Camp Honor, Band 2 - Der Auftrag - Scott McEwen - E-Book

Camp Honor, Band 2 - Der Auftrag E-Book

Scott McEwen

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Beschreibung

In diesem Camp wirst du zum Helden! Als ein selbstfahrender Lkw in eine Menschenmenge rast, herrscht im Camp Honor Alarmstufe Rot. Der Täter: ein Gamer, der den Lkw ferngesteuert hat – ohne es zu wissen! Was er für ein harmloses Computerspiel hielt, wurde zur tödlichen Realität. Ein Cyberterrorist namens Encyte bekennt sich zu dem mörderischen Hack und droht mit weiteren Anschlägen. Nun liegt es an Wyatt und seinen Freunden, Encyte zu stoppen! Explosive Action ab 14 vom Co-Autor des SPIEGEL-Bestsellers "American Sniper" Eine abgelegene Insel. Ein geheimes Trainingslager der US-Regierung. Und eine Gruppe von Jugendlichen, die zu den besten Geheimagenten der Welt ausgebildet werden soll. Willkommen im CAMP HONOR! *** Explosive Action, heldenhafte Missionen und ein Team, das füreinander durchs Feuer gehen würde – Band 1 der Action-Reihe für Leser*innen ab 14! *** Weitere Action-Thriller von Ravensburger: Deep Sleep Band 1: Codename: White Knight Band 2: Auftrag: The Whisperer Band 3: Mission: Good Mother Last Line of Defense Band 1: Der Angriff Band 2: Die Bedrohung Band 3: Der Crash Alex Rider Band 1: Stormbreaker Band 2: Gemini-Project Band 3: Skeleton Key Camp Honor Band 1: Die Mission Band 2: Der Auftrag

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Seitenzahl: 485

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2020 Ravensburger VerlagDie Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Trigger Mechanism« bei St. Martin’s Press.Copyright © 2020 by Scott McEwen and Tod H. WilliamsPublished by arrangement with St. Martin’s Press. All rights reserved.Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von Mitrofan, prometeus, dgmata, mppriv und Denniro (alle Depositphotos)Grafik im Innenteil: Jag_cz (Adobe Stock)Übersetzung: Christian DrellerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47995-5www.ravensburger.de

Dieses Buch ist der nächsten Generation von Patrioten gewidmet. Möget ihr immer euer eigenes Camp Honor haben, das euch aufs Leben vorbereitet.

Kapitel 1

Jalen schmiss die Spielkonsole an, schnappte sich den Controller von der Kommode und setzte das VR-Headset auf. Er starrte auf den riesigen Flat-Screen. Das Spiegelbild eines dürren, ein wenig in sich gekehrten afroamerikanischen Teenagers starrte zurück. Jalen kam sich wie losgelöst von dem Bild vor, das sich auf der glatten Fläche reflektierte. So als wäre in seinen eigenen Augen etwas zu lesen wie: »Was? Mehr haste nicht drauf?«

Er wandte den Blick ab.

Von der Konsole aus startete Jalen Twitch – eine Freeware, über die er sein Gamer-Leben per Livestream übertrug. Er checkte den Sound, um sicherzugehen, dass die winzige Webcam auf dem TV ihn richtig aufnahm. Jetzt sah er einen anderen Jalen auf dem Bett sitzen: einen großen, selbstbewussten und – obwohl er sich nicht so für Sport interessierte – athletischen Jalen.

»Eine verdammte Vergeudung meiner guten Gene!« Das hatte sein Dad mehr als einmal gesagt. Dabei war es Ronnie Rose, Jalens Vater, gewesen, der ihm seine erste Spielkonsole gekauft hatte. Und manchmal, wenn er mit seinem Vater abhing und die peinliche Stille nicht mehr zu ertragen war, hockte sich Jalen auf den Wohnzimmerboden und spielte Videospiele – während sein Dad sich hinter ihm auf der Couch fläzte und redete, als wäre Jalen gar nicht da. So auch heute.

»Hab ’nen Jungen großgezogen, der in der NFL oder NBA spielen könnte«, lamentierte er. »Aber der tut nichts anderes, als auf den Bildschirm zu glotzen.« Zu gerne hätte Jalen seinem Vater unter die Nase gerieben, dass er ein Heuchler war. Ronnie hatte zwar sein Leben ganz und gar dem Football verschrieben, war aber gleichzeitig auch ein besessener Videogamer. Und bis zu seinem Auszug hatte er ständig bei endlosen Runden Halo, Madden und NBA Live vor dem TV abgehangen. Wurde sogar süchtig nach Candy Crush. Jalen wollte ihm sagen, dass er sich lieber um sich selbst kümmern und aufhören sollte, ihn zu blamieren. Aber dann wäre er nur aus der Haut gefahren. »Verdammte Verschwendung von Zeit, Geld und DNA!«

»Denkst du, du bist für diese guten Gene verantwortlich?«, lachte Jalens Mom. Tyra Rose stammte aus Brasilien und war einst als Mädchen nach Florida gekommen. Mit ein wenig Hilfe ihres engagierten Vaters wurde aus ihr eine der besten Tennisspielerinnen der Welt – sie war sogar einmal auf Platz eins der Weltrangliste gewesen. Sieben Grand Slams hatte sie gewonnen – darunter zweimal Wimbledon –, bevor sie Jalen und seine Schwestern bekam. »Wie war das doch gleich noch mal, Ronnie? Wie viele Meisterschaften hast du mit den Lions gewonnen?«

»Komm mir doch nicht damit«, stöhnte Ronnie. Er war fünfmal als bester Wide Receiver ins All-Pro-Team der NFL gewählt worden, als er für Detroit spielte. »Du weißt, dass das Team für’n Arsch war. Niemand kann schließlich von mir erwarten, dass ich die ganze Welt auf diesen Schultern trage.« Grinsend blickte Ronnie rechts und links an sich herab. »So breit die auch sind.«

»Okaaay! Schieb’s ruhig dem Team in die Schuhe.« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Baby, ich möchte, dass du dir etwas hinter die Ohren schreibst: Der einzige Grund, warum dein Vater seit seinem Ausscheiden aus der Liga vor dreizehn Jahren keinen einzigen Tag gearbeitet hat, ist seine Einstellung.«

»Verdammt!« Ronnie stand auf. »Genau das ist der Grund, warum ich aus diesem Haus abgehauen bin. Schreib dir lieber Folgendes hinter die Ohren, Jalen: Nimm dir eine Frau, die dich aufbaut und nicht runterzieht.«

Tyra folgte Ronnie zur Tür. »Jemanden runterzuziehen oder ihn anzuspornen, sein Bestes zu geben, ist ein Unterschied. Ich habe dich angespornt. Du hast aufgegeben!«

»Wie wär’s, wenn du deinen Sohn anspornst, seinen verdammten Hintern hochzukriegen.« Damit knallte Ronnie die Tür zu.

Sanjeet Rao schlenderte selbstbewusst auf den umgebauten Peterbilt-Aufliegertruck zu. Im Schlepptau des Bosses von GoTech – dem führenden Entwickler autonomer Automobile in den USA – folgten CBS-Abendnachrichten-Moderator Chris Moriarty und sein Kamerateam.

»Die Strategie hinter GoTechs Geschäftsmodell«, erklärte Sanjeet dem berühmten Reporter, »liegt darin, das autonome Betriebssystem – also das Hirn des Automobils – für normale Fahrzeuge nutzbar zu machen.« Sanjeet wies auf die GoTech-Apparatur, die auf dem Dach des Fahrerhauses montiert war. »Wir wollen keine Pkws oder Lkws entwickeln, sondern die Technologie, die die Zukunft antreibt.«

Sanjeet lächelte, während er den Slogan einsinken ließ – das bisschen Markenbranding hatte ihn Hunderttausende von Dollar gekostet. »Stellen Sie sich das Ganze wie ein offenes Betriebssystem in einem Smartphone vor. Ob Samsung, Google Pixel oder LG: Alle kommen mit unterschiedlichen Gehäusen, unterschiedlichen Charakteristika daher. Aber das, was sie funktionieren lässt – das Hirn, wenn Sie so wollen – ist das Android-Betriebssystem, das auf dem Gerät läuft … das offene System, das jedes Smartphone nutzen kann. Wir sind so etwas wie das Android-Betriebssystem für Fahrzeuge. Wir sind die Hirne und Sie können uns in jede Marke, jeden Karosserietyp, in so ziemlich alles packen, das vier Räder hat. Alles, was wir wollen, ist das Fahrerlebnis effizienter zu machen, produktiver, angenehmer und viel, viel sicherer. Es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um einen Pkw, einen Lkw oder gar ein Golfcart handelt.«

Chris nickte, während sein Kameramann auf das Fahrerhaus draufhielt. »Im Golfclub meines Vaters würden sich alle sehr viel sicherer fühlen, wenn er so ein selbstfahrendes Ding hätte. Das kann ich Ihnen sagen.«

»Sehr schön.« Sanjeet lachte, ein wenig zu gezwungen. »Wir könnten ihm eins bauen. Aber mal Spaß beiseite …«, fuhr er fort und räusperte sich. »Eigentlich sind wir dafür da, damit Sie in Ihrem Fahrzeug machen können, was Sie wollen, während wir das Fahren übernehmen. Unser GoTech Model One ist mit einer LiDARVR-Spracherkennungssoftware ausgerüstet. Wir haben dreizehn Kameras installiert, 750 Sensoren im Innen- und Außenbereich des Fahrzeugs einschließlich des fortschrittlichsten Telematiksystems auf dem Markt. Aber die geheime Zutat, wenn Sie so wollen, stellt unsere im Fahrzeug installierte Computerleistung dar, die von cloudbasierter Rechenpower sowie dem im GoTech-Modul integrierten Qualcomm Snapdragon-Chip-Set unterstützt wird. Der kann das volle Potenzial von 4G-, 5G- und LTE-Verbindungen zur Cloud ausschöpfen.«

»Ziemlich bombastisch.« Chris Moriarty ließ ein Lächeln aufblitzen und präsentierte die perfekte Maske eines Abendnachrichten-Moderators.

