffnung

Die Belle Trilogie:

Band 1: Doch du wirst nie vergessen

Band 2: Der Zauber eines frühen Morgens

Band 3: Am Horizont ein helles Licht

Weitere Titel in Planung.

Über dieses Buch

Das Schicksal zweier Frauen in einer entbehrungsreichen Zeit …

London in den 40er-Jahren: Wie so viele strandet auch die junge Ellie in der großen Stadt. Der Krieg hat ihr alles genommen. Doch sie kämpft für ihren Traum von einem Leben auf der Bühne und verdingt sich als Sängerin und Tänzerin in Varietés. Als sie in der hübschen Bonny eine Gleichgesinnte trifft, scheint den Freundinnen die Welt offenzustehen. Bis schreckliche Geschehnisse den Traum der beiden Frauen zu zerstören drohen – und auch ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen …

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Neben dem Schreiben engagiert sie sich intensiv für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes für die Regionen Bath und West Wiltshire.

LESLEY PEARSE

EllieAls wir Freundinnen waren

Aus dem britischen Englisch vonBritta Evert und Sabine Schilasky

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 1996 by Lesley PearsePublished by Arrangement with Lesley PearseTitel der englischen Originalausgabe: »Ellie«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:Copyright © 2014/2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTitel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Als wir Freundinnen waren«Textredaktion: Anke PreglerCovergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven von © Richard JenkinseBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-9855-7

www.be-ebooks.dewww.lesejury.de

Für Hilda Sargent und Rowneen Phillips, zwei gänzlich unterschiedliche Frauen, die mich in meiner Jugend wesentlich geprägt haben.Hilda, meine Stiefmutter, war ein zähes altes Mädchen, aber sie war es, die meine Liebe zu Büchern förderte und mir selbstständiges Denken und vieles mehr beibrachte.Rowneen war die Mutter einer Freundin und eine Dame, die etwas davon verstand zu lieben, zu lachen und diese Welt zu einem freundlicheren Ort zu machen.Leider starben beide 1995 innerhalb weniger Tage.Ich gedenke ihrer mit einem Lächeln.

KAPITEL 1

STEPNEY, LONDON, 1939

»He, Poll! Dein Herzchen Eleyna hat mal wieder den Klositz ramponiert!«, rief Edna aufgebracht vom unteren Ende der Treppe. »Heißt ja vielleicht wie ’ne Herzogin, aber auf dem Scheißhaus hockt sie nicht wie eine.«

Polly Forester, die gerade das lange dunkelbraune Haar ihrer Tochter nach Nissen absuchte, lächelte in sich hinein.

Niemand nannte Ellie je bei ihrem richtigen Namen – Helena, mit griechischer Betonung ausgesprochen –, es sei denn, jemand wollte sie ärgern oder sich über sie lustig machen. Edna Ross, ihre streitbare und oft furchteinflößende Nachbarin, liebte es, den Namen als ultimative, wenn auch liebevolle Beleidigung übertrieben in die Länge zu ziehen und der Wirkung halber noch ein oder zwei »a« anzuhängen.

»Woher willst du wissen, dass es nicht Wilf war?«, rief Polly gutmütig zurück. »Hat doch einen Arsch wie ein Rhinozeros!«

»Weil er schon den ganzen Scheißtag lang im Pub hockt«, gab Edna zurück. »Und da bleibt er hoffentlich auch den ganzen Scheißabend!«

Polly lachte leise. »Tut mir leid, Ed!«, rief sie. »Ich kümmere mich nachher drum.«

»Ach was, ist doch schnuppe.« Ednas Zorn war verraucht, und sie lachte keckernd. »Sag deiner Ellie bloß, wenn sie bei feinen Pinkeln wohnen will, muss sie sich auch wie ’ne feine Dame benehmen.«

Es war der 31. August 1939 um vier Uhr nachmittags. An jedem anderen warmen Sommertag wäre in der Alder Street in Stepney vielstimmiger Lärm zu hören gewesen: das Johlen schriller Kin­der­stimmen, Springseile, die auf das Kopfsteinpflaster knallten, Bälle, die an Wände donnerten, und Frauen, die vor den Haustüren standen und tratschten. Aber heute hatte sich in der letzten Stunde eine ungewohnte lastende Stille über die Straße gesenkt, weil die Kinder hereingerufen worden waren, um sie für die morgige Evakuierung bereit zu machen.

Ellie zuckte leicht zusammen, als ihre Mutter den feinzinkigen Kamm durch ihr Haar zog. »Hab ich Nissen?«, fragte sie.

Von den Nachbarn wurde Ellie als »strammes Mädel« bezeichnet, eine freundliche Umschreibung für »dick«. Mit ihren zwölf Jahren war sie fast genauso groß und um einiges breiter als ihre zierliche Mutter. Dass sie nicht als »unscheinbar« abgestempelt wurde, verdankte sie einzig und allein ihrem überschäumend heiteren Wesen. Ihre dunklen Augen funkelten vor Lebenslust, ihr breiter Mund war ständig zu einem Lächeln verzogen, und sie besaß die Gabe, die Menschen in ihrer Umgebung zum Lachen zu bringen.

Aber jeder, der Ellie objektiv betrachtete und ihre ansteckende Fröhlichkeit nicht erlebte, konnte ihr Äußeres mit Fug und Recht als reizlos bezeichnen. Dunkles Haar, ein breites, flächiges Gesicht, zu pummelig, um einen möglicherweise vorhandenen feinen Knochenbau erkennen zu lassen, und eine Nase, die zu klein war, um ihren Zügen Charakter zu verleihen. In ihrem abgetragenen gestreiften Baumwollkleid, aus dem sie längst herausgewachsen war, kam ihr Babyspeck deutlich zum Vorschein. Die Knöpfe über der Brust spannten, die Ärmel waren zu eng, und unter dem kurzen Rock lugten mollige Knie hervor.

»Kann keine entdecken, Häschen, aber ich geh lieber auf Nummer sicher«, antwortete Polly, während sie ihre Tochter näher zum Fenster schob, um besser sehen zu können. Ellies langes, schimmerndes Haar war das Schönste an ihr, und ihre Mutter achtete darauf, dass es auch so blieb. »Wir wollen doch nicht, dass dein neuer Onkel und das neue Tantchen denken, dass wir Cockneys alle verlaust sind, oder?«

»Kann ich nicht bei dir bleiben, Mum?« Ellie drehte den Kopf, damit sie ihre Mutter ansehen konnte. »So ganz allein bist du bestimmt schrecklich einsam.«

»Nein, das geht nicht.« Pollys Lippen lächelten, aber ihre Augen blickten düster. »Lieber bin ich einsam, als dauernd Angst um dich zu haben.«

Ellie zerbrach sich verzweifelt den Kopf nach irgendeiner komischen Geschichte, um die Stimmung aufzuheitern, aber dieses eine Mal wollte ihr einfach nichts einfallen. »Aber dann hab ich Angst um dich«, platzte sie heraus. »Was ist, wenn dich eine Bombe erwischt?«

Polly stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihr ganzes Denken konzentrierte sich darauf, Ellie in Sicherheit zu bringen und ihr einzutrichtern, wie sie sich zu benehmen hatte, um aus ihrer Situation das Beste zu machen. An die Gefahr, die ihr selbst drohte, hatte sie bisher gar nicht gedacht.

»Da kommen schon keine Bomben«, behauptete Polly mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. »Ist doch nur Angstmacherei, um uns auf Trab zu halten.«

»Dann fürchtest du dich nicht?« Ellie schlang die Arme um ihre Mutter und schmiegte sich an ihre Schulter.

Ellie hatte noch nie erlebt, dass ihre Mutter vor etwas Angst hatte. Sie war vielleicht klein und zierlich, aber sie scheuchte Ratten mit dem Besen aus der Außentoilette, behauptete sich gegen die häufig unangenehmen Schauspieler und Schauspielerinnen im Empire Theatre in Holborn, wo sie als Garderobiere arbeitete, und nahm es jederzeit mit Edna Ross auf.

»Nur davor, dich nicht jeden Tag zu sehen.« Polly, die mit den Tränen kämpfte, drückte ihre Tochter leidenschaftlich an sich. »Aber bis Weihnachten ist alles vorbei, wirst schon sehen. Vielleicht finde ich inzwischen ja ’ne bessere Bleibe für uns. Und jetzt pack deinen Kram zusammen, dann gehen wir zu Tante Marleen. Sie hat gesagt, dass du bei ihr baden darfst. Und sie hat auch was zum Abendessen für uns.«

Diese unerwartete Aussicht überlagerte Ellies Trennungsängste. Sie löste sich aus den Armen ihrer Mutter und strahlte sie an.

»Was, wir gehen zu ihr in diese tolle Bude? Du hast doch gesagt, dass du da nie hin willst!«

Marleen war Pollys älteste und beste Freundin. Aber Ellie hatte mitbekommen, dass Marleen einen schicken neuen Freund hatte, der ihrer Mutter nicht gefiel, und bisher hatte sich diese strikt geweigert, Ellie zu Marleen mitzunehmen.

