Candhun - Diana Klewinghaus - E-Book

Candhun E-Book

Diana Klewinghaus

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Beschreibung

Ella werden ihre Neugier und die Faszination für den wilden Norden zum Verhängnis. Entwurzelt von den mystischen Traditionen der alten Kulturen lebt die junge Seherin in der höfischen Gesellschaft Durias. Dort bedeutet das Ausüben der magischen Gaben den Tod. Sie begegnet dem mysteriösen Gesandten Llew, einem Krieger der Nordprovinz. Ihre Länder stehen kurz vor dem Bürgerkrieg, als die freiheitsliebende Seherin ein verbotenes Ritual riskiert. Sie flieht mithilfe des faszinierenden Fremden. Doch Grenzen können das Grauen nicht aufhalten, das seit Jahrhunderten in den Schatten der Anderswelt lauert. Mit Liebe zur Sprache und einer Spur Humor zaubert die Autorin eine Fantasyatmosphäre mit historischer Note. Dich erwartet mystische High-Fantasy, in der Kampf, Romantik, Freundschaft und die Welt der Geister eng miteinander verwoben sind. Das rasante Abenteuer ist Auftakt der Reihe Cândhûn. Candhun: Schleier der Anderswelt ist ein Sammelband und enthält alle fünf Bücher der gleichnamigen, ersten Kurzroman-Staffel: Vhochals Flüstern, Thyrons Zorn, Hewnas Schweigen, Duns Schutz und Pars' Wille.

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Seitenzahl: 520

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Buchbeschreibung:

Ella werden ihre Neugier und die Faszination für den wilden Norden zum Verhängnis.

Entwurzelt von den mystischen Traditionen der alten Kulturen lebt die junge Seherin in der höfischen Gesellschaft Durias. Dort bedeutet das Ausüben der magischen Gaben den Tod. Sie begegnet dem mysteriösen Gesandten Llew, einem Krieger der Nordprovinz. Ihre Länder stehen kurz vor dem Bürgerkrieg, als die freiheitsliebende Seherin ein verbotenes Ritual riskiert. Sie flieht mithilfe des faszinierenden Fremden. Doch Grenzen können das Grauen nicht aufhalten, das seit Jahrhunderten in den Schatten der Anderswelt lauert.

 

Dies ist der Sammelband Schleier der Anderswelt, dieser Roman enthält alle fünf Teile der gleichnamigen Kurzromanreihe: Vhochals Flüstern,Thyrons Zorn, Hewnas Schweigen, Duns Schutz und Pars' Wille.

 

Mystische Momente, Kampf und Romantik, lass Dich mitreißen in die Welt der Geister und der epischen Fantasyreihe Cândhûn. Ein spannungsintensives Abenteuer über sechs Freunde, Gut und Böse und die vielen Wahrheiten dazwischen.

Über die Autorin:

Diana Klewinghaus ist freiberufliche Schriftstellerin in den Genres epische/mittelalterliche Fantastik und Low-Fantasy. Als Autorin für verschiedene Onlinemagazine schreibt sie über Pflanzen und ihre Geschichte in der Phytotherapie.

Privat beschäftigt sie sich mit Mythologie, Klostermedizin und essbaren Blüten. Ob in den mystischen Fantasygeschichten Candhuns oder ihren Sachtexten zu altem Wissen und wilden Kräutern, durch all ihre Projekte schimmert eine grüne Seele. Die Pflanzengeister wispern auf den alten Pfaden, die sie für uns betritt.

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

Herzlichen Dank, dass Du Dich für dieses Leseabenteuer entschieden hast. Hinter dem Buch steckt kein großer Verlag, aber viele, viele Stunden Arbeit. Damit das Werk LeserInnen findet, braucht es Deine Meinung.

Daher bitte ich Dich, Dein Leseerlebnis im Anschluss mit uns anderen zu teilen. Gerne in Form einer Rezension/ Sternen auf Deiner Kaufplattform oder mit einem persönlichen Feedback an [email protected].

Viel Vergnügen und eine spannende Zeit in Cândhûn!

 

Herzlichen Gruß

Diana Klewinghaus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Prolog

Cáelán-Ait, am Südufer des Tiefen Sees, nahe Brûel

 

»Nein Énri, ich meine, wie würdest du Cândhûn jemandem beschreiben, der über Mahirs Fluten zu uns gefunden hat«, der Jüngere legte ein paar Äste nach und sah zu, wie die Flammen sich gierig der trockenen Rinde bemächtigten.

»Über das Meer?« Énri fuhr sich durch den Bart. Die Augen richtete er in die Ferne. Ein weiches Abendrosa zerfloss dort in der Dämmerung auf dem Wasser des Tiefen Sees. Mel nickte stumm. Er widmete sich erneut der Laute. »Nun«, Énri wandte sich ihm zu und verfiel in seinen unverkennbaren Gelehrtenton, »du befindest dich auf einer Insel. Ihr Name ist Cândhûn. In der Sprache der Wüstenwandernden aus Sambrien heißt Ka'hen-doun Insel der Gaben. Tief im Süden, im dicht besiedelten Duria, ist dieser Zusammenhang in Vergessenheit geraten. Dort findest du als Begabter schnell den Tod, sofern du die Götter verehrst.«

»Nein, mein Alter«, unterbrach Mel seinen Bardenfreund. Er bremste abrupt die Vibrationen der Saiten unter den Fingern. »Du preschst ja vorwärts wie ein Li'rak beim Beutezug. Ein Fremder wüsste weder von dem, was wir als Gabe bezeichnen noch von den Namen der Länder. Oh, und Li'raks hätte er unter Umständen auch niemals zu Gesicht bekommen«, er kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Mh«, brummte Énri. »Die Gabe bekommt ein eigenes Kapitel. Du befindest dich auf einer Insel. Ihr Name ist Cândhûn«, wiederholte er und betonte die Worte als wollte er seinem Schüler ein unbekanntes Versmaß beibringen. Melvin lachte auf.

»Cândhûn bietet trotz des überschaubaren Raumes eine Fülle unterschiedlicher Landschaften. Zum Teil wegen der Höhenzüge, von denen das Krenngebirge der Größte ist. Es untergliedert die Insel längs und verläuft von der Mitte bis nach Duria, dem Süden unserer Heimat. Von Südwesten, wieder aufwärts betrachtet, geht fruchtbares Flachland in Heidefläche und Hochland über. Durias Nordareale mit dem Namen Cáelán-Ait.«

»Moment mal, Énri, du würdest einem Ahnungslosen sagen, unser Cáelán-Ait wären Durias Nordareale?«

»Unterbrich mich nicht ständig, Melvin. Das ist genau genommen korrekt und zu der Politik, die dort unten betrieben wird, müsste ich ohnehin einige Worte verschwenden. Sonst würde die Reise des geschätzten Fremden vielleicht ein jähes Ende nehmen. Wir befanden uns mit der Beschreibung wieder in Cáelán-Ait.«

Der ältere Barde vollführte mit der Rechten eine Richtungsgeste, indem er zuerst auf die Berge zu beiden Seiten wies und schließlich auf das Wasser hinaus deutete. »Hinter den Bergen und einem großen Binnensee beginnt eine Steppe, die mit ihren grasigen Wogen eine Sandwüste umschlossen hält. Dieses stets sonnige Gebiet nennen wir Sambrien. Dahinter befindet sich ein Wald, der fast die Hälfte Cândhûns bedeckt. Tief in seinem Inneren birgt er einen immergrünen Kern. Dieses sagenumwobene Land heißt Tástálai Fórash, der Wald der Reisenden. Ich könnte dir Geschichten darüber erzählen –«, er pausierte und bediente sich an dem Lederschlauch, um den leeren Methumpen wiederholt an diesem Frühlingsabend seiner Bestimmung zuzuführen. Melvin spürte die Auswirkungen des süßen Tropfens augenblicklich mit.

Die Dunkelheit hatte die Spitzen der Berge verschlungen und auf der Wasserfläche spiegelte sich ein letzter, matter Schein.

»Nicht zu vergessen ist ein kleiner Stadtstaat in den Kristallklippen am Ende der Handelsstraße, die sich von Nord bis Süd durch die gesamte Insel zieht. Ein großes geografische Geheimnis unserer Zeit liegt ganz im Südosten hinter dem Krenngebirge – Rovadrim«, erklärte sein Lehrmeister bedächtig, »der Landstrich, den wir seit mehreren hundert Jahren nicht betreten haben. Niemand weiß, wie es dort aussieht. Seltsam, dass es bisher keine Mutigen gab, die es herausfinden wollten.« Einen Moment lang schwiegen beide. Melvin hatte das Gefühl sich in dem lauen Frühlingswind ein wenig hin und her zu wiegen. Vielleicht ein Verwirrspiel der Flammen in Kombination mit dem Met.

Es dämmerte bereits. Mit einem schwungvollen Schritt wankte Énri durch die Tür. Im letzten Moment bremste er ab, seine Laute gab einen dumpfen Ton von sich. Sie stieß gegen das Schränkchen in der Diele, auf dem er sie im Vorübergehen platzierte. Der Spielmann war es nicht gewohnt dermaßen viel Honigwein zu trinken. Warum brannte die Öllampe? Die Haustür schlug zu. Er begann abwesend einen Kampf mit dem Mantel auszufechten, der noch nicht entschieden war, als er Schritte im oberen Flur vernahm. »Énri?«

»Runa, meine Liebe«, erwiderte er hektisch auf den besorgten Tonfall seiner Frau hin, »keine Angst, ich bin es nur.«

»Ich hatte keine Angst, dass du es nicht bist. Vielmehr um dein Wohlbefinden. Geht es dir gut?« Es ging ihm gut und die sanfte Stimme Runas verstärkte das Gefühl. Glück war etwas, das Énri in dieser Intensität lange nicht gespürt hatte.

