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Der Drogenkrieg in Mexiko ist das Thema dieses actiongeladenen Militär-Thrillers. Spezialagent Chance Vaught soll während einer Mission in Mexiko für die Sicherheit des Teams der US-Drogenkontrolle sorgen. Doch die Autokolonne gerät ins Fadenkreuz eines Scharfschützen, der irgendwo in der Ferne lauert. Vaught ist in höchster Not. Auch der Navy SEAL Gil Shannon kann ihm nicht helfen. Er ist offenbar bei seinem letzten Einsatz ums Leben gekommen. Die Männer und Frauen sind dem Geisterschützen hilflos ausgeliefert. Nach und nach holt er sich seine Opfer ...
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Seitenzahl: 576
Veröffentlichungsjahr: 2018
Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Ghost Sniper
erschien 2016 im Verlag Touchstone.
Copyright © 2016 by Scott McEwen und Thomas Koloniar
Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Touchstone,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc.
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-654-0
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Dieses Buch ist der Erinnerung an jene 30 Amerikaner gewidmet, die ihr Leben bei der Mission Extortion 17 in Afghanistan verloren. 17 von ihnen waren Mitglieder des SEAL Team VI. Es war der bisher verheerendste Verlust in der Geschichte der United States Navy SEAL Teams. Einige dieser Männer kannte ich persönlich; es waren Freunde von mir. Alle waren Krieger und Patrioten im Dienste unserer Nation. Sie verdienen unseren Respekt.
PROLOG
Paris, Frankreich
Gil sah zu seinem besten und oft waghalsigen Freund hinüber.
»Erzähl mir was über dieses Mädchen.«
Crosswhite nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Das weiß ich besser. Du bist schließlich in ein kommunistisches Land gezogen, um mit ihr zusammen sein zu können, zur Hölle.«
»Es ist gar nicht mehr so kommunistisch … bloß völlig verarmt.«
Sie gingen über einen Lagerplatz am Rand von Paris, unweit des Bahnbetriebshofs, wo Gil seinen ersten Zusammenstoß mit dem tschetschenischen Scharfschützen Sascha Kowalenko hatte.
»Also willst du mir nichts über sie erzählen?«
»Na ja, sie ist ein bisschen jünger als ich.«
»Wie jung?«
»21.«
Gil stieß einen Pfiff aus. »Das ist ein gutes Alter.«
»Sie will bald heiraten. Ein Kind haben.«
»Du solltest das machen«, stimmte Gil zu, bevor er sich selbst auch eine Zigarette anzündete. »Würde dir guttun.«
»Der Gedanke, ein Kind zu haben, macht mir eine Heidenangst. Und was passiert, wenn du wieder mal in die Klemme gerätst? Wer wird dir dann den Arsch retten?«
»Benutz mich nicht als Vorwand, um dich da rauszuwinden«, sagte Gil. »Außerdem war ich gerade erst in der Klemme. Und du warst nicht in der Nähe.«
»Ja, und nach allem, was ich gehört habe, wärst du beinahe draufgegangen.«
»Die anderen zwei Male wäre ich auch beinahe draufgegangen.«
Crosswhite blieb stehen und wandte sich zu ihm um. »Was zum Teufel willst du damit sagen?«
»Dass ich der Meinung bin, du solltest heiraten und ein Baby bekommen, du Trottel.«
»Ja«, erwiderte Crosswhite mit einem Seufzen. »Klar.« Sie setzten sich wieder in Bewegung. »Sie ist katholisch. Ich muss jetzt sonntags in die Kirche gehen. Ich hasse die Scheißkirche.«
»Wird dich auch nicht umbringen. Mit den Drogen musst du auch aufhören.«
»Hab ich doch schon. Hast du in letzter Zeit mit Marie gesprochen?«
Bei der Erwähnung seiner Frau wurde Gil augenblicklich traurig. »Sie will mich nicht zurück, wenn ich nicht endgültig aussteige. Und dazu bin ich einfach nicht bereit.«
»Dir ist klar, dass diese Jungspunde, die jetzt nachrücken, schneller, stärker und gefährlicher sind als wir.«
»Das weiß ich, Partner, aber ich bin noch nicht so weit.«
Sie erreichten ein orangefarbenes Garagentor mit einer großen weißen Ziffer 9 darauf.
»Also, was zum Henker denkst du, ist da drin?«, fragte sich Crosswhite laut. »Eine Sprengfalle?«
Gil warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus. »Das bezweifle ich.«
»Und du bist dir ganz sicher, dass du Pope nicht vorher davon erzählen willst?«
»Ja.« Gil machte einen Schritt auf das Tor zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Das Tor fuhr automatisch hoch. Beide Männer starrten hinein.
»Du willst mich doch verarschen«, stieß Crosswhite hervor. Das Telefon in Gils Hosentasche klingelte.
»Hallo?«
»Und was verbirgt sich nun hinter Tür Nummer neun?«, wollte Pope wissen.
Gil warf einen Blick zum Himmel und war keineswegs überrascht. »Ich denke, du solltest in ein Flugzeug steigen und dir das mit eigenen Augen ansehen.«
Robert Pope, der CIA-Chef, kam am folgenden Tag in Paris an. Gil und Crosswhite kehrten mit ihm zu der Lagereinheit zurück.
Gil steckte den Schlüssel in das elektrische Schloss und das Tor hob sich langsam, gab den Blick frei auf eine große Menge an Lattenkisten voller Munition und Waffen, die am hinteren Ende gestapelt waren. Popes Aufmerksamkeit wurde aber weit mehr von der hölzernen Werkbank an der Wand angezogen, auf der sich abgedeckt unter einer grünen Segeltuchplane ein sehr großer Posten befand.
»Die Kisten sind voll«, merkte Gil an.
»Was ist unter der Plane?«, fragte Pope.
Mit einem Grinsen trat Crosswhite vor und zog die Plane weg, enthüllte 200 ordentlich gestapelte, glänzende Goldbarren. Jeder Barren trug die Prägung ›1000g/999.9 Gold‹. Er suchte in Popes Blick nach Schock oder Überraschung, fand aber nicht das geringste Anzeichen dafür.
»Wie viele Barren?«, wollte Pope wissen.
»200«, gab Gil Auskunft.
Pope rechnete im Kopf mit. »Das sind fast neun Millionen Dollar. Lass das Tor wieder runter und gib mir den Schlüssel.«
Crosswhite warf Gil einen erschrockenen Blick zu, dann fixierte er Pope erneut. »Wovon zum Teufel reden Sie? Ihnen den Schlüssel geben?«
Pope erwiderte nichts darauf.
»Komm mit raus«, sagte Gil ruhig.
»Hey, damit wären wir auf der Siegerstraße!«, widersprach Crosswhite. »Mission erfüllt. Das Spiel ist vorbei und der Gewinner räumt ab!«
»Damit sind wir im Geschäft«, verbesserte Pope ihn. Der Blick seiner blauen Augen war durchdringend. »Jetzt schließ das Tor und gib mir den Schlüssel.«
»Gil, was zur Hölle?«
Gil drehte den Schlüssel im Schloss.
Das Tor fing an, sich herabzusenken, und Crosswhite trat rasch nach draußen. Er konnte es noch immer nicht glauben. »Erzähl mir nicht, dass du das in Ordnung findest. Willst du wirklich zulassen, dass er sich das alles allein unter den Nagel reißt?«
Gil zog den Schlüssel ab und reichte ihn Pope. »Verschwinden wir von hier. Auf uns wartet ein Flieger.«
1
Sechs Monate später
Distrito Federal
Mexiko-Stadt, Mexiko
08:45 Uhr
Chance Vaught stand in der hinteren Lobby der amerikanischen Botschaft in Mexiko-Stadt und sprach mit Bill Louis, dem amerikanischen Botschafter in Mexiko. Vaught war ein ehemaliger Green Beret mit acht Jahren Kampferfahrung im Irak und in Afghanistan. Inzwischen arbeitete er als Spezialagent für den diplomatischen Sicherheitsdienst der Vereinigten Staaten, kurz DSS. In seinem derzeitigen Einsatz war er für die Sicherheit von Alice B. Downly verantwortlich. Downly war die Leiterin der Bundesbehörde für Nationale Drogenkontrollpolitik und wurde in dieser Funktion intern gern auch als ›Drogenbaronin‹ tituliert.
»Sie wollen mir also sagen, dass wir einen Spießrutenlauf von hier bis zum Senatsgebäude absolvieren müssen?«, fragte Vaught. Er war 30 Jahre alt, besaß ein südländisches Gesicht mit grünen Augen und schwarzem Kinnbart. »Ich dachte, alle Termine für die gesamte Woche wurden hier in der Botschaft angesetzt. Was zur Hölle ist passiert?«
»Ganz unter uns?« Louis senkte die Stimme. »Downly hat gestern die mexikanische Delegation beleidigt, insbesondere Lazaro Serrano. Zuerst hat sie vorgeschlagen, dass sie amerikanische Spezialeinheiten nach Mexiko reinlassen, die sie beim Krieg gegen die Kartelle als Berater unterstützen sollen, und dann hat sie angedeutet, dass diese Teams unabhängig operieren sollen, so wie unsere Agenten es damals unten in Kolumbien gemacht haben, zu Pablo Escobars Zeiten.«
Vaught verdrehte ungläubig die Augen. »Mexiko mit Kolumbien zu vergleichen ist ja auch überaus diplomatisch.« Er holte eine Dose Copenhagen-Tabak aus der Tasche seiner Cargohose und steckte sich einen Dip hinter die Unterlippe. Er war sicher, dass das mexikanische Senatsgebäude – vor Ort als La Casona de Xicoténcatl bekannt – engmaschig überwacht wurde, aber er hätte dort keinerlei Kontrolle über das Vorgehen. Treffen und Besprechungen, die außerhalb des Botschaftsgeländes stattfanden, gaben stets Anlass zu erhöhter Vorsicht und Nervosität und wurden weltweit zunehmend zu einem Problem für den DSS. Seit den von Osama bin Laden orchestrierten Terroranschlägen vom 11. September 2001 waren Milliarden US-Dollar geflossen, um amerikanische Botschaften wehrhaft zu machen, bis sie weit mehr den Hochsicherheitsgefängnissen zu Hause glichen als Orten der Diplomatie. Und seither weigerten sich viele ausländische Diplomaten schlichtweg, sich zu Gesprächen in den festungsähnlichen Anwesen einzufinden, was wiederum die amerikanischen Diplomaten dazu zwang, solche Treffen an weniger sicheren Orten abzuhalten, so wie heute Morgen.
