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Als der Navy SEAL Scharfschütze Gil Shannon ins Fadenkreuz eines tschetschenischen Terroristen gerät, der unter den Namen »Der Wolf« agiert, wird er vom Jäger zum Gejagten. Doch in Paris bietet sich eine überraschende Chance: Shannon verbündet sich mit einem tödlichen russischen Spezial-Kämpfer gegen den Wolf – und nach einer Verfolgung durch ganz Europa kommt es im Gebirge des Kaukasus zum Showdown der Scharfschützen … Wieder hat Scott McEwen (Co-Autor des Bestsellers American Sniper) einen actiongeladenen Militär-Thriller geschrieben, der durch mitreißende Charaktere besticht und einen tiefen Einblick in die riskante Arbeitsweise der US Special Forces gewährt.
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Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2017
Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Sniper and the Wolf
erschien 2015 im Verlag Touchstone.
Copyright © 2015 by Scott McEwen und Thomas Koloniar
Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Touchstone,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc.
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-557-4
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Dieses Buch ist den Männern und Frauen gewidmet, die ihr Leben im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus verloren haben.
»Nur Gott kann richten, nur er kann entscheiden, ob die Terroristen im Recht oder im Unrecht sind. Unsere Aufgabe ist es, sie vor den Richterstuhl zu bringen.«
– Unbekannter U. S. Navy SEAL
Am 8. April 2014 bestätigte der Leiter des staatlichen russischen Geheimdienstes den Tod von Dokka Umarov. Obschon Ort und Zeit seines Todes nach wie vor nicht bekannt sind, wurde sein Tod von der amerikanischen Regierung bestätigt und sein Name im April 2014 von der Liste der meistgesuchten Verbrecher, der Rewards for Justice List des Außenministeriums, gestrichen.
Prolog
Cancún, Mexiko
Tim Hagen, ehemaliger Stabschef des Weißen Hauses, saß am Pool seines Hotels in Cancún, das an der Spitze der Halbinsel Yucatán liegt. Er trank eine Piña Colada und las in der Taschenbuchausgabe von Sunzis Über die Kriegskunst. Er kannte alle 27 Grundkonzepte in- und auswendig, tauchte aber gern immer wieder in den Text ein, suchte darin nach Einblicken in den Verstand, der ihn verfasst hatte. Besonders interessierten ihn die Ideen, die das 13. Kapitel behandelte: Der Einsatz von Spionen.
Noch sechs Monate zuvor war Hagen der oberste militärische Berater des Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen, aber diesen Posten war er abrupt losgeworden, als der Präsident ihm den Rücktritt nahelegte, und das nur Minuten, nachdem San Diego beinahe von einer Kofferatombombe aus der Sowjet-Ära zerstört worden wäre. Natürlich ließ Hagens Ego nicht zu, dass er sich selbst die Schuld an seiner Entlassung zuschrieb, aber letztlich hatte seine ständige Manipulation des Präsidenten zugunsten seiner eigenen Ambitionen genau dazu geführt. Er zog es vor, Gil Shannon und Robert Pope die Schuld zu geben, hatten sie doch seinen Einfluss untergraben.
Jetzt wartete Hagen darauf, die Nachricht zu bekommen, dass der unermüdliche Navy SEAL entweder tot oder auf dem Weg in ein französisches Gefängnis war. Sobald diese Neuigkeit ihn erreichte, würde er sich rehabilitiert auf den Rückweg nach Washington machen und sein ehrgeiziges Streben nach Macht und Einfluss aufs Neue beginnen. Er plante, seine strategischen Dienste einem aufgehenden Stern am Polithimmel anzubieten, einem gut aussehenden jungen Senator aus New York namens Steve Grieves, der mit der richtigen ›Führung‹ durchaus eines Tages erfolgreich fürs Weiße Haus kandidieren könnte.
Ein Hotelportier näherte sich ihm über die Terrasse. »Señor Hagen?«
Hagen sah von seinem Buch auf. »Ja, das bin ich.«
»Da ist ein Anruf für Sie an der Rezeption, señor.«
Hagen warf einen Blick auf sein Handy, das stumm neben seinem Drink auf dem Tisch lag. »Für einen Tim Hagen?«
»Sí, señor.«
Er fragte sich, ob irgendetwas schiefgegangen war, nahm sein Handy und ließ das Buch auf dem Tisch liegen. »Zeigen Sie mir, wo.«
»Hier entlang, señor.« Der Portier führte ihn in die Lobby und sie blieben an der Rezeption stehen, wo eine junge Frau Hagen den Hörer des Festnetztelefons reichte.
»Hagen«, meldete er sich, nachdem er den Hörer entgegengenommen hatte.
»Tim?«
»Ja, hier ist Tim Hagen«, erwiderte er ungeduldig. »Mit wem spreche ich?«
»Tim, hier ist Bob Pope. Genießen Sie die Sonne da unten in Mexiko?«
Hagens Herz setzte einen Schlag aus und seine Füße in den Sandalen waren plötzlich eiskalt. »Das tue ich«, krächzte er nach einem Räuspern. »Was kann ich für Sie tun, Robert?«
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Gil Shannon in Paris in ernsthafte Schwierigkeiten geraten ist.«
»Es tut mir schrecklich leid, das zu hören«, erwiderte Hagen. Seine Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln, während das Blut wieder zu fließen begann. »Aber ich arbeite nicht mehr für das Weiße Haus. Wieso also sollte es mich interessieren, was mit Chief Shannon geschieht?«
Pope lachte leise. »Nun, ich weiß doch, mit welchem Interesse Sie und Lerher seine Karriere verfolgt haben.«
Popes offenkundig gute Laune sandte Hagen ein Schaudern das Rückgrat hinab. »Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, Robert, aber ich …«
»Gil hat es aus Frankreich raus geschafft«, unterbrach Pope ihn mit verändertem Tonfall. Er klang jetzt eisig. »Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt gleich auf die Suche nach einer Höhle machen, in der Sie sich verstecken können.«
Hagens Mund wurde trocken. »Hören Sie, Sie verstehen nicht … wer zum Teufel ist Lerher?«
»Sie sollten anfangen zu rennen«, erwiderte Pope anstelle einer Antwort, »und nicht mit diesem lächerlichen Hut auf dem Kopf in der Lobby herumstehen.«
Er hatte aufgelegt und Hagen drehte sich um, ließ seinen Blick hastig durch die Lobby schweifen, auf der Suche nach jemandem, der wie Robert Pope aussah. Er erspähte eine Überwachungskamera an der Wand über der Rezeption. »Ist Ihr Sicherheitssystem in irgendeiner Form mit dem Internet verbunden?«
Mit verblüfftem Blick sah der Portier zur Kamera hinauf. »Das weiß ich nicht, señor. Ich glaube, nicht. Wieso, stimmt irgendetwas nicht?«
»Nein, nein«, wiegelte Hagen ab, während seine Paranoia sekündlich wuchs. »Ich checke in der nächsten halben Stunde aus. Bitte lassen Sie mein Gepäck aus dem Zimmer holen.«
»Sí, señor.« Der Portier lächelte die junge Frau perplex an, während Hagen durch die Lobby eilte. Er sah, wie der Gast auf dem Weg zum Fahrstuhl seinen Panamahut in den hoteleigenen Abfallbehälter warf, und wunderte sich, wieso der Anrufer ihn gebeten hatte, Mr. Hagens Kleidung zu beschreiben, bevor er ihn ans Telefon holte.
1
Paris, Frankreich
Es ging auf drei Uhr morgens zu. Master Chief Gil Shannon lag flach auf dem Bauch auf einem leeren Güterwaggon in einem der Pariser Außenbezirke, ein modulares Scharfschützengewehr der Marke Remington eng an die Schulter gezogen, das Auge am Barska-Nachtsichtzielfernrohr, dessen leuchtendes grünes Fadenkreuz in der Dunkelheit gut sichtbar war.
Er spähte zu der völlig im Dunkeln liegenden Lagerhalle hinüber, die etwa 100 Meter östlich von ihm auf der anderen Seite des Betriebshofs stand. Die Aprilnacht war frisch und die Brise trug das ferne Heulen einer Lokomotive herüber, als Gil sachte seine Stellung korrigierte, um den Harndrang unter Kontrolle zu bringen.
Er wartete darauf, dass Dokka Umarov sich zeigte. In seinem rechten Fuß war ein dumpfes Pochen. Er hatte im Vorjahr während eines Kampfeinsatzes – ein Fallschirmsprung über Montana – einen Schuss abbekommen und ein Großteil des Mittelfußknochens war durch ein experimentelles Implantat aus Titan ersetzt worden. Dazu gesellte sich das beklemmende Gefühl in seiner Brust, das ihn neuerdings immer dann heimsuchte, wenn es zu lange zu ruhig blieb.
Er atmete tief ein und ließ den Atem langsam wieder entweichen, nahm die Hand vom Griff der Waffe, um die Finger zu lockern.
»Bist du schon verkrampft?«, fragte die Stimme seiner Deckung aus der Luft. Der Stöpsel lag bequem in seinem Ohr.
Gil lächelte in der Dunkelheit. »Hast du mich im Blick oder das Zielgebiet?«
Die Stimme lachte leise. »Ich sehe alles.«
»Du siehst zu viel«, murmelte Gil gutmütig. »Wie wäre es, wenn du den Blick von meinen Eiern nimmst und stattdessen nachsiehst, ob Umarov sich hinten rausschleicht?«
Wieder das leise Lachen.