»Ja, weshalb sollte es das nicht? Du bist diejenige, die bis zu den Zähnen bewaffnet nahe der durischen Inquisitoren den kalten Winter verbracht hat.«

Es klang wie ein Vorwurf. Énri ärgerte sich über seine impulsive Reaktion. Nun, im Grunde war es ein Vorwurf, er hasste Waffen. Weshalb nur hatte er eine Frau in sein Herz geschlossen, die sich der kriegerischen Auseinandersetzung verschworen hatte? Sie begegnete ihm mit einem ernsten Blick. Ihre linke Augenbraue schnellte in einem spitzen Winkel hoch. Die erste Begegnung des Paares seit Runa nach Duria aufgebrochen war, um Freunden im Grenzland zu helfen.

»Die Inquisitoren haben sich die letzten Monde bedeckt gehalten. Stattdessen schicken sie vermummte Schläger, die auf beiden Seiten die Höfe plündern.«

»Sie tun was?«

Énri verhedderte sich, bei dem Versuch den zweiten Ärmel abzustreifen. Es war ihm noch immer nicht gelungen, den Mantelkampf für sich zu entscheiden. Was für ein absurdes Szenario. Rungard beabsichtigte, ihm eindeutig zu erklären, dass der Krieg näher rückte.

»Énri du bist betrunken!«

»Ja«, sagte er schlicht und beschäftigte sich höchst konzentriert mit dem Ärmelproblem bis er es endlich gelöst hatte. Den Versuch, seinen Mantel an einem Wandhaken zu befestigen, unternahm er nicht. Er legte ihn zu der Laute.

»Mutter Erde, Énri, sag mir nicht, dass du dich im Winter dem Alkohol überlassen hast.« Runa starrte ihn entgeistert an. Er stierte einen Lidschlag lang stumpf zurück, bis er sich gefangen hatte. Nicht gefangen – eher entschieden, wie er das Ganze bewerten wollte. Sofern er das in seinem Zustand eine Entscheidung nennen konnte. Ein lautes Lachen brach aus ihm heraus. »Traust du mir das wahrhaft zu?«

Er verschluckte sich halb beim Lachen. Runas wechselhaftes Minenspiel heizte ihn an. Sie wusste offenbar nichts mit dem Ausbruch anzufangen und wartete ab. Mit Tränen in den Augenwinkeln versuchte er, die Krämpfe seines Zwerchfells zu bezwingen. Die Töne, die er ausstieß, gerieten für jemanden, der in Basslage sang, unerwartet hoch. Endlich überwand er sich. Énri umfasste die Schultern seiner verdutzten Gemahlin. »Es ist schön, dass du wohlbehalten zurück bist, Runa! Ich hatte einfach einen wunderbaren Abend.«

 

 

 

Teil 1

 

 

Vhochâl

 

Die Dunkle hütet viele Geheimnisse.

Aus ihrem Reich entspringt die Inspiration.

Es ist die Welt der Träume und der Toten.

 

 

2. Vhochâls Flüstern

Duria, Herrenhaus bei Rieg

(4 Monde später)

 

Gerade lösten sich die warmen Strahlen der Abendsonne in rote Bänder am Horizont auf. Durch die Blätter der hohen Pappeln ließ ein letztes goldenes Glitzern einen heißen Sommertag ausklingen. Ella liebte es, das farbgewaltige Schauspiel zu betrachten, um auf diese Weise den Tag in Ruhe zu beschließen.

Sie fühlte sich der kraftvollen Stille weit mehr verbunden, als dem Treiben in dem Anwesen. Hier konnte sie ungesehen beobachten und musste sich nicht die gesamte Zeit den Gepflogenheiten der Gesellschaft unterwerfen, in der sie sich nun wieder bewegen musste.

Ihr Onkel hatte die junge Frau an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag aus dem Konvent abgeholt, in dem sie die letzten Jahre recht abgeschottet verbracht hatte. Bei der mehrtägigen Kutschfahrt durch die bäuerlichen Provinzen war sie ihm näher gewesen, als sie es gewohnt war. Die Felder standen in vollem Korn, der fruchtbare Landstrich barg eine Fülle verschiedener Obstwiesen, kleiner Wäldchen, Viehweiden und blühender Windhecken, mit deren Anblick sie sich abgelenkt hatte. Hier in dem Anwesen seines Geschäftsfreundes musste sie Ragin in einer Weise begegnen, die ihr mehr als nur missfiel. Es beruhigte sie, ihren Onkel, der sich nicht einmal ansatzweise um sie kümmerte, mit anderem beschäftigt zu wissen. Ella hatte ihn nie besonders gemocht. Selbst als sie noch jünger war, und er sich etwas mehr um sie bemüht hatte. Das beiderseitige Desinteresse stand unausgesprochen zwischen ihnen, seitdem sie aus dem Konvent zurück war. Ein Gefühl von Enge überkam sie bei diesem Gedanken. Ihr Herz krampfte sich zu einem starren Gebilde zusammen.

Was sollte sie tun?

Es ertragen wie die Jahre zuvor, seit ihre Mutter sie bei ihm gelassen hatte. Ella würde weiterhin bei Ragin leben müssen. Daher hasste sie die Momente umso mehr, in denen er vorgab, sich um seine Nichte zu sorgen. Ein klares Spiegelbild des Verhaltens durischer Oberschichtler, denen er sich gerne zuzählte. Wie ihr Puder eitrige Pickel verblassen ließ, bestäubten die durischen Aristokraten Raffgier und Hochmut mit vorgetäuschten Freundlichkeiten, die Ellas Wesen zuwider waren, seit sie von ihrem Onkel in die Gesellschaft eingeführt worden war. Ihr Gastgeber war solch ein angesehener Durier. Einer, der sie deutlich wie nie spüren ließ, dass sie anders war. Nicht allein da sie gebürtig aus Cáelán-Ait stammte, sondern passten auch ihre Wünsche für ihr weiteres Leben nicht zu dem, was er von einer durischen Dame erwartete.

Nun drang ihr ein angenehm kühler Lufthauch entgegen. Sie wollte für einen Moment mit geschlossenen Augen die Ruhe genießen, als sie Hufgetrappel und das Knirschen von Kutschenrädern auf dem Kies wahrnahm. Neugierig blickte sie zum Ende der Pappelreihe, wo der Weg aus der Stadt in einem sanften Bogen in den Hof mündete. Für eine nähere Betrachtung war die Kutsche noch zu weit entfernt. Dämmerlicht und Bäume sabotierten zusätzlich das Stillen ihrer Wissbegierde.

Vermutlich handelte es sich um den Mann, von dem ihr Onkel erzählt hatte. Beim Abendessen auf der Terrasse hatte Ella Ragin Gesellschaft geleistet. Er meinte, der Cáeláne würde bleiben, bis die Grenzen passierbar waren. Besser gesagt, seine Anwesenheit sollte dazu beitragen, sie wieder passierbar zu machen.

Die junge Frau zog ihre Beine auf die Fensterbank und den Vorhang ein Stück um sich herum. Sie mochte zwar die gebräuchlichen Anstandsregeln nicht, einem hochrangigen Cáelánen, der sie von unten auf dem Fenstersims sah, mit baumelnden Beinen zu begegnen, wollte sie dennoch vermeiden.

Die Kutsche fuhr auf dem Hof vor. Das Licht reichte noch aus, um die Diplomatenflagge zu erkennen. Ella konnte von ihrem Fenster den Haupteingang und ein Stück des Hofes nicht einsehen, der vordere Teil des Gefährtes verschwand hinter der Hausecke. Einer der Angestellten ihres Gastgebers erschien. Er begann damit die Befestigungsschnur zu lösen, die mehrere Taschen und Kisten an der Kutsche sicherte. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr.

Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu den Pappeln an der Straßenmündung zurück. Ein riesiger Vogel landete mit ausgebreiteten Schwingen. Er ließ sich in einer der schlanken Baumkronen nieder. Das Restlicht grenzte die Silhouette scharf genug gegen den schwach beleuchteten Horizont ab, um eine Vorstellung seiner Größe zu vermitteln. Ein Raubvogel, vielleicht ein Adler? In diesem Teil Durias eher unwahrscheinlich, grübelte sie.

»Vorsicht!«

Prompt rief sich der gewagte Sitzplatz in Ellas Bewusstsein. Reflexartig krampften ihre Muskeln. Die Warnung versetzte ihren entspannten Kreislauf in rasante Rotation. Ein unangenehmes Gefühl, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, breitete sich aus. Ihr Blick stürzte drei Stockwerke tief zu Boden; eine schwindelerregende Verbindung. Zittrig und fluchend drehte sie sich mit den Füßen zurück in Richtung Zimmer, um abzuwarten, bis sich ihr Blutfluss beruhigte.

Natürlich hatte die angenehme, tiefe Männerstimme nicht sie damit gemeint. Ella fragte sich einen Augenblick lang, ob es die Warnung oder die Stimme gewesen war, die ihr Blut derart in Wallung gebracht hatte. Schließlich drehte sie den Kopf erneut und lehnte sich ein Stück weiter nach hinten, um besser sehen zu können. Sie hielt sich vorsichtshalber mit der Hand am Fensterrahmen fest. Die Stimme gab Anweisungen, welche Taschen besonders sorgfältig behandelt werden mussten. Ella konnte den passenden Mann dazu kaum erkennen. Er schien recht ansehnlich gebaut zu sein, zumindest seine linke Körperhälfte. Der Rest wurde durch den Taschenberg verdeckt.

Ein warmer Wind scheuchte ihre Haare auf, als sie sich der Neugier folgend, etwas mehr nach außen neigte. Sie wollte nicht mutmaßen. Unter ihr versank der Hof im dunkler werdenden Abendgrau. Sie würde den Sprecher nicht erkennen, ohne einen Sturz vor seine Füße zu riskieren. Milde Böen trugen einzelne Worte zu ihr herauf, deren tiefe Töne eine unvermutete Anziehung auf Ella ausübten. Die Furcht, die Schwerkraft könnte in ähnlich ausdrucksstarker Weise auf sie einwirken, hinderte sie daran, ihre Position ein weiteres Mal außer Acht zu lassen. Sie ermahnte ihre angespannten Fingerspitzen, sich mit dem Fensterrahmen gut zu stellen und lauschte eine Weile andächtig ins schwächer werdende Zwielicht. Seine Stimme klang warm und kräftig. Sie spielte perfekt zusammen mit dem cáelánischen Dialekt, den sie hier bedauerlicherweise selten hörte.