»Es sind ja nur zwei Meilen.« Louis war ein rundlicher Mann über 40, mit Glatze und blassblauen Augen. Er sprach fließend Spanisch und verstand auch die mexikanische Kultur bis ins Detail. »Sie schicken uns die übliche staatliche Eskorte, zwei Wagen, vier Motorräder, und zusammen mit unseren drei Fahrzeugen ist das mehr als genug. Die Fahrt dauert nur acht Minuten.«
Vaught hatte schon erlebt, dass die Welt in acht Minuten im Chaos versinken konnte.
»Ich weise meine Leute ein und sorge dafür, dass sie abfahrbereit sind«, erwiderte er. Er hatte Familie in Mexiko, seine Mutter stammte aus dem Bundesstaat Jalisco, und er war zweisprachig aufgewachsen und sprach Englisch und Spanisch gleich gut. Das hatte es ihm erlaubt, auf Anhieb ein gutes Verhältnis zum Botschafter aufzubauen. »Dann bin ich ja gespannt, worum sie heute bitten wird – vielleicht um einen eigenen Luftwaffenstützpunkt direkt hier im Distrito Federal?« Er bezog sich auf die offizielle Bezeichnung für den Bundeshauptstadtdistrikt, der die Metropolregion von Mexiko-Stadt umfasste.
Louis lachte leise, als er sich abwandte. »Die direkte Route führt über die Avenida Reforma. Ich sorge dafür, dass drüben beim Senatsgebäude die angemessenen Vorkehrungen getroffen werden. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie sonst noch irgendetwas brauchen.«
Vaught versammelte die neun Agenten seiner Personenschutzeinheit beim Fuhrpark hinter der Botschaft. Die Männer waren für diese Aufgabe sorgfältig ausgewählt worden, jeder von ihnen ein ehemaliger Agent der Spezialstreitkräfte. Alle hatten ausgedehnte Kampfeinsätze hinter sich. »Also Folgendes, Jungs: Downly hat es geschafft, die mexikanische Delegation gestern zu verärgern, deswegen wollen sie sich heute im Xicoténcatl treffen, ein paar Meilen von hier entfernt.« Der Name wurde Schiko-tén-katl ausgesprochen. »Das ist der Bau, in dem der mexikanische Senat zusammenkommt, für die Gringos unter euch.« Die anderen lachten. »Sie schicken die übliche Eskorte, und die Strecke sollte uns nicht mehr als acht Minuten kosten, aber ich möchte, dass ihr Jungs den gesamten Weg über auf jede Kleinigkeit achtet. Haben wir uns verstanden?«
Die Antworten bestanden aus »Roger!« und »Aye-aye!«, je nachdem, in welcher Abteilung der jeweilige Agent zuvor gedient hatte, und dann verteilten sie sich auf die Fahrzeuge, um den Konvoi vorzubereiten: drei schwarze Chevy SUVs mit schusssicheren Scheiben und Türen.
Vaught nahm seinen zweiten Mann beiseite, einen Afroamerikaner namens Uriah Heen, ebenfalls ehemals bei den Green Berets. »Sellers kommt mit dem Trio ins Führungsfahrzeug. In der Mitte sitzen Jackson und ich mit Downly, ihren beiden Stabsmitarbeitern und Botschafter Louis. Du bildest mit den restlichen drei die Nachhut. Lass Bogart hinters Steuer. Ich will den besten Fahrer als Rückendeckung. Alles klar?«
Uriah nickte ihm zu. »Klar. Wie hat Downly es vermasselt?«
Vaught spuckte Tabaksaft auf den Asphalt; er hatte genug geschluckt. »Sie hat vorgeschlagen, hier amerikanische A-Teams von der Leine zu lassen, um die Kartelle zu bekämpfen. Das kam wohl ebenso gut an wie ein Furz während einer Taufe.«
Uriah lachte leise und rieb sich den kahl rasierten Hinterkopf. »Mit wem hat sie’s getrieben, um diesen Posten zu kriegen?« Alice Downly war eine hochgebildete, 40-jährige Brünette mit ansteckendem Lächeln und sehr fotogen. Aber auf dem Washingtoner Parkett war sie nicht gerade für ihren politischen Scharfsinn bekannt. Ihre Berufung an die Spitze der Behörde war für viele, die sich in der Szene auskannten, überraschend gekommen.
Vaughts Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Verkneif dir den Mist, solange wir im Ausland sind.«
»Verstanden.« Auch Uriah wurde ernst. »Ich kümmere mich darum, dass alle auf ihren Plätzen und per Funk verbunden sind.«
Eine Stunde später bestieg die amerikanische Delegation die Fahrzeuge und es ging los. Ein viertüriger Pick-up der mexikanischen Bundespolizei mit vier Beamten führte die Kolonne an, ein weiterer Truck bildete die Nachhut, und vor jeder Ampel fuhren zweimal zwei Motorräder voraus, um zu verhindern, dass der reguläre Verkehr die Karawane kreuzte oder unterbrach. Die Männer des DSS trugen kakifarbene Cargohosen, schwarze Jacken von North Face, Baseballkappen, Kampfstiefel und Sonnenbrillen von Oakley. Jeder von ihnen trug eine Phase-5-Nahkampfpistole verdeckt in einer Ein-Punkt-Schlinge mit Gummizug und eine Glock 21 als Reserve. Bei der Nahkampfwaffe, kurz CQC, handelte es sich im Grunde um einen M4 Karabiner mit verkürztem 7,5-Inch-Lauf und Kaliber 223. Der Schaft war entfernt worden, sodass nur das Pufferrohr übrig war, welches an einen gepolsterten Besenstiel erinnerte, den man für einen kontrollierten Schuss gegen die Schulter legen konnte. In jeder Waffe befand sich ein Magazin mit 30 Schuss Munition, und jeder DSS-Agent trug verdeckt weitere vier Magazine, die mit Klettbändern an der Körperpanzerung befestigt waren. Diese Panzerung war vorn und hinten mit jeweils zwölf Inch großen keramischen Gewehrschutzplatten verstärkt.
Die Kolonne bog rechts ab und verließ das Gelände der US-Botschaft. Sie fuhren in südwestlicher Richtung, durchquerten eine große Rotunde und bogen erneut rechts ab, um nach Westen zu fahren. Nachdem sie am Ende des Blocks ein weiteres Mal rechts abgebogen waren, fuhren sie etwa eine Viertelmeile lang gen Norden, bevor sie noch einmal rechts abbogen und sich zwei Blocks weit geradeaus hielten. Schließlich lenkten sie nacheinander links um eine weitere große Rotunde herum und erreichten die Hauptallee, die durch Mexiko-Stadt führte. Die erfahrenen Motorradpolizisten schirmten den Durchgangsverkehr von der Kolonne ab. Sie hatten die Sache im Griff, so wie Cowboys zu Pferde eine Viehherde im Griff hatten. Die Wagengruppe kam ohne Unterbrechung voran.
Vaught saß auf dem Beifahrersitz des mittleren Wagens, der von Jackson, einem ehemaligen Navy SEAL, gelenkt wurde. Die vier Diplomaten saßen hinten. »Scheiße«, murmelte er, während er zusah, wie die Motorräder nach rechts in eine schmale, einspurige Straße abbogen, »sie leiten uns durch die Nebenspur.« Die Nebenspur verlief parallel zur Hauptallee, durch einen erhöhten Mittelstreifen von ihr getrennt, auf dem sich Bäume, Parkbänke, Bushaltestellen und eine Reihe von Betonpfosten befanden. Die Nebenspur diente dem Zweck, den Durchgangsverkehr zu entlasten, indem hier diejenigen Fahrzeuge abbiegen konnten, die nicht die gesamte Länge der Hauptallee befahren wollten. Vaught mochte es nicht, die Nebenspur für diplomatische Fahrten zu nutzen, weil die Kolonne hier zwischen dem Mittelstreifen auf der linken Seite und den Gebäuden auf der rechten eingeklemmt war und es im Ernstfall praktisch keinen Fluchtweg gab.