»Tja, für einen besonderen Anlass ändere sogar ich mal meine Meinung.« Polly schniefte, wandte den Kopf und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen. »Außerdem hat Marleen dich lieb, und sie wäre fuchsteufelswild, wenn sie sich nicht von dir verabschieden könnte.«

Polly setzte sich auf den Stuhl am Fenster, als Ellie ins Schlafzimmer lief. Die gezwungene Fröhlichkeit, die sie den ganzen Tag über aufrechterhalten hatte, wurde allmählich brüchig. Sie schickte Ellie nicht nur aus Gründen der Sicherheit weg; Polly hoffte, ein neues Zuhause auf dem Land könnte ihrer Tochter all die Dinge bieten, von denen sie selbst nicht einmal zu träumen wagte. Aber zwölf Jahre lang war Ellie der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Wie sollte sie ohne sie zurechtkommen?

Nichts in dem kleinen Zimmer widersprach Pollys Überzeugung, dass sie als Mutter versagt hatte. Zwei verschlissene Kaminsessel, auf den rohen Dielenbrettern ein Flickenteppich, ein kleiner Tisch, bei dem unter einem Bein ein Stück Pappe klemmte, damit er nicht wackelte, und auf dem Kaminsims eine Uhr, die schon seit langer Zeit nicht mehr tickte, flankiert von zwei Gipshunden mit abgestoßenen Ohren.

Der Blick aus dem Fenster war fast noch deprimierender. Die Straße mit den schmalen Reihenhäuschen war so eng, dass kaum ein Sonnenstrahl hineinfiel. Rußige Ziegelsteine, die meisten Fensterscheiben zerbrochen, das Glas durch Pappe oder alte Lumpen ersetzt. Edna und Iris standen mit Kopftüchern über ihren Lockenwicklern in einem Fleckchen Sonnenschein und tratschten. Die alte Mrs. Schoebl saß in ihrer Tür, die Schenkel breit gespreizt, so dass ein paar Zentimeter ihres langen rosa Schlüpfers zu sehen war, und döste mit hängendem Kopf vor sich hin. Normalerweise übertönte das Lärmen der spielenden Kinder das Surren der Nähmaschinen aus der Werkstatt in Nummer 21, aber heute vibrierte das Geräusch in der Luft wie ein Schwarm Bienen. Zwei Jungs, die teilnahmslos auf der Türschwelle hockten, sahen mit ihren kurz geschorenen Haaren wie Gefängnisinsassen aus. Jetzt tauchte Alf Meeks mit seinem Lumpenkarren auf. Sogar sein Pferd wirkte niedergeschlagen, als es müde auf den Hof zu trabte, der ein Stück weiter unten an der Straße lag.

Polly war immer noch eine hübsche Frau. Nicht einmal zwölf Jahre in der Alder Street hatten den Glanz ihrer kupferroten Naturlocken beeinträchtigen oder ihr die Anmut und Grazie der Tänzerin nehmen können, die sie einmal gewesen war. Obwohl sie siebenunddreißig war, warfen die Männer immer noch verstohlene Blicke auf ihre schlanke Gestalt, ihre Stupsnase mit dem Hauch von Sommersprossen und fragten sich, warum die zierliche Witwe nicht wieder geheiratet hatte.

Sie war in diese zwei winzigen Räume über Edna und Wilf Ross’ Wohnung gezogen, als Ellie zur Welt kam, eine verzweifelte und, wie sie dachte, vorübergehende Maßnahme. Damals war sie noch optimistisch gewesen und hatte geglaubt, die guten Zeiten würden wiederkehren. Doch es dauerte nicht lang, bis sie erkannte, dass sie ebenso hier festsaß wie ihre Nachbarn, ob Juden, Polen, Iren oder Einheimische. In ihren Bräuchen und Religionen mochte es Unterschiede geben, aber die Armut vereinte sie alle. Ganze Familien drängten sich in winzige, feuchte, schmutzige Unterkünfte, und steckten in einer erbarmungslosen Tretmühle, arbeiteten hart für wenig Lohn und ohne Aussicht auf Besserung.

Ellie zuliebe hatte Polly nicht aufgegeben und versucht, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sie hatte gelernt, mit dem Gestank des Außenklos und dem Saustall, den Edna in der Gemeinschaftsküche hinterließ, zu leben. Um ihr mageres Einkommen vom Theater zu strecken, hatte sie oft für ihre Tochter eine Mahlzeit zubereitet und behauptet, sie hätte selbst schon früher gegessen, oder sie hatte den ganzen Tag lang die Kälte ertragen und das Feuer im Kamin erst kurz, bevor Ellie aus der Schule kam, angezündet. Im Haus wimmelte es von Mäusen, und in den Wänden saß Ungeziefer. Im Sommer war es erstickend heiß, aber die Winter waren ein einziger Härtetest. Die hübschen Vorhänge, die sie genäht hatte, verbargen weder den Schimmel an der Wand, noch das schäbige Mobiliar. Nur Ellies Anwesenheit machte aus dieser Unterkunft ein Heim.

Wie sollte sie es hier ohne Ellie aushalten? Sie teilten alles, das Bett, den Klatsch, das Lachen, die Arbeit im Haushalt. Welchen Sinn würde ihr Leben jetzt noch haben?

Polly hatte an diesem Tag festgestellt, dass sie nicht die Einzige war, die Ellie liebte. Den ganzen Vormittag hatte ein stetiger Strom von Nachbarn ins Haus Nummer 18 gefunden, um sich von dem Mädchen zu verabschieden, und viele hatten ihr kleine Geschenke mitgebracht. Die alte Mrs. Schoebl, die Polin von gegenüber, hatte Süßigkeiten gebracht, Ossie Freidburg eine Bahn roten Flanell, aus dem Polly ein Nachthemd für Ellie nähen sollte, und Mrs. Green, die den Schreibwarenladen an der Ecke führte, ein paar Comicheftchen für die Reise.

Ellie war ein so warmherziges und großzügiges Kind, dass sie annahm, die Freundlichkeit ihrer Nachbarn würde sich auch auf jede andere Mutter und jedes andere Kind in der Straße erstrecken. Sie hatte keine Ahnung, dass sie in den Herzen ihrer Mitmenschen einen ganz besonderen Platz einnahm.

Im Londoner East End war es fast schon Tradition, den Härten des Lebens mit Humor zu begegnen. »Wenn ich nicht jeden Tag etwas zu lachen habe, kann ich genauso gut gleich sterben«, war ein Spruch, den man häufig zu hören bekam, und Ellie brachte die Menschen immer wieder zum Lachen. Ob sie sich durch ihre engen Kontakte zu den Schauspielern am Theater zur Komödiantin entwickelt hatte oder einfach, um ihre Situation leichter zu ertragen, wusste Polly nicht, aber Ellies schauspielerisches und komödiantisches Talent wurde von allen geschätzt, von ihren Mitschülern wie von den älteren Bewohnern der Alder Street.

Ellie war eine gute Beobachterin. Ob sie im Bus saß oder in einem Laden oder einfach in einem Zimmer voller Menschen, sie hörte aufmerksam zu und speicherte Informationen. Später gab sie die Charaktere, die sie beobachtet hatte, mit bestechender Präzision wieder und benutzte dazu einfachste Requisiten wie ein Kopftuch oder eine Brille.

»Du solltest deine Ellie auf die Bühne lassen«, sagte Edna oft zu Polly, wenn sie ein paar Gläser Gin intus hatte. »Ich könnte mich über das Mädchen einfach totlachen!«

Polly wusste nie so recht, wie sie auf derartige Bemerkungen reagieren sollte. Sie spürte, dass Ellie für die Bühne geschaffen war, und glaubte, dass sie genug Talent besaß, um Erfolg zu haben, aber sie kannte die Tücken eines Künstlerlebens aus eigener Erfahrung. Also antwortete sie meist mit einem Lächeln, das ebenso als Zustimmung wie als Skepsis ausgelegt werden konnte. Nie erwähnte sie, dass Ellies Geburt ihre eigene Bühnenkarriere beendet hatte, oder ließ sich anmerken, wie deprimierend es für sie war, nur noch für die Garderobe der Künstler zu sorgen, nachdem sie früher selbst im Rampenlicht gestanden hatte.

»Bin fertig!«, rief Ellie von der Tür.

Polly drehte sich um und erhaschte einen flüchtigen Blick darauf, wie Ellie einmal aussehen könnte, wenn sie ihren Babyspeck losgeworden war.

In dem Licht, das über Ellies Schultern fiel, erkannte Polly unter dem überschüssigen Fett hohe Backenknochen und ihr eigenes zartes, spitzes Kinn. Ellies Augen waren sensationell, tief und dunkel wie die ihres Vaters. Der breite Mund mit der üppigen Unterlippe würde später einmal für Sinnlichkeit stehen, und ihre kleine Nase war perfekt geformt.

Polly war nicht ganz wohl bei diesem unerwarteten Vorgeschmack darauf, wie Ellie als erwachsene Frau aussehen würde, schon gar nicht am Vorabend der Evakuierung. Schuldgefühle regten sich, als ihr einfiel, dass sie bisher nicht daran gedacht hatte, das heikle Thema Menstruation zur Sprache zu bringen.