»Ja«, kicherte Sanjeet. »Einfach gesagt: Es gibt es keine schnellere, sicherere oder häufiger getestete Lösung auf dem Markt – ob man damit nun einen Sedan fährt oder einen achtzehnrädrigen Lkw wie diesen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Moriarty. »Ich hab Ihre Technik oben auf Pkws und Lkw-Führerhäusern herumfahren sehen, in meiner Nachbarschaft in New York und auch, als ich mal ins Silicon Valley gereist bin. Absolut unverkennbar.«

»Wir haben eine Menge Autos dort draußen, um zu lernen, besser zu werden. Und wir haben Milliarden von Kilometern mithilfe von KI-Technologie in virtuellen Fahrten simuliert.« Sanjeet umrundete die Front des Trucks und schlenderte zur Fahrerseite. »Für die heutige Demonstration sitzen wir hier.« Grinsend öffnete er die Hintertür. »Ihr Kameramann kann den Notsitz hinter dem Fahrer nehmen.« Damit bestieg er das Führerhaus, das zuvor von Moriartys Filmcrew mit Mikros und Kameras bestückt worden war. Der Vorstandvorsitzende nahm hinter dem Lenkrad des Lkw Platz und bedeutete den beiden, ihm zu folgen. »Dann mal rauf auf den Bock, Leute«, forderte er sie in anbiederndem breitem Texanisch auf.

Kaum hatte der Kameramann hinter ihnen Platz genommen, löste der GoTech-Lkw sich schon vom Bordstein. Eifrig schwenkte er die Kamera zwischen den beiden Männern hin und her, als sie sich in die Straßen von Austin, Texas, aufmachten.

»Und was ist mit der Sicherheit?«, fragte Moriarty, während das unbemannte Lenkrad sanft nach links und rechts drehte.

»Bestimmt muss ich Ihnen nicht sagen, dass es da draußen auf den Straßen einige üble Fahrer gibt. Unser Fahrsystem jedoch gehört nicht dazu. Schätzungen nach benötigen KI-Technologien fünf Milliarden Kilometer, um genauso geschickt zu werden wie ein sehr guter menschlicher Fahrer.« Es gab ein öliges Grinsen zum Besten. »Und wir können knapp 250 Milliarden Kilometer auf Straßen und Simulatoren verbuchen.«

»Wow«, staunte Moriarty.

»Jep, das ist eine Menge Zeit hinterm Steuer. Unser KI-Fahrer – die Technologie also, die den Truck jetzt gerade lenkt – fährt sehr viel sicherer als jeder Mensch. Hinzu kommen noch die computergestützten Sensoren und Signalverarbeitungstechnologien. Sprich: Dieses Fahrzeug kann Dinge aus unendlich größerer Entfernung sehen und registrieren als jedes menschliche Auge. Sie, die Leute um uns herum, die Wagen, an denen wir vorbeifahren … all das wird in exponentiellem Maß dadurch sicherer, dass GoTech dieses Fahrzeug autonom steuert.«

»Okay«, meinte Chris. »Das ergibt Sinn. Und was ist mit Cybersicherheit?«

Sanjeet lachte. »Alle Welt macht sich deswegen verrückt, kaum dass vom autonomen Fahren die Rede ist. Schließlich stellt es das das offensichtlichste Sicherheitsrisiko dar. Aber in Wirklichkeit haben Firmen wie GoTech, die sich mit autonomen Fahrzeugen beschäftigen, dieses Problem von Anfang an berücksichtigt und Maßnahmen entwickelt, die eine Sicherheitslücke absolut unmöglich machen.«

»Absolut unmöglich?« Skeptisch hob Moriarty eine Augenbraue.

»So unmöglich wie möglich«, korrigierte sich der Vorstandsvorsitzende. »Das Universum ist unendlich komplex und möglicherweise gibt es irgendwelche Eventualitäten, die wir nicht in Betracht gezogen haben. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es keine sicherere Erfindung, keine sicherere Umgebung gibt als das Fahrzeug, in dem Sie sich jetzt gerade befinden. Wollte jemand diese Technologie kompromittieren, müsste er mehr Aufwand betreiben, als für die Entwicklung einer Nuklearwaffe nötig wäre. Glauben Sie mir, diese Technologie ist unglaublich sicher.«

In seinem Zimmer parkte Jalen seinen Laptop erst einmal mitten auf der Kommode, bevor er seine Hausaufgaben daneben ablegte. Er starrte auf den 60-Zoll-Flachbildschirm und die Spielkonsole darunter. Natürlich: Er hatte zu tun. Aber der Drang, vor dem Mandarin-Gebüffel heimlich noch eine kurze Zockrunde einzulegen, war einfach unwiderstehlich. Außerdem: Er hatte seit Kurzem eine neue Lieblingsplattform – auf der schuf man Welten in altmodisch wirkender Pixelgrafikumgebung. Kill Bloxx hieß sie. Er spielte die Games auf dieser Plattform online immer zusammen mit einem Typen namens Pro_F_er, was wahnsinnig Spaß machte.

Sobald die Webcam lief, startete Jalen Kill Bloxx. Er ließ den öden Scherbenhaufen von einem Leben hinter sich und trat in ein digitales Wunderland ein. Dort war er unter den Gamern der Plattform und in den Videostreams als allmeisterlicher Javelin bekannt.

Das Spiel, für das sich Jalen heute entschieden hatte, nannte sich Jaylbreak. Darin musste ein Avatar aus dem Knast entkommen. Wie bei jedem Massive-Multiplayer-Spiel war Jalen bewusst, dass sich momentan womöglich Zehntausende von Spielern hier tummelten, zur selben Zeit, in derselben Welt. Viele waren ihm vertraut und einige betrachtete er sogar als Freunde – auch wenn er nur ihre digitalen Avatare kannte. So war es auch mit Pro_F_er der Fall, der ihn mal während einer Livestream-Session unter seinem Kill-Bloxx-Handle angeschrieben hatte.

Genau wie damals tauchte auch jetzt ein Chat-Text in roten Buchstaben auf dem Bildschirm auf.

Pro_F_er: Yo, Javelin. Hab mir ’ne neue Welt gebastelt. Haste Lust, mich zu besuchen?

Auf der Kill-Bloxx-Plattform konnten Gamer und Entwickler ihre eigenen Spiele kreieren – mithilfe von Software, die die Originalentwickler hierfür zur Verfügung stellten. Eines Tages wollte Jalen so etwas auch können. Aber fürs Erste war er damit zufrieden, die Welten von anderen Leuten zu erkunden.

Javelin: Klar, Mann. Wie komm ich hin?

Pro_F_er: Dreh dich um.

Jalen gehorchte und erblickte Pro_F_ers Avatar.

Pro_F_er: Okay. Folge mir.

Die beiden Avatare rannten einen langen Gefängnisgang entlang. Ein digitaler Alarm ertönte, der heulte, als käme er aus der Realwelt. Jalen folgte Pro_F_er zu einer Treppe und blieb dann stehen.

Pro_F_er: Ich hab hier eine Tür eingebaut.

In einem Zimmer irgendwo jenseits des Cyperspace gab Pro_F_er einen Code ein, der die Tür zum Vorschein brachte. Er öffnete sie und ging hindurch. Jalens Avatar folgte. Er betrat eine Welt, die den meisten Kill-Bloxx-Games ähnelte. Sah man davon ab, dass sie von Nacht zu Tag wechselten und sich statt in einem Gefängnis nun auf der sonnenbeschienenen Straße einer Stadt befanden.

Pro_F_er: Ziel des Spiels ist es, ein Fahrzeug zu klauen … und so viele Fußgänger umzunieten wie möglich. Ist ein Punktesystem. Ein Punkt für Männer, zwei für Frauen, drei für Teenager und Kinder und einen halben für jeden mit ’nem Rollator.

Javelin: Alter, voll krank. Wo finde ich ’ne Karre?

Pro_F_er: Musst dich auf die Jagd machen.

Jalen folgte Pro_F_er durch eine Reihe von Vorortstraßen. In der Welt, die er entwickelt hatte, gab es weite Rasenflächen und Terrassenhäuser. Sie brauchten nicht lange, bis sie das erste Fahrzeug zum Klauen fanden: einen futuristischen Sattelschlepper.

Pro_F_er: Du fährst. Möchte sehen, was du von dem Spiel hältst.

Pro_F_er öffnete die Beifahrertür des digitalen Trucks.

Javelin: Bin dabei.

Javelins Avatar öffnete die Fahrertür und kletterte hinein.

Javelin: Und wo finden wir Leute?

Pro_F_er: Bretter einfach los, Bro, bis sich die Leichen stapeln.

Mit quietschenden Reifen fuhr Jalen davon.

Kapitel 2

»Also, wohin wollen wir?«, wandte sich Sanjeet an Moriarty.

»Da wir in Austin sind …« Der Journalist klopfte sich auf den Bauch. »Wie wär’s mit Barbecue?«

»Okay«, antwortete Sanjeet und sprach dann zum Fahrzeug. »GoTech, kannst du ein Barbecue-Restaurant empfehlen?«

»Selbstverständlich«, erfüllte die sanfte weibliche Stimme des intelligenten Fahrsystems das Führerhaus. »Ich bin gerne behilflich. Wie ich sehe, gibt es heute im Midway Food Truck Court einen Imbisswagen von Franklin Barbecue, Austins bestbewertetem Barbecue-Restaurant. Wir wäre es damit?«

»Klingt gut«, sagte Sanjeet. Er bedachte Moriarty mit einem Lächeln, als der Sattelschlepper nach links abbog und auf das South-Congress-Viertel zuhielt.