Ein paar Minuten später sagte Gil: »Dieses kleine Stelldichein dauert länger, als es sollte. Ich frage mich …«
»Wärmesignatur! Schütze auf dem Dach!«
Gil zuckte mit keiner Wimper. Sein Auge blieb am Zielfernrohr. »Norden oder Süden?«
»Auf der Nordseite«, kam die Stimme. »Er hatte sich unter einer Art Vordach versteckt … nein, ich schätze, das ist ein richtiger Hochsitz. Er gleitet jetzt wieder darunter. Umarov muss damit gerechnet haben, per Satellit überwacht zu werden.«
»Kannst du den Lauf der Waffe sehen?«
»Ich verbessere gerade die Auflösung … ja, ich sehe 15 bis 20 Zentimeter davon – den Schalldämpfer.«
»Wohin ist sie gerichtet?«
Eine kurze Pause, dann: »Etwa 20 Grad zu deiner Rechten … südlich deiner Position.«
»Dann hat er mich also nicht bemerkt«, kommentierte Gil. »Aber das ist ja selbstverständlich.« Er ließ den Blick mehrfach über das Flachdach des dreistöckigen Gebäudes schweifen, das ein Wirrwarr aus Wassertanks und Klimaanlagen, Lüftungskanälen und ummauerten Aussichtsplattformen zierte, die ehemals von Eisenbahnfans genutzt worden waren. »Ich kann ihn nicht entdecken. Du hast nicht zufällig einen Blick auf seine Optik erhaschen können, oder?«
»Doch«, kam die Stimme zurück. »Fettes Zielfernrohr.«
»Scheiße«, murmelte Gil. »Das bedeutet Infrarot. Klingt, als hätte ich nur ein Messer zu einer Schießerei mitgebracht. Was hat er gemacht, als er aus seinem Versteck gekommen ist?«
»Seinen Rücken gestreckt, schätze ich.«
»Zumindest ist er unvorsichtig. Das ist doch was.« Gil entspannte sich und pinkelte in seine Hose, um zumindest diese immer stärker werdende Einschränkung loszuwerden. Das warme Gefühl, das sich von seinem Schritt aus am Stoff der Hose entlang ausbreitete, brachte zusätzliche Erleichterung. Es war gar nicht so leicht, die Blase zu entleeren, während man absolut regungslos liegen blieb, wie die meisten Menschen wohl denken würden, aber Gil hatte die Kunst inzwischen mehr oder weniger zu meistern gelernt. Wenn ein Agent in Afghanistan am Leben und hellwach bleiben wollte, musste er eine Menge Wasser trinken, und ein Heckenschütze konnte schließlich nicht alle zehn Minuten aufspringen und aufs Klo gehen.
Nachdem er also dem Harndrang nachgegeben und sich erleichtert hatte, war er kampfbereit. »Ich muss diesen Kerl ausschalten, bevor Umarov rauskommt. Führ mich zu ihm.«
»Siehst du den nördlichen Wassertank?«
»Hab ihn.«
»Er steckt in einem Unterschlupf aus Sperrholz und Schutt, knappe zehn Meter südlich vom … Pass auf! Er zielt jetzt auf dich!«
Gil schob sein Ziel zehn Grad nach rechts. Das Blut gefror in seinen Adern, als er den feindlichen Scharfschützen entdeckte, deutlich zu sehen in seinem Unterschlupf, die Silhouette im grünlich-schwarzen Sichtfeld klar umrissen.
»Scheiße!« Er zuckte vom Zielfernrohr weg, und das keinen Moment zu früh. Die Linse splitterte, als die feindliche Kugel geradewegs durch das Rohr ging, ohne die Seiten auch nur zu berühren. Glassplitter bohrten sich in die Haut an Gils Hals, als die tödliche Kugel nur knapp an seinem Ohr vorbeipfiff. Er ließ die Remington fallen und rollte über das Dach des Bahnwaggons, um sich dann auf der Rückseite hinabfallen zu lassen, aber da streifte der zweite Schuss des Feindes auch schon seine Hüfte. Im Fallen drehte er sich, sodass er wie eine Katze mit den Füßen voran auf dem Schotter landete, und suchte Deckung, duckte sich hinter eines der großen Stahlräder des Waggons.
»Gottverdammt, das war knapp!«
»Hat er dich getroffen?«, fragte die Luftüberwachung und klang ein bisschen erschüttert.
Gil zog die Jeans kurz ein Stück herunter, um sich die Wunde anzusehen. »Er hat mich an der Hüfte gestreift. Nichts Ernstes.«
»Gut«, erwiderte die Stimme grimmig, »denn gleich wirst du bis zur Hüfte in der Scheiße stecken. Da sind mehrere Dutzend französische Gendarmen, die sich von Norden und Westen deiner Position nähern. 200 Meter entfernt. Die haben zwei Schäferhunde dabei.«
Mit Schäferhunden wollte Gil nicht ins Gehege kommen. Mit einem würde er vielleicht fertigwerden, wenn er in Kauf nahm, selbst etwas abzubekommen, aber zwei davon würden ihn erst zu Boden und dann in Stücke reißen. Also rannte er in südlicher Richtung über den losen Schotter davon, immer parallel zum abgestellten Güterzug. »Was macht der verfickte Sniper?«
»Vergiss den«, kam die Stimme, die jetzt etwas abgelenkt klang. »Er zieht sich zurück.«
Gil hantierte am Ohrstöpsel herum, während er rannte. »Ist es möglich, dass die Gendarmen wegen Umarov hier sind?«
»Sie bewegen sich nicht auf die Lagerhalle zu. Warte eine Sekunde.« Erneut entstand eine Pause. »Umarov und seine Leute verlassen das Gebäude durch den hinteren Ausgang. Jemand muss dich in eine Falle gelockt haben, Gil.«
»Aber wer, zum Teufel?«, wollte Gil wissen, während er durch das Dunkel rannte und der Wind die Rufe der Gendarmen, die ihn verfolgten, zu ihm herübertrug.
»Die Hunde sind los«, warnte ihn die Stimme von oben. »Sie werden schneller, sind jetzt 100 Meter hinter dir.«
»Verdammt!« Gil machte einen Satz die Leiter eines Waggons hinauf und kletterte hastig aufs Dach, sprintete oben auf der Waggonreihe entlang und setzte jeweils mit einem Sprung über die Lücken dazwischen, immer in Richtung der Lokomotive, die immer noch eine halbe Meile entfernt an der Spitze des Güterzugs wartete.
»Sie werden dich da oben sehen.«
»Wenn du eine bessere Idee hast, Bob, dann raus damit.« Die Hunde bellten und holten auf, während das dumpfe Klappern von Gils Schritten auf den Stahlblechdächern viel zu gut zu hören war … die winzigen Tröpfchen seines Schweißes hingen schwer in der Luft und boten den Hunden eine unmissverständliche Fährte.
»Wir erweitern das Sichtfeld, um zu sehen, was vor dir liegt«, kam die Antwort der Luftüberwachung.
Gil spürte, wie das Titan-Implantat in seinem rechten Fuß sich langsam in das Muskelgewebe fraß, und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis irgendetwas im Innern des Fußes auseinanderbrach. Er taugte nicht mehr wirklich für Flucht und Ausweichmanöver dieser Art, und diese Tatsache wurde ihm mit jedem Sprung von Waggon zu Waggon schmerzhafter klar. Die Schäferhunde waren jetzt direkt unter ihm und bellten wie irre, um ihren Haltern anzuzeigen, dass sie den Verdächtigen eingeholt hatten.
Ein Pistolenschuss pfiff durch die Nacht und Gil warf einen raschen Blick über die Schulter zurück. Er erspähte einen Gendarmen 15 Waggons weiter hinten, der ebenfalls auf den Dächern entlangrannte.
»Was ist aus der guten alten Regel geworden, dass man einen fliehenden Verbrecher nicht erschießen soll?«, murmelte Gil genervt vor sich hin.
»Du bist in Frankreich«, erinnerte ihn die Stimme. »Diese Regel gibt’s da nicht.«
»Bob. Der Zug geht mir gleich aus und dieser übereifrige Arsch hinter mir kann schneller rennen als ich.« Ein weiterer Pistolenschuss. »Ich bin ziemlich sicher, dass die mich abknallen wollen.«
»Das wollen sie. Jemand hat der Sûreté telefonisch einen Tipp gegeben, dass sich beim Betriebshof ein Terrorist herumtreibt.« Die Sûreté Nationale war die französische Staatspolizei.
»Hörst du nebenher noch Radio oder was?« Gil sprang mit einem weiteren Satz über die nächste Wagenlücke und wäre beim Aufsetzen beinahe gestolpert.
»Ich muss doch herausfinden, womit du es zu tun hast«, erwiderte die Stimme gelassen, während Gil das leise Klackern von Fingern auf einer Tastatur hören konnte. »Okay, du hast Glück. Etwa zehn Waggons voraus queren die Schienen einen breiten Kanal. Da hinüber können dir die Hunde nicht folgen, also kannst du zurück auf den Boden und ein bisschen querfeldein rennen.«
Gil sprang über die nächste Lücke und geriet ins Straucheln, rollte sich gekonnt ab und zurück auf die Füße, während die Schritte des Verfolgers immer näher kamen. »Zuerst muss ich diesen Carl Lewis hinter mir abhängen.«
»Lauf, Gil. Wenn sie dich lebend schnappen, dann kommst du lebenslang in den französischen Knast.«
»Vielen Dank für den Hinweis, Bob!« Gil rannte über das Dach des Waggons, der genau über dem Kanal stand, ließ die Hunde bellend und jaulend am Ufer zurück und kletterte auf der anderen Seite rasch die Leiter hinab. Ein schneller Blick zurück verriet ihm, dass der Gendarm nur sechs Wagen hinter ihm war und mit der Pistole in der Hand schnell näher kam. Er verschwand im Schatten der vielen Frachtcontainer, die jeweils zwei Stück hoch auf einem Lagerplatz standen. Die Rufe weiterer Gendarmen erschollen, als sie sich am Rand des Kanals sammelten und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wild durch die Dunkelheit flackerten.