Ella, du bist fixiert, tadelte sie sich und stellte die Hypothese auf, bei Licht betrachtet, würde er ihren Kriterien ohnehin nicht entsprechen.

In der Einrichtung für höhere Töchter, in der sie sich bis vor wenigen Wochen befunden hatte, bestand der meiste Kontakt zu den anderen Schülerinnen. Sobald jedoch jemand Ella einzuzwängen versuchte, sträubte sie sich innerlich dagegen. Das Kontaktverbot hatte nicht gerade zu gehorsam geführt. Stattdessen hatte sie des Abends die durische Landbevölkerung besser kennengelernt. Dort gab es niemanden, der die Mundart ihres ursprünglichen Heimatlandes sprach. Sie vermisste einfach alles, was damit in Verbindung stand. Mit Beginn der Unruhen an der Grenze war ihre Hoffnung, bald dorthin zurückkehren zu können, zu einer winzigen Kapsel geschrumpft, die beständig in ihrer Brust schmerzte. Die Worte des Fremden hatten daran gerührt und hallten tief in ihrem Innern nach.

Ella schlief unruhig in der Nacht. Früh verließ sie ihr Zimmer. Sie lief den Gästetrakt entlang und steuerte das Flurende an. Gespräche vermied sie gern bei ihren Spaziergängen in den Morgenstunden. Ihr offenes gutgläubiges Wesen litt bereits unter dem schmeichlerischen Rahmen, dem sie zwangsweise bei Tisch unterlag. Seit dem Ende ihrer Zeit im Konvent durchlebte sie eine Phase des Umbruchs, in der sie sich, mehr denn je, zurückzog.

Konvent wurden in Duria Internate für Töchter reicher Bürger genannt. Selbstverständlich war die Verehrung der alten Götter dort strengstens untersagt. Die Lage und der Name legten allerdings nahe, dass diese an Orten errichtet worden waren, die vor der Ratsherrschaft als Tempelanlagen dienten. Für Ella hatte sich aus der Absurdität ein kaum zu ertragender Zwiespalt ergeben. Ihr wurde beigebracht, was die Gesellschaft von einer durischen Dame erwartete und das stand im grellen Kontrast zu dem, was ihre Eltern sie als Kind gelehrt hatten.

Gedankenverloren nahm sie die letzten Stufen und bog um die Ecke. Fast wäre sie mit einer von Grents Mägden zusammengeprallt. Ella kannte sie kaum, glaubte jedoch, sich an den Namen Ferun zu erinnern. Ihr hellbraunes Haar fiel glatt bis weit über die Schultern herab. Ella sah in ungewöhnlich geformte Augen mit langen Wimpern, deren Schwung wirkte, als hätte ihn ein Maler mit seinem Pinsel gesetzt, um damit ihre auffällige Schönheit zu unterstreichen. Offenbar hatte er für ihre Brüste besonders tief in den Tuschkasten getunkt. Feruns üppige Kurven drückten sich wankend unter der weit aufgeknöpften Bluse ab. Die überrumpelte Magd starrte sie fassungslos an. Mit stark geröteten Wangen stotterte sie eine Entschuldigung in ihre Richtung.

»Schon gut! Es ist nichts passiert.« Ella hasste diese Art der Umgangsformen, die sich nach dem Umsturz in Duria ausgebreitet hatten. Der Putsch hatte vor mehr als vier Generationen das Land über Nacht in eine Zweiklassengesellschaft verwandelt. Natürlich lebte hier inzwischen niemand mehr, der es anders erlebt hatte. Ellas Eltern hatten sie in Cáelán-Ait nach den alten Riten erzogen. In Teilen des Nordens waren rudimentäre Elemente des Alten Weges noch immer Brauch. Sie war bereits in Kindertagen nach Duria zu ihrem Onkel gebracht worden und sehnte sich nach der alten Religion und der damit verbundene Ethik, soweit sie sich daran zurückerinnern konnte. Ragin hätte sie höchstpersönlich an den Zentralen Rat verraten, wenn er es gewusst hätte.

Die Gartentür fiel hinter ihr zu, sie marschierte sogleich Richtung Nordwald los. Diesen Teil der Ländereien hatte sie in den vergangenen Tagen, in denen sie oft Erkundungsgänge unternommen hatte, noch ausgelassen. Wenn dieser Tag ähnlich heiß werden würde wie der letzte, wäre die kühle, frische Luft eines Laubwaldes genau die richtige Abwechslung. Es dämmerte. Am Westhimmel beleuchtete ein fahler Streifen den Horizont.

Seit etwa einem halben Jahr weckte sie dieses Gefühl von Rastlosigkeit. Vielleicht handelte es sich um Albträume, an die ihr keine Erinnerung blieb als ihr körperliches Echo. Sobald sie erwachte, breitete sich Unruhe in ihr aus. Sie glaubte, den Grund zu kennen, wahrhaben wollte sie ihn nicht. Ihre Gabe spülte an die Oberfläche. Unaufhaltsam stieg etwas in Ella empor, wie eine Luftblase, die sich aus den dunklen Untiefen des Meeres erhebt.

»Nein«, flüsterte sie und schob den Gedanken in einen entfernten Winkel ihres Selbst, obwohl sie hätte wissen müssen, wie wenig ihr der armselige Trick der Verdrängung dabei half, aufzuhalten, was tief in ihr seinen Anfang genommen hatte.

Ella lief an der Pferdekoppel entlang, die sich an den riesigen Garten anschloss. Nach einer Stunde zügigen Gehens, etwa in der Mitte der Kornfelder, kurz vor dem Wald, bereute sie es, ein Hemd unter ihrem Kleid zu tragen. Die Sommersonne ragte erst als glühender Halbkreis über dem Horizont empor, doch eine stickige Schwüle sorgte dafür, dass sich die dunstige Antwort ihres Körpers darauf unter den zwei Lagen Stoff sammelte.

Nachdem sie endlich in den erlösenden Schatten des Waldes getreten war, überlegte sie kurz, welchen Weg sie einschlagen sollte. Es führten zwei Pfade von dem Feldweg ab, auf dem sie stand. Der eine verlief nördlich. Von ihm wusste Ella, dass er in einem Dorf namens Rieg endete. Der zweite, in nordwestlicher Richtung, musste nach etlichen Wegstunden auf die Handelsstraße führen, über die sie mit ihrem Onkel hergekommen war. Nach Osten hin wurde die Landschaft felsig und unwegsam, da in dieser Richtung das Krenngebirge lag; eine Bergkette, die vulkanischen Ursprungs sein musste. Sie ragte aus dem flachen Land empor, als hätte sie jemand als Mauer dort errichtet. Ella entschied, dem dritten, nicht vorhandenen Weg zu folgen. Sie bevorzugte gerade eine steinige, menschenleere Strecke.

Da hier niemals jemand entlang zu laufen schien, versuchte sich Ella markante Bäume und Steine zu merken und setzte ein Zeitlimit, nach dem sie umkehren wollte. Nach einer weiteren Stunde nahm sie das Plätschern von Wasser wahr. Geradezu ekstatisch geriet sie daraufhin in Freude über einen kleinen See, den sie hinter einem Buchenblattdickicht erspähen konnte. Er lag unterhalb eines Felsvorsprunges, der etwa ein Dutzend Fuß maß. Moose und Farn bewuchsen die feuchten Steine, von denen das Wasser herabfiel und sprudelnd in den See floss. Von Bäumen und Sträuchern umsäumt, teilte er weit, dunkel und unergründlich den Wald, wie ein kreisrunder Krater.

Näherkommend erkannte Ella, weshalb es keine Uferzone gab: Der See fiel vom Rand an sofort unerwartet tief ab. Angestrengt sah sie in das dunkelblaue, kristallklare Wasser, konnte jedoch keinen Grund sehen. Aus Fels, schoss es ihr in den Kopf. Einen Moment lang stand sie wie verzaubert da, lauschte dem Plätschern des Wasserfalls. Gleichzeitig zelebrierten die Vögel lauthals den Sommertag.

»Gar keine Frage«, murmelte sie und zog Kleid, Hemd und Schuhe aus. Das kühle Nass streichelte ihre aufgeheizten Glieder. Eine Weile schwamm Ella kreuz und quer durch den See. Plötzlich, kaum hatte sie die Mitte erreicht, stieß sie mit dem rechten Knie unsanft gegen etwas Hartes. Ihr Schmerzensschrei scheuchte einen Schwarm Finken mit klatschendem Flügelschlag dem wolkenlosen Himmel entgegen. Ella tastete mit einer Hand nach dem lädierten Knie, versuchte, sich gleichzeitig zu drehen. Sie ruderte wild mit dem freien Arm, um nicht unterzutauchen. Prustend bekam sie das Objekt zu fassen, das ihr die Schmerzen eingebrockt hatte. Es handelte sich um einen riesigen, runden Stein knapp unter der Wasseroberfläche. Sie zog sich an ihm hoch und nahm mit einiger Mühe auf ihm Platz.

Zumindest blutete ihr Knie nicht. Doch pochte es noch immer wie Hammerschläge durch ihre Knochen. In der Hoffnung, den Schmerz zu reduzieren, streckte sie das Bein im Wasser aus und lehnte sich dabei zurück. Den Kopf in den Nacken gelegt, gab sie sich einige Augenblicke den warmen Sonnenstrahlen hin.