Es war ein schöner Tag in Austin. Noch früh genug im Jahr, dass es nicht sengend heiß war, auch wenn die Temperaturen im Lauf des Nachmittags bis auf 35 Grad klettern sollten. Es war Samstag und zudem befand sich die University of Texas mitten in ihren Abschlussfeierlichkeiten. Einen Parkplatz zu finden, war daher eine Herausforderung. Für den GoTech stellte das allerdings kein Problem dar.

»Fahrgemeinschaften und Carsharing sind die ultimativen Ziele unseres Systems. Von Wartung und Reparatur abgesehen, ist ein Parkplatz für den GoTech deshalb absolut unnötig. Das Fahrzeug ist immer unterwegs und in Aktion. Im kommerziellen Straßenfrachtverkehr stellen die Kosten für Fahrerausbildung und Fahrermanagement eine bedeutende Ausgabe dar. Somit ist GoTech auch hier bahnbrechend.« Wieder wandte Sanjeet sich an den Computer. »GoTech, könntest du uns rauslassen und dir einen geeigneten Platz zum Warten suchen, falls es zu voll ist?«

»Ja, Sanjeet, das mache ich gerne«, antwortete der GoTech. Der Sattelschlepper fuhr an diversen Imbisswagen vorbei, die einen grünen Park säumten. Dort wimmelte es nur so von Menschen. Insbesondere am Franklin-Barbecue-Wagen ging es zu wie in einem Bienenstock.

»Vielleicht sollten wir doch woanders hin«, sagte Moriarty und schaute aus dem Fenster. »Anscheinend waren wir nicht die Einzigen, die das für ’ne gute Idee hielten.«

»Natürlich«, sagte Sanjeet. »GoTech, könntest du eine andere Empfehlung geben?«

»Ja, das tue ich sehr ger…«

»Wie wär’s«, schnitt Sanjeet dem System abrupt das Wort ab, »wenn wir einfach ins Hill Country rausfahren? Und ins Salt Lick gehen? Da ist es immer gut.«

»Ja«, erwiderte GoTech. »Ändere Kurs auf Salt Lick.«

Auf dem Tablet, das am Armaturenbrett angebracht war, konnte man sehen, wie die neue Route festgelegt wurde.

»Super! Danke, GoTech.«

»Fahre nach rechts«, flötete die Stimme.

Aber das tat der Sattelschlepper nicht.

»Hoppla! Sieht aus, als hättest du den Abzweiger verpasst, GoTech«, kicherte Sanjeet.

Der Sattelschlepper antwortete nicht. Sanjeets dürrer Körper wurde nach hinten gepresst, als der Elektromotor beschleunigte und die rote Linie auf dem Tachometer die 110-km/h-Markierung berührte.

»Ist das normal?« Moriarty blickte Sanjeet an, der sich gegen den Sitz stemmte.

»GoTech, fahr langsamer und setze den Weg zum Salt Lick fort«, sagte Sanjeet mit gespielter Ruhe. Der Sattelschlepper reagierte nicht und brauste auf den Park voller Imbisswagen und Menschen zu.

Wieder und wieder wiederholte Sanjeet die Anweisungen. Und bei jedem Mal klang seine Stimme weniger gelassen. »Fahr zum Salt Lick. Salt Lick! Umdrehen! Anhalten, GoTech! Rechts ran, sofort, GoTech. Halt!«

»Okay, Sanjeet. Halte an.« Die britisch klingende Computerstimme echote durch das Führerhaus des dahinrasenden Trucks. Aber der Peterbilt wurde nur noch schneller.

Am Samstag, den 19. Mai, gegen 11 Uhr 37 prallte die Motorhaube des Fahrzeugs auf den ersten Passanten – einen Mann auf einem Fahrrad. Der Sattelschlepper donnerte weiter, vorbei an einer Reihe Picknicktische. Dann pflügte er durch eine Menschengruppe, die sich zu einer Geburtstagsparty versammelt hatte.

»Pass auf!«, kreischte der Kameramann vom Notsitz aus. »Oh, mein Gott! Sie haben sie umgebracht!«

»Bingo!«, sprach Jalen ins Mikro, als er die Menge digitaler Körper erblickte, die sich um eine Reihe von Imbisswagen drängte. Jalen hatte auf Vogelperspektive gewechselt und konnte nun sehen, was sich dreißig Meter über und um den Pixeltruck abspielte.

Als Erstes erwischte er einen Avatar auf einem Fahrrad. Er verfolgte, wie die Gestalt des Manns von der Motorhaube abprallte und über das Fahrzeugdach wegflog. Dann steuerte er den Truck auf eine Gruppe von acht bis zehn Leuten zu, die sich anscheinend um so etwas wie einen Geburtstagskuchen versammelt hatte.

»Wow, Jackpot, Alter!« Der Punktezähler am Rand des Bildschirms sprang auf sieben. »Sieht aus, als hätte ich gerade vier Männer und ein Kid umgenietet.«

Pro_F_er: Achtung, Digger … die Bullen!

Sirenen jaulten.

Pro_F_er: Richte noch etwas Schaden an und dann raus da.

Jalen zerquetschte seinen Controller fast zu Mus, während er mit Vollspeed zwischen zwei Imbisswagen durchbretterte. Wieder sprang der Punktezähler nach oben, als er zwei Pixelgestalten vernichtete. In überraschend realistischer Weise flogen sie rechts und links zur Seite.

Er rammte den Rückwärtsgang rein, setzte zurück und überfuhr eine Lady im Businessanzug. »Warte, die nehm ich noch mit.«

Jalen war gut in diesem Spiel. Aber als er mit dem Sattelschlepper den ovalen Park umrundete und Mülltonnen und hölzerne Absperrungen zerschmetterte, durchlief ihn so etwas wie ein Hauch von Grauen. Die Welt, in der er sich befand, war ein Spiel, ohne Konsequenzen für das reale Leben. Trotzdem verspürte er ein wenig Übelkeit beim Leuteüberfahren. Ja, fast Schuld … und einen Anflug von Reue. Das Knirschen, ihre Schreie … das alles war ein wenig zu realistisch.

Der Anflug von Unbehagen landete jedoch schnell in den Abgründen seines Unterbewusstseins. So tief, dass er gerade eben nicht mehr rankam – abgesehen davon, dass er es auch gar nicht wollte.

Im nächsten Moment kamen die Streifenwagen angeschwärmt. Prompt nahm in Jalen die Vorstellung Gestalt an, dass er nur als richtig mieser Motherfuckains nächste Level kommen würde. Blitzschnell schaltete er in den Vorwärtsgang und steuerte auf den Streifenwagen an der Spitze zu. Er hielt den Speedbutton so fest gedrückt, wie er nur konnte, während er erst eine Baumallee zerschredderte und schließlich frontal in das Polizeiauto krachte. Der Streifenwagen wurde plattgewalzt wie ein Pfannkuchen und rammte einen weiteren Streifenwagen, bevor der Truck zum Halten kam.

»Oh, mein Gott. War das irre!«, lachte Jalen und blickte vor sich in die Kamera. »Hoffe, jemand da draußen hat das mitbekommen. Falls nicht, hab ich die Mission aufgenommen und stell sie in meinen YouTube-Channel. Bitte postet unten eure Kommentare. Danke, Pro_F_er, dass du mir diese abgefuckte Welt gezeigt hast. Javelin out.«

Jalen nahm sein Headset ab. Gerade wollte er nach unten gehen, als sein Laptop von der Kommode aus ein Pling von sich gab.

Bestimmt schon die ersten Kommentare, dachte er.

Er öffnete das Mail-Programm und stellte fest, dass er es mit einem unbekannten Absender zu tun hatte: Encyte. Er fragte sich, ob es sich um Spam handelte. Laut las er die Betreffzeile: REALITYISBROKEN.

Die Worte faszinierten ihn und jagten ihm zugleich einen Schauder über den Rücken. Er zögerte. Dann öffnete er die Mail. Die Nachricht enthielt vier Worte: Du hast es geschafft! Darunter war ein YouTube-Link. Jalen klickte drauf und starrte plötzlich auf seinen eigenen Livestream: »Was in aller Welt …«

Auf der einen Bildschirmhälfte war das typische Twitch-Video zu sehen: der eigentliche Spielablauf sowie eine Ansicht, die den Gamer in seinem Zimmer zeigte. Jalen sah einen Jungen, der auf einem Bett saß. Er trug ein VR-Headset und spielte ein Game auf Twitch. Wegen des Headsets brauchte Jalen eine halbe Sekunde, ehe er begriff, dass der Junge im Video er selbst war.

Auf der anderen Bildschirmhälfte hingegen lief eine richtige Übertragung vom echten Food Truck Court.

Jalens Nackenhaare stellten sich auf und ihm kam die Magensäure hoch, als ihm etwas klar wurde. Es war dasselbe Spiel, das er gerade gespielt hatte. Nur dass dieser Food Truck Court real war, genauso wie die Leute, die einen schönen Tag in irgendeiner amerikanischen Stadt genossen. Sie aßen zu Mittag, ließen die Seele baumeln, amüsierten sich … Und dann – gerade als Jalen auf dem Twitch-Video den geklauten Sattelschlepper in den Food Truck bretterte –, raste ein echter Sattelschlepper mit irgendwelchem Hightech-Zeugs auf dem Fahrerhaus ins Bild. Der Lkw pflügte durch die Körper … durch die Menschen. Jalen konnte sich selbst im Video lachen hören – über die Schreie der Menschen hinweg, die an einem eigentlich ganz normalen Samstag abgeschlachtet wurden.

Seine Hände zitterten. Er rannte ins Badezimmer, fiel auf die Knie und kotzte.