Gil verbarg sich hinter dem nächstbesten Container, um auf den schnellfüßigen Gendarmen zu warten. Als der jüngere Mann im Dunkeln um die Ecke gehechtet kam, stieß ihm Gil seinen Daumen und Zeigefinger zu einem V geformt in den Hals, drückte ihm damit kurzzeitig die Speiseröhre ab und ließ ihn aus den Latschen kippen.
Die Pistole fiel auf den Boden und Gil schnappte sie sich. Er wollte niemanden töten, aber die Möglichkeit, lebenslang ins Gefängnis zu wandern, war ebenso inakzeptabel, also musste er diese vermasselte Mission irgendwie überstehen und so lange auf Messers Schneide tanzen, bis er entweder entkam oder sich gezwungen sah, eine mörderische Entscheidung zu treffen. Er steckte die Pistole in den Bund seiner Jeans und rannte erneut los, ließ den röchelnden Gendarmen im Staub liegen.
»Zeig mir einen Ausweg aus diesem verdammten Dreckslabyrinth!« In Augenblicken wie diesem war Gil aufrichtig erleichtert, dass er und seine Frau getrennt lebten, dass sie nicht zu Hause saß und sich Sorgen um ihn machte …
»Weiter geradeaus durch die Gasse zwischen den Containern, bis es nicht mehr weitergeht, dann scharf rechts. Einige von denen überqueren gerade über den Zug hinweg den Kanal. Der Rest ist mit den Hunden Richtung Westen unterwegs, weil es da eine Fußgängerbrücke gibt.«
»Wie weit von der Botschaft entfernt bin ich hier?«, wollte Gil wissen.
»Die Botschaft kannst du vergessen«, erwiderte die Stimme. »Die wird in diesem Moment abgeriegelt. Jemand weiß, dass du Amerikaner bist, also erwarten sie, dass du dorthin unterwegs bist.«
Gil stürzte einen schmalen Durchgang zwischen den Containern entlang. »Wo ist Umarov?«
»Der kann dir jetzt egal sein. Wir müssen ein Versteck finden, in dem du sicher bist.«
»Scheiß drauf!«, fluchte Gil. »Bring mich auf Umarovs Fährte zurück!«
»Gil, nein. Das ist …«
»Bob, deine Pariser Kontakte sind kompromittiert. Ich bin hier unten völlig auf mich allein gestellt. Wenn du mich also zu Umarov zurückführst, ist das ein ebenso großes Risiko wie jeder andere Weg, den ich nehmen könnte – und das Einzige, womit er ganz sicher nicht rechnet!«
Die Luftüberwachung blieb stumm, also huschte Gil weiter bis zum Ende der Reihe aus Frachtcontainern, wo es nicht weiterging. »Also was zum Henker sagst du da oben? Soll ich links oder rechts lang?«
»Oh, zur Hölle«, fluchte die Stimme unterdrückt. »Links weiter!«
Gil wandte sich nach links und rannte leise weiter. »Ist Umarov weit gekommen?«
»Nein, er hat einen Wohnblock betreten, etwa zwei Meilen von dir entfernt.«
»Was ist mit den Gendarmen?«
»Die haben die Fußgängerbrücke westlich von dir überquert und die Hunde suchen nach deiner Witterung. Du hast keine Minute mehr, dann sind sie dir wieder auf den Fersen.«
Gil erreichte das Ende dieser Reihe und hastete quer über den offenen Platz auf dem Betriebshof, auf die Lagerhallen zu.
»Mach schneller«, drängte die Stimme in seinem Ohr. »Du bist völlig ohne Deckung, jeder kann dich sehen.«
»Ich mache mir Sorgen, dass mir das verdammte Implantat aus dem Fuß springt.«
»Wenn du nicht innerhalb der nächsten 30 Sekunden die Deckung erreichst, werden die Gendarmen dich entdecken. Die haben Nachtsichtgeräte.«
Gil rannte noch einen Schritt schneller und schaffte es hinter eine Linie aus sechs abseitsstehenden Tankwaggons, die auf einem Abstellgleis geparkt waren. Er duckte sich rasch hinter ein weiteres großes Rad.
»Bleib da mal eine Minute lang«, wies ihn die Luftüberwachung an. »Die suchen den Betriebshof ab.«
»Wie lauten deren Befehle?« Gil wusste, dass der Mann am anderen Ende fließend Französisch sprach. »Hörst du den Polizeifunk in Echtzeit ab?«
»Der Befehl lautet, dich nicht entkommen zu lassen.«
»Okay, also mindestens brenzlig für mich«, murmelte Gil. »Ich würde gern eine rauchen.« Er hockte sich hin und lehnte den Kopf zurück gegen das Rad, nahm mehrere tiefe Atemzüge. »Ich kann dieses Tempo nicht mehr lange halten. Du musst so was wie eine Mitfahrgelegenheit für mich finden.«
»Die Hunde werden jede Sekunde deine Witterung aufnehmen«, warnte die Stimme. »Steh auf und sieh zu, dass du dich genau senkrecht zu den Schienen davonmachst. Du musst immer die Räder zwischen dir und den Männern auf der anderen Seite haben. Wenn du es zu den Lagerhallen rüber schaffst, ohne entdeckt zu werden, hast du vielleicht eine Chance.«
Gil rannte los und erreichte das nächstgelegene Lagergebäude, rannte zur Rückseite, um außer Sicht zu gelangen.
»Herrgott, was denn noch?«, schimpfte die Flugüberwachung. »Hörst du da unten Schüsse?«
Gil erstarrte. »Nein – wieso?«
»Jemand schießt auf die Gendarmen. Zwei von ihnen hat es erwischt, die liegen auf den Schienen, und der Rest bleibt zurück, geht in Deckung. Sie haben gerade die Hunde wieder von der Leine gelassen.«
Gil schlug eine Scheibe ein und stieg in die Lagerhalle. »Ich bin jetzt drinnen.« Er huschte zum hinteren Ende des Gebäudes, musste im Zickzack um Berge von Kisten herumlaufen und verlor im Dunkeln rasch die Orientierung. Er fand sich in einer Sackgasse wieder und musste kehrtmachen. »Wer hat diese Scheißdinger bloß so gestapelt?«
»Was für Dinger?«
»Kisten«, erwiderte Gil. »Wer schießt auf die Gendarmen? Ist es dieser verfluchte Heckenschütze?«
»Das weiß ich nicht, Gil. Du musst da irgendwie wieder raus, schnell. Die Hunde sind gerade dabei, durch das Fenster zu springen … Sie sind im Gebäude!«
Nur Sekunden später konnte Gil die Krallen der Hunde auf dem Betonboden kratzen hören, während sie, ohne zu zögern, durch die Dunkelheit hetzten, jeden seiner Schritte im Labyrinth aus Kisten exakt nachvollzogen. Er erreichte eine Stahltreppe und rannte zwei Stockwerke hoch bis zum obersten Absatz, von wo aus er die gesamte tintenschwarze Grundfläche der Halle überschaute. Er sprintete zum Ende der Laufplanke und fand dort eine verschlossene Stahltür.
Die beiden Schäferhunde hechteten die Treppe hinauf, und dann sah er schwach ihre Silhouetten am anderen Ende des Stegs, wie sie Schulter an Schulter auf ihn zukamen. Ein tiefes Knurren kam aus beiden Kehlen.
Als er die Beretta aus dem Hosenbund zog und auf die Hunde anlegte, dachte Gil unwillkürlich an seinen eigenen Hund, einen Chesapeake Bay Retriever. Die Schäferhunde knurrten und griffen dann an. Im Schein einer Quecksilberdampflampe, die draußen vor dem Fenster montiert war, erspähte er eine Reihe von Leitungsrohren, die entlang der Wand nach unten verliefen und zu einer Tür führten, die ins große Tor eingelassen war. Er traf eine Entscheidung, ohne groß darüber nachzudenken, ließ die Pistole fallen und schwang die Beine über das Geländer. Dann streckte er die Arme aus, um eins der Leitungsrohre zu fassen zu bekommen, und stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand.
Die Hunde knurrten und bellten wütend, während er sich knapp außerhalb ihrer Reichweite an die Wand klammerte. Er behielt ihre gebleckten weißen Zähne im Blick, als er an dem Rohr entlangglitt, zwei Stockwerke hinab bis zum Boden. Die Hunde hechteten zur Treppe zurück und kamen herunter.
Unten angekommen musste Gil feststellen, dass die Tür verschlossen war. »Kann denn nicht einmal etwas funktionieren?«
»Was ist jetzt schon wieder das Problem?«, wollte die Luftüberwachung wissen.