Im Begriff sich wieder auf den Rückweg zu begeben, bemerkte sie etwas unter der Wasseroberfläche auf dem Stein. Ihre Entdeckung versetzte ihr einen weiteren Stich gänzlich anderer Natur. Nicht einmal fünf Generationen, dachte Ella. Gedankenverloren saß sie da und starrte durch die glitzernde Oberfläche hindurch auf das altdurische Symbol der Gottheit Vhochâl, das vor langer Zeit dort eingemeißelt worden war. Sie saß auf dem Ritualplatz einer Priesterin oder eines Priesters der alten Religion. Mehr noch. Dieser Platz war ihrer eigenen Göttin geweiht. Ella hielt für einen Moment den Atem an.

Als Kind war sie im alten Glauben erzogen worden. Seitdem sie die Grenze zu Duria überschritten und ihr früheres Leben in Cáelán-Ait zurückgelassen hatte, war der Alte Weg für sie theoretisches Bücherwissen geworden. Eines dieser zahlreichen, heiklen Bücher, die sie unbeobachtet las. Innerhalb der Grenzen Durias war es bis hin zur Todesstrafe verboten, sich mit dem alten Glauben zu befassen. Mit dem Putsch waren nicht nur die einstigen Bräuche und Riten untersagt worden, es war keinem Begabten mehr gestattet, seine Gabe ohne die Aufforderung eines der Mitglieder des Zentralen Rates zu benutzen.

Mit einem Mal begann Ellas Herz zu rasen, während sich ihre Sinneswahrnehmungen verlangsamten. Sie hörte ihren Herzschlag dumpf in ihrem Innern dröhnen, er verschmolz mit dem Plätschern des Wassers und den Vogelstimmen. Aus einer entrückten Sicht nahm sie ihren nächsten Atemzug wahr, als würde sie sich selbst dabei zusehen. Ihre Lungen füllten sich mit dem Geruch nach Wald, dem Duft der Sommerblumen, die farbenfroh den Felshang bevölkerten. Abrupt stieß sie sich mit aller Leibeskraft vom Stein ab. Der Schmerz in ihrem Knie und das kalte Wasser brachten sie unsanft zurück ins Jetzt. Ihr Körper rebellierte gegen den Schock, der ihm zugefügt worden war. Froh nach einigen hektischen Schwimmzügen das Ufer erreicht zu haben, lehnte sich Ella, nackt wie sie war, gegen einen Baum und schloss die Augen, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Sie zog ihr Kleid an, ließ jedoch wohlweislich das Hemd aus, das sie für den Fußmarsch zusammenrollte.

Die meisten Begabten kannten ihre Gabe nicht oder am Ende nicht einmal ihr schlummerndes Potenzial. Sie dagegen wusste, was hinter den Mauern ihres Bewusstseins harrte. Ella hatte in ihrer Kindheit den alten Initiationsritus vollzogen.

Aufgrund der politischen Lage war ihr beigebracht worden, wie sie die Gabe unterdrücken konnte. Nichts von all dem, was da im Verborgenen lauerte und an die Oberfläche drängte, hatte eine Gelegenheit wahrgenommen zu werden. Unbarmherzig ihrer eigenen Natur gegenüber hatte sie jedes verbotene Fünkchen in ihr ausgehaucht, bevor es vollständig zu leuchten begann. Inzwischen war die Mauer, die sie um ihr Selbst errichtet hatte, so groß geworden, dass sie sich davor fürchtete, was sie dort unter Verschluss hielt. Sie wusste, wie sie kontrollieren konnte, die Gabe nicht zu gebrauchen. Würde sie weiterhin die Kontrolle behalten, wenn sie die Begabung nutzte, die sie hatte? Schlimmer noch, was wenn diese Fähigkeiten in einem unpassenden Moment ihren Raum forderten, so wie es eben geschehen war?

 

3. Anzeichen

 

 

Am späten Vormittag erreichte sie das Anwesen. Ihre langen, dunklen Haare hingen ungekämmt herab. Im Saum des Kleides hatten sich lose Blätter verfangen, Erdkrümel bildeten einen braunen Farbverlauf von der belaubten Kante an aufwärts heller werdend. Sie glaubte gar, leicht zu hinken, um das verletzte Knie zu entlasten.

Durch dieselbe Tür, durch die sie es verlassen hatte, betrat Ella das Haus. Gerade wollte sie eine Hand auf das Treppengeländer legen, als eine strenge Männerstimme ihren Namen rief. Das konnte nur Grent sein. In Ella keimte sofort eine Mischung aus Abneigung und Ekel auf. Sie drehte sich in Richtung des Arbeitszimmers und bemerkte erst jetzt die geöffnete Tür. Grent füllte mit seiner üppigen Statur komplett den Türrahmen aus, in dem er lehnte. Er taxierte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Geht es dir gut?«, war seine höfliche Frage, doch es gelang ihm nicht, den höhnischen Tonfall zu unterdrücken, den ihr Anblick in ihm ausgelöst hatte. Ohne eine Antwort zu erwarten, fügte er an: »Wir haben Gäste.« Das letzte Wort betonte er derart affektiert, dass sie ein Lachen zurückhalten musste. Seine Miene verfinsterte sich. »Dir ist klar, in was für einem Haus du dich bewegst? Ich dachte, Ragin wäre in der Lage gewesen, dieses provinzielle Verhalten bei dir zu kurieren.«

Eine Hand glitt in die Westentasche und förderte eine aufwendig verzierte Uhr zutage. Mit einem demonstrativen Blick darauf fügte er an: »Wir erwarten dich zum Mittagessen, und zwar mit einem angemessenen Erscheinungsbild. Achte bitte darauf, dass deine Manieren dazu passen.« Er fuhr sich durch die Haare; eine einst braune Lockenmähne, die nun grau meliert und Stirn aussparend seinen runden Kopf noch runder wirken ließ. Er wartete nicht auf eine Antwort. Dieser arrogante Aristokrat! Sie fühlte Wut in sich hochkochen und spielte kurz mit dem Gedanken, nackt zum Essen zu erscheinen.

Zur vorgegebenen Zeit begab sich Ella auf den Weg nach unten. Sie trug einen langen dunkelroten Rock, der mit cremefarbener Spitze abgesetzt war. Er schwang bei jedem Schritt mit, um auf schmeichelhafte Weise ihre Figur zu präsentieren. Das passende Oberteil zeigte viel Figur und mindestens ebenso viel Haut. Augenscheinlich hatte sie damit auch Grents Geschmack getroffen, momentan war ihr das jedoch gleich. Wegen der Hitze, die inzwischen in jedem Winkel des Hauses hing, entschied sie sich außerdem für eine Hochsteckfrisur.

Das Mittagessen bestand aus einem opulenten Buffet, das auf der Terrasse aufgebaut war. Diese schloss auf der Rückseite des Hauses an den großen Salon an, der in der Mitte des Haupthauses lag.

Alle drei Flügeltüren standen offen, luden die Mittagshitze auffordernd in den Wohnraum ein. Auf diese Art erklärten sich die klimatischen Bedingungen des Hausinneren.

Ella konnte auf der Terrasse eine Tafel erkennen, die für mehr als zehn Personen gedeckt war. Einige standen in Grüppchen vor dem Buffet zusammen und plauderten angeregt. Desinteressiert betrachtete sie die Szenerie. Das Prozedere sah seit etwa einer Woche gleich aus. Grent beherbergte einige Gäste, die politische Ämter innehatten. Welche – konnte und wollte Ella sich nicht merken. Die Plünderungen im Grenzland erklärten dieses Zusammentreffen. Wenigstens bedeutete die Ankunft des cáelánischen Diplomaten, nicht mehr an die Abendessen mit Grent und Ragin gebunden zu sein. Da jeden Abend eine Versammlung stattfinden würde, beschränkten sich Ellas gesellschaftliche Verpflichtungen auf das Mittagessen. Ein Umstand, der ihr durchaus entgegenkam.

Ella lief zu Ragin in den hinteren Teil der gefliesten Fläche. Seiner Blickrichtung in den Garten folgend, sah sie Grent, der mit den zwei neuen Gästen die Treppe zu ihnen heraufschritt.

Der ältere der beiden Männer, den Ella für den Botschafter hielt, geriet zuerst in ihr Sichtfeld. Er hatte sein dunkelgraues Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Seine ebenfalls dunkelgrauen Augen musterten anerkennend Ellas weibliche Rundungen. Sie musterte zurück. Dabei registrierte sie erstaunt die Hinfälligkeit ihrer Hypothese vom Vorabend. Beide Männer gefielen ihr auf Anhieb. Sympathisch erschien ihr nicht zuletzt die leichte Oberbekleidung - nur Hemden. Die meisten Durier trugen selbst bei dieser Hitze eine Weste darüber, des Anstands wegen.

Der Graue wurde ihr von Grent als Vanadis vorgestellt, wie sie vermutet hatte, war er der Botschafter. Um keine Zurechtweisung von dem selbstherrlichen Hausherren zu provozieren, hatte sie anfangs ein manierliches Lächeln aufgesetzt. Nun wertete es sich zu offener Freundlichkeit auf. Gespannt schwenkte Ella ihren Blick die Stufen hinunter. Der Jüngere hatte es offenbar nicht eilig den Förmlichkeiten nachzukommen. Ob ihm die angenehme Stimme gehörte, die gestern am Fenster ihre Fantasie derart herausgefordert hatte?

Auf Terrassenhöhe angekommen, überragte er den Botschafter etwa um einen halben Kopf und damit Ella um einen ganzen.

Der Anblick seiner überaus anregenden Gestalt fesselte ihre Augen einen Lidschlag zu lange. Unter dem feinen Leinenhemd machte sie mühelos seine Muskelpartien aus. Sie zwang sich, ihren Kopf etwas zu heben. Das helle Beige des Kleidungsstücks verstärkte die Auffälligkeit seiner Hautfarbe. Ungewöhnlich dunkel für einen Cáelánen, viel zu hell für ein sambrisches Elternteil. Dunkelbraune, fast schwarze Haare wurden auf der einen Seite, etwas unterhalb des Seitenscheitels, durch am Kopf entlang gebundene Zöpfe im Zaum gehalten. Auf der anderen Seite fielen sie ungebändigt bis auf die breiten Schultern. Lange Haare und geflochtene Zöpfe – beide Männer trugen für Duria vollkommen unmögliche Frisuren, dachte sie.