Kapitel 3

Wyatt war mit den Gedanken nicht beim Spiel. Sicher, er trug Helm und Stollenschuhe und hielt einen langen Titanschläger in der Hand. Seine Augen folgten dem Spielgeschehen von der Seitenlinie, wo er darauf wartete, wieder aufs Feld geschickt zu werden. Aber seine Gedanken befanden sich woanders – verloren sich in einem Moment, der neun Monate zurücklag. Als man sie ihm genommen hatte … ihm, ihrer Familie und der Welt. Und abgesehen von einem kleinen Trupp schräger Typen und Gesetzloser wusste niemand davon. Nicht einmal seine Mannschaftskameraden – von denen ihn viele für einen großartigen Freund hielten – hatten eine Ahnung, wer Wyatt wirklich war. Und was er verloren hatte.

Wyatt versetzte der Erde einen Tritt, um die Gedanken aus seinem Kopf zu verscheuchen. Aber es gelang ihm nicht. Er wollte für sein Team da sein, vor allem jetzt. Aber Dolly schlich sich immer wieder in seinen Kopf.

Seine Mannschaft, die Bulldogs, spielte im Lacrosse-Halbfinale der Virginia State Highschool-Meisterschaft. Er hatte die Saison wie alle anderen Freshmen auf der Ersatzbank begonnen. Doch seine Aggressivität und Schnelligkeit hatten ihm einen Platz als Long-Stick-Mittelfeldspieler eingebracht – und den Ruf, keinem Zweikampf aus dem Weg zu gehen. Ein Vollstrecker, der Dinge rocken konnte. Mit seiner leichten, klapperdürren Statur war von Wyatt in diesem Sport, den er erst einige Monate betrieb, eigentlich nicht viel zu erwarten. Aber Tatsache war: Er bestand aus fünfundsiebzig Kilogramm reiner Teenagerwut. Zerzauste Haare, abgebrühter Blick, hervorstechendes Kinn: Selbst von der anderen Seite des Felds aus konnte man leicht die Wut erkennen, die sich tief bis ins Mark in ihn hineingefressen hatte. Und er zeigte sie jedem, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.

Es war seine Art, mit allem fertig zu werden. Indem er den Körper ans Limit peitschte. Damit der physische Schmerz von dem ablenkte, was in ihm tobte. Kämen seine Gedanken auch nur einen Augenblick zur Ruhe, so wusste er, was dann an die Oberfläche brechen würde – Dolly: geknebelt, gefesselt, mit aufgerissenen dunklen Augen, aus denen jedes Leben gewichen war.

Und dann würde er Mr Yellow vor sich sehen, in seinem zugeknöpften Hemd mit den Schweißflecken unter den Armen, wie er Wyatt die Nachricht überbrachte: »Wir haben eine Leiche in Südamerika gefunden. Angespült an einem Flussufer. Der Zahnbefund belegt, dass sie es ist.«

Wyatt hatte sie nicht retten können. Schlimmer noch, er war der Grund dafür, dass man sie als Köder benutzt hatte.

»Rein mit dir, schalt jemanden aus!«, schrie ihn sein Coach von der Seitenlinie an und riss Wyatt aus der Trance. Zwei Minuten vor Spielende waren die Bulldogs einen Punkt im Rückstand. Wie immer setzte sein Coach auf Wyatt, wenn es nötig war, den Dingen noch mal eine Wendung zu geben.

»Ja, Sir!«, rief Wyatt und rannte aufs Spielfeld. Weil ihr Kapitän wegen eines Fouls vom Platz geflogen war, hatte seine Mannschaft einen Spieler weniger. Und der Spieler, der vor ihm nun den Ball hielt, war ausgerechnet der beste Angreifer der Gegner. Der Schiedsrichter pfiff. Der Gegner stürmte auf Wyatt zu … und umkurvte ihn. Wyatt stolperte. Der andere gewann einen Schritt Vorsprung und rannte auf das Tor zu, den Schläger nach hinten zum Schuss erhoben. Aber mit zusammengebissenen Zähnen holte Wyatt ihn ein. Hart ließ er seinen einen Meter achtzig langen Titanschläger auf den erhobenen Schläger des Jungen krachen.

Der weiße Lacrosse-Gummiball flog heraus. Mit einem routinierten Schwung des Handgelenks ließ Wyatt seinen Schlägerkopf vorschwingen und fing den Ball auf, während er in weitem Bogen auf das gegnerische Tor zustürmte, mit vor sich ausgestrecktem Schläger. Auf diese Weise konnten die Verfolger, die nach ihm hieben, ihm nicht so leicht den Ball herausschlagen.

Wyatt flitzte über das Feld und drang in die gegnerische Abwehrzone ein, wobei sich eine Vier-zu-drei-Situation ergab. Normalerweise würden die Verteidiger nun auf ihn zustürmen, sodass ein weiterer Angreifer frei stünde, dem Wyatt den Ball zupassen könnte. Doch das geschah nicht. Offensichtlich spekulierte das andere Team darauf, dass Wyatt – mit seinem langen Schläger und seiner alles andere als perfekten Schlägertechnik – nicht versuchen würde, aufs Tor zu spielen. Aber genau das tat er, als er nun den Schläger von der rechten in die linke Hand beförderte, einen engen Haken Richtung Spielfeldmitte schlug und in vollem Tempo auf die Torzone zuhielt. Unablässig wechselte er den Schläger zwischen den Händen, als er geradewegs auf das Tor zustürmte. Sein Blick huschte zum unteren linken Toreck.

Der mittlere Verteidiger – ein Hundertzehn-Kilo-Mann, der bereits für das Team einer Eliteuniversität angeworben worden war – löste sich von seinen Mitspielern und stürmte in vollem Tempo auf Wyatt los, den Schläger wie einen Speer auf seine Brust gerichtet. Wyatt schoss aufs Tor und erwartete, im nächsten Moment getroffen zu werden – wünschte, getroffen zu werden. Aber dann nahm er wahr, wie der Verteidiger abbremste und den Kopf wandte, um den Ball mit den Augen zu verfolgen. Noch eine Sekunde zuvor war Wyatt davon ausgegangen, dass der Typ ihn umpflügen würde. Warum ihn also der Chance berauben? Er senkte den Kopf, rammte dem einen Meter neunzig großen Riesenverteidiger die Schulter gegen die Brust und schickte ihn zu Boden. Dann stolperte er über ihn hinweg wie ein angeschlagener Boxer, der seinen Gegner in letzter Sekunde mit einem glücklichen Treffer k.o. geschlagen hatte.

Der Verteidiger wälzte sich am Boden und hielt sich den Unterarm. Binnen Sekunden stürmte eine Schar Sanitäter aufs Feld. Hektisch machten sie sich an ihm zu schaffen. Wyatt jedoch stand einfach da und sah zu, während er das Kreischen der Menge hörte. Endlich hob er den Blick, um zu sehen, ob er getroffen hatte. Der Ball war irgendwo hinter dem Tor liegen geblieben, weit außerhalb des Spielfelds. Er hatte vorbeigeschossen. Game over. Aber er hatte seinen Mann von den Beinen geholt.

»Hey!«

Wyatt hörte eine Stimme hinter sich. Er wusste auf der Stelle, wer es war. Er drehte sich um und sah seinen Vater, Eldon Waanders, draußen vor dem Umkleideraum stehen. Wie gewöhnlich saß seine Sonnenbrille etwas schief auf der Nase. Als Geisel des Glühwurms, einem Psychokiller, hatte er im letzten Sommer ein Ohr eingebüßt.

»Gutes Spiel«, sagte Eldon beinahe fröhlich, als sie über den Schotterparkplatz gingen. »Sieht man von deiner beschissenen Einstellung ab«, wurde sein Ton im nächsten Moment ernst. »Ist mir egal, dass du verloren hast. Nicht aber, dass du so einen billigen Schuss versucht und den Jungen fast verletzt hast.«

»Was soll’s«, antwortete Wyatt. Er schlang seine Tasche über die Schulter und marschierte unbeirrt über den Parkplatz voran. »Der Kerl war doppelt so groß wie ich. Seine Schuld, wenn er nichts verträgt.«

»Hör mal«, sagte Eldon und folgte seinem Sohn. »Ich weiß, es war nicht einfach seit unserer Rückkehr. Aber du musst dich unter Kontrolle kriegen.«

Wyatt schmiss seine Sachen in den Kofferraum und knallte ihn zu.

»Wenn jemand Grund hat, wütend zu sein, dann ich.« Eldon rammte seinem Sohn den Finger seiner verstümmelten Hand in die Brust und durchbohrte ihn mit seinem Blick. »Und wenn einer Grund zur Rache hat … dann ich.«

»Komm schon, Dad. Du hast immer noch Mom. Die Frau, die du liebst, ist nicht wegen dir erstochen worden. Kapierst du’s nicht?«

»Nein, aber sie hat fast zwanzig Jahre allein gelebt. Im Glauben, ich wäre einfach abgehauen. Sie war so verletzt, dass …«

»Verletzt, aber am Leben …«, unterbrach Wyatt ihn und fügte hinzu: »Warum ist sie eigentlich nicht mit zum Spiel gekommen?«

»Keine Ahnung«, antwortete Eldon und zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Vielleicht, weil es immer noch hart für sie ist, zusammen mit mir in der Öffentlichkeit zu sein.«

»Na super!«, sagte Wyatt und kickte ein paar Kieselsteine über den Parkplatz davon.

»Tut mir leid, Junge«, sagte Eldon, als er aus dem Augenwinkel zufällig einen vertrauten Wagen wahrnahm. Sie waren so ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatten, dass sie beobachtet wurden. Zwei Gesichter spähten durch die Windschutzscheibe des Sedans, der ein paar Reihen weiter parkte: Mr Yellow, der Cleaner für Camp Honor, und Avi Amit, ehemaliger Mossadagent und alles andere als knuddeliger Sicherheitsexperte des Camps.