»Hunde sind das Problem!«
Er rannte an der Wand entlang, in der Hoffnung, dass er die Rückseite der Lagerhalle erreichen würde, während die Schäferhunde die Treppe hinabstürmten. Er trat die Tür eines verschlossenen Büros auf und verbarrikadierte sie dann hastig mit dem Schreibtisch. Dabei schnappte er sich beiläufig eine Packung französischer Zigaretten vom Tisch und stopfte sie in seine Hosentasche.
Binnen Sekunden kratzten und schnauften die Hunde an der Tür, winselten frustriert. Er brach die rückwärtige Tür des Büros ebenso auf, dann rannte er einen fensterlosen Flur entlang, an dessen Ende ein trüber Lichtschein wartete.
»Seid ihr immer noch da oben?«
»Ja, ich habe einige Anrufe gemacht«, gab die Stimme zurück. »Hab versucht, ein Versteck für dich aufzutreiben. Wie lange wird es noch dauern, bis du einen Weg da raus gefunden hast?«
»Das kann ich dir gleich sagen, Moment.« Gil tastete mit der Hand die verdreckte Glasscheibe ab, durch die der schwache Lichtschein fiel. »Ich schätze mal, hier geht’s nach draußen«, murmelte er.
Im Dunkeln suchte er nach einem Stuhl oder Mülleimer, mit dem er die Scheibe einschlagen konnte.
Ohne Vorwarnung sprang ihn einer der Schäferhunde in vollem Lauf an, versenkte seine Reißzähne in seinem linken Unterarm.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte er, denn der plötzliche Angriff traf ihn völlig unvorbereitet. Er rang um sein Gleichgewicht, während der Hund ihn am Arm hin und her zerrte, nicht gerade wie eine alte Puppe, aber doch beinahe.
»Was ist da los?«, fragte die Luftüberwachung besorgt.
Das Tier war unglaublich stark und benötigte nur wenige Sekunden, um Gil zu Boden zu ringen. Er spürte mehr, als dass er hörte, dass auch der zweite Hund wieder aufgetaucht war, also trat er ins Dunkel, um ihn abzuwehren. Aber das Tier verbiss sich sofort in seinem Stiefel, riss seinen Fuß wie rasend hin und her, und die Fänge durchbohrten sowohl das Leder als auch den Spann seines sowieso schon lädierten rechten Fußes mit Leichtigkeit.
Zu seinem Glück war der Gang so eng, dass die beiden Hunde kaum Spielraum hatten. Daher schaffte es Gil, den ersten in die Ecke zu stoßen und dort niederzuhalten. Er stemmte seinen linken Fuß gegen die Wand und benutzte den verletzten Unterarm, um den Kopf des Hundes gegen den Boden zu pressen. Nun hatte er die Oberhand. Der zweite Hund hatte seinen Fuß immer noch im Beißgriff, aber das war lediglich schmerzhaft, keine akute Gefahr für Leib und Leben.
Gil wollte dem ersten Hund gerade den Daumen in die Augenhöhle drücken, als er mit dem Kopf gegen einen Feuerlöscher stieß, der an die Wand gelehnt auf dem Fußboden stand. Er packte den Feuerlöscher mit der freien Hand und stieß dem Hund die Düse in die Schnauze, bevor er den Hebel hinunterdrückte und ein heftiger Stoß CO2 herauskam. Der Hund heulte auf und ließ Gils Arm augenblicklich los, zappelte wie rasend und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Gil rollte sich von ihm herunter und verpasste dem zweiten Hund einen Stoß ins Gesicht, sodass auch der seinen Fuß hastig freigab. Er nahm eine geduckte Haltung ein und trieb die beiden Tiere mit mehreren Stößen aus dem Feuerlöscher zurück den Gang entlang. Dann fuhr er schnell herum und warf den Löscher mit aller Wucht durch das Fenster. Das Glas brach nach außen weg und Gil sprang mit einem Satz nach draußen. Er landete in einem stählernen Müllcontainer, der halb gefüllt war.
Einer der beiden Schäferhunde tat es ihm mit einem ebenso raschen Satz nach und stieß sofort knurrend seine Zähne in Gils Oberschenkel.
»Du verdammtes Arschloch!«, fluchte Gil und hieb dem Tier seine Faust gegen den Kopf, offenbar hart genug, um es zum Loslassen zu bewegen. Er trat den Hund beiseite und war bereits im Begriff, aus dem Container zu klettern, als der zweite Schäferhund durch das Fenster gesprungen kam. Gil hechtete aus dem Müllcontainer und drehte sich schnell um, schlug den schweren Deckel nach unten und erwischte dabei einen der Hunde, der sofort bewusstlos war. Den anderen Hund hörte er weiterhin dumpf aus dem stählernen Kasten bellen, als er sich die Gasse hinunter davonmachte.
»Großer Gott.« Er lehnte sich kurz an eine Wand und machte eine Faust, ließ dann wieder locker, um zu sehen, wie schlimm es seinen linken Arm erwischt hatte. Dann spähte er in den Himmel hinauf. »Wie komme ich hier weg?«
»Immer in östlicher Richtung«, antwortete die Stimme leise. »Wenn du dich jetzt beeilst, bin ich ziemlich sicher, dass du Zeit genug hast, etwa eine halbe Meile voraus ein Taxi zu erwischen.«
»Was ist mit den Cops?«
»Drei weitere wurden niedergeschossen, während du dich mit den Hunden angelegt hast. Sie sind in Deckung gegangen und haben einen Ambulanzhubschrauber angefordert.«
»Habt ihr gesehen, in welche Richtung der Heckenschütze abgehauen ist?«
»Nein, aber wer auch immer er ist, er hat dich verdammt noch mal verpfiffen.«
Gil zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Boden. »Sieh zu, dass du herausfindest, wer diese Operation sabotiert hat. Dem schneide ich das verfluchte Herz raus.«
»Wir haben Glück, wenn wir dich überhaupt lebend aus Frankreich herausbekommen.«
Gil zog an der Zigarette. »Dann hat die Eliminierung von Umarov nach wie vor höchste Priorität. Also, wo geht’s lang zu diesem Taxistand?«
2
Paris, Frankreich
Etwa eine halbe Meile vom Zielgebiet entfernt stieg Gil in ein Taxi. Die Stimme in seinem Ohr erklärte ihm, was er auf Französisch sagen musste, und obwohl sein Akzent zum Davonlaufen war, verstand der Fahrer ihn gut genug, um sich wie angewiesen in Richtung Stadtrand aufzumachen. Aber als der Fahrer dann im Rückspiegel sah, wie schlimm Gil blutete, und ihm dann auch recht bald dämmerte, dass der Verletzte seine Instruktionen über einen Stöpsel im Ohr bekam, drehte er sich nach hinten um und ließ einen Schwall aufgeregter französischer Worte auf Gil niederprasseln.
»Er denkt, dass du von der CIA bist«, meldete sich die Luftüberwachung mit einem leisen Lachen zu Wort.
»Du hast zu viele Filme gesehen«, beruhigte Gil den Taxifahrer. »Fahr einfach.« Er hätte wetten können, dass der Mann zumindest ein wenig Englisch sprach, so wie die meisten Pariser, die es allerdings vorzogen, so zu tun, als verstünden sie kein Wort, wann immer sie es mit amerikanischen Touristen zu tun hatten.
Der Taxifahrer lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. »Raus hier. Ich brauche deinen Ärger nicht.«
Gil war nicht in der Stimmung für Spielchen. Er beugte sich mit einer ruckartigen Bewegung nach vorne über den Sitz und verpasste dem Fahrer eine ins Gesicht, wie Indiana Jones. »Entweder fährst du jetzt, oder ich werde fahren! Ich habe keine Zeit für deinen Mist! Comprendre, mon ami?«
Der Mann lehnte sich seitlich gegen die Fahrertür und hielt sich das Gesicht, wo Gil ihn geschlagen hatte. In seinem Blick war die Wut deutlich zu lesen. »Du bist CIA.«
»Verdammt richtig, das bin ich«, knurrte Gil. »Und jetzt fahr endlich!«
Missmutig legte der Fahrer den Gang wieder ein und fuhr erneut los. »Wieso blutest du?«, wollte er ein paar Minuten später wissen.
»Ich wurde von einem Werwolf angegriffen.« Gil lauschte aufmerksam der Luftüberwachung, die das Taxi von oben per Infrarot im Blick behielt, und zwar aus 200 Meilen Entfernung via Satellit im geostationären Orbit.
»Hier gleich rechts abbiegen«, wies er den Fahrer an. »Wir sind fast da.«
Eine Minute später hielt der Wagen am Bordstein und Gil stieg aus. Sie befanden sich in einem muslimisch geprägten Stadtteil von Paris. Gil stopfte dem wartenden Taxifahrer zerknitterte Euroscheine im Wert von 300 Dollar in die Hand. »Behalt den Rest.« Er schlug die Tür zu und das Taxi fuhr rasch davon.
Gil blieb im Dunkeln und blickte zu dem dreistöckigen Mietshaus hinauf, das an der Straßenecke aufragte. In einem der Apartments im obersten Stock brannte Licht. »Ich nehme nicht an, dass du weißt, auf welcher Etage Umarov steckt?«, fragte er die Luftüberwachung.
»Keine Ahnung, aber der SUV an der Ecke ist der Wagen, mit dem er gekommen ist. Hat wahrscheinlich eine Alarmanlage.«
Gil wühlte in einem Mülleimer an der Ecke, bis er eine Glasflasche gefunden hatte. Er schleuderte die Flasche quer über die Straße und sie krachte gegen die Windschutzscheibe des fetten Geländewagens, löste den Alarm aus, der lautstark und mit blinkenden Scheinwerfern kundtat, dass etwas nicht stimmte.