»Llew Scánlón, er begleitet den Botschafter im Auftrag der Nord-Areale«, schloss Grent seine Ausführungen und entriss damit Ella ihrer ungezwungenen Betrachtung.

»Oh, ich bin entzückt!« Kurz zögerte sie, verärgert ob ihrer Wortwahl. Sie versuchte, dem nächsten Satz deutlich weniger durische Hoffart zu geben. »Schön, hier mal jemanden aus dem Norden kennenzulernen!«

Diese Bemerkung meinte sie ehrlich. Doch die Bewohner der Nord-Areale galten in Duria als unzivilisiert. In Grents Gesellschaft würde ihr überschwänglicher Ausruf als durische Herablassung aufgefasst werden.

Llew hob leicht die Brauen, entgegnete dann mit tadelloser Höflichkeit etwas Floskelhaftes. In seinen Mundwinkeln, meinte Ella, eine Belustigung zu erkennen. Sie stöhnte innerlich auf, während ein heißes Glühen unaufhaltsam ihre Wangen überzog. Fabelhafter erster Eindruck, dachte sie. Grent witterte eine Gelegenheit.

»Ella Weißbach. Ragin Weißbachs Mündel. Die Studien ihrer staubigen Bücher sind ihr einziges Fenster in die Welt.« Zu Ella gewandt fügte er mit hochgradiger Herablassung hinzu:

»Es handelt sich bei diesen Herren nicht um deine ungezügelten Barbaren, sondern um ehrenwerte Botschafter der Nord-Areale.«

Ellas aufkeimender Ärger verstärkte die aufsässige Röte ihrer Haut und wanderte hinab bis zu ihren Brüsten. Wie konnte Grent ihr nur in den Mund legen, was in Wirklichkeit er dachte.

Mit einem unverhohlenen Blick in ihren Ausschnitt meinte Grent: »Für alle die jetzt Appetit bekommen haben, ich würde sagen, das Buffet ist eröffnet.«

Ellas Hunger, der sich nach dem morgendlichen Ausflug ständig gesteigert hatte, ließ schlagartig nach. Die Männer gingen zur Tafel hinüber, ohne sie weiter zu beachten. Sie hätte doch nackt herkommen sollen. An ihrem derzeitigen Gefühl der Scham hätte das jedenfalls nichts geändert.

Ella stocherte angespannt auf ihrem Teller herum. Die meisten von Grents Kostgängern gehörten seiner eigenen hochtönenden Sorte an, die Ella weder stimmlich noch charakterlich attraktiv erschien. Llews wunderbarer Bass unterwanderte diesen Zusammenhang. Seine klangvolle Stimme scherzte mit Grents Schwiegersohn über einen Zentralratsbeschluss, von dem beide nicht viel hielten und von dem Ella noch nie etwas gehört hatte. Ein hintergründiges Timbre entsandte dabei seine Schwingungen in Ellas Magengegend. Obwohl sie durch ihren Ausflug das Frühstück ausgelassen hatte, brachte sie keinen Bissen mehr herunter. Sie konnte nicht anders als hinsehen, wie die meisten anwesenden Frauen, das nagte zusätzlich an ihrem Selbstbild.

Sie hatte Mühe, es einzugestehen, bei diesem Mann entsprach ihr Schönheitsempfinden dem der Allgemeinheit. Hinzu kam, er sah sie nicht an, nicht einmal zufällig. Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte sie, über die politischen Vorgänge in ihrem Land kaum informiert zu sein. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was er von ihr dachte. Schließlich beschloss sie resigniert, Grent zu bitten, die Tafel verlassen zu dürfen. Ein gönnerhaftes Lächeln seinerseits gab ihr die erhoffte Einwilligung.

Die Ereignisse bei Tisch waren am Nachmittag etwas in den Hintergrund gerückt. In der Küche fand Ella ihren Appetit wieder. Dieser begegnete ihr, auffällig platziert als großes Stück Apfelkuchen. Nachdem sie ihr Grundbedürfnis befriedigt hatte, verbannte Ella die jüngsten Erfahrungen rigoros aus ihrer Gedankenwelt, um sich nicht in muskelbepackter, klangvoller Ablenkung zu verlieren.

Abends hatte sie einige Entscheidungen getroffen, die ihr Leben betrafen und ihre Entdeckung vom Vormittag. Sie wollte damit beginnen die Mauern einzureißen, die sie errichtet hatte, um ihre Begabung zu unterdrücken. Von jetzt an wollte sie alle drei Tage daran arbeiten, da sie nicht erwartete, ein einziges Ritual würde ausreichen. Wichtig war, ihre Gabe kennenzulernen und gleichzeitig dafür zu sorgen, sie nur einzusetzen, ohne dass jemand es bemerkte. Ella hatte zwar Angst vor der Strafe, die in Duria auf unerlaubtes Ausüben der Gabe stand, mehr noch fürchtete sie, wie diese sie selbst verändern würde. Sie musste behutsam vorgehen.

Das Haus von Grent war der ungeeignetste Ort, den sie sich aussuchen konnte, die alte Religion zu praktizieren. Warum hatte sie nicht in den Jahren im Konvent den Mut dafür aufgebracht? Wenn sie hier jemand erwischte, würde der Zentrale Rat ohne Zögern davon in Kenntnis gesetzt werden. Doch der Wunsch, endlich zu sich selbst zu stehen, war in den letzten Wochen zu einem ausgereiften Entschluss herangewachsen, der die Furcht davor, verraten zu werden, verdrängte. Ihre gesamte Zukunft ohne Aussicht auf eine ehrliche Verbundenheit mit dem Land und den Leuten, mit denen sie lebte, war die schlimmere Alternative. Vielleicht hatte auch das Anschwellen der Unruhen im Grenzland ihr Bestreben ausgelöst.

Ella war auf dieser Seite der Grenze niemals heimisch geworden. Wut und Enttäuschung des verletzten Kindes in ihr, das von ihren Eltern zu ihrem durischen Onkel abgeschoben worden war, hatten sie davon abgehalten, sich einzugestehen, wie sehr sie sich zurücksehnte.

Sie saß an einem Tisch, der die Ecke zwischen den beiden Fenstern in ihrem Zimmer mit seiner prunkvollen Ausarbeitung schmückte. Gelbes Eibenholz, eine ausgesprochene Rarität im Süden der Insel Cândhûn, deren gesamter Südwesten durischem Hoheitsgebiet unterlag. Ella hatte ihre Tage in dem Konvent, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, oft mit Zeichnen gefüllt. Es half ihr, Gedanken und Gefühle zu verarbeiten, da es selten Menschen in ihrer Nähe gab, mit denen sie über Persönliches reden wollte. Gereizt zerknüllte sie das Blatt, auf dem sie sich selbst an dem Tisch sitzend verewigt hatte und warf den entstanden Papierball in den Kamin. Sollte er als Zunder dienen, sobald die Tage kühler wurden.

Grents Bemerkung, von der sie überzeugt war, die peinlichste Situation in ihrem gesamten Dasein hervorgerufen zu haben, hatte ein Körnchen Wahrheit zu ihr getragen: Sie wusste nicht das Geringste über den Widerstand gegen den Zentralen Rat, nichts über die Menschen im Norden oder die Lage im Grenzgebiet, das nicht aus einem der durischen Bücher stammte. Die Vorstellung von Menschen, die sich offen gegen die Ungerechtigkeiten des Rates auflehnten, wie die Cáelánen im Norden, ihrer ursprünglichen Heimat, löste eine tiefe Bewunderung für deren Unerschrockenheit in ihr aus. All das waren verklärte Gedanken einer jungen Frau, die ihre Lebenszeit in einer Einrichtung für reiche durische Töchter verbracht hatte. Das musste sich ändern, oder sie würde den Respekt vor sich selbst verlieren und vollends zu diesem Ding werden, das Grents Behandlung und ihr Onkel aus ihr machten.

Ein prüfender Blick aus dem Fenster bestätigte, die Sonne glomm tiefrot, knapp über dem Horizont. Sie zog Kamm und Klammern aus dem Haar und kämmte es gedankenverloren mit den Fingern durch. Grent und Ragin befanden sich auf der Versammlung, die im Südwest-Flügel stattfand und vermutlich bis in die Morgenstunden dauern würde. Die meisten Angestellten hatten dort ebenfalls zu tun.

Ella griff die vorbereitete Tasche und verließ das Zimmer, um in einen entlegenen Teil des Gartens zu gehen, wo sie ungestört sein würde. Das Gelände war weitläufig, dort würde ihr niemand begegnen. Bis sie nicht im vollen Besitz ihrer Gabe war, wollte sie den Ritualplatz, den sie morgens im Wald gefunden hatte, nicht nutzen. Das Gefühl, das sie inmitten dieses seltsam anmutenden Sees überkommen hatte, schien ihr deutlich mächtiger als sonst, wenn ihre Gabe versucht hatte, einen Weg an die Oberfläche zu bahnen. Sie schrieb das dem Ort und seinen mystischen Kräften zu. Er musste etwas Besonderes sein. In ihrem Innern tauchten seit der Entdeckung immer wieder Fantasien auf: Wie und wofür mochten die Priester diesen Platz vor dem Putsch genutzt haben?

Sie lief unterhalb der Terrasse entlang. Eine Gestalt riss Ella aus ihren Gedanken und ihre gesamte Aufmerksamkeit an sich. Es war Llew, der schlendernd im Dämmerlicht aus der Gegenrichtung auf sie zu kam und sie ebenfalls bemerkt hatte. Ella fühlte sich verunsichert. Ungünstig, hier gesehen zu werden. Bei ihrem Vorhaben wäre sie lieber unentdeckt geblieben. Langsam lief sie weiter.