»Ein Handtuch brauchst du nicht.« Polly nahm das fadenscheinige graue Tuch, das unter Ellies Arm klemmte, und schämte sich für dieses Symbol ihrer Armut genauso wie für ihr Versäumnis, nicht bemerkt zu haben, dass ihre Tochter erwachsen wurde. »Davon hat Marleen genug. Aber nimm deine Strickjacke mit, falls es kalt ist, wenn wir heimgehen.«

Polly fuhr sich rasch mit der Bürste durchs Haar und malte sich die Lippen an. Sie trug ihr einziges anständiges Kleid. Es war aus blassblauem Krepp und ein Geschenk von Marleen. Würde Ellie am Morgen nicht abreisen, wäre der freie Abend ein seltener Luxus gewesen. So aber war Polly eher nach Weinen als Feiern zumute.

Fast wäre Ellie an dem Wohnblock in der Gray’s Inn Road vorbeimarschiert. Polly hielt sie am Arm fest.

»Das ist es?«, fragte Ellie und starrte die viktorianische Backsteinfassade mit großen Augen an.

Polly, die über den Gesichtsausdruck ihrer Tochter lächeln musste, nickte. Sie hatte seinerzeit elegantere Wohnhäuser gekannt, aber heute sah sie das Gebäude mit Ellies Augen.

Die Treppe war aus weißem Marmor, und ein rot gemusterter Läufer, ähnlich wie der im Odeon, lag auf den Stufen und dämpfte ihre Schritte, als sie in den ersten Stock hinaufgingen. Vielleicht war das Stiegenhaus schon seit Jahren nicht mehr gestrichen worden und vielleicht waren die Bewohner nicht so fein wie die Leute, für die das Haus ursprünglich entworfen worden war, aber verglichen mit der Alder Street 18 war es ein Palast.

»Hallo, ihr Süßen!«, begrüßte sie Marleen, die die Tür in einer Art und Weise aufriss, die ebenso theatralisch war wie ihre Aufmachung. Sie trug einen langen Kimono in leuchtendem Grün und Orange, und ihr tiefrot gefärbtes Haar war zu losen Locken frisiert. »Kommt rein! Cyril ist gerade gegangen.«

Ellie spürte den mahnenden Finger ihrer Mutter an ihren Lippen, bevor sie ihn sah, und lächelte in sich hinein.

Obwohl Ellie jung war, wusste sie weit mehr über die Beziehungen zwischen Erwachsenen, als ihre Mutter ahnte. Einem aufmerksamen und scharfsinnigen Mädchen wie ihr fiel es nicht schwer, sich zusammenzureimen, wie sich Marleen, die inzwischen zu alt zum Tanzen war, so schicke Kleider und eine Wohnung wie diese leisten konnte.

Marleen und Polly waren Freundinnen, seit sie im Alter von siebzehn in dieselbe Tanztruppe eingetreten waren, und wenn sich die beiden Frauen unterhielten, spürte Ellie, dass die Vergangenheit ihrer Mutter fast genauso bewegt wie die ihrer Freundin war. Sie hatte Fotos gesehen, die einen flüchtigen Einblick in diese aufregende Glitzerwelt vermittelten: Revuegirls in paillettenbesetzten Kostümen, mit Federschmuck auf dem Kopf, und die beiden jungen Frauen in kurzen »Flapper«-Kleidern, wie sie in den Zwanzigerjahren modern gewesen waren, an den Armen von Männern in Abendgarderobe, die immer wohlhabend und kultiviert wirkten.

Obwohl weder Polly noch Marleen sich jemals zu diesem Thema äußerten, vermutete Ellie, dass es ihre Geburt gewesen war, die dem schillernden Leben ihrer Mutter ein Ende gesetzt hatte. Wenn Polly einen dieser eleganten Gentlemen geheiratet hätte statt Tom Forester, würden sie jetzt vielleicht in einem der imposanten Häuser leben, die auf jenen Fotos im Hintergrund zu sehen waren.

»Na, was sagt ihr?«, fragte Marleen, als sie die beiden durch den breiten, mit Teppich ausgelegten Flur ins Wohnzimmer führte.

Ellie blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und schnappte vor Bewunderung nach Luft. »Wahnsinn! Ist ja toll, Tante Marleen«, sagte sie. »Wie ein Palast.«

»Der einzige Palast, den ich je gesehen hab, war der auf dem Brighton Pier.« Marleen sah Polly an und kicherte. »Kannst du dich noch erinnern, Poll? Du hast dich bei der Radnummer zu fest an mich geklammert und mit deinen Fingernägeln mein Kostüm eingerissen.«

Normalerweise hätte Ellie bei dieser Art Erinnerung die Ohren gespitzt, aber jetzt war sie einfach nur überwältigt von dem Raum, der vor ihr lag.

Das Zimmer war in hellen Sonnenschein getaucht, obwohl vor den hohen Fenstern dichte Spitzengardinen hingen, die das Licht dämpften. Den Boden bedeckte ein hellblauer Teppich mit verschnörkelten Mustern in dunkleren Farben, der bis zur Sockelleiste reichte. Dann gab es noch eine dreiteilige Sitzgarnitur in Blau- und Grüntönen mit weichen, gemütlichen Kissen, und als wäre das nicht genug, vergoldete elektrische Lampen und einen niedrigen Tisch auf Löwenklauen, der so auf Hochglanz poliert war, dass sich ihr Gesicht beinahe in der Platte spiegelte.

Ellie parodierte Marleen oft. Sie warf sich einen Mantel über die Schulter, als wäre es der Pelz ihrer Tante, und stolzierte auf und ab, wobei sie mit den Wimpern klimperte und betont vornehm sprach, wie es Marleen gern tat. Aber so jung sie war, spürte Ellie, dass sich hinter dem affektierten Auftreten eine andere Marleen verbarg. Sie war genauso großzügig mit ihrem Geld wie mit ihrer Zuneigung, gütig und treu, und wenn sie in ihrem Leben Pech hatte, riss sie Witze darüber, biss die Zähne zusammen und fing wieder von vorn an. Es war typisch für ihre schillernde Persönlichkeit, dass sie Ellie ein feines Kleid aus blauem Samt geschenkt hatte, nicht etwas Praktisches wie Schuhe oder einen Mantel.

Marleen war immer noch glamourös. Ihr Gesicht war schmal, ihre Züge sahen nicht weiter bemerkenswert aus, aber sie schaffte es ohne Zweifel, das Beste aus ihrem Typ zu machen. Ihre Frisur saß immer, ihre Augenbrauen waren dünn gezeichnete Striche, und ihr Teint schimmerte makellos wie der einer Porzellanpuppe. Wie Polly hatte sie sich die Haltung einer Tänzerin bewahrt, gerader Rücken, Kopf hoch, Bauch eingezogen, und sie hielt Ellie ständig dazu an, es genauso zu machen.

Mit wachsendem Staunen erkundete Ellie den Rest der Wohnung. Eine Küche, fast so groß wie ihr gesamter Wohnraum in der Alder Street, mit richtigen Einbauschränken und jenem unerhörten Luxus, den man Kühlschrank nannte. Das Schlafzimmer war ganz in Rosa gehalten, und auf dem breiten Doppelbett lag eine seidene Steppdecke.

»Du hast doch nicht geheiratet, oder?«, fragte Ellie, wobei sie sich Mühe gab, ganz arglos zu klingen.

»Ich und heiraten!« Marleen zog eine schmale Augenbraue hoch. »Sonst noch was! Hab einfach das große Los gezogen.«

Ganz zum Schluss kam das Badezimmer, und Ellie fühlte sich von Neuem überwältigt. Es hatte weiße Kacheln bis zur Decke, und die Wanne war groß genug für zwei. Am Waschbecken lag ein Stück rosa Seife, auf dem Boden eine kuschelige Badematte, und die Toilette hatte einen schimmernden Holzsitz. Ellie konnte sich nur an drei Gelegenheiten erinnern, bei denen sie ein richtiges Bad genommen hatte, und es war jedes Mal in einer von Marleens Wohnungen gewesen. Aber das waren kalte, zugige Badezimmer gewesen, die von anderen Bewohnern mitbenutzt wurden, nicht dieser unerhörte Luxus.

»Willst du jetzt baden?«, fragte Polly und lächelte, als sie sah, wie aufgeregt ihre Tochter war.

»Ja, tu das.« Marleen öffnete einen Spiegelschrank an der Wand und nahm eine Flasche mit rosa Inhalt heraus. »Und als kleines Extra bekommst du was von meinem Schaumbad ab!«

Ellie sah fasziniert zu, wie Marleen ein wenig von der rosa Flüssigkeit in das dampfend heiße Wasser goss. Sofort bildeten sich Schaumblasen, und der ganze Raum duftete nach Rosen.

»Wahnsinn, das ist ja ein Zeug, wie es Filmstars haben!« Ellie, deren dunkle Augen vor Freude strahlten, umarmte ihre Tante stürmisch.

»Kannst ja schon mal üben, eine von denen zu sein.« Marleen lachte und kitzelte Ellie unterm Kinn. »Und jetzt wasch dich gründlich, hörst du, und wenn du raus kommst, will ich sehen, ob du noch die Tanzschritte kannst, die ich dir beigebracht habe. Nur weil du weggehst, hört die Erde schließlich nicht auf, sich zu drehen.«

Ellie fühlte sich wie im siebten Himmel, als sie in dem Schaumbad versank. Ihre Mutter und Marleen würden sich eine Flasche Gin schnappen, bald würde es ein gutes Abendessen geben, und morgen begann dann ihr großes Abenteuer.