»Ich schätze, das ist auch eine Methode«, lachte die Stimme in seinem Ohr leise.
Gil trat in den Schatten eines Gebäudes zurück. Die Vorhänge des erleuchteten Fensters wurden beiseitegezogen und ein Mann stand kurz dort oben, sah zu dem Wagen hinunter und zog die Vorhänge dann wieder zu.
»Hat funktioniert.« Gil huschte über die Straße und setzte auf der anderen Seite über eine taillenhohe Steinmauer, hinter der er in Deckung ging, weit genug vom Lichtkreis der nächsten Straßenlaterne entfernt, um nicht gesehen zu werden.
Die Alarmanlage des Autos verstummte nach etwa einer Minute und im nächsten Moment trat der Mann vom Fenster aus dem Haus. Er blieb vor dem Wagen stehen und starrte im Licht der Straßenlaterne auf die gesplitterte Windschutzscheibe. Seine Visage erschien gleichermaßen scharfsichtig und raubtierhaft. Wie ein Falke spähte er aufmerksam in alle Richtungen, die rechte Hand in der Jackentasche.
Gil ging in die Hocke, schlich tief geduckt hinter der Mauer entlang auf die Ecke zu. Der Mann stellte die Alarmanlage des Wagens wieder ein und wandte sich ab, um ins Haus zurückzugehen. Als er am Ende der Mauer vorbeiging, sprang Gil ihn an wie ein lauernder Puma und verpasste ihm einen fiesen Schlag gegen den Hinterkopf, dorthin, wo das Kleinhirn saß. Der Mann stürzte vornüber und landete mit dem Gesicht zuerst auf dem Gehsteig, aber Gil war noch nicht mit ihm fertig. Noch während der andere fiel, trat Gil ihm den Absatz seines Stiefels schnell und hart in den Nacken und ließ das Rückgrat mit einem knochigen Knacken brechen.
Sofort zerrte er die Leiche am Kopf ins Dunkle, durchsuchte den Kerl nach Waffen und Hinweisen. Er fand einen Schlüsselbund mit drei Schlüsseln – einer davon gehörte eindeutig zum SUV – und eine extra handliche Glock 39, Kaliber 45, mit Platz für sechs Kugeln im Magazin. Er vergewisserte sich, dass sich eine Kugel in der Kammer befand, bevor er aus der Deckung kam und um das Gebäude herumschlich. Einer der Schlüssel passte an der Hintertür, also glitt er geräuschlos ins Haus. Die Treppe erklomm er gemächlich, die Pistole in der rechten Hand, aber hinter dem Oberschenkel verborgen, während er nach oben ging. Die Flure des alten Gebäudes waren nur schwach erleuchtet und die hölzernen Stufen knarrten bei jedem Schritt.
Er erreichte den obersten Stock und blieb stehen, den Blick auf die Tür des betreffenden Apartments geheftet. Ein Lichtschein drang darunter hervor und Gil konnte hören, dass sich drinnen mindestens zwei Männer auf Tschetschenisch unterhielten. Ihre Stimmen klangen nervös und er nahm an, dass es um die Alarmanlage unten auf der Straße ging, aber wissen konnte er das natürlich nicht. Er sah auf den dritten Schlüssel in seiner Hand hinab, wusste aber nicht, ob die Tschetschenen vielleicht ein geheimes Klopfzeichen vereinbart hatten, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckten. Auch hatte er keine Ahnung, wie viele feindlich gesinnte Moslems sich im Gebäude befinden mochten, und die sechs Schuss in seiner Waffe würden in einer größeren Schießerei niemals ausreichen. Ganz abgesehen davon wollte er auch der französischen Polizei nicht unbedingt noch einmal begegnen.
Er beschloss, das Überraschungsmoment weiter zu nutzen, steckte den Schlüsselbund wieder ein und machte einen Schritt auf die Tür zu, trat sie ein und erschoss den ersten Mann, den er erblickte. Der Tschetschene starrte mit großen Augen zurück, griff sich an den Hals und kippte rückwärts über einen Wohnzimmertisch. Gils ursprüngliches Ziel, der bärtige Dokka Umarov, sprang vom Sofa auf und wollte nach der Glock 39 in seinem Hosenbund greifen, aber Gil schoss ihm direkt in die Stirn. Der größte Teil seiner Schädeldecke verschwand in einer Explosion aus Knochensplittern und Blut, während Gil sich bereits nach links drehte, um auch den letzten Mann im Raum zu erschießen.
Für den Bruchteil einer Sekunde stockte er, drückte nicht ab, denn vor ihm stand Agent Trent Lerher von der CIA, ehemals Teil des Joint Special Operations Command, kurz JSOC. »Was zur Hölle machen Sie hier?«
Lerher war groß und schlank, besaß langjährige Erfahrung in der Welt der Spionage. »Immer mit der Ruhe, Gil. Das hier ist nicht das, wonach es aussieht.«
»Beantworten Sie meine Frage!«
Während seiner Zeit im SEAL-Team 6 hatte Gil bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit Lerher zusammengearbeitet. Einmal vor Jahren in Indonesien, und erst kürzlich in Afghanistan, als Lerher Gil von dort aus in den Iran geschickt hatte, um einen Bombenbauer der Al-Qaida und dessen schwangere Frau zu eliminieren. Gil hatte sich geweigert, die Frau zu töten, hatte sie vielmehr lebend mit zurück nach Afghanistan gebracht und Stunk wegen Lerhers unverantwortlicher Handhabung der Operation gemacht. Dessen fragwürdiger Befehl, eine schwangere Frau zu ermorden, war auch bei seinen Vorgesetzten in Langley nicht gut angekommen, und als Resultat war Lerher vom JSOC abgezogen worden. Sie hatten ihn in den stinknormalen Außendienst zurückgestuft.
»Wer ist da?«, fragte die Stimme der Luftüberwachung in Gils Ohr.
»Es ist Lerher!«
Der Agent sah den Ohrstöpsel. »Sagen Sie Pope, dass ich …«
»Woher zur Hölle wissen Sie, dass Pope dran ist?«, blaffte Gil ihn an. »Behalten Sie mal schön die Hände oben!«
Lerher hob die Hände höher. »Wir haben hier keine Zeit, das zu klären, Gil. Verschwinden wir, dann erkläre ich es Ihnen auf dem Weg.«
»Gil«, erklang Popes Stimme.
»Ich höre.«
»Er ist derjenige, der dich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hat. Mach ihn platt.«
»Bist du sicher?«
»So hören Sie doch!«, schnaufte Lerher, dem klar wurde, dass ihm die Felle davonschwammen. »Das hier ist nicht das, wonach es aussieht! Pope weiß doch gar nicht, wovon er da redet!«
»Gil, knall ihn ab und sieh zu, dass du von dort verschwindest. Du hast nicht mehr viel Zeit.«
»Verdammte Scheiße. Bist du sicher?«
»Ich bin Amerikaner!«, brüllte Lerher.
»Knall ihn ab, Gil! Die Polizei wird gleich da sein.«
Lerher griff in seine Jacke und Gil schoss ihm direkt ins Gesicht. Der Agent stolperte rückwärts, zuckte und blinzelte, gab ein furchtbares, ersticktes Röcheln von sich, und dann schoss Gil ihm noch einmal in die Brust. Lerher sackte zu Boden und Gil sprang vor, um ihn rasch zu durchsuchen. Alles, was er fand, war eine Pistole desselben Modells, wie die Tschetschenen es trugen, also schnappte er sich die restlichen Magazine und hastete aus der Wohnung, rannte drei Etagen die Treppe hinunter und stieg schnell in den schwarzen Geländewagen. Von Norden her näherte sich das typische, abwechselnd hoch und tief klingende Heulen europäischer Polizeisirenen, also trat er aufs Gas und fuhr in südlicher Richtung davon.
»Was zum Teufel ist hier los, Bob? Lerher ist nicht einmal mehr mit dem JSOC verbunden!«
»Jetzt ist er mit nichts und niemandem mehr verbunden«, gab Pope zurück.
Gil musste an einer roten Ampel halten. »Das ist nicht witzig.«
»Du hast gesagt, dass du den Kerl tot sehen willst. Jetzt hast du doch, was du wolltest.«
»Ich will vor allem wissen, was zur Hölle er mit Dokka Umarov in Paris zu schaffen hatte.«
»Das werde ich herausfinden«, versprach Pope. »Aber jetzt musst du erst mal so schnell wie möglich zur russischen Botschaft fahren.«
Die Ampel sprang auf Grün, aber Gil bemerkte es gar nicht. »Was zum Teufel soll ich denn bei der russischen Botschaft?«
»Dich zusammenflicken lassen fürs Erste. Vielleicht auch eine Injektion Penicillin. Diese Hundebisse entzünden sich doch sofort.«
»Du willst mir also sagen, dass die Russen zugestimmt haben, mich zu verstecken?«
»Du hast gerade Russlands Bin Laden ermordet«, erwiderte Pope. »Da ist das ja wohl das Mindeste, was sie für dich tun können. Jetzt bieg links ab und versuch einfach, nicht so zu fahren, als ob du auf der Flucht bist, weil du gerade mehrere Menschen erschossen hast, in Ordnung?«
3
Paris, Frankreich
Die Sicherheitsbeamten des russischen Konsulats erwarteten Gil bereits, als er dort auftauchte, und er wurde sofort durch einen Seiteneingang ins grell gestrichene Gebäude gelassen. Vier bullige Soldaten eskortierten ihn zu einem Besprechungsraum, in dessen Seitenwand ein Einwegspiegel eingelassen war.