Er aktivierte sein Kehlkopfmikrofon und sprach über das Funknetz. »Passt genau auf, Leute. Die nächste halbe Meile wird ein bisschen eng.« Er warf einen Blick nach links, wo ein Stadtbus die Kolonne auf der anderen Seite des Mittelstreifens passierte. Die panischen Blicke der Fahrgäste verrieten ihm sofort, dass etwas nicht stimmte. Als er einen Blick auf eine Gestalt in Schwarz mit Skimaske über dem Gesicht erhaschte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Vaught schwang den Arm über die Rückenlehne seines Sitzes. »Alle runter!«, brüllte er. »Wir werden angegriffen!«
Botschafter Louis packte Direktorin Downly und zog sie mit sich zu Boden. Downlys Stabsmitarbeiter, ein Mann und eine Frau, die hinter ihnen saßen, duckten sich in ihren Sitzen. Die Frau murmelte: »O mein Gott!«
Vaught wollte die anderen über Funk warnen, als der grün-gelbe Bus über den Mittelstreifen ausscherte, eine Bank voller wartender Menschen umnietete und den Pick-up der Bundespolizei an der Spitze der Kolonne rammte, ihn dabei durch die Frontscheibe eines Oxxo-Minimarkts schob. Eine raketengetriebene Granate kam aus dem Nichts und schlug in die Fahrertür des vorderen DSS-Fahrzeugs ein, detonierte mit einer furchtbaren Explosion, die alle vier Agenten im Wagen auf der Stelle tötete.
»Alle sofort aussteigen!«
Noch bevor Jackson angehalten hatte, sprang Vaught schon aus dem Wagen. Er riss die hintere Tür auf und zerrte Louis hastig am Kragen nach draußen, beugte sich dann erneut hinein, um Downly am Arm zu packen und sie so abrupt nach draußen zu befördern, dass ihr nicht einmal die Zeit blieb, auf die Füße zu kommen. Sie stürzte auf das Straßenpflaster, als eine weitere Granate in die Fahrertür einschlug und detonierte. Die Explosion hob Vaught von den Füßen und er landete auf dem Rücken. Der SUV ging in Flammen auf. Downlys männlicher Mitarbeiter schaffte es gerade noch, sich mit brennender Kleidung und blutigem Gesicht nach draußen zu stürzen, aber die Frau blieb im Wagen zurück, denn das Feuer hatte sie bereits verschlungen. Von Jackson war kaum etwas übrig, außer zwei zerfetzten Beinen im Fußraum.
Es dauerte keine Sekunde, bis Vaught wieder auf den Füßen war. Sein scharfer Verstand erfasste die Lage sofort und registrierte wie in Zeitlupe, dass die vier DSS-Agenten den dritten Wagen hastig über die Beifahrerseite verließen. Eine weitere Granate traf den ungepanzerten Truck der Bundespolizei am Ende der Kolonne und ließ den Benzintank explodieren. Der Pick-up wurde zerrissen, während die Männer noch versuchten auszusteigen, und tötete sie alle.
Sein Instinkt half Vaught, die Flugbahn der Rakete anhand ihres Kondensstreifens zurückzuverfolgen. Er riss die CQC-Pistole hoch und ging neben dem brennenden Chevy auf ein Knie hinunter, feuerte auf drei Männer, die jetzt in Deckung gingen – in unmittelbarer Nähe eines weißen Vans, der sieben Fahrspuren weit entfernt auf der entgegengesetzten Seite der Hauptallee parkte. Der Raketenwerfer ging zu Boden, nachdem er ihn vom Schritt aufwärts durchsiebt hatte, aber seine beiden Kollegen eröffneten ihrerseits das Feuer mit ihren AK-47.
Vaught rollte sich hinter das brennende Auto, als Uriah und die restlichen drei Agenten hinzukamen, um ihm Deckungsfeuer zu geben. Aber nun kam aus ihrer eigenen Spur eine weitere Salve hinzu: Weiter vorne, wo der Bus den vordersten Pick-up gerammt hatte, kletterten rasch nacheinander fünf maskierte Bewaffnete aus der hinteren Tür des Busses, während ringsum überall Menschen schrien und in alle Richtungen davonrannten, in Deckung gingen, als die Schützen begannen, wild und wahllos aus der Hüfte zu feuern. Vaught wurde zweimal getroffen, eine Kugel schlug in den Brustpanzer ein, die andere traf ihn am linken Oberarm. Er wusste, dass er seine Diplomatenschützlinge von der Straße schaffen musste, aber dazu war keine Zeit, und es gab auch keinen Ort, an den sie sich hätten flüchten können, wenn sie die Zeit dafür gehabt hätten. Dieses Feuergefecht würde erst enden, wenn eine Seite komplett ausgelöscht war.
Ihm klangen die Ohren, als Uriah neben ihm in die Knie ging und sie beide unablässig feuerten, bis zwei der Schützen zu Boden gingen.
»Ich muss nachladen!« Vaught warf das leere Magazin aus und zog ein volles aus seiner Jacke. Uriah ließ die eigene leere Waffe fallen, um stattdessen die Glock 21 zu ziehen, und feuerte auf die verbleibenden drei Gegner. Er erledigte einen weiteren, wurde aber selbst von einer Kugel aus dem AK-47 getroffen, die in seinen Brustpanzer einschlug und ihn zu Boden warf.
Vaught hob erneut die CQC und mähte die beiden übrigen Schützen nieder, während sie noch mit Nachladen beschäftigt waren. Uriah rappelte sich wieder auf die Füße und half den anderen DSS-Männern dabei, ihre Schützlinge zu decken. Die Fronten der geschlossenen Geschäfte entlang des Blocks lagen alle hinter heruntergelassenen Metallgittern, sodass es keine Möglichkeit gab, dort Schutz zu suchen. Die brennenden Fahrzeuge boten ein wenig Deckung, aber die Gefahr weiterer Explosionen war nur allzu real.
Drei maskierte Motorradfahrer rauschten vorbei und überzogen sie mit einem 9-Millimeter-Kugelhagel aus ihren Uzi-Maschinenpistolen. Einer der DSS-Agenten bekam eine Kugel in den Kopf und fiel tot zu Boden. Ein anderer wurde in beide Beine getroffen. Downlys Mitarbeiter brach auf dem Gehsteig zusammen. Die Schüsse hatten seine Leber und Milz zerfetzt. Er würde innerhalb weniger Sekunden verblutet sein.
Downly schrie auf und ließ sich neben ihrem Stabsmitarbeiter auf die Knie sinken, bedeckte den Kopf mit beiden Händen. Die Motorräder wendeten viel zu schnell auf der leeren Spur und brausten ein zweites Mal mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, ballerten wahllos auf alles, was sich bewegte, während die Männer vom DSS das Feuer erwiderten. Botschafter Louis und ein weiterer Agent wurden getroffen. Vaught rannte hinaus auf die Straße und nahm den hintersten Schützen ins Visier, als die Bande davonraste. Er drückte ab und warf den Mann mit dem letzten Schuss in seinem Magazin vom Motorrad.
Dann erschien plötzlich die verloren geglaubte Motorradeskorte auf der Fahrbahn und die vier Polizisten rasten an ihm vorbei, dicht auf den Fersen der beiden Angreifer auf ihren Maschinen.
»Wo zum Teufel wollen die Cops hin?«, brüllte Uriah. »Wir brauchen sie hier!«
»Es ist ein Hinterhalt!« Vaught wechselte das Magazin, als er von der Straße zurückkam. »Das Ganze war ein abgekartetes Spiel! Hilf Bogart dabei, Downly auf die Füße zu bekommen, während ich nach Clay sehe. Wir müssen hier weg!«
»Wohin denn?«
»Egal, alles ist besser, als hier zu hocken!«
Bogart hieß in Wirklichkeit Stevens, aber er besaß große Ähnlichkeit mit Humphrey Bogart, und er hatte Schwierigkeiten, Downly mit einem Arm hochzuziehen, aber den zweiten brauchte er zum Schießen. Die Drogenbaronin stand völlig neben sich, weigerte sich aufzustehen und kreischte hysterisch, während sie beide Hände fest auf die Ohren gedrückt hielt. Uriah packte ihren freien Arm und gemeinsam hievten sie sie auf die Füße.
Vaught ging neben Agent Clay in die Hocke. Der Mann war in beide Beine getroffen worden. »Kannst du dich allein bewegen?«
Clay schüttelte den Kopf, hielt seine Waffe fest umklammert, während sein Blick wachsam umherhuschte. Er blutete aus Wunden in beiden Oberschenkeln und an einem Knie. »Das Knie ist nutzlos, ich kann nicht aufstehen. Wir stecken tief in der Scheiße, Chance. Wieso sind all die verfluchten Geschäfte dienstags geschlossen?«
Vaught sprach das Offensichtliche aus. »Damit wir hier auf der Straße bleiben.« Er stand auf und zog Clay hoch, sodass dieser sich auf sein halbwegs brauchbares Bein stützen konnte. Inzwischen stand auch der letzte Chevy lichterloh in Flammen, die von den anderen Fahrzeugen auf den unversehrten Wagen übergegriffen hatten. »Lass uns um den Bus herum und weiter die Straße hinaufgehen, bis wir ein offenes Gebäude finden. Wir sollten jetzt jeden Moment die Sirenen hören können.«
»Wieso hören wir sie nicht schon längst?«
»Die werden warten, bis sie ausreichend Spezialkräfte beisammenhaben, um mit dem fertigzuwerden, was hier unten ihrer Meinung nach los ist.«
In diesem Moment explodierte Clays Körper und bespritzte Vaught mit dem Blut und den Eingeweiden des Soldaten. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, als der Kanonenschuss die Allee hinauf widerhallte. Er war vom Südende des Blocks gekommen.
»Ach du Scheiße! Es ist eine Barrett! Alle auf den Boden!«
Bogart zögerte Sekundenbruchteile zu lange und wurde von der Kugel eines Scharfschützen im Rücken getroffen. Das Geschoss wog 45 Gramm, besaß eine Geschwindigkeit von 850 Metern pro Sekunde und war ein Kaliber 50. Der Schuss riss ihm den linken Arm und die dazugehörige Schulter weg, schickte den Körperteil hoch in die Luft. Er stürzte auf den Asphalt und suchte Vaughts Blick, als er sein Leben aushauchte.