»Guten Abend, Ella«, begrüßte er sie mit dieser unglaublich tiefen, weichen Stimme, nicht mehr weit von ihr entfernt.

»Du weißt meinen Namen noch«, entgegnete sie verblüfft und mit einer ungeplanten Portion Sarkasmus im Tonfall. Während sie sprach, stieg ihr der Ärger über ihre Reaktion erneut als peinliche Röte in die Wangen.

»Nun, das hat selbst den Barbaren nicht überfordert, El-la.«

Sie legte den Kopf leicht schief, doch verwarf die Spitzfindigkeit, die ihr auf der Zunge tanzte. Stattdessen drängte der eine Satz, der sie den Tag über innerlich begleitete, nach außen: »Du hast heute Mittag wahrscheinlich ein ganz falsches Bild von mir bekommen.« Sofort nachdem sie es ausgesprochen hatte, erkannte sie ihren Fehler.

»Nein, das glaube ich nicht.«

Aufgrund der Dunkelheit blieb Llews Mimik schwer zu deuten, seine Belustigung war diesmal unüberhörbar. Er hielt direkt vor ihr an und musterte sie übertrieben.

»Dasselbe Bild wie heute Mittag. Bleibt ja nicht viel Platz für Spekulationen, hm?«

Das reichte ihr, auf ein derartiges Gespräch konnte sie verzichten.

»Freut mich, zum Amüsement des werten Barbaren beigetragen zu haben«, Ella wollte es gleichmütig sagen, klang jedoch merklich verärgert. Sie drängte an ihm vorbei und setzte ihren Weg fort. Es gelang ihr, sich nicht umzudrehen, obwohl sie zu gern gewusst hätte, wo er hin wollte. Er musste aus Richtung des Versammlungsraumes gekommen sein und die Versammlung konnte erst kürzlich begonnen haben.

Im ungenutzten Teil des Gartens angekommen, suchte sie einen Platz hinter einer hohen Hecke aus Weißbuchen. Nachdem sie eine Weile misstrauisch in die Dunkelheit gelauscht hatte, brachte sie etwas Kohle in einer kleinen Tonschale zum Glühen und verbrannte eine Mischung aus getrockneten Kräutern, die sie für diesen Anlass ausgesucht hatte. Um die Schale herum verteilte sie einige Kristalle.

Sie nahm eine angenehme Sitzposition ein und begann mit der Meditation. Zur Einstimmung sang sie leise ein Lied, das ihr als Kind für ein Schutzritual beigebracht worden war. Nach mehreren Wiederholungen gelang es ihr, sich zu entspannen. Die Sinneseindrücke der Außenwelt verschwammen und sie konnte ihren Blick in ihr Inneres hinab gleiten lassen. Dort visualisierte sie die Barriere, die ihre Gabe abschirmte als hohe, steinerne Mauer. Eine seltsame Angst überkam Ella. Während sie die Steine betrachtete, war ihr, als könne ihre Gabe sie nach all den Jahren zurückweisen. Die Erinnerungen daran, wie sie in der Kindheit ihr Talent genutzt hatte, halfen ihr schließlich, sich darauf zu konzentrieren, was hinter der Barriere lag. Symbolisch trug sie die erste Reihe der steinernen Schicht ab. Sofort floss ihre Gabe wie Wasser über einen Damm in ihr Bewusstsein. Ella gab sich ihr augenblicklich hin. Wellen von Sinneseindrücken brandeten über sie hinweg, verwoben mit einer Flut verwirrender Bilder.

Seit Ella die innere Barriere errichtet hatte, fühlte sie sich wie in Ungewissheit getaucht. Schlimmer noch, da sie ein Stück ihres Selbst verleugnete, traute sie ihrer Wahrnehmung oft nicht und war verunsichert, wenn sie jemand Fremdes einschätzte. Dort im Dunkeln, in der hintersten Gartenecke, in der sie sich jetzt aufhielt, um das fehlende Stück Selbst zurückzuholen, versuchte sie, mit aller Macht das Gewirr zu entzerren, das ihr entgegen prasselte. Ein leises, kaum wahrnehmbares Surren lag unter dem seltsamen Gemurmel, das sie umgab. Oder waren es Schreie? Sie roch Rauch, ordnete ihn zuerst der glühenden Kohle und den Kräutern zu. Das helle Flackern vor ihrem inneren Auge explodierte zu einem lodernden Feuer. Es musste eine richtige Vision sein. Sie wollte ihre Wahrnehmung auf die logische Abfolge der aufblitzenden Bilder richten, als sie erschrocken bemerkte, wie der imaginäre Lichtstrom bereits durch die Mauerfugen drängte.

Ella befürchtete, die natürlichen Schranken, die Anderswelt und Realität trennten, könnten durch eine allzu stürmische Wiedervereinigung mit ihrer Gabe in Mitleidenschaft gezogen werden. Daher entzog sie sich der Trance wieder Stück für Stück. Eine Stimme in ihr flehte sie an, es nicht zu tun, die Vision anzusehen. Ella gab ihr nicht nach, zu viel Respekt hatten ihre Eltern ihr als Kind vor ihrer Gabe beigebracht. Sie war zu ungeübt darin, Vision und Anderswelt voneinander zu unterscheiden. Wenn sie ihre Augen nach innen richtete, konnte ihr beides entgegenblicken. Zumindest glaubte sie das.

Den wichtigsten Weg, den eine Seherin gehen konnte, den Pfad in die Anderswelt, hatte sie in ihrem Leben noch niemals beschritten. Und vermutlich wäre das selbst bei einer politischen Entspannung nicht einfach für sie gewesen. Todesstrafe hin oder her. Visionen hatte sie als Kind einige Male gehabt. Ob die Gabe in ihr stark genug war, die Geisterwelt betreten zu können, wusste sie nicht. Ein guter Grund, sich Zeit damit zu lassen. Wenn sie Vision oder Geisterwelt von ihrer eigenen nicht mehr unterscheiden konnte, wäre sie verloren in Zeit und Struktur ihres Lebens.

Zurück an der Oberfläche ihres Bewusstseins war sie sehr zufrieden mit der Sitzung. Die Kohle war längst verglüht. Sie tastete im Dunkeln nach der Schale und steckte sie in ihre Tasche, ebenso die Kristalle. Die Asche wollte sie sicherheitshalber im Kamin entsorgen. Sie stolperte die ersten Schritte unbeholfen durch die Finsternis der kleinen Baumreihe.

Hinter den Buchen angekommen, konnte sie durch das Mondlicht genug erkennen.

»Sieht aus, als hätte ich dich wirklich falsch eingeschätzt.« Sie fuhr herum. Er stand nicht weit hinter ihr an einen Stamm gelehnt. Wegen der darüberliegenden Blätter und Äste konnte sie bei diesem Licht keine Einzelheiten ausmachen. Seine Silhouette schien mit dem Baum eine Art Symbiose eingegangen zu sein. Llew löste sich aus dem Schatten und kam auf sie zu.

»Wie bitte?«, fragte sie abgehackt. Sie spürte ihren Puls in nahezu jeder Ader hämmern.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du die alte Religion praktizierst«, kam die Antwort gerade heraus.

Ihre Hände und Füße fühlten sich seltsam taub an. Sie musste an das Gefühl gestern Abend auf dem Fensterbrett denken. Vorsicht, durchfuhr es sie. Ella versuchte, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Ansatzweise erfolgreich, drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten Richtung Haus. Dabei versuchte sie, ihr Tempo nicht einer Flucht gleichkommen zu lassen.

»Keine Ahnung, wovon du da sprichst«, sagte sie, bemüht um einen beiläufigen Klang. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sie mit ein paar großen Schritten eingeholt. Er packte sie am Arm und zwang sie zum Stehenbleiben.

»Ich denke doch.« Seine Stimme klang bedrohlich und ließ nicht den geringsten Schluss auf die Absicht dahinter zu. Angst legte sich um ihren aufgewühlten Geist, verdrängte jeden klaren Gedanken. Da Leugnen nichts half, reagierte sie instinktiv mit Wut.

»Was erlaubst du dir«, zischte sie ihn an und registrierte erfreut ihren überheblichen Tonfall. Von diesem unerwarteten Moralschub gestärkt, versuchte sie sofort, mit einem kräftigen Ruck und einer leichten Drehung ihren Arm freizubekommen, doch seine Hand schloss sich nur noch fester darum. Ihrer Wut folgte augenblicklich Panik. Er würde sie mit zum Haus schleifen, Grent davon unterrichten und der würde es mit Vergnügen direkt jemandem vom Zentralen Rat erzählen.

»Sei froh, dass ich nicht vorhabe, es zu melden, und sei nächstes Mal vorsichtiger«, unterbrach er ihre Gedanken. Daraufhin ließ er los.

Die ertappte Seherin starrte ihn an, konnte bei der Dunkelheit in seinem Gesicht nichts lesen. Außerdem bezweifelte sie, ihn bei Licht besser einschätzen zu können. Llews Mimik schien völlig ausdruckslos.

»Ach ja? Und du hör auf, mir hinterher zu schleichen. Es würde sicher jeden interessieren, was der abgesandte Nord-Cáeláne hier des Nachts treibt.« Einen Moment lang musterte er sie prüfend. Lächelnd bemerkte er schließlich:

»Ich dachte, es würde dir gefallen, wenn ich dir im Dunkeln hinterher schleiche.« Er zwinkerte und fügte höflich an:

»Gute Nacht, Ella.«

Dann ging er ohne Eile Richtung Haus, wo ihn nach ein paar Schritten die Finsternis verschluckte. Sie starrte ihm nach.

Er hatte recht. Denn sobald er alte Religion sagte, würde sich niemand mehr dafür interessieren, wie er zu diesem Wissen gekommen war.