»Sind sie wegen dir da?«, fragte Wyatt seinen Vater.

»Irgendetwas sagt mir, dass sie dich wollen.« Eldon winkte, als Avi ausstieg und seine Sonnenbrille absetzte.

»Eldon!«, rief Avi, begleitet von einem Nicken. »Wir brauchen Wyatt.«

»Freu mich auch, euch zu sehen«, scherzte Eldon. »Nur zu!«

Avi setzte sich Richtung Wyatt in Bewegung und redete schon im Näherkommen drauflos. »Wyatt, da ist so ein Kid, mit dem du für uns reden musst. Wegen des Anschlags in Texas. Er ist in Detroit und wir brauchen dich noch heute Abend da.«

Wyatt blickte seinen Vater an und wartete auf dessen Antwort.

»Klar.« Eldon zuckte die Achseln.

»Wirklich?«, fragte Wyatt. »Ich werde nicht bestraft?«

»Du bist kein Kind mehr, Wyatt«, antwortete Eldon. »Zieh ab und mach dich nützlich.«

»Gegen Mitternacht bringen wir ihn wieder zurück.« Avi öffnete die Tür für Wyatt. »Wir halten dich auf dem Laufenden.«

Mr Yellow steuerte den Sedan vom Schotterparkplatz zum Highway und hielt anschließend auf den Charlottesville-Albemarle Airport zu. Feuchte, spätfrühlingshafte Luft durchwehte den Wagen. Ihr Geruch erinnerte an junges Laub und fernen Barbecue-Rauch.

Auf dem Rücksitz hatte Wyatt sein durchgeschwitztes Unterhemd ausgezogen und war in ein trockenes T-Shirt, einen Hoodie sowie saubere Lacrosse-Shorts geschlüpft. Er schwitzte immer noch leicht, aber die Brise kühlte die Haut.

»Du brauchst ’ne Dusche.« Avi rümpfte die Nase und rollte das Fenster weiter herunter.

»Ihr wart es, die es so eilig hatten«, hielt Wyatt ihm entgegen und setzte sich seinen Kopfhörer auf.

Mr Yellow fuhr sie zu einem privaten Terminal und parkte vor einem unscheinbaren Hangar. Sie durchquerten einen kleinen Empfangsraum. Mit dem Geruch von Benzin und angebranntem Kaffee, der hier in der Luft lag, erinnerte er fast an ein Autohaus. Sie traten auf die Rollbahn hinaus, wo bereits ein Citation-Jet auf sie wartete, voll betankt und startbereit.

Der Pilot hieß sie an Bord willkommen. Wenige Minuten später waren sie bereits in der Luft – unterwegs nach Detroit, zu einem Airport, der militärischem und privatem Flugverkehr vorbehalten war.

Mr Yellow sah, wie Wyatt aus dem Fenster starrte. »Kannst du den mal abnehmen?« Er wies auf den Bose-Kopfhörer.

Wyatt gehorchte. Laut dröhnte der Punkrock aus den Hörern.

»Also, nach offiziellen Angaben beläuft sich die Anzahl der Toten beim Anschlag in Austin auf 53«, begann Mr Yellow seinen Lagebericht und ließ sich auf den Sitz neben Wyatt gleiten. »Darüber hinaus gibt es Dutzende von Verletzten, einige darunter schwer: Lähmungen beider Arme oder Beine, vollständige Lähmungen, Amputationen. Zu den Opfern gehören auch Sanjeet Rao, Vorstandsvorsitzender von GoTech, und Chris Moriarty, ein CBS-Nachrichtenmoderator, sowie ein Kameramann. Alle getötet, als der Truck den ersten Streifenwagen gerammt hat.«

Mr Yellow reichte ihm einen Aktenordner. Wyatt zögerte, bevor er ihn aufschlug. Darin: die Gesichter der Toten. Er ließ den Blick über sie gleiten … Senioren und Kinder … Seine Augen wurden glasig.

»Die eintreffenden Einsatzkräfte eröffneten das Feuer auf den Truck«, erklärte Mr Yellow. »Es ist noch unklar, ob alle drei Insassen durch Schüsse getötet wurden. Der Kameramann trug keinen Sicherheitsgurt und könnte genauso gut an einem Schädeltrauma gestorben sein, bevor er erschossen wurde.«

»Ein paar Dutzend Studenten der UT wurden ebenfalls getötet«, schaltete Avi sich ein, als Wyatt die Bilder durchsah. »Ferner drei Professoren, ein Gemeinschaftskundelehrer der Highschool, vier Schüler einer Mittelschule, eine Nonne, eine Familie mit kleinen Kindern und eine Großmutter.«

»Der Cyberfahrer des Sattelschleppers ist Jalen Rose, ein Teenager«, fügte Mr Yellow hinzu. »Helles Köpfchen, kein Vorstrafenregister oder nennenswerten Ärger. Besucht die St. Mary’s Privatschule. Mom und Dad sind Sportler, aber der Junge ist ’n ziemliches Gamer-Ass.«

Wyatt musterte Jalens Gesicht. »Ich hab das YouTube-Video in den Nachrichten gesehen.«

»Dieses Video«, sagte Avi, »hat ihn zum meistgehassten Amerikaner gemacht, zum Sündenbock. Die unbearbeitete Version ist elf Millionen Mal aufgerufen worden, ehe sie entfernt wurde. Zum Glück hat er eine VR-Brille getragen, andernfalls wär er ein weiteres Opfer geworden. Alle Welt versucht, hinter die Identität des Jungen zu kommen. Er hat Todesdrohungen erhalten. Daher haben die Behörden ihn außerhalb von Detroit in Schutzhaft genommen.«

»Er ist nur ein Opfer«, stellte Wyatt düster klar. »Auch wenn er sozusagen den Abzug gedrückt hat.«

Avi nickte.

»Aber wie konnte das überhaupt passieren? Ich meine, technisch gesehen?«, fragte Wyatt.

»Eine interessante und komplizierte Frage«, antwortete Avi. »Willst du die einfache Version oder die richtige Antwort? Die, die gerade die Experten für Cloud-Technologie herauszufinden versuchen?«

Wyatt sah ihn an. »Wenn ich mich mal zu Tode langweilen möchte, frag ich nach der Extended Version. Halten wir’s fürs Erste einfach.«

»Okay, also, die Server, über die das Videospiel läuft und der GoTech-Truck fährt, liegen beide in der Cloud. Das heißt, auf fernen Computern mit Internetzugang und solch enormer Rechenleistung, dass die Cloud dem Wagen sagen kann, wo er hinfahren soll, und die Gamer in einer virtuellen Spielewelt interagieren können. Diese Server sind in unterschiedlichen Datenzentren untergebracht. Und im Fall von GoTech sogar in einem Hochsicherheitsdatenzentrum, zu dem sich vermutlich nichts und niemand aus der Ferne Zugang verschaffen kann – es sei denn mittels GoTech-Technologie.«

Wyatt nickte.

»Irgendwie ist es Encyte jedoch gelungen, sich in das GoTech-Datenzentrum zu hacken, den Server für diesen Truck zu finden und jenen Teil des Cloud-Computers auszutauschen, der dem Truck sagt, wohin er fahren soll – und zwar mit dem Teil des Gaming-Computers, der die Befehle vom Controller bekommt. Gleichzeitig hat Encyte alle Video-, LiDAR- und Livedaten, die der GoTech-Computer zur Straßenerkennung nutzte, dazu verwendet, um über die Virtual-Reality-Engine des Gaming-Computers die grafische Umgebung des Spiels zu erzeugen. Diese Kombination erlaubte es dem Gamer, den Truck zu steuern, während er alles, was der Computer des Trucks wahrnahm, auch selbst in Echtzeit sah. Nur eben in seiner Videospielwelt.«

Wyatt blickte ihn stumm an. »Das war also die einfache Version?«

»So einfach, wie es ging.«

»Also hat sich Encyte im Grunde in den GoTech-Computer gehackt und dem Videospieler die Kontrolle über den Truck verliehen.«

Avi zuckte die Achseln. »Klar. Das wäre die sehr einfache – fast absurd dämliche – Version dessen, was geschehen ist.«

»Danke.« Wyatt lächelte. »Ich schätze, die Cyberabteilung des FBI ermittelt bereits. Schon irgendwelche Spuren?«

»Sie nehmen gerade Jalens Router, Computer und Konsole auseinander. Ebenso wie die GoTech-Server, um Hinweise auf den Hack zu finden. Dafür werden sie einige Zeit brauchen – die Server sind riesig. Folglich gibt’s bisher noch nichts Großartiges. Was wir haben, ist die E-Mail, die Encyte an Jalen geschickt hat. Sie enthielt die Betreffzeile REALITYISBROKEN. Sagt dir das irgendetwas?«

»Tut sie tatsächlich, ja. Zum ersten Mal bin ich bei meinen Recherchen über Glowworm Gaming darauf gestoßen. Das ist eine von Gamern benutzte Phrase«, erklärte Wyatt. »Und ein Buch: Reality is Broken: Wie uns Computerspiele besser machen und die Welt verändern.«

»Was soll das bedeuten?«, fragte Avi.

»Ist eine Weltanschauung«, antwortete Wyatt. »Gamer glauben, dass die Welten, die sie in ihren Spielen erleben, der Realität überlegen sind. Die Wirklichkeit ist in ihren Augen fehlerhaft und folgt nicht der perfekt geordneten Logik eines gut entworfenen Spiels. Spiele sind logisch und von Grund auf dafür konzipiert, perfekt unseren Bedürfnissen zu entsprechen. Spiele bieten die Dinge, die wir in der Wirklichkeit brauchen. Wie zum Beispiel das Gefühl, etwas vollendet zu haben, die totale Einbindung in die Welt um uns herum – eben das, was wir vom Leben nicht kriegen. Jedenfalls ist das der Kern hinter dieser Aussage.«

»Jetzt verwirrst du mich aber. Gaming ist doch nicht die Wirklichkeit. Also hat es doch auch keine Konsequenzen«, sagte Avi.