Der Arm wirbelte durch die Luft und landete neben Downly. Sie schrie vor Entsetzen schrill auf, sprang hastig auf die Füße und rannte in wilder Panik auf die Avenida Reforma.
Vaught und Uriah wechselten einen Blick über den Gehsteig hinweg. Beide wussten, dass der Versuch, ihr nachzulaufen, praktisch Selbstmord wäre. »Bleib unten!« Vaught sprang auf und rannte ihr hinterher. Er hatte fast die Mitte der Allee erreicht, als Downly von der Taille her explodierte. Ihre Eingeweide flogen in alle Richtungen davon und im nächsten Moment schlugen die beiden Teile ihres Körpers auf der Fahrbahn auf. Nur das Rückgrat hielt die abgetrennten Hälften noch zusammen.
Vaughts Mission bestand darin, die Diplomaten zu beschützen. Er hatte komplett versagt und beinahe sein gesamtes Team dabei verloren. Dem lag vielleicht kein persönlicher Fehler seinerseits zugrunde, aber er war dennoch für das Desaster verantwortlich, und dessen war er sich völlig bewusst.
Das Bild des Kondensstreifens dieser letzten Kugel hatte sich in sein Hirn eingebrannt – sie war mit so hoher Geschwindigkeit durch die Morgenluft gerauscht, dass die mikroskopisch kleinen Wassermoleküle nicht rechtzeitig Platz machen konnten – daher wusste er nun, wo sich der Scharfschütze befand. Ohne innezuhalten, erspähte er ein verlassenes Taxi und sprintete an Downlys Leiche vorbei. Er wusste, wenn er umdrehen würde, wäre er für einen winzigen Moment direkt in der Schusslinie des Schützen.
Vaught ging neben dem Taxi in Deckung und meldete sich über Funk bei Uriah. »Ich weiß, wo der Wichser sich versteckt. Er schießt vom Dach dieses Glasgebäudes am Ende des Blocks auf meiner Seite der Straße. Dich kann er von dort aus nicht erwischen, also bleib, wo du bist. Ich schnappe ihn mir.«
Uriahs Antwort kam augenblicklich: »Wenn er von dem Glashaus runterschießt, dann bekommt er dich von dort aus auch nicht ins Visier. Bleib einfach aus dem Schussfeld und überlass das der lokalen Polizei!«
Jetzt konnten beide Sirenen hören, die sich von weit her die Allee herunter näherten.
»Ich schnappe ihn mir!«, beharrte Vaught. »Du bleibst am Leben und sorgst dafür, dass unsere Leute erfahren, was hier passiert ist. Lass nicht zu, dass die Mexikaner dich befragen, ohne dass jemand von unserer Botschaft anwesend ist.« Er überprüfte rasch noch einmal das Magazin seiner Waffe und stieg dann schnell in das Taxi, mit dem er schnell davonfuhr, während hinter ihm ein Dutzend Streifenwagen und Pick-ups der Bundespolizei die Allee heruntergerast kamen.
2
Mexiko-Stadt. Mexiko
10:20 Uhr
Mit quietschenden Reifen raste Vaught in dem Taxi, das er sich soeben besorgt hatte, um die Ecke, ließ den Motor auf halbem Weg den Block hinunter aufheulen. Dann trat er abrupt auf die Bremse und machte, dass er aus dem Taxi kam, warf unterwegs seine Jacke von sich und achtete darauf, dass sein DSS-Abzeichen ihm nach wie vor um den Hals hing. Ein halbes Dutzend neugieriger Schaulustiger stand als dicht zusammengedrängtes Grüppchen am Ende des Blocks. Als er sie auf Spanisch fragte, ob irgendjemand aus dem Glasgebäude gekommen war, wichen sie um die Straßenecke herum zurück.
Ein gelangweilt wirkender Mann saß auf einer Eingangstreppe und rauchte eine Zigarette. Er zeigte nach oben und sagte: »Francotirador.« Scharfschütze.
Erst jetzt sah Vaught, dass das Haus sich noch im Bau befand und die unteren Stockwerke mit schweren Plastikplanen abgeschirmt waren, um Unbefugte und Passanten am Betreten zu hindern. Er fand einen Weg hinein und huschte mit großen Schritten die Treppe hinauf. Er wusste, dass er zwölf Stockwerke vor sich hatte. Als er im zehnten Stock angekommen war, wurde oben im zwölften eine Tür mit lautem Krachen aufgestoßen. Er hörte Stimmen und hastige Schritte die Treppe herabkommen. Waffen stießen klirrend gegen das stählerne Geländer. Er spähte vorsichtig in der Mitte nach oben und sah vier schemenhafte Gestalten, die ihm rasch entgegenkamen.
Zwei maskierte Männer erschienen auf dem Treppenabsatz direkt vor ihm und er erwischte sie aus drei Metern Entfernung. Kugeln und dunkelrotes Blut klatschten gegen die frisch gestrichene weiße Wand hinter ihnen. Von oben feuerte jemand auf ihn. Die Schüsse gingen daneben, doch er konnte fühlen, wie ihn Steinsplitter von den Querschlägern in die Schienbeine trafen. Er tänzelte aus der Schusslinie und feuerte eine Salve nach oben. Vor dem Gebäude heulten die Sirenen, er hörte die Stiefel der Männer die Treppen hinaufeilen. Die Kerle über ihm zogen sich aufs Dach zurück und Vaught verfolgte sie.
Er trat die Tür zum Dach auf und glitt rasch zur Seite, weil er einen Kugelhagel erwartete, der nicht kam. Als er einen kurzen Blick um die Türangel herum riskierte, erblickte er zwei Gestalten, die eine weitere Tür auf der anderen Seite des Dachs öffneten, etwa 30 Meter weit weg. Einer der beiden verschwand durch die Tür. Er trug ein Barrett-Scharfschützengewehr. Vaught knallte den zweiten Mann ab, bevor der die Tür erreichte, dann rannte er hinüber. Aber bevor er das entgegengesetzte Ende erreicht hatte, tauchten die Beamten der Bundespolizei hinter ihm auf dem Dach auf und schrien: »Alto! Alto!« Halt!
Er wusste, dass sie nicht zögern würden, auf ihn zu schießen, daher blieb Vaught mitten im Lauf stehen, hob schnell die Arme in die Höhe und drehte sich um. Die Waffe baumelte von der Schlinge, das DSS-Abzeichen blitzte in der Sonne auf. »El francotirador se escapa!«, rief er ihnen zu. »Por ahí, amigos! Por las escaleras!« Der Heckenschütze entkommt! Da drüben! Auf der Treppe!
Sieben mitleidlos dreinblickende Bundespolizisten umringten ihn mit M4-Karabinern im Anschlag, brüllten ihn an, dass er auf die Knie gehen solle. Sie schienen nicht gehört zu haben, was er gesagt hatte. Vaught wiederholte es, als ihm jemand einen Tritt in die Kniekehlen verpasste, damit er einknickte. Dann stießen sie ihn mit dem Gesicht voran auf den Boden und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken.
»Seid ihr taub?«, schrie er auf Spanisch. »Der Heckenschütze entkommt!«
Einer der Bundespolizisten drückte ihm seinen stollenbesohlten Stiefel in den Nacken und befahl mit volltönender Stimme: »Cállate.« Halt den Mund.
Sie nahmen ihm seine Waffen und das Funkgerät weg, dann zogen sie ihn auf die Füße. Er spuckte den Rest des Kautabaks aus, der sich noch immer hinter seiner Unterlippe befand, und fixierte den Capitán, der eben noch in seinem Nacken gestanden hatte. Auf der Patte über der Brusttasche des Mannes stand ›Espinosa‹. Er war groß und muskulös, mit schwarzem Schnurrbart und dunklen Augen unter schweren Lidern.
»Bitte sagen Sie mir, dass Sie Leute haben, die dieses Treppenhaus absichern, Capitán. Sagen Sie mir, dass Sie diesen Hurensohn nicht einfach davonkommen lassen.«
Der Capitán befahl seinen Leuten mit einer ruckartigen Kopfbewegung, Vaught nach unten zu bringen.
»Was zum Teufel ist hier los?«, verlangte Vaught zu wissen. »Das sind unsere Leute, die da unten tot auf der Straße liegen! Sie lassen den Bastard entkommen!«
Unten wurde Vaught auf den Rücksitz eines unauffälligen Wagens mit schwarz getönten Scheiben verfrachtet. Er senkte die Arme und kletterte über die Handschellen hinweg, um seine Hände wieder vor dem Körper zu haben, bevor er sich richtig hinsetzte und zusah, wie der Capitán mit zwei Detectives in Zivil sprach. Nach einer Weile nickten sie und stiegen ein.
Vaught fragte auf Spanisch, ob der Scharfschütze gefasst worden war.
Der Mann auf dem Beifahrersitz erwiderte: »Alles ist unter Kontrolle. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich muss sofort zur Lagebesprechung mit meinen Leuten.«
»Zuerst werden Sie sich mit unseren Leuten treffen.«
»Nein, so läuft das nicht. Ich habe diplomatische Immunität. Sie müssen mich auf der Stelle zu meiner Botschaft bringen. Sind Sie von der Bundespolizei oder von der städtischen?«
»La inmunidad diplomática«, wiederholte der Mann für den Fahrer, worauf beide lachten.
Vaught lehnte sich mit einem Seufzer zurück und murmelte auf Englisch: »Ihr könnt mich beide.«
Nach wenigen Blocks war klar, dass sie ihn nicht dorthin zurückbringen würden, wo er hinwollte. Der Wagen folgte einer Straße, die sie immer weiter vom Distrito Federal wegbrachte.