»Wenn Sie Waffen bei sich tragen, legen Sie sie auf den Tisch«, befahl einer der ernst dreinschauenden Soldaten in gut verständlichem Englisch. Seine Schulterklappen wiesen ihn als Oberstabsfeldwebel aus, oder als Starshina, wie man diesen Rang in der russischen Armee nannte. Damit befand er sich auf ähnlicher Stufe wie Gil, ein Master Chief der U. S. Navy.
Gil zog die Glock 39 langsam unter seiner Jacke hervor und legte sie zusammen mit den drei zusätzlichen Magazinen und dem Päckchen Zigaretten auf den Tisch. »Das ist alles«, erklärte er mit einem Lächeln, das seine blauen Augen erreichte.
Der Starshina zeigte auf den Knopf in Gils Ohr. »Den auch.«
»Sie sagen, dass ich mich abmelden muss, Bob.«
»Das war zu erwarten«, antwortete Pope. »Viel Glück, Gil. Viel mehr kann ich jetzt nicht für dich tun.«
»Hauptsache du findest heraus, was Lerher vorhatte.« Gil nahm den Stöpsel aus dem Ohr und warf ihn auf den Tisch.
»Ausweis?«, hakte der Starshina nach.
Gil war 1,80 groß, hager und sehnig, sein braunes Haar ganz kurz geschnitten. Er nahm den Reisepass aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn dem Feldwebel.
Der Russe betrachtete das Dokument. »Sie sind Kanadier?«
Gil schüttelte den Kopf.
»CIA?«
»Ich schätze, das kommt darauf an, wen Sie fragen. CIA bedeutet heute auch nicht mehr das Gleiche wie früher.«
Der Mann betrachtete ihn abschätzig und wies dann auf einen Stahlrohrstuhl an der Wand. »Setzen Sie sich da hin.«
Gil tat wie ihm geheißen und der Soldat packte seine Habseligkeiten in einen ledernen Aktenkoffer, den er mitnahm, als er den Raum verließ. Die anderen drei Wachmänner, ein jüngerer Feldwebel und zwei Gefreite, standen mit vor der breiten Brust verschränkten Armen im Raum verteilt und behielten Gil im Blick.
»Ihr Jungs habt nicht zufällig …«
Die Tür ging auf und ein Arzt Ende 20 betrat den Raum. Er trug einen großen roten Verbandskasten in der einen Hand. »Bitte legen Sie Ihre Kleidung ab.« Er stellte den Arztkoffer auf den Tisch. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Gil stand auf und zog sich bis auf die Unterhose aus. Der Geruch seines Urins zog durch den Raum, als er sich wieder hinsetzte. Er blutete aus Wunden am linken Unterarm, am linken Oberschenkel und der Hüfte sowie am rechten Fuß. Außerdem hatte er eine fünf Zentimeter lange Schnittwunde am Kopf, die er sich nicht erklären konnte.
Als die drei Wachsoldaten die vielen Narben alter Kämpfe an seinen Beinen, seinem Oberkörper und dem Kopf erblickten, wechselten sie mehrere Blicke, die vielleicht sogar Anerkennung ausdrückten.
»Ist das von einem Hund?«, wollte der Arzt wissen, als er Gils aufgerissenen Unterarm betrachtete.
»Ja.«
»Und das?«, fragte der Arzt einen Moment darauf, während er vorsichtig die Bissspuren an seinem Oberschenkel abtastete.
»Genau, und mein Fuß auch. Das hier an der Hüfte ist eine Schusswunde. Und ich habe keine Ahnung, warum zur Hölle mein Kopf blutet.«
Der Arzt sah hinüber zu dem jüngsten Soldaten, einem der Gefreiten, und redete ausführlich auf Russisch auf ihn ein. Als er fertig war, sammelte der Gefreite Gils Kleidung ein, inklusive seiner Socken und Stiefel, und verließ damit das Zimmer.
»Ich werde Ihre Wunden jetzt behandeln«, erklärte der Arzt, während er bereits eine Spritze und ein Fläschchen Lidocain aus dem Verbandskasten holte. Mit geschickten Fingern nähte er nacheinander ordentlich alle Wunden und war nach einer knappen halben Stunde damit fertig.
In dem Moment, als der Doktor den letzten Faden kappte, kehrte der Oberstabsfeldwebel mit einem Satz neuer Kleidungsstücke zurück, und das war auch der Moment, in dem Gil erst richtig aufging, dass er die ganze Zeit von der anderen Seite des Spiegels beobachtet wurde.
Gil zog sich an und war ziemlich beeindruckt, dass die neuen Schuhe exakt passten. Er lächelte den Soldaten an. »Gut gemacht, Starshina. Ihr Jungs habt es ganz schön drauf.«
Der Russe erlaubte sich ein schmales Lächeln.
Der Arzt verließ den Raum und gleich darauf kam ein Fotograf mit einer Digitalkamera herein.
»Setzen Sie sich«, befahl der Feldwebel. »Nicht lächeln.«
Gil setzte sich wieder auf den Stuhl und der Fotograf machte ein Bild, bevor er fast ebenso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Gil.
Der Feldwebel gab den anderen beiden Soldaten mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie gehen konnten, und folgte ihnen hinaus. Gil blieb fast eine Dreiviertelstunde lang allein in dem Zimmer, bevor die Tür erneut aufging und ein fit wirkender Mann Anfang 70 den Raum betrat. Er streckte die Hand aus und Gil erhob sich von seinem Stuhl, um sie zu schütteln.
»Mein Name ist Vladimir Federov«, stellte der alte Mann sich vor.
»Schön, Sie zu treffen, Sir. Ich bin …«
»Ich weiß, wer Sie sind. Kommen Sie, setzen wir uns an den Tisch. Wir werden uns unterhalten.«
Sie setzten sich einander gegenüber und Gil wartete ab, was der Mann ihm zu sagen hatte.
Federov verschränkte die Finger. »1973 wurde ich in Berlin von der CIA geschnappt«, begann er. »Damals war ich ein junger KGB-Agent, und glücklicherweise war am Tag zuvor auch ein CIA-Agent in Ostberlin gefangen gesetzt worden. Es war ausgemacht, dass wir nach 24 Stunden am Checkpoint Charlie ausgetauscht werden sollten.« Am Checkpoint »C«, dem wohl berühmtesten Grenzübergang der Berliner Mauer während des Kalten Krieges, waren in jener Zeit viele gefangene Spione ausgetauscht worden. Nach dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands verwandelte sich der geschichtsträchtige Ort zunehmend in eine Touristenattraktion.
»Ich hoffe, man hat Sie gut behandelt«, sagte Gil aufrichtig.
»Oh, ich wurde sehr gut behandelt«, versicherte Federov ihm. »Ein anderer junger Agent hatte mich gefangen gesetzt. Robert Pope. Wie ich höre, sind Sie gut mit ihm bekannt.«
Gil lächelte. »Ziemlich gut, ja, aber ich wusste nicht, dass er jemals einen echten KGB-Agenten geschnappt hat.«
Federov grinste. »Der Wichser hat eine Frau dazu benutzt, mich hereinzulegen.«
Gil konnte seine Heiterkeit nur mühsam verbergen. »Nun, da mir Popes guter Geschmack in Sachen Frauen durchaus bekannt ist, bezweifle ich, dass Sie wirklich eine Chance hatten.«
»Ich war jung und dumm«, gab Federov zu. »Aber Robert hat mich gut behandelt und dafür gesorgt, dass der Austausch zügig über die Bühne ging. Dafür bin ich ihm nach wie vor dankbar. Sehen Sie, in jener Zeit wurden die Familien gefangener KGB-Soldaten von der sowjetischen Regierung mit großem Misstrauen behandelt, und oft hat man ihnen das Leben schwer gemacht. Robert wusste das, und meine rasche Rückkehr hat meinen Eltern diese Unannehmlichkeiten erspart.«
»Ich verstehe.« Gil wusste, dass die Höflichkeiten damit beendet waren und es nun ans Eingemachte gehen würde.
»Dokka Umarov ist also tot?«, wollte Federov wissen.
»Sehr sogar«, erwiderte Gil.
»Er wurde schon oft fälschlich für tot gehalten«, wandte Federov ein. »Ich brauche jedes Detail Ihrer Mission bis zu diesem Augenblick. Das ist eine Bedingung, der Ihr Vorgesetzter bereits zugestimmt hat.«
Gil wusste, dass es gar keine Rolle spielte, ob Pope zugestimmt hatte oder nicht – auch wenn er glaubte, dass das wahrscheinlich der Wahrheit entsprach –, also berichtete er Federov haarklein von der Mission, von dem Moment an, als er sich auf dem Dach des Güterwaggons eingerichtet hatte, bis zu seiner Ankunft am Tor der Botschaft.