Ellie war in ihrem ganzen Leben erst zwei, drei Mal aus London herausgekommen, und das waren nur Ausflüge mit Marleen nach Southend gewesen. Obwohl sie traurig war, weil sie ihre Mutter verlassen musste, wurde der Gedanke an die Trennung von der Aussicht auf neue und aufregende Erlebnisse überlagert. Miss Parfitt, ihre Lehrerin, hatte Ellie versichert, dass es an der neuen Schule Konzerte und Theateraufführungen geben würde, an denen sie teilnehmen konnte.

Es hatte sich zwangsläufig ergeben, dass Ellie zur Bühne wollte. Als Baby hatte sie in einem Weidenkorb für Kostüme geschlafen, und manchmal, wenn es das Stück erforderte, als lebende Requisite gedient. Schauspieler und Schauspielerinnen, Komiker und Tänzerinnen, sie alle waren wie eine zweite Familie für sie geworden, und Ellie hatte ihren Text mitgelernt, indem sie hinter den Kulissen stand, zuschaute und sich Bewegungen und Gesten und das richtige Timing einprägte. Sie spürte instinktiv, welche Darbietungen gut und welche schlecht waren. Aber Ellie wusste, dass sie eigene Erfahrungen als Schauspielerin brauchte, um ihrem Ziel näher zu kommen, und dazu würde sie in der Schule in der Bancroft Road nie Gelegenheit haben.

»Ellie ist ein entzückendes Kind«, sagte Marleen, die eine Zigarette zwischen ihren rot lackierten Fingernägeln hielt, und nahm einen großen Schluck Gin. Sie und Polly saßen am Küchentisch, und eine milde Brise, die durchs offene Fenster hereinwehte, bausch­­te die weißen Spitzengardinen. »Du hast sie echt gut erzogen, Polly, also mach dir keine Sorgen, wie sie mit Fremden zurechtkommt.«

Die beiden Frauen hatten mehr gemein als ihre Karrieren als Tänzerin. Ihre enge Freundschaft, die sich in Höhen und Tiefen, in Freud und Leid gefestigt hatte, hatte 1917 begonnen, als sie zum ersten Mal bei einem Konzert für verwundete Soldaten auftraten. Marleen war die ehrgeizigere gewesen und hatte nach dem Ersten Weltkrieg, als die Menschen nach Spaß und Unterhaltung hungerten, für sie beide Engagements an Land gezogen. Aber es war Polly, die echtes Talent hatte. Sie war nicht nur Tänzerin, sondern auch Sängerin und eine brillante Komödiantin. Sie war es, die mit Marleen trainiert und sie getröstet hatte, als der Durchbruch nicht so schnell wie erhofft kam. Eine hatte sich an der Schulter der anderen ausgeweint, wenn sie unglücklich verliebt waren, und in Zeiten der Not hatten sie einander unterstützt. Obwohl es damals meistens Polly war, die helfend einsprang, hatte Marleen sich mehr als revanchiert, als Ellie zur Welt kam.

»Ich hoffe bloß, dass sie einen guten Platz findet«, sagte Polly sorgenvoll. »Ich träume davon, dass sie bei feinen Leuten unterkommt.«

»Und ich hoffe, dass sie das Schauspielern und Tanzen nicht drangibt und weiter übt«, gab Marleen zurück. »Sie hat dein Talent geerbt, Polly. Sie hat eine tolle Stimme und kann jeden nachmachen.«

»Ich weiß.« Polly lächelte. »Heute Morgen hat sie Tommy Trinder gegeben, und wenn ich nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich mir vor Lachen in die Hosen gemacht.«

»Dieser Scheißkrieg«, brach es plötzlich aus Marleen heraus. Sie wusste, dass Polly ohne ihre Ellie wie ein Stuhl mit drei Beinen sein würde, und es belastete sie, dass sie ihrer Freundin keinen echten Trost bieten konnte. »Er hat noch nicht mal angefangen, und ich hab jetzt schon die Schnauze voll. Cyril hat heute davon geredet, sich freiwillig zu melden. Dabei gehe ich jede Wette ein, dass er sich erfolgreich davor drücken kann!«

Polly schüttelte ungläubig den Kopf. Statt auf die Zwangsrekrutierung zu warten, hatten sich schon viele Männer aus der Unterhaltungsbranche freiwillig gemeldet. Sie hofften, einen ruhigen Posten zu ergattern, und Polly machte sich Sorgen, das Empire könnte wegen des bevorstehenden Kriegs schließen. Wenn ein hohes Tier wie Cyril Henches, dem im East End von kleinen Fabriken bis zu Nachtclubs praktisch alles gehörte, auf einmal pa­tri­otisch wurde, hieß das wohl, dass die ganze Welt den Verstand verloren hatte.

»Und wo bleibst du, wenn er das macht?«, fragte Polly. Marleen war seit einigen Jahren Cyrils Geliebte, und als er Marleen in dieser Wohnung unterbrachte, war Polly überzeugt gewesen, dass er endlich seine Frau verlassen würde.

»In der Rue de Kack.« Marleen grinste. »Kann mir nicht vorstellen, dass er mir jede Woche ein paar Scheinchen zukommen lässt, wenn er Soldat spielt, oder? Selbst wenn ich einen Job bekomme, kann ich mir die Miete hier nicht leisten.«

Polly dachte einen Moment nach, bevor sie sagte: »Wenn’s hart auf hart kommt, könnte ich bei dir einziehen.«

Marleens gezupfte Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe. »Mensch, das ist mal ’ne Kehrtwendung«, sagte sie. »Ich dachte, du hältst nichts von meinem Lebensstil?«

»Tu ich auch nicht«, sagte Polly leise. »Aber wenn Ellie weg ist und Cyril zur Armee geht, stehen wir beide allein da. Ich hab gehört, dass es in den Fabriken bald gutbezahlte Jobs geben soll. Vielleicht tut es uns beiden gut, mal was anderes zu machen.«

Marleen schenkte ihnen nach. In einer Fabrik zu arbeiten, kam ihrer Vorstellung von der Hölle ziemlich nahe, aber sie wusste, dass Polly es gut meinte. »Ist eine Idee«, sagte sie. »Aber warten wir erst mal ab, wie es Ellie auf dem Land ergeht.«

Polly wusste, was Marleen meinte. Marleen konnte und wollte ihre Lebensweise nicht ändern; sie würde sich immer mit Männern umgeben.

Marleen war keine professionelle Prostituierte. Sie verschwendete nur einfach keine Zeit und Energie auf Verehrer, die ihr nichts bieten konnten, und Cyril war der letzte in einer langen Reihe von Männern. Polly machte sich trotzdem Sorgen um ihre Freundin. Sie wurde nicht jünger, sie trank zu viel, und irgendwann würde der Tag kommen, an dem sie gezwungen wäre, für sich selbst zu sorgen.

Polly seufzte. »Ich muss raus aus der Alder Street«, sagte sie und sah sich neidvoll um. »Das Leben dort macht mich fertig. Wilf bekommt Stielaugen, wenn ich in die Küche oder aufs Klo gehe, Edna schnüffelt überall herum, und dazu noch die Mäuse – es ist die Hölle. Neulich hat Edna sogar angefangen, mich über Tom auszufragen.«

»Tja, ich hab dir schon vor Jahren gesagt, dass es blöd war, seinen Namen anzunehmen«, bemerkte Marleen scharf, während sie aufstand und dicke Schinkenscheiben auf drei Teller verteilte. »Hättest dich auch Jones oder Brown nennen und dir ’ne Geschichte ausdenken können, wie er gestorben ist. Ich hab nie verstanden, was du ausgerechnet an Tom gefunden hast.«

»Hast du doch«, gab Polly zurück. »Und du weißt ganz genau, warum. Tom hätte mich bestimmt geheiratet, wenn er gekonnt hätte.«

Als Polly 1926 von einem verheirateten Mann schwanger wurde, war sie lieber weggelaufen, als ihn in einen hässlichen Skandal zu verwickeln. Sie hatte Tom Forester seit ihrer Kindheit gekannt, und er hatte sie immer verehrt. Als sie hörte, dass er zwei Monate vor Ellies Geburt bei einem tragischen Unfall auf den Docks ums Leben gekommen war, schien nichts falsch daran zu sein, seinen Namen anzunehmen. Aber eine Lüge hatte zur nächsten geführt. Sie hatte sogar auf dem Standesamt gelogen, als sie Ellies Geburt meldete und Tom als ihren Ehemann angab.

Nachdem Datum und Ort der angeblichen Heirat auf der Geburtsurkunde ihrer Tochter standen, gab es kein Zurück mehr. Sie hatte eine neue Identität, ein verblasstes Foto von sich und Tom, das in Southend aufgenommen worden war, und ein paar schöne Erinnerungen an den großen, freundlichen Mann, der sie angebetet hatte. Genug, so dachte sie damals, um jedes Gerede im Keim zu ersticken. Die Einzige, die die Wahrheit wusste, war Marleen.