»Wo fahren wir hin?«
Als sie ihn ignorierten, machte Vaught einen Satz über den Sitz hinweg und versuchte, dem Fahrer ins Steuer zu fallen, um einen Unfall zu provozieren. Aber der Mann auf dem Beifahrersitz war darauf vorbereitet. Er drückte Vaught einen leistungsstarken Elektroschocker in den Nacken und verpasste ihm mehrere heftige Stromstöße, bis er schließlich zusammengekrümmt im Fußraum vor dem Rücksitz lag, vorübergehend bewegungsunfähig.
»Cabrón!«, fluchte der Beifahrer, warf den Elektroschocker auf die Ablage und rückte sich die Krawatte zurecht. Arschloch.
Zehn Minuten später wurde Vaught von zwei anderen Männern aus dem Wagen gezogen und in ein Gebäude am Ende einer schmalen Gasse gebracht. Zweifellos befand er sich jetzt in den Händen der Kartelle und würde wohl kaum mehr lange zu leben haben. Er beschloss, einen der Bastarde umzubringen, sobald er die Gelegenheit dazu bekam, aber mit gefesselten Händen war das nicht eben die leichteste Übung.
Er wurde auf eine muffige Couch geworfen, die nach Katzenpisse stank. Ein anderer Kerl mit demselben Elektroschocker erschien und drückte ihm die Waffe in den Unterbauch, verpasste ihm noch einmal fünf Stromstöße. Ein unfreiwilliger Schrei löste sich aus Vaughts Kehle, als seine Muskeln sich unkontrolliert zusammenzogen, bis sich die Blase entleerte.
Mehrere Männer standen um ihn herum und lachten.
»Lasst die Scheiße jetzt sein!«, befahl jemand auf Englisch und es wurde schlagartig still im Raum.
Vaught öffnete die Augen nur einen Spaltbreit und erhaschte einen Blick auf einen weißen Mann in Jeans und braun-olivfarbenem T-Shirt. Der Kerl stand im Türrahmen und hielt ein Barrett-Scharfschützengewehr am Tragegriff. Sein sandfarbenes Haar war kurz geschnitten, der Nacken ausrasiert, die blauen Augen gnadenlos. Auf seinem breiten linken Bizeps erkannte er eine Tätowierung: das Signet der Airborne Rangers. Er brummte seine Befehle auf Spanisch mit deutlichem Akzent, bevor er den Flur hinab verschwand, und mit ihm die Waffe, die Alice Downly in zwei Hälften gerissen hatte.
Jemand nahm Vaught das Abzeichen, den Körperpanzer und die Stiefel ab. Er blieb in Socken sitzen und fühlte sich wie ein Idiot, weil er zugelassen hatte, dass sie ihn lebend gekriegt hatten. Aber was hätte er tun sollen? Einen Haufen Bullen niedermähen, auf einem Dach mitten in Mexiko-Stadt? Die traurige Wahrheit lautete, dass er sich selbst in diese verflucht ausweglose Situation gebracht hatte, indem er seine Befugnisse übertreten hatte, also war es auch überflüssig, irgendjemandem sonst die Schuld zu geben. Er musste sich eben selbst da rausholen – oder sich die Kugel einfangen, die für ihn bestimmt war.
Völlig unvermittelt bekam er einen weiteren Stromstoß verpasst und wurde von der Couch auf den Boden befördert. Eine der Handschellen wurde gerade lange genug geöffnet, um ihn auf den Bauch zu drehen und ihm die Hände wieder hinter dem Rücken zu fesseln. Diese Gang überließ offenbar nichts dem Zufall, und Vaught sah die Hoffnung schwinden, dass er zumindest kämpfend sterben würde.
Ein Elektroschocker konnte einen Mann ganz schön zurichten, denn die Stromstöße zwangen die Muskeln, enorme Anstrengungen in kürzester Zeit zu vollbringen. Der Blutzucker wird in Milchsäure umgewandelt und das Opfer ist bereits nach wenigen Sekunden vollkommen erschöpft. Vaught fühlte sich bereits jetzt, als hätte er zehn Runden gegen einen Schwergewichtsboxer im Ring gestanden, und er war verdammt sicher, dass er diesen beschissenen Elektroschocker nicht zum letzten Mal gespürt hatte.
Im Grunde gab es nicht allzu viele Menschen, von denen er sich gern verabschiedet hätte. Er war in einer Familie aufgewachsen, die sich dem Marine Corps verschrieben hatte, und war daher schon als Kind durch viele Orte auf der Welt gezogen. Das, was die meisten Menschen normale Freundschaften nennen würden, gab es in seinem Leben nicht. Er war der jüngste von drei Brüdern, die beiden älteren Marines. Sein Vater, ein Gunnery Sergeant oder Hauptfeldwebel, hatte ihn nach der Chance Vought F4-U Corsair benannt – der Maschine, die sein Großvater, ebenfalls ein Marine, im Koreakrieg geflogen hatte.
Fest entschlossen, aus dem Schatten seiner älteren Geschwister zu treten, hatte Vaught sich dafür entschieden, zur Army zu gehen und mit der Familientradition zu brechen, statt ebenfalls ins Marine Corps einzutreten. Einen Monat nach den Bin-Laden-Anschlägen hatte er kühn verkündet, dass er vorhatte, ein Green Beret zu werden.
Er hatte schnell erkannt, dass er der geborene Anführer war. Nach seiner ersten Kampfübung dauerte es keinen Monat, bis er als Feldwebel in die Fünfte Special Forces Group aus Fort Campbell in Kentucky befördert wurde. In der Folge diente er acht Jahre lang bei mehreren Auslandseinsätzen und bewies sich in einem ODA – auch Operational Detachment Alpha oder schlicht A-Team genannt – im Irak und in Afghanistan.
Als er nun sabbernd auf dem Boden lag, das Gesicht auf dem schmutzigen Beton, gab es plötzlich den Flur hinunter Unruhe. Eine hitzige Diskussion über die unglaubliche Dummheit, einen amerikanischen DSS-Agenten an diesen Ort zu bringen, entspann sich in Hörweite.
»Hey, ich verschwinde gerne von hier«, nuschelte er auf Englisch und konnte sich ein leises, hämisches Lachen nicht verkneifen.
Einer der Männer, die um ihn herumstanden, trat ihm in den Hintern. »Cállate, cabrón.«
Vaught gab keinen weiteren Laut von sich, weil er befürchtete, dass ein weiterer Stromstoß ihm den letzten Rest an Kraft rauben würde, den er noch besaß. So wie es um ihn stand, war er nicht einmal sicher, ob er ohne Hilfe aufstehen konnte, geschweige denn kämpfen oder sich wehren.
Und dann betrat ein finster dreinblickender Senator Lazaro Serrano den Raum, und sein Anblick gab Vaught für heute den Rest. Er musste sich extrem zusammennehmen, nicht ironisch aufzulachen, denn Serrano war der Kopf der mexikanischen Delegation für den Kampf gegen Drogenhandel.
»Buenos días, Señor Serrano. Gusto en verle. Guten Tag, Herr Serrano. Schön, Sie zu sehen.«
Serrano antwortete nicht. Er drehte sich um und fing an, einem dürren Kerl mit einem AK-47 über der Schulter Vorhaltungen zu machen, bei dem es sich offenbar um den Anführer der Bande handelte. »Du hast ihm noch nicht einmal einen verdammten Sack über den Kopf gezogen, cabrón? Jetzt hat er mein Gesicht gesehen und wir müssen ihn umbringen! Ihr hirnverbrannten cabrones, alle miteinander!« Er verpasste dem Kerl einen Schlag auf den Hinterkopf und stürmte aus dem Zimmer während er ihm wütend über die Schulter hinweg zuzischte: »Werdet ihn los!«
Dann brüllte er irgendjemanden an, der ihm nach draußen folgen sollte, und eine schwere Tür wurde zugeschlagen.
Vaught lag auf dem Boden und wartete darauf, dass der Heckenschütze zurückkehrte, aber das geschah nicht. Die Männer wuselten eine oder zwei Minuten lang im Raum umher und diskutierten, wer den Amerikaner umbringen sollte. Dann brach plötzlich die Hölle in Gestalt einer entsetzlich lauten Maschinengewehrsalve los. Als um ihn herum Männer zu Boden gingen, schloss Vaught die Augen und wartete darauf, dass die Lichter endgültig ausgingen.
Ein leeres Magazin fiel klappernd auf den Betonboden und er sah auf. Eines der Mitglieder des Kartells grinste schief zu ihm hinab, während er ein neues, gebogenes Magazin mit 30 Schuss in das AK-47 steckte und den Ladehebel zurückzog.
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte der Kerl auf Spanisch.
»Ich kann es versuchen.« Vaught rollte sich auf den Rücken und schaffte es mit einiger Anstrengung, sich ohne Hilfe aufzusetzen.
Der dürre Anführer, der jetzt von Kugeln durchsiebt an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden lag, fing an zu gurgeln, weil er an seinem eigenen Blut erstickte. Der Bewaffnete brachte ihn mit einem einzelnen Schuss für immer zum Schweigen.
Dann hockte er sich hinter Vaught und steckte den Schlüssel ins Schloss der Handschellen.
»Ich bin Mendoza«, stellte er sich vor. »Ein verdeckter Ermittler der PFM.« Das war die Policía Federal Ministerial, eine staatliche Behörde, die 2009 gegründet und grob nach dem Vorbild des FBI konzipiert wurde, um Korruption und organisiertes Verbrechen in ganz Mexiko zu bekämpfen.