»Spiele haben Konsequenzen. Du kannst Geld damit verdienen – oder es verlieren. Jede Menge. Die Spieleindustrie ist riesig.«

»Und schaut euch nur Austin an«, ergriff Mr Yellow das Wort. »Das sind doch sehr reale Konsequenzen.«

»Ich glaube, Encyte will damit sagen, dass die Welt, in der wir leben, defekt ist«, sagte Wyatt. »Games können uns besser machen, Games können das Leben besser machen. Und nun spielt er ein Spiel mit uns. Versucht, die Welt durch seine Spiele herauszufordern.« Er starrte durch das Jetfenster auf den Sonnenuntergang, dessen gewaltiges Farbenspiel an getrocknetes Blut erinnerte. »Oder jedenfalls denke ich das im Moment.«

»Avi, besorgen wir das Buch, von dem Wyatt spricht«, sagte Mr Yellow.

»Bin schon dran«, erwiderte Avi.

Wyatt wandte ihnen wieder den Blick zu. »War das Encytes erster Angriff? Oder gibt es schon so etwas wie ein Täterprofil?«

»Interessant, dass du fragst«, erwiderte Avi. »Erinnerst du dich an den Sneaker-Aufruhr letztes Jahr?«

Wyatt schüttelte den Kopf.

»Weezo, die Sneaker-Firma, gehört dem Rapper Young Tarique. Sie stellen Sammlerschuhe her und wollten einen Drop veranstalten. Du weißt doch, was ein Drop ist, oder?«

»Jep. Damit wird ein Produkt gehypt. Man kündigt in einer bestimmten Region einen Drop in limitierter Stückzahl an.«

»In diesem Fall hat Weezo – oder jemand, der behauptete, Weezo zu sein – eine App herausgebracht, über die man den Ort des Drops herausfinden konnte – der Keller einer Kirche in SoHo, New York. Tausende von Fans kamen dorthin, aber es gab nur einige wenige Paar Schuhe.«

»In der Folge lief das Ganze völlig aus dem Ruder«, berichtete Mr Yellow weiter. »Es entstand ein regelrechter Aufruhr innerhalb dieses geschlossenen Raums.«

Wyatt blickte ungläubig drein. »Wie bitte? Ein Aufruhr? Wegen ein paar Schuhen?«

Mr Yellow hielt eine Sprite-Dose in die Höhe und schüttelte sie. »Alle waren gefangen, so wie die Kohlensäure in dieser Dose. Sie waren aufgeregt und stießen dauernd gegeneinander. Eine höchst brisante Mischung – die sich dann in einer gewalttätigen Explosion entlud.«

Wyatt beäugte die Dose. »Haben Sie davon noch eine, ungeschüttelt?«

»Ja.« Mr Yellow öffnete eine andere Dose und goss den Inhalt in einen Plastikbecher. »Es war wie eine Black-Friday-Schlägerei auf Sterodien. Die Sache wurde sehr gewalttätig. Die Presse machte die Hip-Hop-Kultur dafür verantwortlich. Weezo leugnete jegliche Kenntnis von dem Drop. Und das Ganze geriet im schnellen Takt des Nachrichtenkreislaufs in Vergessenheit. Doch eine Sache blieb der Öffentlichkeit verborgen – und zwar, dass die Schuhfirma, die angeblich den Drop organisiert hatte, komplett unschuldig war. Laut unserer Geheimdienste wurde die App von Encyte entworfen und verwendet, um Tausende von Leuten zusammenzupferchen. Darunter viele Teenager … in einem Kirchenkeller, der von einem tödlichen Cocktail aus Noradrelin und Adrenalin geflutet war.«

»Es wurden Hormone in die Luft abgegeben«, erklärte Avi. »Dadurch veränderte sich die Gehirnchemie der bereits durch den Mangel an Sneakern gestressten Menschen und … Bingo!«

Wyatt nickte. »Dann musste nur noch der Erste zuschlagen.«

»Die grausamsten Einzelheiten wurden der Öffentlichkeit vorenthalten«, fuhr Mr Yellow fort. »Die Leute drückten einander die Augäpfel aus. Einige wurden totgetrampelt. Echter Gladiatoren-Scheiß, die denkbar niederträchtigste Form menschlichen Verhaltens. Und wir glauben, dass der echte Encyte es inszeniert hat.«

»Woher wissen Sie, dass er es war?«

»Encyte hat nicht direkt die Verantwortung dafür übernommen«, räumte Avi ein. »Aber von der Entwicklung der App über die Kenntnis in puncto Psychodrogen bis hin zum Tötungsmechanismus: Immer war eine menschliche Schachfigur das Mittel der Wahl. Was, wie wir in Erfahrung gebracht haben, Encytes bevorzugte Vorgehensmethode ist.«

»Das ist ein bisschen dünn, aber eine brauchbare Theorie.« Wyatt starrte auf die Bläschen in seinem Glas, während er es schwenkte. »Also haben wir es mit zwei Angriffen zu tun: einem mittels eines Games und einem per App und gefaktem Sneaker-Drop. Wo und wieso komme ich da ins Spiel? Was soll ich tun?«

»Mit Jalen reden«, übernahm Avi eifrig das Wort. »Check ihn ab. Er ist anscheinend ziemlich aufgelöst. Aber das könnte gespielt sein. Einer Theorie zufolge könnte es sich bei Encyte um einen Hacker oder Entwickler von Glowworm Gaming handeln. Wenn es da Verbindungen gibt, findest du vielleicht einen Faden, an dem wir uns zur Wahrheit hangeln können. Womöglich hilft es uns beiden.«

»Ich werde mit ihm reden. Aber ich kann nichts versprechen. Diesen Sommer will ich mich auf nichts anderes konzentrieren, als Hallsy zu finden. Und ihn für das bezahlen zu lassen, was er Dolly angetan hat … was er uns angetan hat – und Honor.«

Mr Yellow beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Wir arbeiten Tag und Nacht daran, Hallsy ausfindig zu machen, Wyatt. Ein ganzes Team von Leuten versucht, ihn aufzuspüren. Die besten, die Goldenen Einhundert. Du musst dem Team und seinen Methoden vertrauen. Das weißt du.«

Wyatt zuckte die Achseln. »Das sagen Sie mir. Ich weiß nur, dass dieser mörderische Verräter irgendwo da draußen ist und damit durchkommt.«

Sowohl Avi als auch Mr Yellow nickten.

Wyatt lehnte sich in seinen Sitz zurück. »Reality is broken«, wiederholte er, während er beobachtete, wie Wolkenfetzen über die Tragfläche des Jets wirbelten … Die Wirklichkeit ist zerstört. Er war gespannt, was Encyte als Nächstes zerstören würde.

Kapitel 4

Das Safehaus für Jalen Rose und seine Familie befand sich in Clarkston, einer Pendlerstadt circa fünfundvierzig Minuten nördlich von Motor City. Das Haus lag am Ende einer Sackgasse. Diese war von Einfamilienhäusern gesäumt, die allesamt auf großen Grundstücken standen. Schwarze SUVs und Polizeifahrzeuge, die von der Straße aus nicht gesehen werden konnten, säumten die lange Auffahrt.

Mr Yellow bugsierte den FBI-Sedan an der Wagenreihe vorbei auf das matschige Gras im Hof und zerfurchte dabei die Fläche. Er rammte den Schalthebel auf Parken und wandte sich an Wyatt.

»Du hast eine Stunde.«

»Roger.« Wyatt streifte sich die Kapuze seines Sweatshirts über.

»Und bestimmt muss ich dich nicht erst daran erinnern«, fuhr Mr Yellow fort, während sie Avi durch die Garage ins Haus folgten, »dass du niemals hier gewesen bist.«

Wyatt nickte. Sie betraten den ersten Raum, woraufhin sich die Köpfe der Polizisten und FBI-Agenten hoben, die Jalen verhört hatten. Als sie die Männer sahen, zerstreuten sie sich. Avi ging durch einen Korridor und durchquerte eine Küche, die übersät war von Einwegkaffeebechern und Pizzaschachteln.

Ein matschiger griechischer Salat lag unberührt in einer Plastikschale und erinnerte Wyatt an ein Terrarium. Draußen vor dem Fenster drängten sich Polizeibeamte. Sie lugten herein, um herauszufinden, wer die mysteriösen Besucher waren.

Avi führte sie in ein geräumiges, holzgetäfeltes Esszimmer, dessen Mitte von einem riesigen Tisch eingenommen wurde. Die Lamellen der Jalousien waren geschlossen und über ihnen verströmte ein Kronleuchter warmes Licht. Jalens Mutter, Tyra, saß neben ihrem Sohn. Ein Mann im Anzug – Richard Lee, Jalens Anwalt – hatte auf der anderen Seite neben Jalen Platz genommen. Jalens Vater Ronnie tigerte im Hintergrund auf und ab, als befände er sich im Umkleideraum – bereit, endlich aufs Feld zu stürmen. Jalen saß zusammengesunken auf seinem Stuhl. Mit verschränkten Armen und gesenktem Kinn starrte er auf ein Knoblauch-Pizzabrötchen, das unberührt vor ihm auf einem Pappteller lag.