»Du bist ein Trottel, Poll.« Marleen schnitt Tomaten in Scheiben und legte diese auf die Teller. »Du hättest dir wirklich von Du-weißt-schon-wem helfen lassen können.«

Ellie kam in ein Handtuch gewickelt mit tropfnassen Haaren aus dem Badezimmer. Sie hatte vergessen, ihre frische Unterwäsche mit ins Bad zu nehmen, und war sich nicht sicher, wo ihre Mutter die Tasche hingestellt hatte. Als sie sich der offenen Küchentür näherte, hörte sie Marleen sprechen, und blieb instinktiv stehen, weil sie das Gefühl hatte, etwas zu hören, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.

»Wenn ich’s ihm gesagt hätte, hätten andere Leute es auch bald mitbekommen«, hörte Ellie ihre Mutter sagen. »Das konnte ich ihm nicht antun. Ich hab ihn zu sehr geliebt, um mit anzusehen, wie er ruiniert wird.«

Ellie wusste, dass es sich nicht gehörte, an Türen zu lauschen, aber sie konnte einfach nicht anders.

»Er hat dich auch geliebt«, sagte Marleen mit Bestimmtheit. »Und er war stinkreich. Ich an deiner Stelle hätte kräftig abkassiert.«

Dieses merkwürdige Gespräch und dazu der weiche Teppich, den sie unter ihren nackten Zehen spürte, gab Ellie das seltsame Gefühl, plötzlich in eine fremde, wenn auch luxuriöse Welt gestolpert zu sein. Ihre Neugier überwog, und sie schob sich näher an die Tür heran.

»Vielleicht wär ’ne Scheidung für einen normalen Kerl möglich gewesen«, sagte Polly wehmütig. »Aber nicht für einen, vor dessen Namen ›Sir‹ steht.«

»Holst du die Mixed Pickles?« Marleens Stimme war jetzt ganz nah bei der Tür, und Ellie musste den Rückzug antreten. Aber was in aller Welt war es, was ihre Mutter »ihm« nicht erzählen konnte, und warum hatte sie nie erwähnt, dass sie einmal in einen anderen Mann als Tom Forester verliebt gewesen war?

Ellie wachte am nächsten Morgen als Erste auf. Ihre Mutter lag flach auf dem Rücken. Ihr Mund stand offen, und ihr Atem roch nach Gin.

Es war ein schöner Abend gewesen. Nach dem Abendessen und noch ein paar Gläsern Gin waren ihre Tante und ihre Mutter sehr aufgekratzt gewesen und hatten ihr all die Geschichten über die Tanztruppe erzählt, die Ellie so sehr liebte. Sie hatte Marleen nach den zahlreichen Verehrern am Bühnenausgang gefragt, weil sie hoffte, auf diese Weise etwas über einen mysteriösen adligen Bewunderer zu erfahren. Doch obwohl Marleen ihr von einem Metzger erzählte, der ihnen eine Lammkeule schenkte, obwohl sie nicht einmal eine Kochstelle hatten, und von »Dandy Jim«, vor dem sie durchs Fenster fliehen mussten, und von Big Frank, der ihnen in Margate unter dem Schlafzimmerfenster ihrer Pension ein Ständchen brachte, wurde ein »Sir« mit keinem Wort erwähnt.

Ein heftiges Gewitter brach aus, kurz bevor sie Marleen verließen, mit Donner, Blitz und dem schlimmsten Wolkenbruch, den Ellie je erlebt hatte. Sie borgten sich von Marleen einen Schirm, und Ellie musste den Arm fest um die Taille ihrer Mutter legen, als sie zur U-Bahn liefen, weil diese angetrunken und ziemlich unsicher auf den Beinen war. Als sie vor dem Schlafengehen noch einmal auf die Toilette im Hof gingen, sang Polly unaufhörlich The Boy I Love Is up in the Gallery, und Wilf brüllte aus dem Fenster, dass sie gefälligst die Klappe halten solle. Als sie sich ins Bett legten, hätte Ellie ihrer Mutter fast gebeichtet, dass sie gelauscht hatte. Doch Polly schlief in dem Moment ein, als ihr Kopf das Kissen berührte, und die Gelegenheit war vertan.

Endlich war Freitag, der 1. September. Mein letzter Morgen hier, dachte Ellie und schmiegte sich enger an ihre Mutter. Pollys Körper war sehr warm und ein bisschen verschwitzt, aber es war Ellies letzte Chance, mit ihr zu kuscheln.

Ellie wusste, warum Polly am vergangenen Abend so viel getrunken hatte: Die Trennung von ihrem Kind machte ihr zu schaffen. Sie mochte ja ständig davon reden, dass Ellie eine bessere Ausbildung erhalten und gutes Englisch und feine Manieren lernen würde, aber insgeheim brach es ihr das Herz, und Ellie wusste das.

»Woran denkst du, Ellie?«

Überrascht, dass ihre Mutter schon wach war, wandte Ellie den Kopf. Pollys blaue Augen waren rot gerändert, und ihre Haut sah so alt aus wie ihr verwaschenes Nachthemd, aber ihre Stimme klang sanft, und es war nicht zu überhören, dass sie sich an die letzten kostbaren Momente mit ihrem Kind klammerte.

»Ob du wohl auch genug isst, wenn ich nicht hier bin«, flüsterte Ellie. Schließlich konnte sie schlecht über ihre Befürchtung sprechen, dass ihre Mutter vielleicht zu trinken anfing, wie so viele Theaterleute. Oder zugeben, dass ihr vor Aufregung ganz flau war. »Das wirst du doch, ja?«

Polly sah in Ellies sorgenvolles Gesicht, und ihr Herz schien zu zerspringen. »Ja, natürlich«, sagte sie mit fester Stimme. »Und jetzt mach dir mal keine Sorgen um mich, Zuckerschnute. Sei einfach ein braves Mädchen, und mach das Beste aus deinem neuen Leben.«

Ellie stieg ein Kloß in die Kehle. Den Kosenamen »Zucker­schnu­te« hatte sie als kleines Mädchen gehabt, und ihn zu hören, weckte die verschiedensten Erinnerungen: Wie sie bei ihrer Mutter auf dem Knie saß, in einer Zinkwanne gebadet oder halb im Schlaf durch dunkle Straßen nach Hause getragen wurde. Der Name bedeutete so viel wie Liebe, dieses Wort, das nie wirklich ausgesprochen wurde, das sie jetzt aber spürte, süß und warm.

»Wir sind nie auch nur für eine Nacht voneinander getrennt gewesen«, flüsterte sie und kuschelte sich in die Arme ihrer Mutter. »Ich hab noch nie ohne dich im Bett gelegen.«

»Gehört alles zum Erwachsenwerden, meine Kleine«, flüsterte Polly zurück. »Und es ist ja nicht für lange.«

Als sie die Kreuzung Alder Street und Whitechapel High Street erreichten, wogte bereits ein Meer von Müttern und Kindern in Richtung Schule. Nur wenige hatten wie Ellie einen richtigen Koffer aus echtem Leder, der laut Polly einmal Teil einer eleganten Garnitur gewesen war. Die meisten Kinder schleppten Einkaufs­taschen aus Ölzeug, Kissenbezüge oder Jutesäcke, und jedes von ihnen trug ein großes braunes Namensschild an die Brust geheftet und über der Schulter einen Karton mit einer Gasmaske darin.

Frauen schoben Kinderwagen, in denen sich bis zu drei kleine Kinder drängten, während sich die größeren an den Griff klammerten. Männer waren kaum zu sehen, und wenn, dann waren sie alt genug, um Großväter zu sein. Einige Kinder schienen von ganzen Familien begleitet zu werden, erwachsenen Brüdern und Schwestern, Tanten und Großmüttern. Viele Kinder sahen bestürzend verwahrlost aus.

Ellie sah von oben herab auf ein Mädchen, das ein, zwei Jahre jünger als sie war. Ihr Kleid war schmutzig und zerrissen, und beim Gehen klappte ihre Schuhsohle vorn auf. Ellie war sehr stolz auf ihr neues blau kariertes Kleid und die dazu passenden Schleifen, die ihre Zöpfe schmückten.

»Guck nicht so«, wisperte Polly und schüttelte Ellie am Arm. »Sie hat einfach nicht so viel Glück wie du, das ist alles.«

Ellie war sofort beschämt. Sie war wirklich gut dran. Sie mochte pummelig und unscheinbar sein, aber sie hatte die hübscheste und netteste Mutter von allen, und sie war auf dem Weg ins große Abenteuer.

»Wie lange noch, Mum?« Ellie sah Polly flehend an. Nach dem Gewitter der letzten Nacht hatte es sich abgekühlt, aber vom langen Stehen taten ihr die Beine weh. Die Atmosphäre auf dem Schulhof war angespannt, fast verzweifelt. Einige Kinder hatten ihre Habseligkeiten fallen lassen und tobten herum, während sich andere an ihre Mütter klammerten und weinten. Sie warteten jetzt seit über zwei Stunden.

»Nicht mehr lang.« Polly lächelte und legte einen Arm um Ellies Schultern. »Miss Parfitt sagt, dass du wahrscheinlich nach Suffolk kommst. Ich bin früher dort aufgetreten, und es ist wirklich schön.«

Miss Parfitt, Ellies Lehrerin, eilte mit ihrer Namensliste in der Hand hektisch hin und her. Sie war eine große Frau mit strengen Zügen, die ihre Schüler normalerweise mit eiserner Hand lenkte, aber heute schien sie um ihre Fassung zu ringen.