Vaught saß auf dem Beton und rieb sich die Handgelenke, wo der Stahl der Handschellen ihm die Haut aufgeschürft hatte. »Wo warst du denn vorher, als meine Leute auf offener Straße niedergemetzelt wurden?«
Mendoza zuckte die Achseln. »Von dem geplanten Überfall habe ich erst wenige Minuten bevor es losging erfahren. Da hatte ich keinerlei Möglichkeit mehr, jemanden zu warnen, ohne selbst draufzugehen. Ich fürchte, dass ich der PFM eine Menge Ärger eingehandelt habe, indem ich dir das Leben gerettet habe. Die werden mir sicher eine Rüge erteilen, weil ich nicht einfach zugelassen habe, dass diese Leute dich erledigen. Es hat 18 Monate gedauert, mich so tief in die Kartelle vorzuarbeiten. Das ist jetzt komplett vergeudete Zeit. Nach dem, was ich hier angerichtet habe, kann ich es nicht riskieren, zurückzugehen und mich als einzigen Überlebenden hinzustellen. Sie würden mich umbringen, ganz gleich ob sie mir glauben oder nicht – nur um ganz sicherzugehen.«
»Na ja, das tut mir wirklich leid«, erwiderte Vaught.
»Das sollte es auch, cabrón.« Mendoza half ihm auf die Füße. »Was du getan hast, war dumm. Du hast doch gar keine Befugnis, Kriminelle in Mexiko zu verfolgen. Deine Aufgabe bestand nur darin, deine Leute zu beschützen, mehr nicht.«
Vaught schwankte leicht und Mendoza führte ihn zu einem Stuhl, bevor er ein Handy aus seiner Hosentasche zog. »Jetzt muss ich meine Vorgesetzten anrufen, um herauszufinden, was ich mit dir machen soll.«
»Ich muss irgendwie zu meiner Botschaft zurück. Du kannst mir dabei helfen.«
Mendoza bedeutete ihm mit dem Zeigefinger, dass das keine Option war. »Deine Botschaft ist bereits von mexikanischen Sicherheitskräften umstellt. Bisher glaubt Lazaro Serrano, du seist tot. Das Beste wird sein, ihn in diesem Glauben zu lassen.«
»Hey, pass auf, meine Leute müssen so schnell wie möglich von diesem Heckenschützen erfahren. Der Kerl ist Amerikaner, von unseren Spezialstreitkräften ausgebildet. Was weißt du über ihn?«
»So gut wie nichts. Er ist jemand, den die Kartelle speziell für dieses Attentat hinzugeholt haben. Bis heute wussten wir gar nichts über ihn, aber ich habe gehört, wie jemand gesagt hat, dass er schon seit einer Weile im Auftrag der Kartelle arbeitet.«
»Wer hat das gesagt?«
Mendoza wies auf den toten Mann, den er gerade erst erschossen hatte. »Der da.«
Nach einem angespannten Telefongespräch mit seinem Befehlshaber steckte Mendoza das Telefon wieder in die Tasche. »Wie erwartet sind meine Vorgesetzten verärgert, dass ich diese Leute daran gehindert habe, dich umzubringen. Sie sagen, dass du es dir selbst zuzuschreiben hast. Und jetzt ist deinetwegen nicht nur meine Tarnung aufgeflogen, sondern es könnten noch weitere Agenten in Gefahr sein. Mein Kommandant hat klargestellt, dass du unter keinen Umständen zu deiner Botschaft zurückkehren wirst. Die PFM wird dich jetzt dazu benutzen, das Beweismaterial gegen Serrano zusammenzutragen. Mich halten sie aus der Sache heraus, um meine Identität zu schützen, was wiederum helfen kann, die anderen verdeckten Ermittler in den Kartellen zu schützen.«
»Tut mir leid«, erwiderte Vaught, während sein Blick sich verhärtete, »aber ich arbeite nicht für die PFM. Ich arbeite für den DSS. Ich besitze diplomatische Immunität und ich gehe zurück zu meiner verfluchten Botschaft.«
Mendoza holte den Elektroschocker aus seiner Jackentasche und legte ihn auf den Tisch. »Ich möchte den nicht noch einmal benutzen müssen, aber das werde ich, wenn es nötig ist.«
»Noch einmal?«
Mendoza zeigte erneut sein schiefes Grinsen.
»Du hast dafür gesorgt, dass ich mich eingepisst habe?«
»Ich musste sicherstellen, dass du nicht noch etwas Dummes machst, damit ich Zeit hatte, mir zu überlegen, wie ich dein wertloses Leben retten konnte.«
»Und was zur Hölle tun wir dann jetzt? Ich habe eine Kugel im Arm, die bald medizinisch versorgt werden muss.«
»Im Augenblick bittet die PFM die CIA um Erlaubnis, dich zu benutzen.«
»Ich arbeite auch nicht für die verschissene CIA!«, brauste Vaught auf Englisch auf.
Mendoza besaß ein Raubvogelgesicht mit buschigen Augenbrauen und einen vorstehenden Adamsapfel. »Wir werden bald sehen, für wen du arbeitest, mein Freund.«
»Ich habe keine Zeit für diesen Scheiß!«, fluchte Vaught, wieder auf Englisch, bevor er sich mit einer schnellen, wenn auch schwachen Bewegung erhob. Mendoza griff nach dem Elektroschocker und verpasste ihm einen Stromstoß in den Oberschenkel, der ihn sofort wieder zu Boden stürzen ließ.
Vaught packte sein Bein. »O du verdammtes Arschloch!«
Mendoza saß lachend im Sessel. »Du schuldest mir ein Leben, mein Freund. Und jetzt warten wir hier brav, bis meine Vorgesetzten mit der CIA gesprochen haben.«
»Du gottverdammter Schwanzlutscher«, murmelte Vaught vor sich hin. Er wühlte die Tabakdose aus seiner Hosentasche hervor und steckte sich einen neuen Dip zwischen Lippe und Zahnfleisch. »Warte nur!«
3
Wintersportort Malbun, Liechtenstein
16:10 Uhr
Eingehüllt in einen Schnee-Parka in Tarnfarben lag Gil Shannon gut verborgen im Unterholz eines Kiefernwäldchens, den halben Weg hangabwärts an einer der herausforderndsten Skipisten in den Bergen oberhalb von Malbun. Das modulare Scharfschützengewehr Kaliber 308 der Marke Remington hatte er gegen die Schulter angelegt und sein Ziel im Blick: einen Mann in gelber Skijacke und grüner Hose. Der Mann und seine blonde Verlobte wurden von fünf Personenschützern flankiert, die alle an den Rand der Piste gefahren waren, um zu verschnaufen. In den letzten Minuten hatte es angefangen, in dichten Flocken zu schneien, und da der Nachmittag bereits zur Neige ging, wusste Gil, dass dies die letzte Abfahrt der Gruppe für heute war. Wenn er den Schuss jetzt nicht abgab, bedeutete das eine vierte Nacht in der Skihütte in Malbun.
Das kleine Liechtenstein war ein Binnenstaat zwischen der Schweiz und Österreich, mit einer Fläche von nur 160 Quadratkilometern, die einzige Nation, die komplett in den Alpen lag. Gil reiste mit einem kanadischen Pass und hatte die vergangenen drei Tage damit verbracht, Sebastian Blickensdörfer zu belauern, einen 40-jährigen Schweizer Banker, der hier mit seiner zukünftigen Ehefrau Urlaub machte.
CIA-Chef Robert Pope hatte Blickensdörfer wegen dessen finanzieller Verbindungen zur islamischen Terrororganisation AQAP, den Nachfolgern von Al-Qaida, im Visier und wollte ihn tot sehen. Die Geldwäsche-Operationen des Schweizers waren der CIA im Detail bekannt, aber aufgrund seiner engen finanziellen und familiären Verflechtungen in Schweizer Regierungskreisen betrachtete ihn sowohl die britische als auch die amerikanische Regierung als unantastbar. Für die Schweizer hatten die gesetzeswidrigen Geschäfte Blickensdörfers kaum Belang: Wenn er das Geld der AQAP – so das aktuelle Kürzel für Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel – nicht wusch, dann würde es ein anderer tun. Außerdem konnte der millionenschwere Geschäftsmann immerhin mit brauchbaren Informationen über die Bewegungen einiger islamischer Geistlicher dienen. Das reichte aus, um westliche Geheimdienste wie die CIA und den MI6 davon abzuhalten, ihn ernsthaft zu verfolgen.
Es gab immer mehr Profiteure wie Blickensdörfer, die in und um Europa agierten, und Pope begriff nur allzu gut, was für eine wichtige Rolle sie spielten. Ihm war aber ebenso klar, dass andere, ähnlich denkende Männer sich in Zukunft zweimal überlegen würden, ob sie mit islamischen Fundamentalisten Geschäfte machen wollten, wenn diese Profiteure plötzlich begannen, der Reihe nach zu sterben. Momentan gab es in der Welt zweierlei Maßstäbe: einen für die herrschende Elite und einen anderen für die restlichen 99 Prozent. Pope waren Scheinheiligkeit und Doppelmoral ein Dorn im Auge, daher lautete sein erklärtes Ziel, dieses gefährliche Denkmuster von innen her zu verändern.
Gils Ziel bestand darin, jeden auszulöschen, den Pope ihm vorsetzte. Gegenwärtig war das Sebastian Blickensdörfer. Er hatte die Akte über den korrupten Banker gelesen und war ebenfalls der Meinung, dass der Mann beseitigt werden musste. Für Gil war das eine einfache Rechnung: Blickensdörfer erleichterte es der AQAP, terroristische Anschläge auszuführen. Die AQAP war für den Anschlag auf die amerikanische Mission in Benghazi in Libyen 2012 verantwortlich. Ehemalige Navy SEALs waren in Benghazi umgekommen. Und wenn Sebastian Blickensdörfer keine Skrupel hatte, dabei zu helfen, dass Navy SEALs getötet wurden, dann hatte Gil Shannon wohl kaum Skrupel, Sebastian Blickensdörfer zu töten.