Ein stiernackiger verschwitzter Vernehmungsbeamter mit gekrümmten Schultern saß ihm gegenüber. »Ich weiß, dass du mehr weißt, als du mir erzählst.« Die Geduld in seiner Stimme wurde von einem unheilvollen Lächeln unterstrichen. »An deinen Händen klebt das Blut Dutzender Menschen. Sag mir, was ich wissen muss, und ich helfe dir, es abzuwaschen. Andernfalls bist du auf dich allein gestellt. Auf dich ganz allein, Jalen.« Mit seinem fetten Finger zeigte er auf den Jungen wie ein Baseballschiedsrichter nach dem dritten Strike.

»Ich hab Ihnen alles gesagt.« Jalens Stimme war kaum hörbar.

»Hör auf zu lügen!« Der Mann ließ die Hand auf den Tisch krachen. Doch Jalen zuckte nicht einmal.

Ein Blick auf Jalens Körperhaltung genügte Wyatt, um zu sehen, dass der Junge dicht gemacht hatte. »Diese Typen sind ausgebildet, um mit Serienkillern umzugehen, aber nicht mit Kids«, flüsterte Wyatt Mr Yellow zu. »Wie viele Stunden geht das schon so?«

Mr Yellow schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Und was jetzt?«, brach Ronnie die Stille. Er zeigte auf die neuen Gesichter. »Wer zum Teufel sind die denn?«

Der Vernehmungsbeamte drehte sich herum. Sein Gesicht war rot wie das eines Herzkranken. »Ich sagte, dass ich hier niemanden haben will außer mir. Das ist mein Verhör!«

Mit knapper Handbewegung ließ Mr Yellow einen Dienstausweis des Verteidigungsministeriums aufblitzen. »Wir sind auf Befehl hier. Sorry für die Unterbrechung. Aber wir müssen ein paar Minuten mit Jalen reden.«

»Ist mir scheißegal. Ich arbeite für das Büro des Generalbundesanwalts. Und wenn Sie damit ein Problem haben, können Sie mit ihm darüber reden.«

»Verteidigungsministerium?«, sagte Ronnie ungläubig. »Was zur Hölle wollen die von meinem Sohn? Ich hab jetzt langsam genug davon, Dick …« Ronnie wandte sich an den Anwalt.

»Wir können das auf der Stelle beenden«, verkündete Richard Lee mit ruhiger Stimme. »Jalen ist nicht verpflichtet, auf irgendwelche Fragen zu antworten, und hat das verfassungsmäßige Recht zu schweigen. Er versucht nur, das Richtige zu tun. Was, wie ich persönlich denke, unangebracht ist. Denn er hat nichts getan, um vorsätzlich irgendjemandem Schaden zuzufügen. Sie, Gentlemen, sollten die Macher dieser brutalen Videospiele verhören und nicht meinen Mandanten!« Richard Lee erhob laut die Stimme, als würde er zur Presse sprechen – was in der Tat etwas war, das ihm regelrecht in den Fingern juckte.

»Diese Clowns«, sagte der Vernehmungsbeamte, »sollen sich verpissen.«

Wyatt trat an Mr Yellow vorbei und streifte die Kapuze ab. »Jalen«, sagte er. »Willst du mit mir rausgehen?«

»Was soll das?«, knurrte Ronnie. »Bringen Sie Ihr Kind mit zur Arbeit?«

»Im Gegenteil«, sagte Mr Yellow. »Er hat uns mitgebracht.«

»Klar doch«, lachte Ronnie.

Der Vernehmungsbeamte erhob sich. Er war riesig: gut zwei Meter groß, mindestens hundertzehn Kilo schwer, samt mächtigem Stiernacken unter dem sich lichtenden Bürstenhaarschnitt. »Junge, schwing deinen Punkerarsch sofort aus diesem Haus und nimm den alten Mann da mit.« Seine Hand schoss vor und er stieß Wyatt gegen die Brust.

Seine Finger hatten Wyatts Shirt kaum berührt, als Wyatts Hand schemenhaft emporschoss und die des anderen fest gegen seine Brust drückte. Das dicke Handgelenk des Manns wie einen Schraubstock umklammernd, beugte Wyatt sich vor und brach es fast. Der Mann jaulte auf. Wyatt trat dem Vernehmungsbeamten die Beine weg und schleuderte ihn zu Boden. Die Wucht des Aufpralls ließ das ganze Haus erbeben und trieb dem Mann die Luft aus dem gewaltigen Brustkorb.

Stöhnend und geifernd vor Wut lag sein Gegner da. Wyatt hob den Blick zu Avi und Mr Yellow, die daraufhin jeweils einen Arm packten und den Beamten hinausschleiften.

»Scheiße, Mann«, ließ Ronnie sich vernehmen.

Wyatt wandte die Augen zu Jalen. Mit einem Nicken wies er nach draußen zum Basketballring, der über der Garageneinfahrt hing. »Lust, auf eine kurze Partie H-O-R-S-E?«

Tyra tätschelte ihren Sohn aufmunternd am Bein. »Honey«, flüsterte sie. »Ist okay, wenn du jetzt aufhören willst.«

»Ein paar Bälle werfen?«, schnaubte Ronnie. »Na, viel Glück. Hab schon die ganze Zeit versucht, ihn dazu zu überr…«

»In Ordnung.« Jalen erhob sich.

»Warte …« Der Anwalt packte den Jungen am Arm. »Falls es irgendwelche Fragen gibt, muss ich dabei sein.«

»Wir hängen einfach nur zusammen ab, Richard«, schaltete sich Wyatt ein. »Ganz inoffiziell. Wo finden wir einen Basketball?«

Tyra erhob einen langen pinken Fingernagel. »Bevor du irgendwohin mit meinem Sohn gehst, sagst du mir zuerst, wer du bist.«

»Mein Name ist Wyatt. Und alles, was ich sagen kann, ist, dass ich schon mal in seiner Haut gesteckt hab. Ich glaube, ich kann helfen.«

»Helfen? Am Arsch!«, sagte Ronnie.

»Nur zwanzig Minuten.« Wyatt bedachte Tyra mit einem Lächeln und tat sein Bestes, um charmant zu sein.

»Zehn.« Tyra neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. »In der Garage hab ich einen Ball gesehen … Aber ich behalte euch von hier im Auge.«

Die Sonne war untergegangen. Im Gegensatz zu Virginia war hier in Michigan die Luft deutlich kühler, wenn auch noch angenehm und frisch. Wyatt registrierte die Zeichen, die von der Absicherung des Grundstücks kündeten: dunkle Gestalten, die sich zwischen Bäumen und Büschen bewegten. Jalen war ein guter Schütze. Ein Linkshänder, der den Ball in sauberen, scharfen Bögen warf. Sie spielten größtenteils schweigend einige Minuten vor sich hin, warfen einfach oder spielten sich Pässe zu. Schließlich räusperte Jalen sich und sagte: »Danke, dass du mich da rausgeholt hast.«

»Kein Problem.« Wyatt nickte.

»Also, du meintest, du hast schon mal in meiner Haut gesteckt«, fuhr Jalen fort. »Kaum vorstellbar, dass das überhaupt irgendjemand schon mal getan hat.« Kurz blickte er an sich herunter, während er dribbelte.

»Ich meinte nur, dass mir auch mal eine Horde Cops auf die Pelle gerückt ist. Die in meinem Leben herumgeschnüffelt haben, um etwas aus mir herauszukriegen, das ich nicht mal kapierte.«

»Yeah, aber ich hab Menschen umgebracht. Das ist was anderes.« Jalen setzte zum Wurf an und versenkte den Ball. »Also hast du keine Ahnung. Du kannst es nicht wissen … Ich wollte es nicht. Aber ich hab’s getan und nun sind sie alle tot.«

Wyatt fischte den Ball unter dem Netz aus der Luft. Er passte ihn zu Jalen zurück und überließ ihm den nächsten Angriff.

»Natürlich weiß ich, wie das ist«, sagte Wyatt. »Du denkst, du bist der Einzige auf der Welt, den man durch einen Trick dazu gebracht hat, etwas Schreckliches zu tun? Etwas, das du jeden Tag deines Lebens bereust?«

»Wie meinst du das?« Jalen hielt den Ball zum Wurf hoch. »Hast du jemanden umgebracht?«

»Jep«, antwortete Wyatt geradeheraus.

»Mehr als einen?«, fragte Jalen.

»Spiel ab, wenn du nicht werfen willst.«

Jalen feuerte auf den Korb und der Ball prallte vom Ring ab. »Aber wie? Du bist ein Junge.«

»Wie?«, fragte Wyatt. »Das fragst du mich?«

»Ich wusste nicht, was ich tat. Es war ein Spiel.«

»Vielleicht war’s bei mir das Gleiche. Und in diesem Augenblick war für mich die Wirklichkeit zerstört.« Wyatt straffte den Körper zum Sprungwurf.

»Du meinst das Buch, richtig?« Jalens Augen leuchteten auf.

»Von Dr. Jane McGonigal«, antwortete Wyatt, als der Ball durchs Netz rauschte und ihm vom Asphalt in die Hände prallte.

»Und du weißt, dass diese Doktorin in dem Buch sagt, dass es gut ist, Games zu spielen?«

»Es ist gut«, erwiderte Wyatt.