»In Zweierreihen aufstellen«, rief sie und blies in ihre Trillerpfeife. »Verabschiedet euch jetzt bitte von euren Müttern! Es geht los!«

Hier auf dem Schulhof wollte Ellie nicht als Heulsuse dastehen und in Tränen ausbrechen, aber sie fühlte sich trotzdem hundeelend, als sie ihre Mutter ein letztes Mal stürmisch umarmte. Tief atmete sie den Geruch ihrer Mutter ein, diese Mischung aus Puder und Seife, und versuchte, sich diesen Duft einzuprägen. Noch nie hatte sich die Haut ihrer Mutter so weich angefühlt, ihre Umarmung so tröstlich. Obwohl sie dagegen ankämpfte, lief ihr eine Träne über die Wange.

»Mach’s gut, Zuckerschnute«, flüsterte Polly, die selbst kaum die Tränen unterdrücken konnte. »Sei schön brav, und schreib mir bald, ja? Ich hab dich lieb!«

Die Zugfahrt schien kein Ende zu nehmen. Doris Smithers hatte eine ganze Packung Lakritze verdrückt und sich anschließend übergeben. Reggie Blythe steckte immer wieder den Kopf zum Fenster hinaus und hatte das Gesicht voller Rußflecken. Carol Miller weinte seit der Abfahrt unaufhörlich.

Die belegten Brote waren verzehrt, der Boden war mit Bonbonpapier und den Kerngehäusen von Äpfeln übersät, und es roch, als hätte sich jemand in die Hosen gemacht.

Ellie war froh, dass sie einen Fensterplatz erwischt hatte, weit weg von Doris und dem süßlichen Geruch von Erbrochenem. Zuerst war es aufregend gewesen, Weizenfelder zu sehen, die gerade abgeerntet wurden, und Schafe und Kühe auf der Weide. Sie hatte malerische Häuschen bestaunt und kleine Bäche, die sich durch grüne Wiesen zogen, und dann die ungewohnte Erfahrung gemacht, kilometerweit zu fahren, ohne ein einziges Gebäude zu sehen. Aber jetzt sah sie nur das Gesicht ihrer Mutter vor sich, malte sich aus, wie diese schon bald zur Abendvorstellung aufbrach, und wünschte sich, sie könnte aus dem Zug springen und heimlaufen.

»Noch fünf Minuten!« Miss Parfitt schob die Tür des Abteils auf und zwang ein gekünsteltes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie war seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen und konnte es kaum noch erwarten, die Verantwortung abzugeben. »Sammelt eure Sachen zusammen und wartet, bis der Zug stehen bleibt. Und auf dem Bahnsteig stellt ihr euch alle ganz still in Reih und Glied auf.«

Ellie nahm die kleine Rose James an der Hand und betrachtete die Scharen von Kindern, die sich vor ihr auf der Bahnhofstreppe drängten.

»Hör auf zu weinen«, ermahnte sie das Mädchen. »Wenn deine Nase läuft, nimmt dich keiner. Ich pass schon auf dich auf.«

Miss Parfitt erklärte, dass der Ort Bury St. Edmunds hieß, was Ellie nichts sagte. Sie wusste nur, dass er im Herzen von Suffolk lag. Ungefähr vierhundert Kinder waren ausgestiegen, aber noch mehr blieben im Zug und fuhren weiter.

Rose lächelte gequält und wischte sich die Nase an ihrem Jackenärmel ab, auf dem eine dünne feuchte Spur wie Schneckenschleim zurückblieb.

Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz teilten Miss Parfitt und die anderen Helferinnen, zu denen sich einheimische Frauen gesellten, die Kinder in kleine Gruppen ein. Einige dieser Gruppen wurden zu Bussen und auch zu ein paar Lastwagen geführt, die in der Nähe standen, doch die Kinder aus der Bancroft Road wurden vom Bahnhof in Richtung Stadt gelotst.

»Ich will zu meiner Ma«, blökte Rose – wahrscheinlich erinnerte sie die Gruppe Frauen, die auf die Kinder aus London warteten, an daheim – und zupfte an Ellies Hand. »Hier gefällt’s mir nicht.«

Die Schlange kam zum Stehen, und Ellie umarmte die Kleine kurz.

Rose war erst fünf, ein schmächtiges blondes Kind, das schielte und immer noch die verräterischen Flecken von Windpocken trug. Aber in ihrem blau bedruckten Kleid und den glänzenden neuen Sandalen war sie besser gekleidet als die meisten anderen Kinder.

»Hör mal, Rosie«, sagte Ellie eindringlich. »Du musst fröhlich sein, sonst nimmt dich keiner. Du bist klein und niedlich, und so jemand wie dich wollen all die Damen bestimmt gern haben. So, und jetzt sei ein bisschen vergnügt. Deine Mum kommt dich bestimmt besuchen.«

Noch während Ellie erklärte, worauf Pflegeeltern vermutlich Wert legten, wurde ihr klar, dass Rose tatsächlich alles andere als eine ideale Kandidatin war. Sie nahm ihr eigenes unbenutztes Taschentuch, spuckte darauf und rieb energisch Roses Gesicht sauber.

»Hallo, Glückspilze«, ahmte sie den beliebten Komiker Tommy Trinder und seine Standardbegrüßung nach. »Hier hätten wir ein hübsches, kleines Mädchen für eine Dame mit sehr, sehr viel Glück. Und was für ’n bezauberndes Lächeln sie hat!«

Rose kicherte. Ein Auge auf Ellie, das andere in die Ferne gerichtet, sah sie nicht unbedingt hübsch aus, aber sie war wenigstens sauber.

Eine kräftig gebaute Frau mit einem hellbraunen Filzhut auf dem Kopf führte den Zug über die Straße, indem sie beide Arme hob, um den nicht existenten Verkehr zu stoppen. Rechts von ihnen ragte hinter einer Zeile schmaler Reihenhäuser, die ganz ähnlich wie die Häuser daheim aussahen, ein riesiger Gasometer auf. Sie gingen daran vorbei und weiter den Hügel hinauf in eine freundliche Stadt.

Viele Frauen standen in Grüppchen vor den Türschwellen und sahen zu, wie die Kinder vorbeizogen. Es war entmutigend, wie Vieh auf dem Weg zum Markt begutachtet zu werden, und noch unangenehmer war es, die abfälligen Bemerkungen zu hören.

»Komischer Vogel«, sagte eine alte Frau laut und zeigte auf Michael Bendick, der einen orthopädischen Stiefel trug.

Allmählich hörten alle Kinder auf zu reden, um zu hören, was über sie gesagt wurde – wie dünn oder blass sie waren, und wie schäbig ihre Kleidung aussah, dass große Jungs »’nen Haufen Ärger machen« und Bemerkungen wie »Guck dir mal die Rothaarige an!«.

Als Ellie an zwei Frauen in mittleren Jahren vorbeiging, die sich aus einem offenen Fenster lehnten, trafen sie die Worte der einen wie ein Wespenstich.

»Die Dicke da würd ich nicht nehmen. Kostet ja ein Vermögen, die durchzufüttern. Und sie hat so was Verschlagenes im Blick.«

Ellie nannte sich selbst oft »dick« oder sogar »gigantisch«, wenn sie einen Lacher erzielen wollte. Aber bis heute war ihr das Wort »dick« nur im Rahmen gutmütiger Sticheleien zugeworfen worden, so wie sie selbst andere Kinder »Rotznase« oder »Segelohr« nannte. Jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst, wie viel größer und fülliger sie war als all die anderen Mädchen, und obwohl sie sich bemühte, Marleens Rat zu befolgen und mit hocherhobenem Kopf und eingezogenem Bauch zu gehen, fühlte sie sich wie eine hässliche, fette Schnecke.

Wenn Ellie nicht so sehr gelitten hätte, hätte das geschäftige Leben und Treiben in der Stadt sie vielleicht aufgemuntert. Schmale, gepflasterte Straßen und adrette, kleine Häuser fügten sich zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Auch die Läden waren für sie etwas Neues, denn so etwas gab es daheim nicht: Hufschmiede und Sattler inmitten von Teestuben, Putzmachern und Modesalons. Obwohl viele Häuser uralt schienen, war alles peinlich sauber. Weiß gescheuerte Steintreppen, blitzblanke Fenster und bunt gestreifte Markisen wetteiferten mit Fensterkästen voller Blumen.

Die Kinder wurden zum Corn Exchange gebracht, wo an sämtlichen Säulen Luftballons hingen. Obwohl das majestätische alte Gebäude dadurch freundlicher wirkte, waren die Augen der Frauen, die vor dem Eingang warteten, kalt und abweisend.

Als sie erst einmal in der Halle waren und den langen Tisch mit Kuchen und belegten Broten entdeckten, vergaßen die meisten Kinder, warum sie hier waren. Sie brachen aus der Zweierreihe aus und stürmten mit hungrigen Augen und ausgestreckten Händen los. Ellie wagte nicht, es ihnen nachzumachen, obwohl ihr vor Hunger der Magen knurrte. Sie ließ Rose los, wich ein Stück zurück, als die Damen der Stadt näher kamen, und hielt ihren »verschlagenen« Blick gesenkt.