Gil war sich natürlich darüber bewusst, dass Popes zukünftige Ziele nicht immer so klar zu beurteilen sein würden, aber der Schweizer Banker war ein guter Anfang. Sollte Pope je einen Menschen ins Visier nehmen, bei dem Gil nicht der Meinung war, dass man ihn entfernen sollte, dann würde er schlicht sagen, dass er das nicht erledigen wollte.
Er spähte durch das Zielfernrohr und sah den 100 Meter entfernten Blickensdörfer lachen, als er einem seiner Leibwächter einen Flachmann reichte. Gil hatte die Personenschützer in den vergangenen Tagen abends in der Hütte im Blick gehabt, daher wusste er, dass dieser eine Beretta unter seiner Jacke trug.
Nach drei langen Tagen, während derer er seiner Beute über den verschneiten Berg gefolgt war, kam endlich der richtige Moment. Es war windstill, der Schnee fiel senkrecht auf die Piste. Gil richtete das Fadenkreuz auf Blickensdörfers Brustbein, direkt über seinem Herzen, und betätigte den Abzug.
Aus keinem ersichtlichen Grund machte die Verlobte des Mannes einen Satz nach vorn und geradewegs ins Fadenkreuz, aber da war es bereits zu spät, der Abzug war durchgedrückt. Gil zuckte zusammen, als der Schuss sich löste und die Lapua-Magnum-Patrone vom Kaliber 308 fast geräuschlos aus dem Ende des Schalldämpfers hervorbarst, mit einer Geschwindigkeit von mehr als 750 Metern pro Sekunde. Sein Herz setzte aus, während er ihr hinterherstarrte und darauf wartete, dass der Kopf der Frau explodierte. Aber das tat er nicht. Er sah, wie das blonde Haar hinten im Nacken hochgeschleudert wurde, als die vorbeisausende Kugel es streifte, die dann zehn Meter weiter geräuschlos in den weißen Pulverschnee fuhr.
Die Frau fuhr sich unbewusst mit der Hand über den Nacken und zog dann lachend ihre Skistöcke aus dem Schnee. Offenbar hatte sie das Gleichgewicht verloren und wäre beinahe von den Skiern gekippt.
Gil rollte sich hinter den Stamm einer Kiefer und zog sich die weiße Rollmütze vom kurz geschorenen Kopf, während er einen erleichterten Seufzer ausstieß. Er hätte um ein Haar eine unschuldige Frau ermordet.
Er blieb liegen, während dicke Flocken geräuschlos auf seinem Gesicht landeten, die Welt um ihn herum still blieb. Er strich sich über das stoppelige Kinn und versuchte, sich das Gesicht seiner eigenen Frau ins Gedächtnis zu rufen, von der er getrennt lebte. Montana erschien ihm sehr weit entfernt, als er die Zigaretten aus der Parkatasche holte und sich mit seinem Zippo eine anzündete. Er wusste, dass die Wolkendecke es Pope unmöglich gemacht hätte, ihm per Satellit zuzusehen, aber das war ein irrelevanter Gedanke. Bei diesen inoffiziellen Missionen war Gil auf sich allein gestellt, und das bedeutete auch, dass es keine Luftüberwachung gab. Dennoch, sagte er sich, man konnte nie wissen, was Pope trieb.
Als die Gruppe um Blickensdörfer sich wieder in Bewegung setzte und den Rest der Abfahrt nahm, war Gil mit seiner Kippe fertig. Er wusste, er würde ihnen abends in der Hütte erneut über den Weg laufen. »Leb wohl«, murmelte er, während er an die hübsche Frau dachte, die keinen Schimmer hatte, dass ihr eben erst eine großkalibrige Kugel in fünf Zentimetern Entfernung am Rückgrat vorbeigesaust war, direkt auf Höhe der Schädelbasis. »Und genieße den heutigen Abend, Sebastian. Morgen mache ich nicht noch einmal denselben Fehler.«
Er steckte die Zigarettenkippe in seine Tasche, nahm dann das Gewehr auseinander und packte es ein, bevor er den Wendeparka auszog und auf die rote Seite umdrehte. Er zog die weiße Abdeckung vom roten Rucksack, setzte die Skibrille auf und fuhr die Piste im Aufzug der Malbuner Skipatrouille hinab.
4
CIA-Hauptquartier, Langley, Virginia
13:00 Uhr
Cletus Webb, der stellvertretende Direktor der CIA, verließ den Waschraum im CIA-Gebäude in Langley und erblickte Mark Gurich, den Leiter der Abteilung Auslandseinsätze, der gegen die Wand gelehnt auf ihn wartete. Webb warf einen Blick auf den roten Aktenordner in der Hand des anderen. »Ich nehme an, das ist für mich?«, vergewisserte er sich. Es gefiel ihm nicht, wenn man ihm vor dem Klo auflauerte.
»Ich konnte Sie nicht finden«, erklärte Gurich. »In Mexiko ist die sprichwörtliche Kacke am Dampfen. Alice Downly und Bill Louis sind umgebracht worden; sieht schwer nach einem Attentat der Kartelle aus. Die haben fast ihr gesamtes DSS-Team plattgemacht. Unsere Botschaft ist komplett abgeriegelt, Marines, Maschinengewehre, der ganze Zirkus, und Mike Ortega, der Leiter unseres Büros in Mexiko, bittet mich um eine Dringlichkeitsfreigabe, die ich wohl kaum befugt bin, zu geben.«
Auf Webbs Stirn bildete sich eine Falte. »Sie meinen, Downly ist tot?«
»Das wurde von unserem Büro vor Ort bestätigt.«
»Was zum Teufel ist passiert?« Webb war groß und gebaut wie ein Basketballspieler. Seine blauen Augen blickten nachdenklich und sein blondes Haar wurde langsam schütter.
»Das Büro in Mexiko sagt, es sieht aus, als wäre sie von einem Scharfschützen getötet worden, aber das ist noch nicht bestätigt.«
»Sie sind doch der Chef der Auslandsabteilung.« Webb nahm ihm die Akte aus der Hand. »Was meinen Sie damit, Sie haben nicht die Befugnis, ihm die Dringlichkeitsfreigabe zu erteilen? Worum zur Hölle bittet Ortega denn, einen Drohnenangriff?«
»Nicht ganz.« Gurich war einen guten Kopf kleiner als Webb, ein dunklerer Typ mit braunen Augen und einer schicken Gelfrisur.
Die folgenden Minuten verbrachte Webb damit, auf dem Flur vor dem Waschraum den Inhalt der Akte zu lesen.
»Soweit ich weiß«, bemerkte Gurich, »hat seit dem Kalten Krieg niemand mehr etwas in dieser Art gemacht, und ich dachte, ich kann da nicht einfach grünes Licht geben, bevor ich Ihre Zustimmung eingeholt habe.«
Webb sah nicht von der Akte auf, als er fragte: »Haben Sie schon mit dem DSS gesprochen?«
»Nein, noch nicht.«
»Also wissen Agent Vaughts Leute bisher nicht, dass er noch am Leben ist?«
»Genau.«
Webb las die letzten Absätze der fünfseitigen eidesstattlichen Erklärung und gab dann die Akte Gurich zurück. »Geben Sie das an Fields weiter.«
Gurichs Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Ist das nicht ein wenig zu öffentlich für ihn?«
»Geben Sie es Fields«, wiederholte Webb. »Dieser Vaught hat das Reservat verlassen, obwohl er es verdammt noch mal besser wissen sollte. Er kann von Glück reden, dass er noch lebt, insbesondere nachdem praktisch alle tot sind, für die er verantwortlich war. Betrauen Sie Fields damit. Ich kläre das mit Direktor Pope.«
»Was sage ich dem Büro in Mexiko? Dem DSS?«
»Ortega weisen Sie an, sich bereitzuhalten, um die Agenten zu unterstützen, die Fields ins Spiel bringt. Und dem DSS sagen Sie, dass Agent Vaught bis auf Weiteres der CIA untersteht, gemäß den kürzlich erfolgten Änderungen im Auslandsdienstgesetz. Ich werde sie persönlich darüber in Kenntnis setzen, sobald ich mit Pope gesprochen habe. Solange wir den DSS auf dem Laufenden halten, machen die auch kein Fass deswegen auf. Die Tatsache, dass Vaught zunächst in seiner Aufgabe, Alice Downly zu beschützen, versagt hat und dann auch noch Cowboy spielen musste, macht ihn sicher nicht gerade zum Liebling des Generaldirektors des Auslandsdiensts.«
Wie die meisten Agenten beim diplomatischen Sicherheitsdienst war Agent Vaught gleichzeitig Mitglied im Auslandsdienst, der wiederum unter den Fittichen des Außenministeriums stand. Das hieß aber auch, dass Vaught eine Doppelrolle als Agent der Bundespolizei und als Vertreter amerikanischer Außenpolitik zu erfüllen hatte. Und indem er als Repräsentant dieser Außenpolitik böse Jungs durch die Straßen einer ausländischen Hauptstadt jagte – und damit den rechtlichen Rahmen seiner diplomatischen Aufgaben sprengte –, brachte er automatisch sowohl die amerikanische Diplomatie als auch das Außenministerium in Verlegenheit.
»Ich gebe das also jetzt an Fields weiter, und dann?«
»Sagen Sie ihm, er ist jetzt dran. Er regelt dann den Rest.«
Drei Minuten später betrat Gurich das Büro von Clemson Fields. Es gab weder Namensschild noch Tätigkeitsbezeichnung an der Tür.