»Nicht für mich. Nicht an diesem Tag.« Jalens Blick trübte sich ein wenig. »Ich hab nur ein Spiel gespielt und dann ist all das passiert. Und nun bin ich zerstört.« Tränen verschleierten seine Augen und er blinzelte sie fort. »Ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen. Ich wünschte, ich wär umgekommen. Ich will nicht mal mehr leben. Ich hab auch darüber nachgedacht, wie ich es für mich zu Ende bringen kann.«

»Ich würde auch nicht mehr leben wollen.« Wyatt klemmte sich den Ball unter den Arm. »Und ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du etwas in der Richtung unternimmst.«

»Was?« Jalen blickte auf. »Bist du nicht dazu da, um mir so was auszureden?«

»Nee, Mann. Ist deine Entscheidung. Du kannst dich in deinem Selbstmitleid wälzen …« Wyatt umdribbelte Jalen und setzte zu einem Korbleger an. »Oder du machst einfach weiter. Und genau jetzt hast du die Chance, was Gutes zu tun.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, uns zu helfen, Encyte zu finden.«

»Und wer ist uns?«, konterte Jalen. »Du hast diesen FBI-Agent wie ein Kleinkind umgehauen. Der alte Mann, der bei dir ist, sagte was vom Verteidigungsministerium … Wer genau fragt mich eigentlich um Hilfe?«

»Jemand, der etwas gegen das tun kann, was Encyte dir und diesen Leuten in Austin angetan hat.« Wyatt ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen. »Um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Was Encyte mit ›zerstörte Wirklichkeit‹ meint, ist meiner Ansicht nach, dass es eine neue Realität gibt. Eine digitale Welt, die uns alle in einem gigantischen Spiel miteinander verbindet, sowohl real als auch virtuell. Das ist die Realität – und er droht damit, sie zu zerstören.«

»Mich hat er definitiv zerstört.« Jalen warf – und verfehlte den Korb um Längen.

Wyatt spielte den Ball zurück. »Du bist gebeugt, nicht gebrochen.«

Jalen dachte einen Augenblick nach. Dann haute er einen Drei-Punkte-Wurf raus, der geradewegs durchs Netz rauschte.

»Wann hattest du zum ersten Mal mit Encyte zu tun?«, fragte Wyatt.

»Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht mal. Er könnte mir schließlich mit unterschiedlichen Avataren auf die Pelle gerückt sein. Ich hab meine Games schon eine kleine Weile gestreamt, um eine Fanbase auf Twitch zu bekommen oder ein YouTuber zu werden. Aber das ist gar nicht so einfach. Wenn du dann also einen Follower hast, der mit dir Kill Bloxx spielen will, ist das cool. Es ist wie eine Ehre. Und der Einzige da draußen, von dem ich weiß, dass er mit Encyte in Verbindung steht, benutzt meiner Vermutung nach den Handle Pro_F_er. Eines Tages hat er einfach angefangen, mit mir zu chatten. Ich glaube, über Twitch. Aber dann haben wir auch über Kill Bloxx kommuniziert. Er kannte das Spiel sehr gut und er hat selbst Spiele entwickelt, mit Kill-Bloxx-Studio. Du kennst das Tool, oder?«

Wyatt zuckte die Achseln. »In etwa.«

»Nun, auf der Kill-Bloxx-Plattform werden die Leute in der Community dazu ermuntert, ihre eigenen Spiele zu kreieren und sie von anderen Leuten spielen zu lassen. Genau das hat er getan. Und es hat Spaß gemacht, doch dann …« Jalens Stimme brach. »Das letzte Game, in das er mich gebracht hat, war anders. Es sah aus wie Kill Bloxx, aber es war eine Simulation.« Gedankenverloren dribbelte Jalen vor sich hin.

»Hat Pro_F_er – oder irgendein Avatar, mit dem du kommuniziert hast – jemals den Namen Glühwurm erwähnt? Oder Glowworm Gaming?«

»Nee.« Jalen schüttelte den Kopf. »Ich hab von deren Spielen gehört. Doch die sind jetzt auf dem Index … völlig aus dem Internet verschwunden. Aber ich glaube, man findet immer noch Versionen im Darknet.«

Wyatts Blick glitt zum Haus zurück, bevor er wieder Jalen ansah. »Bist du jemals im Darknet gewesen?«

»Hab mich per Tor-Browser eingeloggt. Aber einfach nur, um es mal zu machen. Ich habe die Spiele nicht gespielt.«

»Nun, tu’s auch besser nicht! Ich habe keine Ahnung, wer daran immer noch arbeiten könnte oder inwiefern sie noch funktionieren. Aber hinter diesen Games verbirgt sich auch ein Trick … ein Mittel, um Leute anzulocken.«

»Tun das nicht alle Spiele?« Jalen lachte verbittert und passte Wyatt den Ball zu. »Woher weißt du so viel über Glowworm Gaming?«

»Wie ich schon sagte, ich hab auch mal in deiner Haut gesteckt. Nicht insofern, dass ich im Spiel involviert war, ich war eher … so was wie ein Kollateralschaden.«

»Ich hab da mal was gehört. So ein Gerücht unter Gamern. Demnach ist der Glühwurm insgeheim so ’ne Art Terrorist gewesen. Wurde von der US-Regierung gefangen genommen und in ein Geheimgefängnis gesteckt. Einige glauben, er ist jetzt auf Guantanamo.«

Natürlich wusste Wyatt, dass das nicht stimmte. Schließlich war er es gewesen, der den Glühwurm getötet hatte. Mit eigenen Augen hatte er ihn sterben sehen. Als seine Kugel ihm in den Schädel geflogen war. Es war das einzige Leben, das er nicht bereute, genommen zu haben.

»Jalen!«, rief Tyra zu ihnen hinunter. »Dein Daddy will los. Komm und verabschiede dich.«

Jalen zögerte. »Wenn du willst«, sagte er zu Wyatt. »Kann ich zurückkommen.«

»Nee, alles cool. Aber noch eine Frage.«

»Okay.«

»Was hast du dem FBI nicht erzählt?«

»Oh, Mann.« Jalen schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, du wärst wirklich cool.«

Wyatt lächelte. »Komm schon, Bro. Du bist ein viel zu guter Gamer, als dass du ihnen alles erzählt hast. Irgendetwas musst du für dich behalten haben. Zumindest weiß ich, dass ich es hätte.«

Jalen ließ den Blick über das Grundstück schweifen, bevor er einen Seufzer von sich gab.

»Nun mach schon!«, rief Tyra wieder vom Haus.

»Okay. Aber es geht nicht um mich.« Jalens Augen verengten sich zu Schlitzen. »Da gibt es jemanden in den Games … Ich wollte nur nicht, dass sie in all das hineingezogen wird.«

»Ein Mädchen?«

»Ja. Aber wenn ich sage, was ich weiß, kannst du mir dann versprechen, es geheim zu halten?«

»Ich kann versprechen, es nicht dem FBI zu erzählen.«

Kapitel 5

Wyatt dachte über das nach, was Jalen ihm erzählt hatte. Er spielte sogar mit dem Gedanken, es vor Avi und Mr Yellow geheim zu halten. Er besaß das Vertrauen des Jungen. Und dieses Vertrauen wollte er nicht enttäuschen. Aber er wusste nur zu gut, dass Psychopathen ihre Opfer unweigerlich unter unschuldigen Menschen fanden.

Sie waren auf dem Rückweg nach Virginia und bereits gute fünfundzwanzig Minuten in der Luft, als Wyatt das Wort ergriff. »Also … ich denke, da gibt es noch jemanden, den wir unter die Lupe nehmen sollten.«

Avi und Mr Yellow blickten von ihren Geräten auf.

»Schieß los«, sagte Mr Yellow.

»Ich weiß nicht, ob es uns irgendwo hinführt. Aber Jalen hat mir etwas erzählt. Einmal ist er in ein Spiel gegangen, das Pro_F_er kreiert hat. Und für kurze Zeit hat er neben einem weiteren Avatar namens Hi Kyto gespielt.«

Avi verzog das Gesicht. »Sollte mir das irgendetwas sagen?«

»Ich weiß nicht, ob sie identisch sind. Könnte sich sozusagen auch um einen Trittbrettfahrer-Avatar handeln. Aber Hi Kyto ist der Gamer-Name von Julie Chen, einer der berühmtesten Fortnite-Gamerinnen.«

Avis Kopf senkte sich augenblicklich wieder über das Tablet, um Julie Chen zu googeln.

»Warte ’ne Sekunde«, sagte er. »Sie ist nicht nur eine Gamerin, sondern ein richtiges Ausnahmetalent.« Er las laut vor: »Die unter dem Namen Hi Kyto bekannte Gamerin wurde in Shenyang als Kind nationalchinesischer Eltern geboren. Im Alter von vier Jahren wanderte sie mit ihnen in die USA aus, wo der Vater am Freeman Spogli Institute der Stanford-Universität Diplomatie lehrte, während ihre Mutter Professorin für Informatik wurde. Schon früh zeigte Chen eine Neigung zur Linguistik. Berichten zufolge sprach sie im Alter von neun bereits sieben Sprachen fließend. Sie ist ein Multitalent und hat ihre eigene Codebasis entwickelt. Als hoch angesehene, eigenständige Spielentwicklerin hat sie Kill-Bloxx-Spiele kreiert und war eine frühe Spielerin von Fortnite. Sie gehört zu den wenigen weiblichen Gamern, die es auf der Plattform zur Berühmtheit gebracht haben. Als höchst kontroverse Figur übt sie auf die Gaming-Community einerseits eine große Faszination aus, während sie sich andererseits auf Distanz zu ihr hält. 2017 war sie die erste Jugendliche, die mit …« Avi hielt inne, bevor er langsam weiterlas. »… die mit dem angesehenen Darsie-Stipendium ausgezeichnet wurde, gekürt von John Darsie höchstpersönlich.«

»Moment mal«, sagte Mr Yellow. »John Darsie … ist das der, an den ich gerade denke?«

Avi tippte auf seinem iPad herum, rief eine weitere Wikipedia-Seite auf und hielt sie Mr Yellow zum Lesen hin.

»Okay, das ändert die Dinge.« Zufrieden lehnte sich Mr Yellow zurück.

»Wovon sprecht ihr da?«, fragte Wyatt. »Wer ist John Darsie?«

»Camp-Honor-Absolvent und …«, begann Mr Yellow, bevor er gedankenversunken abbrach.

»Und was noch?«

»Hast du jemals von Red Trident gehört?«, fragte Mr Yellow.

Wyatt schüttelte den Kopf.