Daheim in Stepney sahen verheiratete Frauen über fünfundzwanzig durchweg armselig und mitgenommen aus: Schlechte Zähne, eine schlechte Haltung und ein Körper, der von vielen Schwangerschaften gezeichnet war, ließen sie älter erscheinen, als sie waren. Polly Forester mit ihren lebhaften Farben, dem ebenmäßigen Teint und den guten Zähnen war tatsächlich so etwas wie eine Ausnahmeerscheinung. Die Scharen von Frauen, die jetzt in die Halle drängten, um die Kinder zu begutachten, waren völlig anders. Obwohl es sich unverkennbar um drei verschiedene Gruppen handelte, war ihnen allen ein gesundes, robustes Aussehen gemeinsam. Aber als Ellie hinter gesenkten Wimpern verstohlen zu ihnen spähte, fiel ihr keine auf, die ihr auf Anhieb sympathisch gewesen wäre.

Die »feinen Damen« mit den schicken Hüten und Kostümen durften als Erste wählen. Einige von ihnen waren jung und hübsch, die meisten aber in mittleren Jahren. Ellie entgingen weder ihr affektierter Tonfall noch das aufgesetzte Lächeln, aber sie hoffte trotzdem, bei einer von ihnen zu landen, weil es das war, was sich ihre Mutter wünschte.

Die Frauen der nächsten Gruppe sahen sich die Kinder genauer an, vermutlich um einzuschätzen, wer ihnen am wenigsten Ärger machen würde. Diese Frauen waren adrett gekleidet, viele in Sommerkleidern, und ihre molligen Arme waren von der Sonne gebräunt. Wahrscheinlich wohnten sie in den kleinen Häusern, an denen Ellie und die anderen Kinder auf dem Weg vom Bahnhof vorbeigekommen waren.

Die letzte Gruppe stand ein wenig abseits von den anderen, und die Frauen sahen eigenartig aus. Alle waren schäbig gekleidet, manche in Hosen und Männerstiefeln, und viele nachlässig frisiert. Sie hatten wettergegerbte Gesichter, als wären sie von einem Bauernhof außerhalb der Stadt angereist. In dieser Gruppe fanden sich auch alte Damen mit krummen Rücken und weißen Haaren, die Kleider aus dem letzten Jahrhundert trugen.

Männer gab es auch, doch sie machten höchstens ein Zehntel der Wartenden aus. Ein, zwei Farmer in Norfolk-­Jacketts und Gamaschen, einige, die nach Schulmeistern aussahen, und andere, wahrscheinlich Ladenbesitzer, in Anzug und Krawatte.

Ellie nahm alles in sich auf, die geheuchelte Freundlichkeit der feinen Damen, die nervöse Anspannung der Organisatoren und die scharfen Augen der seltsamen Bauersfrauen, die aussahen, als würden sie Pferde begutachten.

Eine Frau in einem schicken grünen Kostüm suchte sich Muriel Francis aus, ein kleines Püppchen mit Lockenkopf. Ein Mann im Tweedanzug und seine mollige Ehefrau entschieden sich für Billie und Michael Green. Eine der seltsamen Frauen in Männerstiefeln nahm die drei Coombes-Jungen und grinste bloß unbekümmert, als Ed ihr mitteilte, dass sich sein jüngster Bruder in die Hosen gemacht hatte.

Aber schon bald war klar, dass etliche der anwesenden Frauen nicht die Absicht hatten, irgendein Kind aufzunehmen.

Rose ging schließlich mit einer Frau mit grünem Filzhut weg, ohne sich auch nur noch einmal nach Ellie umzudrehen, und auch Doris wurde trotz der Flecken von Erbrochenem auf ihrem Kleid mitgenommen. Eine Stunde war seit ihrer Ankunft in der Halle vergangen, und ein Kind nach dem anderen fand einen Platz, doch Ellie wartete immer noch.

Es waren nur noch ungefähr zwanzig Kinder übrig. Ellie fand sich zwischen Phillip Hargreaves, dessen Knie und Hände mit schuppigem Schorf bedeckt waren, den rothaarigen Zwillingen aus der Alder Street und Alfie Smith wieder, der sich eindeutig in die Hosen gemacht hatte.

Ellie war ein ganzes Stück größer als jeder dieser Jungen, und sie fühlte sich wie eine Riesin. Sie, die es fertigbrachte, auf einen Tisch zu springen und einen improvisierten Stepptanz vorzuführen, verlor völlig die Nerven. Noch schlimmer wurde es, als sie hörte, wie Miss Parfitt jemanden bat, sie doch zu nehmen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr bewusst, was Zurückweisung wirklich bedeutete.

»Kann sie nähen?« Eine knarrende Stimme ertönte aus der kleinen Schar von Frauen, die offensichtlich das Interesse verloren hatten und den verbliebenen Kindern bereits den Rücken zuwandten.

»Oh ja!«, rief Miss Parfitt mit unnatürlich hoher Stimme. »Helena ist sehr geschickt mit der Nadel.«

Ellie spähte durch ihre Wimpern. Eine Frau bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie war groß und sehr dünn und trug ein streng geschnittenes dünnes Kleid und einen Glockenhut, und Ellie wusste auf den ersten Blick, dass sie eine Hexe war.

Das lag nicht nur an ihrer dicken Brille oder ihrer langen Nase oder dem schmalen, verkniffenen Mund, sondern vor allem an der Art, wie die mütterlicher wirkenden Frauen zurückwichen, um diese Gestalt durchzulassen, fast als hätten sie Angst vor ihr.

»Miss Gilbert«, stellte sich die Frau vor und streckte eine lange, schlaffe Hand aus. »Mein Bruder ist Leichenbestatter, aber wir nehmen das Mädchen, wenn Sie sich für ihre guten Manieren verbürgen können. Lärmende Kinder sind in unserer Branche fehl am Platz.«

Ellie schluckte. Ein Leichenbestatter? Über derartige Leute hatte sie Dutzende Sketche auf der Bühne gesehen, und obwohl es immer gute Lachnummern waren, fand sie sie eher gruselig. Miss Parfitt würde sie doch nicht mit dieser Frau gehen lassen?

Aber Miss Parfitt trat lächelnd zu Ellie und schob sie ein Stück vor. »Helena oder Ellie, wie sie alle nennen, ist ein ausgesprochen braves und ruhiges Mädchen«, behauptete sie unverfroren. Anscheinend war sie froh, noch ein Kind loszuwerden. »Sie weiß in jeder Situation, wie man sich zu benehmen hat. Ich bin überzeugt, Sie werden sich bestens mit ihr vertragen.«

»Bitte, Miss, schicken Sie mich nicht zu ihr!« Ellie klammerte sich an Miss Parfitts Arm. »Sie gefällt mir nicht.«

»Also wirklich, Ellie!« Miss Parfitt packte sie an beiden Armen und schüttelte sie. »Sei nicht albern. Was würde deine Mutter zu einem so undankbaren Benehmen sagen?«

»Sie würde nicht wollen, dass ich bei Leichenbestattern bin.« Ellies Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, Miss, ich will zu jemand anders!«

»Andere gibt es nicht«, fuhr Miss Parfitt sie an. »Wenn es nicht funktioniert, kannst du dich an die Dame wenden, die für die Quartierverteilung zuständig ist. Und wenn dir deine Mutter nicht solche Flausen in den Kopf gesetzt hätte, würdest du dich vielleicht freuen, in ein sauberes, anständiges Haus zu kommen, statt hier herumzuheulen.«

Miss Gilbert sprach ein, zwei Augenblicke mit der Frau mit dem hellbraunen Filzhut, und Ellie überkreuzte ihre Finger und hoffte auf Rettung in letzter Minute. Aber zu ihrem Entsetzen kam Miss Gilbert zu ihr zurück und stieß sie an.

»Komm schon, Mädchen«, sagte sie barsch. »Zu Hause stehen schon die Kartoffeln auf dem Herd, und ich muss noch eine für dich dazugeben.«

KAPITEL 2

Miss Gilberts knochige Finger bohrten sich in Ellies Arm, als sie eine enge Gasse mit kleinen Geschäftslokalen betraten. Ellie sank das Herz in die Kniekehlen, als sie ihren Bestimmungsort sah.

Es war nicht eines der hübschen, kleinen Häuser, von denen es in Bury St. Edmunds so viele gab, sondern ein nüchternes, fast abweisendes Gebäude, das von einem großen Schaufenster beherrscht wurde. Die Auslage war mit lila Satin drapiert, zwei Marmorengel hielten links und rechts eines großen Ebenholzkreuzes Wache, und auf der Glasscheibe stand in dicken schwarzen Lettern »Amos Gilbert, Leichenbestatter«.

Unterwegs hatte Ellie einiges entdeckt, was ihr an dieser geschäftigen Kleinstadt gefiel: gewundene Gässchen, uralte Hütten und Häuser aus jeder Epoche, vornehme georgianische Gebäude und genauso viele Geschäfte wie in Whitechapel. Obwohl Miss Gilberts Schweigen beunruhigend war, blitzte Ellies natürlicher Optimismus wieder auf.

Aber als sie jetzt vor diesem deprimierenden Haus stand, verließ sie der letzte Rest Mut.