Ella schreckte hoch und schlug sofort die Decke zurück. Ein feiner Brandgeruch kräuselte sich in der Schwüle der Sommernacht. Alarmiert stand sie auf. Vom Fenster her spürte sie eine kühle Luftbewegung auf der Haut. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein. Sie strich das Nachthemd glatt, das beim Schlafen hochgerutscht war und trat auf den Flur. Nichts. Der Geruch war verflogen. Zurück im Zimmer fiel ihr die Tasche auf, in der sie die Gegenstände für ihr nächtliches Ritual verstaut hatte. Ella hatte sie auf den Tisch geworfen, ohne sich um den Inhalt zu kümmern. Von ihr ging tatsächlich ein kaum wahrnehmbarer Rauchgeruch aus. Sie musste eine Öllampe entzünden, um sich im Dunkeln zurechtzufinden. Grämlich starrte sie auf die tadellos saubergefegte Feuerstelle. Bis zum Herbst würde hier niemand auf die Idee kommen, den Kamin zu entfachen. Sie sollte wohl etwas mehr Elan in die Vorkehrungen für ihre Unauffälligkeit investieren. Was fing sie nun mit der mitgebrachten Asche an? Sie wickelte den kleinen Kohleklumpen in ein Stück Leinen. Der Küchenofen war das einzige Feuer im Haus, das zu dieser Jahreszeit in Benutzung war. Daran hätte sie denken können.

Im Hausflur herrschte Schweigen. Wie spät mochte es sein? Die Angst davor, auf irgendeine Weise ertappt zu werden, kehrte zurück. Nicht dass sie Llew erneut über den Weg lief oder gar Grent. Angespannt ging sie die Stufen am hinteren Flurende hinunter. Sie musste sich ganz selbstverständlich bewegen, schließlich gab es für niemanden Anlass anzunehmen, sie habe etwas zu verheimlichen. Ihr Magen ließ sich von den logischen Überlegungen nicht überzeugen, er zog sich aufgeregt zusammen. Nach dem Durchqueren des Eingangsbereichs, der von zwei großen Wandleuchten gastlich erhellt wurde, stand sie einige atemlose Momente später in der Küche. Allein. Die schwere Ofenplatte strahlte ordentlich Wärme ab, ob die Köchin noch etwas vorbereitet hatte? Ella stellte ihre Lampe neben den Ofen und lauschte. Schnell schraubte sie die Ofentür auf und warf das kleine Bündel hinein. Es waren tatsächlich noch Glutreste vorhanden. Nach einer kurzen Weile bäumten diese sich knackend auf, um das Leinen erst zu versengen und anschließend mit leuchtenden Flammen zu überziehen. Ella schloss die Klappe, sperrte damit die Hitze wieder ein und verschraubte die Tür. Hinter sich vernahm sie ein Knistern. Sie fuhr erschrocken herum. Gleichzeitig stieg ihr Rauch in die Nase. Im Raum blieb es stumm. Brandgeruch breitete sich aus. Ella blickte gehetzt um sich. Das konnte doch nicht aus dem Ofen kommen. Die Anspannung stieg ihr diesmal direkt in den Nacken. Wo kam der Geruch her? Er ließ sich beißend in ihrem Rachen nieder und brachte sie zum Husten. Nirgends war auch nur ein Quäntchen Rauch zu sehen. Stattdessen hüllte sie Panik mit stickigen Schwaden ein, als wäre sie inmitten der züngelnden Gefahr. Nichts zu entdecken! Ein quälender Druck presste ihre Lunge zusammen.

Ella griff ihre Lampe und lief mit hastigen Schritten in die Empfangshalle zurück. Die Weite des hohen Raumes nahm ihr ein wenig das Gefühl von Hektik und Enge. Eine steinerne Freitreppe schwang sich elegant durch die Mitte bis in den ersten Stock und schloss an eine Balustrade an. Dort oben glaubte sie, einen Schatten ausgemacht zu haben. Kam der Geruch aus den Gästezimmern?

Hastig griff sie nach dem Geländer und rannte hinauf. Sie spähte um die Ecke in den langen Gästetrakt im Westflügel. Die vorderen Räume hatte Grent vermutlich an die Cáelánen vergeben. Im hinteren Teil, neben ihrer eigenen Tür, flackerte die Flurbeleuchtung. Doch da war nichts, was auf ein unkontrolliertes Feuer hindeutete. Ein kaum hörbares Knistern ließ Ella erneut zusammenschrecken. Hinter ihr nahm sie eine große Gestalt wahr. Sie fuhr herum, verlor den Halt und fand ihn wieder, in Grents üppige Körpermitte versenkt. Ein Duftgemisch aus Puder, Geranie und Schweiß umwaberte die weiche Fülle, an der sie lehnte. Sofort richtete sie sich auf. Ihre Haare hatten sich schmerzhaft an einem seiner Westenknöpfe verfangen. Er gab einen empörten Grunzlaut von sich und packte das Handgelenk ihrer Rechten, mit der sie sich aus der unangenehmen Lage befreien wollte.

»Die Jungfer Weißbach mitten in der Nacht im Hemd auf dem Flur. Warum derart verstört, meine Liebe?«, näselte er.

Ella versuchte sich etwas mehr aufzurichten, ihr gefesselter Schopf verhinderte das Entkommen aus der demütigenden Haltung.

»Ich ...« Sie entzog ihm die Hand, gleichzeitig rissen einige Haare. Die verbliebene Strähne löste sich ziepend von dem Knopf. »... hatte Hunger.«, beendete sie die plumpe Ausflucht.

Grent musterte sie.

»Natürlich.« Gab er missvergnügt zurück. »Unter diesen Umständen ist ein geziemender Schlafrock wohl entbehrlich.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf und entfernte sich zu ihrer Erleichterung rasch wieder.

Den nächsten Tag verbrachte sie bis zum Mittagessen auf ihrem Zimmer. Sie grübelte darüber, wie ihr Ritual verlaufen war und ob der Brandgeruch eine Nachwirkung desselben gewesen war. Sollte sich ihre Gabe unkontrollierbar aus der Verbannung befreien?

Zusätzlich musste in der Nacht irgendetwas geschehen sein, denn sie konnte von ihrem Fenster aus sehen, wie den Vormittag über immer neue durische Würdenträger eintrafen. Sie wollte nicht hinunter, spätestens beim Essen würde sie erfahren, was passiert war. Hatte es einen Versammlungsbeschluss gegeben? Das schien ihr nach einem Abend unvorstellbar.

Sie traf auf der großen Terrasse ein, die meisten Gäste saßen bereits und aßen. Tatsächlich waren viele Arealvorsteher dabei. Die Tafel war um einen langen Tisch erweitert worden. Ella ging zum Buffet, um sich einen gefüllten Teller reichen zu lassen. Sie entdeckte Llew, der sich mit Vanadis und einem Durier unterhielt. Er sah zu ihr herüber, schien ihre beobachtende Haltung bemerkt zu haben. Sie spürte, wie sie sich anspannte und befürchtete langsam, das unfreiwillige Rot könne sich dauerhaft zu ihrem Teint gesellen. Wie am Tag zuvor ignorierte er sie von da an wieder. Was für ein dubioser Kerl, dachte sie. Dennoch hatte sie aus irgendeinem Grund das Gefühl, er habe sie heute freundlicher angesehen. Sie dagegen fühlte nach dem nächtlichen Zusammentreffen eine Potenzierung des Unwohlseins in seiner Gegenwart, die sie nach Grents Bemerkung für ausgeschlossen gehalten hatte.

Schließlich, als sie sich zum Essen setzte, konnte sie aus den Gesprächen heraushören, was der Menschenflut zugrunde lag. Rieg, das Dorf gleich hinter dem Wald, war über Nacht niedergebrannt worden. Eine unerklärliche Tragödie, die nicht charakteristisch für die Probleme im Grenzgebiet erschien. Sonst hatten es Plünderer auf einzeln liegende Höfe abgesehen. Sie schikanierten die Anwohner, leerten die Vorratskammern, verwüsteten Felder und Ställe. Mit dem Leben hatten ausschließlich einige wenige Bauern bezahlt, die sich vehement zur Wehr gesetzt hatten. In Rieg dagegen waren alle Dorfbewohner dahingemetzelt und verbrannt worden. Ella ließ bestürzt das Besteck sinken, als sie diese Nachricht unmissverständlich herausgehört hatte.

Rieg, das kleine Dorf nördlich des Herrensitzes, höchstens zwei Wegstunden entfernt, niemand hatte überlebt. Das Gefühl der Beklemmung und der Rauchgeruch aus der Nacht drängten zurück in ihr Bewusstsein. Waren das Teile einer Vision gewesen?

Die Worte wirkten in ihr nach und brannten eine ungekannte Anteilnahme in die innere Welt der jungen Frau, die sich in ihrem Leben mit nicht viel mehr als ihrem eigenen wendungsreichen Schicksal beschäftigt hatte. Es schien sich niemand für die Opfer zu interessieren. Vielleicht erklärte das die Scham, die Ellas Bestürzung verstärkte, nachdem ihr gewahr wurde, wie durisch ihr Umgang mit dem Grenzkonflikt bis zum heutigen Tage gewesen war.

Die Gespräche kreisten um die Grenze, die daraufhin geschlossen bleiben würde, und die Frage, ob die Hilfe der Truppen jetzt endgültig durchgesetzt werden sollte. Bisher hatte Vanadis' Anwesenheit offenbar diesen Schritt, der entgegen dem Willen Cáelán-Aits stand, verhindert. Die Stimmen überschlugen sich inzwischen vor Schuldzuweisungen. Selbstverständlich lag der Ursprung für die Schandtat in der Verantwortung des unzivilisierten Nordens. Die Hektik der entflammten Debatten übertrug sich auf ihr Gemüt und Ella fühlte sich von Grund auf unwohl. Sie verließ die Gesellschaft bei der ersten Gelegenheit.