Federov schien ein wenig überrascht, dass Gil den Agenten Lerher getötet hatte. »Hat Lerher denn wirklich nach seiner Waffe gegriffen? Oder ist das nur die Geschichte, die Sie Ihren Leuten erzählen wollen? Keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei uns sicher.«
»Er wollte tatsächlich die Waffe ziehen, ja, aber ich hätte ihn auch so erschossen.«
Federov warf einen kurzen Blick in Richtung des Einwegspiegels, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Gil richtete. »Und Sie haben keine Ahnung, wer auf die französischen Gendarmen geschossen hat?«
»Wenn ich raten müsste«, erwiderte Gil, »würde ich sagen, dass es derselbe Heckenschütze war, der Umarovs Treffen gedeckt hat, aber das ist reine Spekulation. Pope hat den Kerl aus den Augen verloren, nachdem er seinen Unterschlupf verlassen hat.«
»Mit wem hat Umarov sich getroffen?«
»Unseren Informationen zufolge traf er sich mit Leuten von Al-Qaida, um über die Einschleusung von Al-Qaida-Kämpfern nach Georgien zu sprechen, die ihm bei seinem Krieg gegen Russland helfen sollen.«
»Wo in Georgien? Südossetien?« Südossetien hieß der nördliche Teil Georgiens, der 1990 versucht hatte, seine Unabhängigkeit zu erlangen. Aber Georgien hatte sich geweigert, die Autonomie dieser Region anzuerkennen, und kurz darauf war ein Krieg ausgebrochen. 1991 und 1992 gab es erbitterte Kämpfe, und 2004 flammte der Krieg wieder auf. Als 2008 dann erneut gekämpft wurde, marschierte Russland schließlich in Nordgeorgien ein, um Südossetien zu unterstützen. Die Südossetier waren seither vollkommen abhängig von russischer Unterstützung, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich.
Gil schüttelte den Kopf. »Nein, südlich von Tiflis, der Hauptstadt Georgiens. Nach unseren Informationen plante Umarov eine Reihe von koordinierten Anschlägen entlang der Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan.«
Diese Pipeline schlängelte sich 1100 Meilen lang von Baku in Aserbaidschan am Kaspischen Meer über Tiflis in Georgien bis nach Ceyhan in der Türkei an der Mittelmeerküste. Die BTC-Pipeline verschaffte westlichen Mächten Zugang zu den Ölfeldern des Kaspischen Meeres, ohne dass sie sich um russische oder iranische Einmischung sorgen mussten. Betreiber war British Petroleum, aber die Pipeline gehörte einem Konsortium bestehend aus elf unterschiedlichen Ölfirmen aus der ganzen Welt, unter anderem Chevron und ConocoPhillips.
»Sagen Sie mir eins«, forderte Federov ihn auf, »fanden Sie es nicht merkwürdig, dass Umarov sich mit diesen Leuten in Frankreich traf, so verdammt weit weg vom Kaukasus?« Der Nordkaukasus war Dokka Umarovs Heimat und Territorium; eine bergige Region im europäischen Teil Russlands, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer gelegen.
»Nun ja, er wurde dabei beobachtet, wie er in Athen an Bord eines griechischen Tankers ging, und ebenso, als er 36 Stunden später an der sizilianischen Küste auf eine private Jacht wechselte. Am folgenden Tag ging er in Marseille an Land und reiste von dort nach Norden, bis Paris.«
Federov stützte das Kinn auf die Faust. »Die CIA hat seinen Weg verfolgt?«
»Einer ihrer Agenten in Athen hat ihn zuerst identifiziert, ja. Es war ein schlichter Glückstreffer. Als er an Bord des Tankers gegangen war, war es nicht schwer, ihn weiter im Auge zu behalten.«
»Verstehe.« Federov lehnte sich mit einem Seufzer in seinem Stuhl zurück. »Agent Shannon, Sie haben heute Nacht nicht …«
»Master Chief«, verbesserte Gil ihn gutmütig. »Ich bin ehemaliger Navy-Soldat, kein CIA-Agent.«
Federov quittierte das mit einem trockenen Lächeln. »Mr. Shannon, Sie haben heute Nacht nicht Dokka Umarov getötet. Sie haben einen Agenten der GRU namens Andrei Yeshevsky getötet.« Die GRU war der militärische Nachrichtendienst der Russischen Föderation.
Gil kämpfte die augenblicklich aufsteigende Übelkeit nieder. »Wie ist das möglich?«
»Die GRU hat Yeshevsky vor sechs Wochen als Hochstapler nach Nordossetien geschickt, um die Glaubwürdigkeit des echten Dokka Umarov im Kaukasus zu unterhöhlen. In Kleinstädten, wo sein Gesicht nicht allzu bekannt ist, hat er Reden gehalten, in denen er tschetschenische Terrorattacken auf russische Militärziele verdammte und die tschetschenischen Moslems dazu drängte, die russische Obermacht anzuerkennen.« Federov lächelte milde. »Natürlich hat die GRU keinesfalls erwartet, auf diese Weise tatsächlich die Terrorwelle zu beenden. Was sie stattdessen bezweckte, war, dass der echte Dokka Umarov sich gezwungen sähe, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, und unseren Speznas damit die Gelegenheit gäbe, ihn endlich auszuschalten.« Speznas wurden die Sonderkommandos der Russen genannt, in etwa vergleichbar mit den U. S. Navy SEALs.
Gil fand das alles gar nicht komisch. »Was zum Teufel macht dieser Yeshevsky dann in Frankreich?«
Federov lehnte sich erneut zurück und kratzte sich am Kinn. »Um ehrlich zu sein, wir haben keinen Schimmer. Wir dachten, er wäre tot. Er verschwand, zwei Wochen nachdem er nach Nordossetien geschickt worden war … zusammen mit seinem gesamten Speznas-Team. Erst heute Abend, als Robert mich anrief, damit ich Ihnen aus Ihrer Notlage heraushelfe, sind wir darauf gekommen, dass Yeshevsky eventuell doch noch leben könnte.«
»Das bedeutet aber auch, dass es möglich ist, dass ich doch den echten Umarov getötet habe.«
Federov schüttelte den Kopf. »Yeshevsky hat eine Tätowierung einer Frau auf der Brust. Einer unserer Informanten bei der französischen Polizei hat bestätigt, dass die Leiche so eine Tätowierung trug. Dazu kommt noch, dass wir Grund zu der Annahme haben, dass der Schütze, der auf die französischen Gendarmen geschossen hat, ein Speznas-Agent namens Sascha Kovalenko ist. Kovalenko gehörte zu Yeshevskys Sicherheitsteam und war schon immer ein wenig … sagen wir einfach … instabil?«
»Also hat ein komplettes Speznas-Team die Fronten gewechselt?«
In diesem Moment klopfte es an der Tür, dann betrat der Feldwebel den Raum, sprach kurz auf Russisch mit Federov und verschwand sofort wieder.
Federov wandte sich wieder an Gil. »Wir haben die Bestätigung, dass die anderen beiden Männer, die Sie in dem Apartment erschossen haben, ebenfalls Mitglieder von Yeshevskys Team waren.«
Gil schnalzte mit der Zunge. »Und ich nehme nicht an, dass einer der beiden dieser Kovalenko war?«
»Kovalenko«, verbesserte Federov Gils Aussprache. »Nein, seine Leiche wurde nicht gefunden … und das ist sehr bedauerlich.«
Gil rieb sich übers Gesicht, spürte, wie die Erschöpfung ihn einholte. »Ich muss das alles an Pope weiterleiten. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er sich zumindest teilweise einen Reim darauf machen kann.«
»War er derjenige, der Yeshevskys Weg ab Athen überwacht hat?«
»Nein.« Gil schüttelte den Kopf. »Das hat der Chief of Station für den Mittelmeerraum gemacht. Die Informationen wurden erst an Pope weitergegeben, nachdem Umarov – Yeshevsky – hier in Paris angekommen war. Er trägt inzwischen die Verantwortung für eine streng geheime Antiterroreinheit und es war schlicht nicht genug Zeit, die Informationen eingehend zu prüfen, bevor wir reagiert haben. Innerhalb der CIA sind so einige Dinge im Augenblick etwas desorganisiert. Nach den Atomangriffen im September, also vor sechs Monaten, wurde eine ganze Menge umstrukturiert.«
Federov nickte. Offenbar war er über die internen Probleme der CIA im Bilde. »Es ist immer dasselbe Problem, wenn es nicht genügend wirklich kompetente Männer gibt.«
Ein weiteres Klopfen an der Tür, und der Feldwebel trat ein, reichte Federov einen dunkelroten Pass, schloss die Tür aber nicht wieder hinter sich, als er hinausging.
Federov blätterte den Pass kurz durch und schob ihn dann über den Tisch zu Gil. »Dieses Reisedokument ist zu 100 Prozent authentisch. Sie sind nicht länger Gil Shannon aus Amerika, sondern Vassili Vatilievitch Siyanovich aus der Russischen Föderation.«
»Sie verarschen mich.« Gil klappte den leicht abgenutzt aussehenden Pass auf und erblickte das Foto, das weniger als zwei Stunden zuvor von ihm gemacht worden war. Er registrierte, dass der Ausweis im Vorjahr ausgestellt worden war und dass viele der hinteren Seiten bereits mit Stempeln unterschiedlicher europäischer Staaten bedeckt waren.