»Heute darfst du hier vorn reingehen«, verkündete Miss Gilbert in einem Ton, als wäre das ein besonderes Privileg. »Aber in Zukunft nimmst du die Hintertür.«

Miss Gilberts Stimme war genauso wenig ansprechend wie das Haus. Sie klang hart und schrill wie das Krächzen von Möwen, und Ellie bekam eine Gänsehaut.

Eine Glocke bimmelte, als Miss Gilbert die Tür öffnete. Sie hob eine Hand und hielt den Klöppel fest. »Mach schon, Kind«, herrschte sie Ellie an. »Steh nicht mit offenem Mund da!«

Es war schwer, nicht den Mund aufzusperren. Der Raum wirkte ernst und feierlich, fast wie eine Kirche. Der Boden war schwarz-weiß gekachelt, und in der Mitte stand ein schwerer, dunkler, auf Hochglanz polierter Schreibtisch, auf dem sich lediglich ein Wachsblumenstrauß und eine Schreibunterlage aus Leder befanden. Über der Holzvertäfelung, die ihr ungefähr bis zur Taille reichte, waren die Wände in einem glänzenden Dunkelgrün gestrichen, und an einer Wand hing ein dezentes Schild, auf dem in goldenen Lettern »Private Aufbahrungskapelle« stand.

»Sind da die Leichen drin?«

Ellie platzte ohne zu überlegen mit der Frage heraus. Miss Gilbert fuhr zu ihr herum und schwenkte drohend einen langen, hageren Finger. »Wir verwenden nie das Wort Leichen«, krächzte sie. »Du musst stets daran denken, den Toten den höchsten Respekt zu zollen, und du wirst nie, ich wiederhole, niemalseinen der unteren Räume betreten.«

Ellie verspürte nicht den geringsten Wunsch, sich hier unten näher umzuschauen, und wenn Miss Gilbert sie nicht hastig durch eine weitere mit einer Spitzengardine verhängte Tür geschubst hätte, wäre sie auf und davon gelaufen. Der Gang, in dem sie sich wiederfand, war düster und eng, hatte zu beiden Seiten mehrere geschlossene Türen und roch eigenartig, was ihre Angst noch verstärkte. Aber Miss Gilbert stieß sie unerbittlich durch eine der Türen in eine kleine Diele.

»Setz dich da hin«, befahl Miss Gilbert, zeigte auf eine Holzbank, die entfernt an Kirchengestühl erinnerte, und verschwand gleich darauf in einem Raum. Vermutlich die Küche, wie Ellie annahm.

Gegenüber der Bank, auf der Ellie saß, befand sich die Treppe. Irgendwo weiter oben fiel gedämpftes Tageslicht durch ein Fenster, gerade genug, um zu erkennen, dass die Tapete bräunlich rosa und der schmale Teppichstreifen auf den Stufen schlammbraun war und von blank polierten Messingstangen gehalten wurde. Das Geländer und die Stufen selbst waren genau wie sämtliche Türen in einem tristen Rostrot lackiert. Doch obwohl die Farbe offensichtlich seit vielen Jahren nicht erneuert worden war, sahen die Flächen makellos aus. Nicht eine einzige Schramme, nicht ein Fleck waren zu erkennen. An der Wand hingen an langen Ketten zwei große Sepia-Fotografien. Auf einem war ein Leichenwagen zu sehen, der von Rappen mit schwarzem Federschmuck gezogen wurde. Neben dem Wagen stand ein bärtiger Mann mit Zylinder, der auf dem anderen Bild zusammen mit seiner Braut vor einer Kirche abgebildet war.

»Mein Bruder hat im Moment zu tun«, sagte Miss Gilbert, als sie zurückkam. Sie hatte die kleine Tasche, die sie vorher getragen hatte, abgelegt und eine weiße Schürze über ihr Kleid gebunden. Dass sie jetzt ohne Hut war, veränderte ihr Aussehen nur unwesentlich. Ihr Haar war hell und schütter und im Nacken zu einem geflochtenen Dutt festgesteckt. Ellie schätzte sie auf ungefähr vierzig, denn obwohl ihre nüchterne Kleidung und strenge Art sie älter wirken ließen, war ihr Gesicht faltenfrei. »Komm mit, du solltest dich vor dem Abendessen noch waschen.«

Miss Gilbert führte Ellie ans Ende eines dunklen Treppenabsatzes. »Das ist dein Zimmer. Ich erwarte, dass es zu jeder Zeit sauber und ordentlich ist, und auf dem Bett sitzen oder liegen gibt es nicht.«

Wenn jemand anders diese Bemerkung gemacht hätte, hätte Ellie gelacht und gefragt, wie sie dann darin schlafen sollte. Aber ihr war klar, dass diese Frau für Witze nichts übrighatte.

In dem Zimmer gab es nichts außer einem schmalen Bett mit einer Überdecke, einer kleinen Kommode auf hohen gedrechselten Füßen und einem Stuhl. Ellie stellte ihren Koffer am Fenster ab und schaute hinaus. Rechts vom Haus befand sich ein kleiner Holzverschlag, wo vermutlich bei schlechtem Wetter Grabsteine bearbeitet wurden. An einer der Innenwände konnte Ellie Meißel und Hämmer an Ledergurten und auf einer Werkbank einen halb fertiggestellten Stein erkennen. Rund um den Verschlag standen, von Unkraut überwuchert, als würden sie schon jahrelang dort stehen, Dutzende von Marmorsteinen, Monumenten und Urnen.

Auf der linken Seite war der Hinterhof gepflastert. Durch ein schwarzes Schmiedeeisentor ging es auf die Seitenstraße, und gleich neben dem Tor befand sich ein großes Gebäude, das wie ein Stall aussah. Hinter den Häuserzeilen waren Baumwipfel zu sehen.

»Haben Sie Pferde?«, fragte Ellie. Sie hatte immer gern Dolly, das Pferd des Lumpensammlers, besucht, um ihm eine Karotte oder einen Apfel zu geben, und die Aussicht, eines dieser Tiere in der Nähe zu haben, war tröstlich.

»Nein«, sagte Miss Gilbert kurz. »Wir haben ein Automobil. Der alte Stall ist die Werkstatt meines Bruders.«

Ellie lief es kalt über den Rücken. Wurden dort die Leichen aufbewahrt?

»Das Badezimmer ist gleich nebenan«, fuhr Miss Gilbert fort. Schon waren ihre schmalen Lippen wieder fest zusammengepresst. »Heute Abend wirst du ein Bad nehmen, aber in Zukunft geschieht das nur mit meiner Erlaubnis. Ich erwarte, dass du jeden Morgen rechtzeitig unten bist, und zwar gewaschen und angezogen. Ich werde nicht erlauben, dass du vor dem Schlafengehen in dieses Zimmer zurückgehst. Tagsüber wirst du das Außenklo benutzen. Die Tagesdecke wird jeden Abend abgenommen und sorgsam zusammengelegt, dein Bett jeden Morgen vor dem Frühstück ordentlich gemacht. Jetzt lass mich deine Sachen anschauen.«

Ellie hatte keine Ahnung, wonach Miss Gilbert suchte, als sie beobachtete, wie die Frau ihre Haarbänder, eine rosa gestreifte Bluse, das blaue Samtkleid und einen bunten Strickpullover beiseitelegte.

»Deine Mutter?« Miss Gilbert, die ein Foto von Polly entdeckt hatte, schürzte die Lippen.

»Ja.« Aus Angst, die Frau würde es ihr wegnehmen, schnappte sich Ellie das Bild und hielt es fest.

»Lass es hier oben.« Die Frau begutachtete Ellies Unterwäsche und Nachthemden, als rechnete sie mit unerfreulichen Entdeckungen. »Diese Sachen kannst du behalten und anziehen«, sagte sie und zeigte auf das graue Schürzenkleid, die Strickjacke und die weißen Blusen. »Die anderen Sachen sind für hier völlig ungeeignet. Ich werde sie verwahren, bis du wieder nach Hause fährst.«

»Aber das Samtkleid hat mir Tante Marleen gekauft!«, rief Ellie erschrocken und legte eine Hand auf den Arm der Frau. »Für sonntags, hat sie gesagt, oder für Partys.«

»Partys?« Miss Gilberts wasserblaue Augen starrten Ellie durch die Brillengläser an. Sie war dermaßen schockiert, dass sich ihr Mund weit genug öffnete, um gelbliche Zähne sehen zu lassen. »Partys gibt es bei uns nicht.«

Ellie kam schnell dahinter, dass Lachen, munteres Geplauder, ja sogar Freundlichkeit bei Miss Gilbert genauso verpönt waren wie Partys. Als Miss Gilbert zu ihr ins Zimmer zurückkam und Ellie dabei ertappte, wie sie auf dem Bett saß, setzte es einen festen Klaps aufs Bein. Später, als Ellie aufgefordert wurde, ihre Hände vorzuzeigen, brachte ihr ein Schmutzrand unter den Fingernägeln einen Vortrag über die Schädlichkeit mangelnder Hygiene und das Verbreiten von Krankheiten ein. Als ihr aufgetragen wurde, den Tisch zum Abendessen zu decken, schlug ihr Miss Gilbert zweimal mit einem Messer auf die Fingerknöchel, weil sie ein Messer und eine Gabel verkehrt hingelegt hatte.