 

4. Ware Schönheit mit Preis

»Eine schöne, blinde Seherin bist du.« Sie wünschte sich, ihre Begabung nicht unterdrückt zu haben. Diese Menschen würden noch leben, wenn sie es vorzeitig hätte kommen sehen. Sie schwor sich, niemals wieder zu bekämpfen, was sie selbst war. Sobald sie ihr Talent nutzen konnte, würde sie etwas unternehmen, damit sie nicht noch einmal in die Lage käme, es zu verleugnen. Gleichzeitig hoffte sie inständig, die Gabe brach nicht aus, bevor Ella sie besser steuern konnte. Die Gerüchte über die Praktiken, die der Rat bei Gläubigen anwendete, um ihnen Gehorsam aufzuzwingen, malten ein grauenhaftes Bild von dem, was ihr dann blühte.

Es klopfte. Ragin öffnete die Tür, ohne ihre Antwort abzuwarten. Sein besorgtes Gesicht dämpfte ihren Ärger darüber, sie schluckte ihre Bemerkung herunter.

»Du darfst das Gelände nicht verlassen. Du weißt ja, was passiert ist?!« Er wartete ihr Nicken ab, ehe er fortfuhr: »Auf Geheiß des Zentralen Rates wird eine Schutztruppe für das Anwesen abgestellt. Ich habe sogar gehört, wie jemand etwas von einem geplanten Anschlag sagte, doch bis jetzt gehe ich davon aus, dass es sich dabei nur um ein Gerücht handelt.«

»Ist gut, ich hatte in der nächsten Zeit keine größere Reise geplant.« Sie lächelte ihn an. Ihr Onkel zog die Stirn in Falten und warf ihr einen strengen Blick zu. »Es ist mir damit ernst, Ella.«

»Schon gut, ich weiß«, murmelte sie beschwichtigend. Er wollte die Tür wieder schließen, öffnete sie noch einmal und sagte, als wäre es ihm gerade erst in den Sinn gekommen: »Der Bruder von Grents Schwiegersohn ist eingetroffen. Er hat großen Einfluss beim Zentralen Rat, ein Inquisitor. Ich werde dich ihm vorstellen.«

Entgeistert starrte sie ihren Onkel an – der nahm sie gar nicht wahr und ging. Ella blieb mit dem Gefühl zurück, sein letzter Satz wäre der eigentliche Grund für sein Auftauchen gewesen. Das durfte einfach nicht sein, er wollte sie verkuppeln mit einem Inquisitor des Zentralen Rates. Sie verharrte eine Weile bewegungsunfähig und starrte noch immer auf die geschlossene Tür. Sie wusste nicht, was von beidem sie schlimmer finden sollte: Wie dreist ihr Onkel sie loswerden wollte oder wen er sich dafür ausgesucht hatte. Sie erwog kurz ihre Zukunftsaussichten, wenn sie einfach weglaufen würde, entschloss sich jedoch, abzuwarten. Vielleicht ließ ihr Onkel mit sich reden.

Ella überlegte sich schnell ein paar Worte, von denen sie dachte, sie könnten für Ragin in diesem Belang relevant sein und beeilte sich, nach unten zu gelangen. Das Problem musste sie gleich aus der Welt schaffen. Am Fuß der Treppe vernahm sie laute Stimmen aus Grents Arbeitszimmer.

Sie blieb stehen.

»Deine Anschuldigung entbehrt jeglicher Beweise«, tönte eine höhnische Stimme. Ein Mann mit cáelánischem Dialekt antwortete:

»Das macht sie nicht weniger wahr.«

»Ist das deine offizielle Meinung, Vanadis?«, fragte die erste Stimme herausfordernd.

»Das ist meine Meinung, doch du hast zugesagt, dass diese Unterredung inoffiziell bleibt«, entgegnete der Angesprochene in einem Tonfall, der wohl besänftigend wirken sollte, seine Bestimmung allerdings vollkommen verfehlte.

»Du stellst dich also hinter diesen Wilden«, zischte ihn der Mann jetzt mit unverhohlenem Zorn an.

»Deine Reaktion zeigt nur, wie nah ich mit meiner Vermutung der Wahrheit gekommen bin, falls du überhaupt noch weißt, was das ist.« Diese Stimme identifizierte sie eindeutig als Llews, obwohl seine unterdrückte Wut sie härter als gewöhnlich klingen ließ. Er sprach leiser als die anderen beiden, es war deutlich heraus zu hören, wie viel Selbstbeherrschung ihm das abzwang.

»Llew, mein Lieber«, säuselte der erste Mann mit lockendem Ton, wie dem einer Hure, die um einen höheren Preis feilscht. »Wiederhole deine Vermutung noch einmal offiziell und du riskierst einen Krieg zwischen Duria und den Nord-Arealen. Und wenn Vanadis ebenfalls auf seiner Meinung besteht, dann zwischen uns und ganz Cáelán-Ait.« Ella spürte deutlich die Befriedigung des Fremden über seine gelungene Provokation, die prahlerisch über den Worten schwebte. Ihr stockte der Atem. Krieg?

»Das reicht jetzt«, rief Grent mit seinem affektierten Tonfall. »Die Unterredung ist beendet. Für solch einen Schritt besteht zu diesem Zeitpunkt noch kein Grund.« Vor Ellas geistigem Auge formte sich augenblicklich das Bild von Grent, der gönnerhaft da stand, zu seiner vollen Größe aufgerichtet und mit geballter Arroganz bewaffnet. Dieses Ekel genoss es, sich als Herr über Krieg und Frieden aufzuspielen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Lautes Schaben von Stuhlbeinen über Steinboden kündigte ihr die Auflösung der Versammlung an. Automatisch rückte sie ein Stück näher zur Wand. Sie hoffte, wer auch immer jetzt alles diesen Raum verließ, würde durch den Flur und nicht über die Treppe gehen. Stimmengemurmel und Schritte wurden leiser.

Gerade nahm sie die letzten beiden Stufen, als die Tür des Arbeitszimmers zuschlug und Llew um die Ecke bog. Durch die wutverspannten Muskeln wirkten seine symmetrischen Gesichtszüge viel kantiger als sonst. In seinen Augen lag ein bedrohliches Glitzern. Er verzog die Lippen, als wollte er eine Bemerkung machen, überlegte es sich noch einmal und polterte an ihr vorbei die Treppe hinauf. Geistesabwesend registrierte Ella seine überaus muskulösen Beine. Schnelles Treppensteigen in Kombination mit Rehlederhosen und einer ausgesprochen schönen Rückansicht ließen sie für einen Moment vergessen, wie wenig sie sich für Hintern interessierte.

Neugierig, mit wem er und Vanadis gestritten hatten, öffnete sie die Tür zum Arbeitszimmer nach dem Anklopfen, ohne abzuwarten. Grent stand mit einem Mann, den Ella nicht kannte an einem klobigen Mahagoni-Schreibtisch, der durch Grents imposante Statur geradezu mickrig wirkte. Der andere Mann, schlank, blond und fast so groß wie sein Gegenüber, wandte sich ihr gelassen zu. Seine tadellose Haltung nebst übertrieben gerade gezogenem Scheitel, erinnerten Ella an Grents Schwiegersohn. Zweifelsfrei der Inquisitor.

»Ich suche Ragin«, murmelte sie eilig.

Grents Antwort folgte im Befehlston:

»Terrasse! Tür zu!«

»Prima, ich liebe klare Anweisungen«, witzelte sie säuerlich, »Höflichkeiten wird hier ohnehin viel zu viel Bedeutung beigemessen.«

Grent stierte sie wutentbrannt an. Der Blonde hatte sich nach dem Streit wieder unter Kontrolle. Er lächelte liebenswürdig, ohne den geringsten Ausdruck von Animosität. Sie schloss die Tür und lief Richtung Terrasse.

Ragin saß mit einem durischen Offizier auf einer Steinbank und unterhielt sich. Sie entschuldigte sich für die Unterbrechung und bat um ein Gespräch. Nachdem sich der Offizier höflich zurückgezogen hatte, brachte sie vor, was sie sich vorher zurechtgelegt hatte. Ragin war ihren Ausführungen geistig nicht gefolgt oder es war ihm gleichgültig. »Es ist beschlossene Sache«, sagte er, nachdem er alles Mögliche aufgezählt hatte, was ihn angeblich dazu veranlasst hatte.

»Natürlich ist es das«, fauchte Ella gekränkt zurück. »Das ist es schon, seit du mich in den Konvent abgeschoben hast, nicht wahr?«

»Irgendeine Lösung musste ich mir für deine Zukunft überlegen«, antwortete ihr Onkel desinteressiert.

»Lösung«, echote sie aufgebracht. »So, dann muss ich dich davon in Kenntnis setzen, dass ich diese Lösung nicht akzeptiere.« Sie wollte aufstehen und gehen. Schließlich war alles gesagt. Anscheinend ließ es ihn völlig kalt, wie laut sie hier mitten auf der Terrasse mit ihm stritt.

»Ich werde dich ihm heute vorstellen.« Sein geschäftsmäßiger Tonfall versetzte Ella noch mehr in Rage.

»Das wirst du auf keinen Fall tun. Du hast mich nicht verstanden. Ich werde nicht heiraten. Diesen Schwachsinn hast du dir sicher zusammen mit Grent ausgedacht. Vergiss es!« Ihre Stimme glich inzwischen einem heiseren Zischen, nicht zuletzt deswegen, da ihr Onkel nicht nur ihren Protest, sondern auch ihre Lautstärke völlig ungeniert überging.

»Ehrlich gesagt, der Beschluss steht tatsächlich seit dem Konvent und Grent hat den passenden Kandidaten gefunden.«

Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, Ragins Gleichmut ihren Gefühlen gegenüber traf sie trotz ihrer Distanz zu ihm. Er war diesem Widerling hörig. Warum? Malte er sich durch seine freundschaftliche Verbindung zu Grent Vorteile aus?

»Zum Glück bin ich diejenige, die Ja sagen muss, falls der Zentrale Rat das nicht inzwischen auch schon geändert hat«, entgegnete sie schnippisch.