»Den brauchen Sie, um aus Frankreich rauszukommen.«
Gil sah von dem Reisepass auf. »Aber ich spreche kein Russisch.«
Federov lachte leise. »Das tun die Franzosen auch nicht, also machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen Ihnen ein paar Worte bei, die Sie murmeln können, wenn der Zollbeamte Ihnen eine Frage stellt.« Er streckte seine Hand quer über den Tisch aus. »Viel Glück, Vassili. Sie werden es brauchen.«
Gil schüttelte die Hand des Älteren. »Was zur Hölle soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass du mit mir kommst«, meldete sich ein schroff wirkender Russe zu Wort, der soeben im Türrahmen aufgetaucht war. Seine Stimme klang rau und er trug das blau-weiß gestreifte Hemd der Speznas. Sein Kopf war kahl rasiert und seine blassblauen Augen besaßen einen gnadenlosen Blick. Auf seinen Wangen kündigte der Bartschatten die ersten harten Stoppeln an. Er war etwa drei Zentimeter größer als Gil, der ihn auf Mitte bis Ende 30 schätzte, und er sah aus, als wäre er aus Färbereiche geschnitzt. Als er den Raum betrat, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
Gil bemerkte den unteren Teil der Wolfstätowierung der Speznas, die aus dem Ärmel des Mannes hervorlugte, warf Federov einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an den Russen. »Sie sind der Mann hinter dem Spiegel?«
»Das ist Major Ivan Dragunov von der 10. Unabhängigen Speznas-Brigade«, stellte Federov ihn vor. »Sein Großvater war Yevgeny Dragunov … der Erfinder des Dragunov-Gewehrs, mit dem Sie ja bestens vertraut sind, wie ich höre.«
Gil musterte Dragunov. »Wenn Sie zur 10. gehören, dann sind Sie dem südlichen Militärdistrikt zugeordnet, nicht wahr? Dem Kaukasus?«
Dragunov verbarg nicht, dass er von Gils unmittelbar abrufbarem Wissen über die Zuständigkeit der 10. ISB beeindruckt war. »Ich habe außerdem in der Schwarzmeerflotte gedient.«
»Und wo genau glauben Sie, dass wir jetzt hingehen?«
Dragunov zuckte die Achseln. »Wohin wohl? Wir töten Kovalenko und den Rest der tschetschenischen Verräter, mit denen du dir heute Nacht bereits ein Gefecht geliefert hast.«
Gil sah Federov an und wartete auf eine Erklärung.
Federov steckte die Hände in die Hosentaschen. »Yeshevsky und sein Speznas-Team waren allesamt Tschetschenen aus dem Wostok-Bataillon. Sie wurden in Südossetien geboren. Aus welchem Grund auch immer, sie sind offensichtlich übergelaufen. Wie viele von ihnen sind noch übrig?«
»Zehn … Sascha Kovalenko mitgerechnet.«
Gil verschränkte die Arme. »Und es ist natürlich purer Zufall, dass ein Speznas-Major der 10. ISB sich gerade in Paris aufhält, just in der Nacht, als unser Mr. Yeshevsky sich während eines Treffens mit einem linken CIA-Agenten erschießen lässt.«
Federov überließ es Dragunov, zu antworten.
Dragunov streckte sich und gähnte ausgiebig. »Kein Zufall«, sagte er, während ihm das Wasser in die Augen trat. »Wir dachten, Kovalenko hätte Yeshevsky in Ossetien getötet, und ich bin ihm bereits seit einem Monat auf den Fersen. Alle Speznas-Verräter müssen gejagt und eliminiert werden. Das ist Teil unserer Überzeugungen.«
»Nun, dann braucht ihr mich aber nicht mehr«, erwiderte Gil. »Meine Aufgabe habe ich erledigt.«
Dragunov zog Gils kanadischen Pass aus der hinteren Tasche seiner Hose und warf ihn auf den Tisch. »Viel Glück am Flughafen. Hoffentlich treiben sich dort keine CIA-Verräter herum, die dich für die Gendarmen identifizieren. Das Leben in einem französischen Gefängnis wäre ein trauriges Ende einer Karriere wie der deinen.«
Gil stand vor dem Tisch und sah auf die zwei Ausweise hinab, während er auf der Innenseite seiner Backe herumkaute.
Federov räusperte sich. »Wenn Sie sich dazu entscheiden, mit Major Dragunov zu gehen, dann am besten gleich. Er nimmt einen Diplomatenflug, da werden die Franzosen nicht so genau hinschauen, aber wenn sie erst einmal herausgefunden haben, dass Yeshevsky und die anderen russische Staatsbürger waren, dürfte sich das ganz schnell ändern.«
Gil musterte sie beide und warf dann einen kurzen Blick über die Schulter zum Spiegel.
»Ihr Drecksäcke«, murmelte er mit einem schiefen Grinsen, bevor er den roten Pass vom Tisch nahm und in die Innentasche seiner Jacke steckte. »Okay, Ivan … aber wenn das hier vorbei ist, kriege ich eins von diesen potthässlichen T-Shirts.«
Dragunov lachte. »Wenn das hier vorbei ist, Genosse, dann sind wir wahrscheinlich beide tot. Kovalenko ist der Beste. Wir nennen ihn den Wolf.«
Gil hob eine skeptische Augenbraue. »Dann habe ich Neuigkeiten für dich … Auch der Wolf zögert. Sonst wäre ich jetzt bereits tot.«
»Das war kein Zögern«, gab der Russe unbeeindruckt zurück. »Er wollte sicher bloß, dass du die Kugel kommen siehst.«
4
Bern, Schweiz
»Es war echt Hagen?«, wiederholte Gil ungläubig. Er sprach über ein Satellitentelefon mit Pope, noch auf der Rollbahn in Bern, wo er gerade erst aus der DC-10 der Aeroflot gestiegen war. »Stabschef Hagen?«
»Ex-Stabschef Hagen«, erinnerte Pope ihn.
»Dass Lerher scharf darauf war, mir den Arsch aufzureißen, hab ich ja gewusst, aber was zum Teufel hab ich Hagen je getan? Schließlich hat er mich nach Earnest Endeavor verbannt, weißt du nicht mehr?« Die Operation Earnest Endeavor war die Rettung einer weiblichen Kriegsgefangenen in Afghanistan, die Gil gegen den ausdrücklich anderslautenden Befehl des Präsidenten orchestriert hatte. Als ›Bestrafung‹ für sein eigenmächtiges Handeln hatte der Stabschef des Weißen Hauses, Tim Hagen, dem Präsidenten vorgeschlagen, sowohl Gil als auch seinen Kollegen, den Green Beret Daniel Crosswhite, den zweiten an der Mission beteiligten Agenten, mit der Ehrenmedaille auszuzeichnen. Die öffentliche Zeremonie, in der dieser Orden verliehen wurde, war ein für den Präsidenten probater politischer Schachzug, enthüllte aber gleichzeitig auch Gils Identität vor der gesamten Welt. Damit war nicht nur seine Karriere als aktiver Agent im SEAL Team 6 beendet, sondern die Aktion führte dazu noch vor Ablauf des Jahres eine Bande muslimischer Attentäter geradewegs zu seiner Farm in Montana. Das hätte ihn und seine Frau um ein Haar das Leben gekostet.
»Hagen ist ein Soziopath«, erklärte Pope. »Ein egomanischer Machtgeier, und er gibt dir und mir die Schuld an seinem Rauswurf aus dem Weißen Haus.«
»Aber wie haben er und Lerher sich gefunden? Lerher war doch nicht dumm genug, sich mit einem Wichser wie Hagen zu verschwören.«
»Ich glaube gar nicht, dass die beiden in direktem Kontakt standen«, gab Pope zu. »Ich habe Hagen erst vor einer kurzen Weile an der Strippe gehabt, und als ich Lerhers Namen fallen ließ, schien er ehrlich verwirrt.«
»Du hast mit Hagen telefoniert?«
»Ja. Ich habe ihm erzählt, dass du ihn dir holen kommst. Hoffentlich reicht das aus, damit er sich erst einmal lange genug verkriecht und wir herausfinden können, was genau los ist.«
»Woher wusstest du, dass es Hagen war, der die Operation unterminiert hat?«
»Ich wusste es nicht, aber er schien mir der logische Verdächtige. Haben die Russen dir inzwischen verraten, was Yeshevsky in Paris gemacht hat?«
Gil sah zu Dragunov hinüber, der nahe der Schnauze der DC-10 stand und ebenfalls in ein Satellitentelefon sprach. Fünf grobschlächtige Russen in Straßenkleidung standen ein Stück abseits nah zusammen, rauchten und unterhielten sich. »Falls sie es wissen, sagen sie es mir nicht, aber eins weiß ich mit Sicherheit: Sie wollen diesen Kovalenko finden und ihm die Lampe ausknipsen.«
»Was ist ihr nächster geplanter Schritt?«
»Ich warte noch darauf, das herauszufinden. Dragunov telefoniert gerade mit der GRU. Und sein Team steht bereit.«
»Speznas?«
»Ja, und man braucht die Typen nur einmal kurz anzuschauen«, erklärte Gil, »um zu wissen, dass das echte Schwergewichte sind, und zu allem bereit. Dragunov sagt, die haben schon viel zu oft gegen die Tschetschenen kämpfen müssen.« Er und Pope wussten beide, was er damit meinte: Diese Agenten würden alles tun, um ihre Mission zu erfüllen.
»Ich habe mich mal über Dragunov schlaugemacht«, fügte Pope hinzu. »Sieht aus, als hätte er vor einigen Jahren einen seiner eigenen Männer umgebracht, weil der während einer Mission in Tschetschenien nicht schnell genug war. Er ist auch nicht irgendein dahergelaufener Speznas-Agent … er ist Mitglied der Spezgruppa A – der Alpha-Gruppe. Der Kerl macht keine Gefangenen.« Bei der Spezgruppa A handelte es sich um eine Elite-Untereinheit der Speznas, die häufig unabhängig vom Rest der russischen Spezialkräfte operierte und ihre Befehle direkt vom Kreml bekam.