Nancy Proust, Fields Sekretärin, sah von ihrem Schreibtisch auf. »Hallo, Mr. Gurich. Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie war eine gesetzte Frau über 40. Sie trug niemals Make-up, hatte die dunklen Haare zu einem schrägen Bob frisiert und Gurich hatte sie stets nur in Schwarz gesehen.
»Ist er da?«
Sie nahm den Telefonhörer in die Hand. »Mr. Fields, Mr. Gurich ist hier, um Sie zu sehen.« Dann legte sie wieder auf. »Er sagt, Sie sollen gleich hineingehen, Mr. Gurich.«
Gurich bedankte sich und ging an ihr vorbei in Fields’ Allerheiligstes, wo der geheimnisumwobene CIA-Analyst hinter seinem Schreibtisch saß und die Washington Post las.
Clemson Fields war ein mittelgroßer Mann Anfang 60 in legerer Chinohose, einem kurzärmeligen Hemd mit geknöpftem Kragen und mit einer unauffälligen Krawatte. Seine beginnende Glatze zog sich von der Stirn zum Hinterkopf und er trug eine runde Brille mit Drahtgestell. Er faltete die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und erhob sich, um Gurich die Hand zu geben. »Ich nehme an, es geht um Mexiko?«
»Sie haben es schon gehört?«
»Gerade eben.« Fields streckte die Hand nach dem roten Aktenordner aus.
»Hat der Vizechef Sie bereits verständigt?«
Mit einem Lächeln schüttelte Fields den Kopf. »Zu mir kommen immer nur die Leute mit den roten Ordnern.«
Gurich reichte ihm die Akte. »Webb sagte, ich soll Ihnen ausrichten, dass das jetzt Ihr Spiel ist.«
»Selbstverständlich.« Fields nahm den Ordner entgegen und setzte sich wieder hin, um den Inhalt zu lesen. Er sagte »Danke, Mr. Gurich« und entließ sein Gegenüber damit unmissverständlich.
Gurich betrachtete ihn einen Moment lang und verließ dann das Büro.
Zwei Minuten später hatte Fields die eidesstattliche Erklärung gelesen und legte sie beiseite, um zum Telefon zu greifen. Er wählte eine Nummer und wartete darauf, dass jemand abnahm.
»Hier ist Clemson«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben schon gehört, was passiert ist?«
»Was wo passiert ist?«, wollte der Mann am anderen Ende der Leitung wissen.
»Alice Downly wurde direkt in Mexiko-Stadt erschossen. Das ist keine zwei Stunden her.«
»Wer zur Hölle ist Alice Downly?«
5
Mexiko-Stadt, Mexiko
14:25 Uhr
Nachdem er mit Fields gesprochen hatte, legte Daniel Crosswhite auf und ging zurück ins Schlafzimmer, wo seine 21-jährige Ehefrau Paolina im Bett lag. Wenige Minuten bevor das Telefon klingelte, hatten sie sich noch geliebt.
»Wer war das?«, fragte sie auf Spanisch. Sie sprach kein Englisch.
»Der kleine Bruder des Teufels.« Er verdrehte die Augen und nahm ein zerdrücktes Päckchen Camels von der Kante der Kommode. »Sieh mich nicht so an. Wir wussten, dass einer von Popes Männern früher oder später anrufen würde. Heute ist eben dieser Tag, das ist alles.«
Crosswhite war ein ehemaliger Agent der Delta Force, ausgezeichnet mit der Ehrenmedaille. Nach mehreren Einsätzen in Afghanistan war er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und hatte sich ein Leben zwischen Verbrechen und Selbstjustiz aufgebaut, war aber erwischt worden. Nur die Intervention durch Pope von der CIA und den Navy SEAL Gil Shannon hatte ihn vor einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe bewahrt.
Paolina lag auf der Seite und streichelte ihren anschwellenden Bauch. Man konnte noch nicht lange sehen, dass sie schwanger war. Sie war Kubanerin, aber CIA-Chef Pope hatte für sie und Crosswhite ein paar Fäden gezogen, damit sie gemeinsam mit Paolinas dreijähriger Tochter nach Mexiko-Stadt ziehen konnten. Das Mädchen machte im Nebenzimmer ein Nickerchen, während die Mittagshitze über der Stadt hing.
»Wen sollst du für Pope umbringen?«
Crosswhite lächelte. »Niemanden.«
Sie drehte sich um und stopfte sich ein paar Kissen in den Rücken, um aufrecht zu sitzen. Paolina war 1,50 Meter groß und schlank, mit dunkler Haut, weichen, braunen Augen und langen, schwarzen Haaren, die eng gelockt waren. »Ich traue ihm nicht. Er hat uns nur geholfen, hierherzuziehen, um dich als Killer gegen die Kartelle einzusetzen.«
Er setzte sich auf die Bettkante und ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten. »Ich habe einen Deal mit ihm gemacht, corazón.« Er liebkoste ihren Busen und stand dann wieder auf. »Ich muss mich anziehen und gehen. Du erinnerst dich noch an alles, worüber wir geredet haben, ja?«
»Ja. Ich will wissen, was los ist, bevor du gehst.«
»Eines der Kartelle hat vor ein paar Stunden den amerikanischen Botschafter und irgendeine Frau aus den Staaten umbringen lassen.« Crosswhite schnappte sich eine Jeans von der Stuhllehne. »Ich muss einen verwundeten DSS-Agenten herbringen, der nicht in der Nähe der Botschaft gesehen werden darf. Er hat eine Schusswunde im Arm, also machst du am besten in der Küche etwas Platz. Hat sich angehört, als müsste ich die Kugel entfernen und ihn zusammenflicken.«
»Was ist DSS?«
»Der diplomatische Sicherheitsdienst.« Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf der Kommode aus. »Gib mir meine Socken, Baby. Hast du meine Stiefel gesehen?«
»Unter dem Bett.«
Crosswhite fand das Gebäude, dessen Adresse Fields ihm durchgegeben hatte, mithilfe des Navigationsgeräts in seinem Jeep Rubicon. Es lag ungefähr sieben Meilen von seinem Haus entfernt. Er und Paolina lebten in einer netten Gegend, wo es viele Kanadier gab, dort fiel er nicht groß auf. Alle Nachbarn wussten, dass Paolina Kubanerin war, also wäre niemand auf die Idee gekommen, dass er zur CIA gehörte. Es wurde allgemein angenommen, er sei ein amerikanischer Soldat im Ruhestand, der ein staatliches Ruhegehalt bezog.
Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer, die Fields ihm gegeben hatte.
»Bueno?«, meldete sich eine mexikanische Stimme.
»Soy Crosswhite. Estoy aquí.« Hier ist Crosswhite. Ich bin da.
Eine Tür ging auf und Mendoza bedeutete ihm einzutreten. Crosswhite lief normalerweise nicht bewaffnet herum, denn wenn man in Mexiko mit einer Waffe erwischt wurde, bedeutete das viele Jahre im Gefängnis. Daher verließ er sich meist lieber auf seine Fäuste, es sei denn er wusste, dass es richtig großen Ärger gab. Im Vergleich zum Kerker erschien ihm der Tod als das kleinere Übel.
Er schloss den Jeep ab und schlich sich ins Haus. Der Geruch nach Tod und verbranntem Schwarzpulver versetzte ihn sofort ins Kampfgetümmel zurück und seine Instinkte erwachten zum Leben. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf. Mendoza lächelte, bevor er sich umdrehte, um ihn den Flur hinunter in einen Raum voller Leichen zu führen, wo ein sehr wütender Chance Vaught auf einem Stuhl saß, mit Handschellen an einen stählernen Türknauf gefesselt.
»Wieso ist er in Handschellen?«, fragte Crosswhite auf Spanisch, während er den Blick über die toten Kartellmitglieder wandern ließ. »Ist das dein Werk?«
Mendoza nickte.
»Ich bin in Handschellen, weil er ein verdammter Wichser ist«, meldete sich Vaught auf Englisch zu Wort.
Mendoza erklärte, dass er einen hatte abseilen müssen und sich nicht darauf verlassen konnte, dass Vaught nicht abhauen würde. Als er von der Toilette zurückgekommen sei, sei es ihm einfacher erschienen, den zunehmend großmäuligen Amerikaner an die Tür gekettet zu lassen.
Crosswhite sah seinen Landsmann an. »Bereit, von hier abzuhauen, Champion?«
»Wohin denn?«
»Ich hab dir ein Zimmer im Hilton reserviert, was denkst du denn? Bist du jetzt bereit oder was?«
Vaught sah mürrisch zu Boden. »Ja, klar.«
Anderthalb Stunden später saß Vaught in Crosswhites Küche auf einem Stuhl, bewegte den verwundeten Arm und betrachtete die Naht. »Ist nicht wirklich gerade.«
»Na ja, das hier ist ja auch nicht wirklich eine Triage-Einheit.« Crosswhite zog sich die Latexhandschuhe mit einem Ruck von den Händen. »Und ich bin nicht wirklich ein Sanitäter.«
Paolina starrte Vaught über den Tisch hinweg an. Ihr Blick war glanzlos und tadelnd. Sie wollte ihn aus dem Haus haben, wusste aber, dass sie ihn hierbehalten mussten, bis Popes Mann Fields ein anderes Versteck für ihn fand.
Vaught lächelte Paolina an und fragte auf Spanisch nach ihrem Namen. »Cómo se llama?«
»Paolina«, gab sie nicht gerade freundlich zurück. Ihr Blick flackerte zu Crosswhite hinüber.
»Schön, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Chance. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich auf diese Weise in Ihrem Heim aufnehmen.«